Ralph Skuban

Das Thomas-Evangelium

1. Auflage 2020

© 2014 Aquamarin Verlag GmbH

Voglherd 1 • D-85567 Grafing

www.aquamarin-verlag.de

© der Abbildungen: CHRIST IMAGES, League City, TX 77573

Umschlaggestaltung: Annette Wagner

INHALT

Vorwort

Das Thomas-Evangelium

Ein persönliches Nachwort

Anhang

Die Sprüche im Überblick

Glossar

Literatur

Anmerkungen

Von der Liebe lässt es sich fassen und halten.

Vom Intellekt jedoch nicht.

– Anonymus, England, 14. Jh.1

VORWORT

Yeshua, der Weisheitslehrer, unterrichtet seine Schüler

Alles Verborgene wird offenbar. Es war im Dezember 1945, so erzählt die Legende, als ein Bauer mit Namen Muhammad Ali vom Samman-Klan und ein paar andere Männer ihre Kamele zum Jabal al-Tarif ritten, einem großen Felshang am oberen Nil, ganz in der Nähe der ägyptischen Stadt Nag Hammadi. Sie suchten nach Sabakh, einem natürlichen Dünger. Doch was sie fanden, war ein großer, versiegelter Tonkrug. Muhammad Ali zögerte, den Krug zu öffnen. Er fürchtete, ein Geist könnte darin wohnen und ihm, einmal freigelassen, nachstellen. Doch das Goldfieber war größer als seine Furcht, kannte er doch die Geschichten von verborgenen Schätzen, die es in dieser Gegend geben sollte. Mit seiner Hacke zerschlug er den Krug und, so berichtet er, eine goldene Substanz strömte daraus, um sich in Luft aufzulösen. Es waren wohl eher, so dürfen wir annehmen, die Papyrus-Fragmente im Inneren des Kruges, die goldfarben im Sonnenlicht schimmerten. Muhammad wusste nicht, dass er gerade dreizehn alte Textsammlungen (so genannte Papyrus-Kodizes) aus ihrem Dasein im Verborgenen befreit hatte, insgesamt mehr als fünfzig Bücher, darunter auch jene Schrift, die als Thomas-Evangelium weltweite Aufmerksamkeit erlangen würde.

Jesus, dessen echter, aramäischer Name eigentlich Yeshua war (bis er auf dem Konzil in Nicäa im Jahre 325 auf Geheiß des römischen Kaisers Konstantin zum Gott erklärt und sein Name latinisiert wurde), begegnet uns im Thomas-Evangelium als ein Weisheitslehrer, der mit jedem Wort, das er sagt, auf die innere Wirklichkeit des Menschen hindeutet, ganz so, wie wir es auch von den anderen großen Weisheitsschriften der Welt kennen, zum Beispiel dem Tao Te King, der Bhagavad Gita oder den Upanishaden.

Der Text des Thomas-Evangeliums ist als Dialog gefasst. Yeshua, der spirituelle Lehrer, unterrichtet seine Schüler in 114 Lehrsprüchen. Nichts lesen wir da von seiner Verhaftung, Geißelung, Kreuzigung, seinem Tod und der Wiederauferstehung. Und die Menschen werden uns nicht als Sünder gezeigt, für die Yeshua sterben musste, wie es die so genannten kanonischen Evangelien lehren, die uns im Neuen Testament überliefert wurden. Wie die Namensänderung von Yeshua zu Jesus, ging auch diese, unser Schuldgefühl nährende Idee auf den Konzilsbeschluss von Nicäa zurück, in welchem man zugleich alle anderen Evangelien, von denen es unzählige gab, verdammte und ihre Lektüre unter Todesstrafe stellte.

Von Apokalypse und Höllenfeuer spricht Yeshua im Thomas-Evangelium nicht. Vielmehr zeichnet er dort den Menschen als ein Wesen, das seine Verbindung zum inneren Licht verloren hat, eine Verbindung, die wiederhergestellt werden kann, wenn er umkehrt, was sagen will: Wenn er sich auf den Weg nach Innen macht. Yeshuas Lehre ist eine psychologisch-spirituelle Anleitung zu einem guten Leben, dem es ultimativ um die spirituelle Erfüllung geht. Hier und jetzt, in diesem Leben noch, drängt Yeshua, sollen wir die Begegnung mit Gott – die Erleuchtung – suchen:

„Sucht den Lebendigen, solange ihr lebt, sonst könntet ihr sterben und dann versuchen, den Lebendigen zu finden, und ihr werdet nicht fähig sein, zu erkennen.“ (Logion 59)

Das ist kein tröstendes Versprechen auf ein Paradies nach unserem physischen Tod, dafür umso mehr Motivation, uns selbst auf die spirituelle Suche zu begeben. Nicht an einem anderen Ort und auch zu keiner anderen Zeit als hier und jetzt können wir entdecken, wer oder was wir in Ewigkeit und Wahrheit sind:

„Vielmehr ist das Königreich in euch, und es ist außerhalb von euch. Wenn ihr euch selbst erkennt, werdet ihr erkannt, und ihr werdet verstehen, dass ihr die Kinder des lebendigen Vaters seid.“ (Logion 3)

Um zu erkennen, dass wir eins sind mit dem Höchsten – Gott, Vater, Mutter, Brahman, Tao oder wie wir es auch nennen mögen – müssen wir uns auf die Suche begeben. Yeshua rät uns, dabei durchzuhalten: „Sucht und hört nicht auf zu suchen, bis ihr findet.“

Den großen Schatz, den wir heben können – die Einheit mit dem Höchsten – nennt Yeshua auch den großen Fisch. Mögen wir alle ihn machen, den größten Fang unseres Lebens!

ÜBER DIESES BUCH

Dieses Buch enthält alle 114 Lehrsprüche (Logia) des Thomas-Evangeliums. Die Kommentierungen verstehen sich nicht als akademisch–theologische Abhandlungen, die sich ins Lehrgebäude irgendeiner Kirche einfügen ließen. Ich will die Weisheit Yeshuas in diesem Buch vielmehr ins Licht der spirituellen Philosophie und Mystik stellen. Das Denken des Ostens bildet dabei einen Schwerpunkt, aus gutem Grund: Die gleichen Ideen, die Yeshua bewegen, finden wir auch in den Upanishaden, in der Bhagavad Gita, in Patanjalis Yogasutra oder dem Tao Te King. Wir finden sie in den alten Schriften des Zen und bei den großen Mystikern, seien sie nun aus dem Morgenland oder aus der christlichen Mystik des Westens.

Es kann auch gar nicht anders sein. Wenn Yeshua, der Mystiker aus dem Mittleren Osten, tatsächlich auf die Wahrheit verweist, so wie das auch die Weisen aus dem fernen Osten zu tun versuchen, dann muss es dieselbe Wahrheit sein. Zwei Wahrheiten in gleicher Angelegenheit kann es schlecht geben.

Die Lehrsprüche wurden aufgeschrieben von Judas Didymus Thomas*, einem der zwölf Jünger Yeshuas. Man nennt ihn auch den „ungläubigen Thomas“, weil er nicht glauben konnte, dass Yeshua den Aposteln nach seinem Tode erschienen war. Thomas war nicht dabei, als das geschah. Als seine Brüder ihm von dem Ereignis berichteten, soll er gesagt haben:

„Bis ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, werde ich nicht glauben.“ (Joh 20,25)

Als der Meister sich dann nochmals zeigte, durfte der zweifelnde Thomas die Wundmale Yeshuas berühren und ließ sich überzeugen. Thomas wollte nicht glauben, sondern wissen. Und es ist eben diese Eigenschaft – gesunde Skepsis in Verbindung mit der Offenheit auch gegenüber dem Unglaublichen –, die Thomas geradezu prädestiniert, Botschaften aufzuschreiben, wie wir sie im Thomas-Evangelium finden. Denn eben darum geht es immer wieder, wie wir sehen werden – um Wissen, nicht um Glauben.

Das Thomas-Evangelium gehört ohne jeden Zweifel in den Reigen jener Schriften, die uns zur Selbst-Erkenntnis führen wollen, zu Jnana, wie man im Sanskrit sagt, ein Wort, das im Griechischen zu Gnosis wurde, das ebenfalls Selbst-Erkenntnis, Selbstverwirklichung oder Erleuchtung bedeutet. Gnostiker nannte die Kirche jene Menschen mit verächtlichem Unterton, die mutig ihr inneres Licht suchten, anstatt den zwangsbewehrten Regeln der offiziellen Kirche zu folgen. Viele von ihnen bezahlten teuer für ihre mutige Haltung. Yeshua selbst ist das beste Beispiel dafür.

Diese dunklen Tage sind zum Glück vorüber. So können wir uns in innerer und äußerer Freiheit den Worten Yeshuas und aller anderen Weisen der Welt zuwenden und für uns selbst erforschen, ob sie zu uns sprechen, vielleicht einen Stein ins Rollen bringen, uns motivieren oder mit Hoffnung erfüllen. Wenn sie auf reifen Boden fallen, vermögen Yeshuas 114 Weisheitsworte sogar, uns in direkte Verbindung mit Sophia, der Weisheit in uns, zu bringen. Der Meister verspricht:

„Ich werde euch geben, was kein Auge gesehen hat, was kein Ohr gehört hat, was keine Hand berührt hat, und was nicht im Herzen des Menschen gewachsen ist.“ (Logion 17)


* Didymus heißt „der Zwilling“; und Thomas kommt vom aramäischen ta’am, was ebenfalls „der Zwilling“ heißt.

DAS THOMAS EVANGELIUM

Dies sind die geheimen Worte,
die der lebendige Yeshua sprach
.

Didymus Judas Thomas schrieb sie auf.

1

Und er sagte:

Wer versteht, was diese Worte bedeuten, wird den Tod nicht schmecken.

Yeshua hält sich nicht mit Vorreden auf. Schon im ersten Satz kommt er auf das höchste Ziel zu sprechen: Die Unsterblichkeit. Sie ist möglich, lehrt er, wenn wir verstehen, was er sagt. Er meint ein Verstehen, das über die Worte hinausgeht, denn mit der Wörtlichkeit kommen wir nicht weit, wenn wir uns seiner Botschaft nähern wollen. Wir sollen auslegen, um zu erkennen, deuten, um zu begreifen. Die Wahrheit liegt nicht in den Worten, sondern in der Schwingung, die sie erzeugen. Und natürlich darin, dass wir auch zu leben versuchen, was wir verstanden haben.

Der Meister fordert seine Schüler auf, mit seiner Botschaft zu arbeiten. Nur so lässt sich ein Gespür dafür entwickeln, was er sagen will. Midrasch nennt man das in der Tradition der jüdischen Mystik. Da sind Worte keine Heiligtümer, die man nicht anrühren darf, im Gegenteil, sie verlangen geradezu danach, schöpferisch mit ihnen umzugehen, sie anders und immer wieder neu zu wenden und nach Wegen zu suchen, die uns in eine lebendige Verbindung mit der inneren Wirklichkeit bringen, auf welche sie hindeuten. Die Auslegung – oder Hermeneia, wie es im altgriechischen Original des Thomas-Evangeliums heißt – ist spirituelle Praxis. Bleiben wir an der Oberfläche der Worte, verirren wir uns im Wald der Rätselhaftigkeit. Keine Erkenntnis wartet dort. Und – das ist wichtig – wir gewinnen auch nicht viel, wenn wir nichts tun, denn der Weg der Erkenntnis ist einer, den man gehen muss.

Was unsagbar ist und ohne Grenzen, ungeboren und unsterblich, darauf will jedes einzelne Wort Yeshuas verweisen. Auf „Gottes Funke“, der in uns leuchtet, oder Sophia, die lebendige Weisheit in unseren Herzen. Sich mit ihr zu verbinden, ist Gnosis, die Erkenntnis unserer selbst – oder Yoga, die Verbindung mit unserer spirituellen Essenz. In den Upanishaden, Indiens mystischen Schriften, lesen wir über die Unsterblichkeit:

„Das Selbst kann man nicht mit den physischen Augen sehen. Doch es kann in den Tiefen eines reinen Herzens erkannt werden. Wer es erkennt, wird unsterblich.“2

2

Yeshua sagte:

Sucht und hört nicht auf zu suchen, bis ihr findet. Wenn ihr findet, werdet ihr verwirrt sein. Wenn ihr verwirrt seid, werdet ihr euch wundern und herrschen über das All.

Yeshua kann uns nicht einfach zu unserem inneren Licht führen. Keiner kann das, kein Guru und kein Heiliger vermochte das jemals. Wäre es anders, müsste niemand mehr suchen, denn die Menschen wären schon alle längst erleuchtet. Die einfache Wahrheit ist, dass niemand für uns atmen, fühlen, sehen, essen oder gehen kann. Keiner vermag unser Leben für uns zu leben. Selbsterkenntnis wird nicht einfach gegeben. „Wer steigt für uns in den Himmel hinauf“, fragt Mose zurecht, „und holt es uns und verkündet es uns, damit wir danach handeln können?“ (Dtn 30,12). Natürlich niemand, außer wir selbst.

Alles hat seinen Preis, das gilt auch für die Erkenntnis. Wir müssen sie wollen und uns darauf ausrichten, danach streben in jedem Moment, also unseren Willen mobilisieren und einen Entschluss fassen. Das Suchen ist ein Lebensweg, und manchmal kann er steinig sein. Der WEG hält seine Schwierigkeiten bereit. Die Yogis sagen Tapas dazu, die Hitze, und meinen schlicht die Bemühung. Wer die Perle will, muss in die Tiefe, muss sich anstrengen und nach ihr tauchen. Wenn wir auf dem Weg bleiben, nicht nachlassen und die Suche nicht aufgeben, sagt Yeshua, dann werden wir unser inneres Licht finden.

Yama, Herr über Leben und Tod im indischen Pantheon, belehrt den mutigen Jungen Nachiketa über den Weg des Mystikers, den Sucher, der nach innen schaut: „Der stille Mensch, der die Unsterblichkeit will“, erklärt er ihm, „erblickt das innere Selbst mit geschlossenen Augen.“3 Nicht erst im Paradies wohlgemerkt, in einem Leben nach dem Leben, nicht später und auch nicht anderswo, sondern hier und heute, noch in diesem Leben, können wir die Perle finden, sagt der Gott des Todes. Befreite Wesen können wir sein in unseren Körpern. Jivanmuktis nennt man sie im Yoga.

Die Erfahrung dieses Seins, wenn das Gewahrsein in sich selber ruht, jenes Eingehen in die Stille, wo wir zu Zeugen unserer selbst werden und die ursprüngliche Formlosigkeit reinen Christus-Bewusstseins erfahren, aus der alles kommt, was ist, und in die hinein sich alles wieder auflösen und zurückfließen wird, dieser Ozean der Glückseligkeit überwältigt und verwirrt jeden, der ihn erfährt. Sat-Chit-Ananda, die Einheit von Sein, Bewusstsein und Glückseligkeit, kann nur in Bildern und Symbolen, in Metaphern und Poesie, und auch damit nur ganz unvollkommen, ausgedrückt werden, denn „jenseits der Sinne liegt das Große Eine“, lehrt Meister Laotse – „unsichtbar, unhörbar, unfassbar“.4 Welcher Mensch könnte nicht verwirrt sein angesichts einer vitalen Erkenntnis, die nicht eine des Verstandes ist?

Das Erfassen des Unfassbaren, des Großen Einen – Gott oder der Quelle, der die Vielfalt des Alls entströmt – erhebt uns über die Begrenzungen der Existenz in Raum und Zeit. Freisein. Himmelreich. Kaivalya, das Losgelöstsein, sagen die Yogis dazu. Oder auch Moksha, die Befreiung.

Wer befreit ist aus den Fängen einer zu eng gewordenen Ich-Welt, wird Herr in jenem Haus, das sein Inneres ist, und bleibt nicht länger der Sklave des Egos. Die Welt im Spiegel seines Geistes wird ihn nicht länger beherrschen. Vielmehr ist er selbst es, der alles beherrschen wird.

3

Yeshua sagte:

Wenn eure Führer euch sagen: „Seht, das Königreich ist im Himmel“, dann werden die Vögel vor euch dort sein.

Wenn sie euch sagen: „Es ist im Meer“, dann werden die Fische vor euch dort sein. Vielmehr ist das Königreich in euch, und es ist außerhalb von euch.

      Wenn ihr euch selbst erkennt, werdet ihr erkannt, und ihr werdet verstehen, dass ihr die Kinder des lebendigen Vaters seid. Aber wenn ihr euch nicht selbst erkennt, dann lebt ihr in Armut, und ihr seid die Armut.

Yeshua bringt die Gelehrten gegen sich auf

Yeshua nimmt kein Blatt vor den Mund. Vertraut nicht euren Führern, sagt er, die euch weismachen wollen, das innere Licht sei anderswo als in eurem Herz-Geist. Vertraut vielmehr nur auf euch selbst. Blickt in eure eigene Tiefe. Dort könnt ihr die Stimme eures inneren Lehrers hören. Malkutha, das Königreich, wie Yeshua es in seiner Muttersprache, dem Aramäischen, nannte, ist nirgendwo und nirgendwann, nur im Hier und Jetzt, der einzigen Zeit, die existiert. Ewigkeit ist ein anderes Wort dafür. Also müssen wir nicht in den Himmel hinaufsteigen. Mose, von dem gerade die Rede war, wusste das natürlich, weshalb er auch sagte: „Nahe ist das Wort in deinem Mund und in deinem Herzen.“ (Dtn 30,14 Keine Neuigkeit also bringt Yeshua uns, sondern die Ewigkeit.

In ein Ein Kurs in Wundern, einem gechannelten Werk aus den 70er Jahren, das Weltruhm erlangen sollte, schrieb die New Yorker Psychologin Helen Schucman (1909–1981 auf, was ihre innere Stimme ihr diktierte, eine Stimme, die sie Jesus zuschrieb (obgleich ihr akademisch ausgebildeter Verstand sich immer wieder dagegen wehrte – doch vor der Wirklichkeit brechen irgendwann auch die letzten Mauern ein). Yeshua sagte zu Helen über die Zeit: „Die Ewigkeit ist eine Zeit, und ihre einzige Dimension ist ‚immer’.“5

Das Himmelreich ist ein Bewusstseinszustand. Unser Lebensweg und unsere spirituelle Praxis können uns zu ihm führen. Das ist Philosophia perennis, ewige Weisheit, von allen Mystikern immer wieder entdeckt.

Totale innere Freiheit untergräbt den Machtanspruch der Herrschenden, erst recht, wenn Religion und Politik eine unheilsame Verbindung eingehen, was auch heute noch vielerorts der Fall ist. Würdenträger, Priester und Kirchen stellen sich zwischen die Menschen und das Höchste: „Halte dich an uns“, lehren sie, „und tue, was wir dir sagen. Beichte uns, was du im Geheimen denkst. Gib uns ‚den Zehnten’! Dann, wenn du gestorben bist, gelangst du in das Himmelreich.“

Die Führer nähren ihre Macht, indem sie den Menschen Angst machen. „Hältst du dich nicht an uns, wirst du Höllenqualen leiden.“ Viele Heilige mussten nicht auf die Hölle im Jenseits warten, sie erfuhren sie schon auf Erden, in Folterkellern und auf Scheiterhaufen. So errichtete die institutionalisierte Religion Mauern aus Angst als Fundamente ihrer Macht. Im Matthäus-Evangelium greift Yeshua die intellektuelle, religiöse und politische „Elite“ direkt an:

„Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Ihr selbst nämlich geht nicht hinein, und die hineingehen möchten, die lasst ihr nicht hinein.“ (Mt 23:13)

Yeshua wandte sich gegen die institutionalisierte Religion, der Macht und Pfründe wichtiger sind als Wahrheit und Erlösung. Lebte er heute als Mensch unter uns, so würde er es sicher wieder tun.

Wo wir nicht erkennen, dass das Himmelreich ein innerer Zustand ist, nicht aber ein Ort, eine Zeit order irgendetwas, das vermittelt werden könnte, da leben wir in Armut, getrennt von der Ganzheit des Seins, getrennt vom Leben, von der Liebe und von Gott. Yeshua nannte Gott oder das Höchste ABWUN, ein Wort, das meist mit Vater übersetzt wird. Es ist aber viel weiter in seiner Bedeutung und kann ebenso Mutter heißen oder All-Einheit oder Vater-Mutter-Kosmos – die Fülle eben, aus der das Leben kommt. Ohne eine innere Anbindung daran erfahren wir Mangel, sagt Yeshua.

Yeshuas ABWUN und die Kraft, die uns Leben gibt, sind eins. Deshalb lautet die Maxime des Orakels von Delphi: Gnothi seauton – erkenne dich selbst! Wenn ich mich selbst erkenne, dann, so sagt Yeshua in diesem Logion, werde ich erkannt: Das Höchste und ich begegnen einander. Gott wohnt in mir. Und er wohnt auch außerhalb von mir. Überall ist er, alles und jedes durchflutend. Niemanden brauche ich, der dem Höchsten erlaubt, in mir zu sein oder ich in Ihm – so wenig, wie ich jemanden brauche, der meinem Herzen erlaubt zu schlagen. Der sanfte Yogi Satchidananda (1914–2002 sagte einmal zu seinen Schülern:

„Ihr alle habt den Lehrer in euch. Immerzu leitet er euch, spricht zu euch. Doch leider nehmt ihr euch nicht die Zeit zuzuhören. Ein anderer spricht zu euch. Wenn ihr ihn zur Ruhe bringt, dann werdet ihr dem inneren Lehrer zuhören können.“6

Wer Ohren hat, der möge hören.

4

Yeshua sagte:

Der Mensch, alt an Tagen, wird nicht zögern, ein kleines Kind von sieben Tagen nach dem Ort des Lebens zu fragen, und dieser Mensch wird leben. Denn viele der Ersten werden Letzte sein, und sie werden eins sein.

Yeshua spielt gerne mit dem Bild des Kindes. Es vermittelt uns Unberührtheit, Reinheit, Fröhlichkeit und Glückseligkeit. Das Kind ist noch frei davon, die Welt mit dem Verstand zu erklären, sie in Begriffe und Schubladen einzuordnen, in „mag ich“ und „mag ich nicht“ aufzuteilen oder urteilend mit dem Finger auf die anderen zu zeigen. Das Neugeborene blickt einfach voller Staunen in die Welt. Nur Augen, die ohne Ego schauen, können sehen wie ein Kind. In Momenten totaler Präsenz können wir etwas vom süßen Geschmack dieser Urteilslosigkeit erfahren. Auch der Zen-Meister Kanchi Sosan (6. Jh. n. Chr.) lehrt seine Schüler diese ewige Wahrheit:

„Es ist nicht schwer, den WEG zu durchdringen,

wenn du nur frei bist von Neigung und Abneigung.“7

In der jüdischen Tradition findet die Beschneidung der Jungen am achten Tag nach der Geburt statt. Damit wird das Kind offiziell in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen und Teil der institutionalisierten Religion. Aus der Perspektive Yeshuas steht dieser Tag für die Konditionierung des Geistes, für die Einteilung, Beund Ver-Urteilung der Welt: Mein Gott, dein Gott, richtig, falsch. Am siebten Tage noch ist der Geist nackt und unschuldig. Dieser Tag symbolisiert die (Noch-)Einheit mit dem Höchsten, die Ganzheit (so wie Sahasrara, das siebte Chakra, für die Einheit mit Brahman steht). Der achte Tag aber steht für die Trennung, das Verlassen der ursprünglichen Einheit und den Verlust der Unschuld. Der achte Tag ist Vergessen, das Verpflanzen des Weinstocks, weit ab vom Vater, wo der schmerzhafte Prozess des Verdorrens beginnt. (Logion 40)

Das alles ist doch ziemlich provozierend: Da, wo die Menschen einen rituellen Akt setzen, der die Aufnahme in den Bund Gottes ausdrücken will, sieht Yeshua das Gegenteil, nämlich die Trennung von unserer inneren Wirklichkeit. Dass er sich unter den Priestern und Gelehrten seiner Zeit damit keine Freunde gemacht hat, wird niemanden verwundern. Der alte Mensch, sagt Yeshua, erblickt die Wahrheit in der Idee des siebten Tages. Das Neugeborene kommt aus dem Höchsten, in das hinein man nur gehen kann, wenn der Geist frei und nicht-konditioniert ist, geläutert, sich selbst erkennend. Die spirituelle Praxis – Ethik, Meditation, Kontemplation, Gebet – will uns eben dorthin bringen: „Zu einer spirituellen Neugeburt, einer Rückkehr zum Zustand des Kindes im Sinne von Wahrhaftigkeit des Denkens und Sprechens und einer einfachen Direktheit des Handelns.“8

Das Kind von sieben Tagen oder der erleuchtete Geist des Alten: Sie sind der Himmel. Da schließen sich Kreise, und wir kommen wie von selber zum zweiten Teil des Spruches, der sagt, dass viele der Ersten Letzte sein werden. Der muslimische Mystiker Rumi (1207–1273 erklärt, was gemeint ist:

„Die frische, vollkommene Frucht tritt erst am Schluss ins Dasein. Und obwohl die Frucht das Letzte ist, das ins Dasein tritt, ist sie in Wahrheit das Erste, denn sie war das Ziel.“9

Von Anfang an sind wir um eines höchsten Zweckes willen in der Welt, nämlich um Mensch zu werden in der vollkommenen Bedeutung des Wortes. Das Dharma des Menschen – seine Bestimmung und Aufgabe in einem spirituellen Sinne – ist das Zu-sich-selber-Kommen. Heimkehr. Der Anfang ist eins. Das Ende ist eins. Aus dem Einen kommen die Ersten, und in das Eine werden auch die Letzen wieder eingehen, in den wunderbaren und glückseligen Bewusstseinszustand des siebten Tages, jenen geheimnisvollen Begegnungspunkt, an dem der Kreis des Lebens sich schließt. Der Ursprung jeder Erfahrung, egal in welchem Bewusstseinszustand wir sie machen (wachend, träumend oder tief und traumlos schlafend), kommt aus der Quelle des reinen Bewusstseins selbst.

5

Yeshua sagte:

Erkennt, was vor euren Augen ist, und was euch verborgen ist, wird aufgedeckt werden. Es gibt nichts Verborgenes, das nicht aufgedeckt werden wird.

Auf unserem Geistfeld finden sich, meist gut versteckt und vergraben, unsere tief liegenden Überzeugungen und eingefahrenen Gewohnheiten. Dort liegen Gedanken, Erinnerungen, Emotionen und seit langem Verdrängtes. Das meiste davon ist unbewusst und vieles schmerzhaft. Wir wollen das nicht gerne anschauen. Doch was ändert das an ihrer Existenz und an der Energie, die ihnen innewohnt? Alles das wird seine Wirkung enftalten, sagt das universale Gesetz des Karma. Gesäte Samen werden reifen und sich manifestieren. Das Verborgene wird offenbar werden. Im Falle verdrängter Emotionen zum Beispiel als körperliches oder psychisches Leiden, vielleicht sogar in destruktiven Handlungen.

„Erkennt, was vor euren Augen ist.“

Der spirituelle Weg will nichts verdrängen. Er ist vor allem ein Weg der psychologischen Selbsterforschung, die aktiv das Verborgene in unser Sichtfeld bringen will. Auf jede Facette unseres Wesens soll das reinigende Wasser unserer Bewusstheit geleitet werden. Patanjali (um 200 v. Chr.), der Verfasser des Yogasutra, der wichtigsten Schrift des Yoga, nennt die Praxis der Selbsterforschung Svadhyaya, was so viel heißt wie „in uns selber hineingehen“. Wenn wir das tun, gelangt das verdrängte Material ans Licht, jene Saaten, die wir in die Erde gebracht, und jener Schmerz, den wir in die dunkelsten Ecken unseres Geistes verbannt haben.

Wenn wir einer systematischen Meditationspraxis nachgehen, können wir Buddhi, das Licht unserer Bewusstheit, in diese Ecken bringen, den Schmerz anschauen, ihn annehmen und verstehen, um ihn schließlich loszulassen. Yeshua nennt dieses Loslassen auch Vergebung. Im Yoga nennt man es Vairagya. Das, was verborgen ist, wird auf heilsame Weise offenbar – und wir können uns so davon befreien. Wir stellen den ursprünglich heilen Zustand wieder her. Genau das bedeutet auch sebaq, das aramäische Wort für die Vergebung: Das Lösen, Loslassen oder Befreien, um etwas in seinen heilen, natürlichen Zustand zurückzuführen.

Das Letzte, das offenbar werden wird, ist zugleich das Erste, ganz im Sinne des zuvor besprochenen Logions. Es ist das, was immer schon da war und auf ewig da sein wird: Unser inneres Licht, vergraben unter mentalem Staub und Schutt; verdunkelt von Schuldgefühlen und verdrängtem Schmerz; vergessen und nur darauf wartend, von uns wiederentdeckt zu werden.

Und wie sieht es aus, dies Licht, das Zen-Meister Huang Po (9. Jh.) GEIST nennt? Hören wir ihn selbst:

„Dieser GEIST, der keinen Anfang hat, ist ungeboren und unzerstörbar. (…) Er ist das, was du vor dir siehst – wenn du anfängst, darüber nachzudenken, wirst du sogleich dem Irrtum verfallen. Er ist wie die grenzenlose Leere, die nicht erfasst oder ausgemessen werden kann.“10

6

Seine Schüler fragten ihn:

Verlangst du, dass wir fasten? Wie sollen wir beten? Sollen wir Almosen geben? Welche Ernährungsvorschriften sollen wir befolgen?

Yeshua sagte:

Lügt nicht, und tut nicht, was ihr hasst. Alle Dinge werden vor dem Himmel offenbar. Es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar werden wird, und es gibt nichts Verstecktes, das nicht aufgedeckt werden wird.

Yeshuas Sprüche klingen rätselhaft. Das erinnert uns an die Zen-Lehrer, die mit ihren Koans das Rätselhafte als Methode für sich entdeckt haben, um den Verstand über das Denken hinauszuführen: Wenn man ihn an seine Grenzen bringt, dahin, wo er leerläuft und sich aufreibt, in die sokratische Aporie sozusagen, wo auch das Argumentieren und alle Logik in einer Sackgasse enden, da kann Anderes, Tieferes zum Vorschein kommen.

Man bekommt von Yeshua keine einfachen Antworten, kein simples „Tue dies und tue das“ als konkrete Handlungsempfehlung. Würden wir Yeshua zum Beispiel fragen, welchen Beruf wir ausüben sollten, so würde er uns klarmachen, dass er kein Berufsberater ist. Einen sehr grundlegenden Rat aber würde er uns mit auf den Weg geben, und im vorliegenden Spruch tut er genau das: Tue etwas, das deinem Wesen entspricht, etwas, das du liebst. Belüge dich nicht selbst. Sage nichts, was du nicht denkst, und tue nichts anderes, als du sagst. Sei ehrlich bei allem, was du machst – mit dir und den anderen. Mit anderen Worten: Sei authentisch!

Ob wir in die Kirche gehen, Gebete sprechen, meditieren oder Statuen und Bilder verehren; ob wir spirituelle Lieder singen, spenden oder was auch immer tun: Solange das nur äußere Akte bleiben, bedeuten sie nicht viel. Der äußere Akt erfährt seine Bedeutung und heilsame Wirkung erst in seiner Übereinstimmung mit unserer inneren Haltung.

Nicht zu tun, was wir hassen, darin liegt noch eine weitere Bedeutungsdimension: Regula aurea, die Goldene Regel. So wenig wir uns selbst antun dürfen, was wir hassen, dürfen wir es den anderen antun. Selbstachtung und die Wertschätzung unseres Nächsten sind wie die zwei Seiten einer Medaille. Alle Wesen sind sich an einem fundamentalen Punkt gleich, nämlich im Bedürfnis, Leid zu überwinden und Glück zu erfahren. Irgendwann kommt alles ans Tageslicht. Das ist ganz offenbar.

Die Vertreibung des Egos

7

Yeshua sagte:

Gesegnet ist der Löwe, wenn ein Mensch ihn isst, so dass der Löwe Mensch wird. Verdorben ist der Mensch, wenn ein Löwe ihn isst, so dass der Mensch Löwe wird.

Dem Löwen eilt der schlechte Ruf voraus, träge und gefräßig zu sein. Er lässt die Löwinnen die Jagd erledigen, denn er strengt sich nicht gerne an. Wenn sie die Beute bringen, frisst er als Erster und holt sich die besten Stücke. Er schert sich nicht um den Rest des Rudels, nicht einmal um seine Kleinen. Die anderen müssen teilen, was der faule Fresser übrig lässt.

Der Löwe steht als Sinnbild für die größte Hürde, die der Mensch auf seinem spirituellen Weg nehmen muss, für den Widersacher,