GEFÄNGNISTAGEBUCH:

J´ACCUSE – ICH KLAGE AN

Apokryphe Haftgründe (Band 5)

„Die Untersuchungshaft ist ein Relikt aus dem Mittelalter. Hier werden Menschen, für die die Unschuldsvermutung gilt, in eine Zelle gepfercht … und sind meist von jeglicher Außenkommunikation abgeschnitten … Sie darf hierzulande sechs Monate und länger dauern. Tatsächlich sitzen viele Beschuldigte weit länger unverurteilt in Haft. In dieser Zeit werden Beschuldigte mürbe gemacht. Die Untersuchungshaft ist gesetzlich zugelassener Psychoterror, sprich Folter“ (Die Welt vom 19.06.2018)

Richard A. Huthmacher

GEFÄNGNISTAGEBUCH:

J´ACCUSE – ICH KLAGE AN

Apokryphe Haftgründe (Band 5)

„Packen Sie

Ihre Sachen

Sie werden

sofort entlassen

Ihr Richter

hat gestanden“

(Peter Paul Zahl: Häftlingstraum)

Für meine Mithäftlinge. Insbesondere für Michi, Leopold und Sebastian. Drei wertvolle, kluge Menschen. Auch wenn man sie wie Un-Menschen behandelt(e).

 

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INHALTSVERZEICHNIS
BAND 1 BIS BAND 6

BAND 1: Sehnsucht. Nach einer verlorenen Zeit

Zueignung

Ein langes Vorwort. Als kurze Einleitung. Zum Gefängnis. Welches Ausdruck und Folge der Herrschaft des Menschen über den Menschen

Donnerstag, den 5.7.2018. Tag der Verhaftung und Einlieferung: Sic transit gloria mundi

Freitag, den 6.7.2018. 2. Tag der Untersuchungshaft: Es herrscht babylonisches Sprachengewirr

Sonntag, den 8.7.2018. 4. Hafttag: Sehnsucht. Nach einer verlorenen Zeit

Montag, den 9.7.2018. 5. Tag der Haft: Warum nur, warum?

Ein kurzes Nachwort. Weil – fast – alles gesagt

Epilog

Der Autor. Und sein Werk

BAND 2: Wer nie gelogen und nie betrogen . . .

Zueignung

Ein langes Vorwort. Als kurze Einleitung. Zum Gefängnis. Welches Ausdruck und Folge der Herrschaft des Menschen über den Menschen

Dienstag, den 10.7.2018. 6. Tag der Haft: Sind es die Gesichter von Menschen?

Mittwoch, den 11.7.2018. 7. Hafttag: Das Mädchen Beate

Donnerstag, den 12.07.2018. 8. Hafttag und einwöchiges Haft-„Jubiläum“: Wer nie gelogen und nie betrogen …

Freitag, den 13.07.2018. 9. Hafttag: ius aut iustitia?

Ein kurzes Nachwort. Weil – fast – alles gesagt

Epilog

Der Autor. Und sein Werk

BAND 3: Weil im Schmerz der andern das eigne Leid man fand

Zueignung

Ein langes Vorwort. Als kurze Einleitung. Zum Gefängnis. Welches Ausdruck und Folge der Herrschaft des Menschen über den Menschen

Samstag, den 14. Juli 2018. 10. Hafttag: Es brodelt. Auf der ganzen Welt

Sonntag, den 15. Juli 2018. 11. Hafttag: Sum qui sum – ich bin, der ich bin, und ändern werdet ihr mich nicht

Montag, den 16. Juli 2018. 12. Hafttag: Weil im Schmerz der andern das eigne Leid man fand

Ein kurzes Nachwort. Weil – fast – alles gesagt

Epilog

Der Autor. Und sein Werk

BAND 4: Ich will nicht euer Hofnarr sein

Zueignung

Ein langes Vorwort. Als kurze Einleitung. Zum Gefängnis. Welches Ausdruck und Folge der Herrschaft des Menschen über den Menschen

Dienstag, den 17.7.2018. 13. Hafttag: Ich will nicht euer Hofnarr sein

Mittwoch, den 18.07.2018. 14. Tag der Untersuchungs-Haft: Angst. Und Gefängnis

Donnerstag, den 19.07.2018. 15. Tag der Haft: Nichts ist, wie es scheint

Ein kurzes Nachwort. Weil – fast – alles gesagt

Epilog

Der Autor. Und sein Werk

Band 5: Apokryphe Haftgründe

Zueignung

Ein langes Vorwort. Als kurze Einleitung. Zum Gefängnis. Welches Ausdruck und Folge der Herrschaft des Menschen über den Menschen

Freitag, den 20.7.2018. 16. Tag der Haft: Apokryphe Haftgründe, doppeltes Gesetz, Schwerst-Kriminelle und Schwarzfahrer

Samstag, den 21.7.2018. 17. Hafttag: Man muss das Leben eben nehmen, wie das Leben eben ist - Teil 1

Ein kurzes Nachwort. Weil – fast – alles gesagt

Epilog

Der Autor. Und sein Werk

BAND 6: Skylla? Oder Charybdis ? Man muss das Leben eben nehmen, wie das Leben ben ist

Zueignung

Ein langes Vorwort. Als kurze Einleitung. Zum Gefängnis. Welches Ausdruck und Folge der Herrschaft des Menschen über den Menschen

Samstag, den 21.7.2018. 17. Hafttag: Man muss das Leben eben nehmen, wie das Leben eben ist - Teil 2

Sonntag, den 22.7.2018, 18. Hafttag: Was für ein Leben

Montag, den 23.7.2018, 19. Tag der Haft: Mein Zellennachbar singt rumänische Volkslieder

Dienstag, den 24.7.2018. 20. und vorletzter Tag der Haft: „Kreisrichter und andere Revolutionärs“

Mittwoch, den 25.7.2018. 21. und letzter Tag der Haft: Skylla? Oder Charybdis

Ein kurzes Nachwort. Weil – fast – alles gesagt

Epilog

Der Autor. Und sein Werk

Anhang (Zur Rechtswirklichkeit In diesem unseren Lande)

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Ein langes Vorwort. Als kur-
ze Einleitung. Zum Gefängnis.
Welches Ausdruck und Folge
der Herrschaft des Menschen
über den Menschen

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Die internationale Gefangenen-/Gefängnis-Literatur ist nicht besonders umfangreich; dies liegt nicht zuletzt daran, dass Literaten selten im Gefängnis sitzen und Gefängnis-Insassen im allgemeinen keine Literaten sind. Ausnahmen (s. im Folgenden) bestätigen, auch hier, die Regel. Noch seltener sind Gefängnis-Tagebücher (die selbstverständlich auch zur Gefangenen-Literatur zählen).

Letztlich darf sämtliche Prosa und Lyrik, die in Gefängnissen oder von Gefangenen – auch nach ihrem Gefängnisaufenthalt – verfasst wurde, zur „literarischen Spezies“ der Gefängnis-/Gefangenen-Literatur gezählt werden.

Es gibt nur wenig frühe Zeugnisse darüber, was Häftlinge in Gefangenschaft erlebt und wie sie das Erlebte physisch und psychisch, geistig, seelisch und mental verarbeitet haben.

Das älteste Werk, zumindest eine der ältesten Abhandlungen der Gefangenen-Literatur dürfte die Consolatio philosophiae (Der Trost der Philosophie) des römischen Philosophen (Anicius Manlius Severinus) Boethius sein, die im 6. nachchristlichen Jhd. entstand und als Dialog zwischen dem Autor und einer personifizierten Philosophie (welche den Neuplatonismus vertritt) konzipiert ist: Die Philosophie tröstet, lehrt und belehrt den Autor, der auf Geheiß Theoderichs – des Ostgoten-Königs – wegen (angeblicher) konspirativer Beziehungen zum oströmischen Kaiser verhaftet, angeklagt und hingerichtet wurde, ohne dass er, so jedenfalls wird tradiert, die Möglichkeit hatte, sich zu verteidigen.

Boethius´ Werk, das im Mittelalter außerordentlich verbreitet war und zu den meistkommentierten philosophischen Abhandlungen jener Zeit gehört, dürfte indes nicht im Kerker selbst, vielmehr in einer Art von Hausarrest entstanden sein – zu zahl- und umfangreich sind Zitate wie Bezüge zu anderen philosophischen und literarischen Werken, als dass der Autor diese ohne Zugang zu einschlägigen Büchern verfasst haben könnte.

Zwar schrieb Sir Walter Raleigh, der englische Abenteurer, Politiker und Schriftsteller, seine History of the World während einer (dreizehn Jahre, von 1603 bis 1616 dauernden) Kerkerhaft; indes: „The work was originally conceived as a five volume set covering ancient history to the present, though Raleigh only completed this first volume.“ Es ging also nicht um die Befindlichkeiten des Gefangenen, um seine Ängste, Sorgen und Nöte; insofern handelt es sich nicht um Gefängnisliteratur im hier gebräuchlichen Sinne.

Ähnlich verhält es sich mit dem calvinistischen Theologen, Philosophen und Juristen Hugo de Groot (Hugo Grotius) und seinem theologischen Hauptwerk De veritate religionis Christianae: „Das Buch wurde u.a. von Leibniz gerühmt … und galt bis ins 18. Jh. als Klassiker theologischer Apologetik … Die Arbeit an De veritate hat Grotius fast zwei Jahrzehnte begleitet: von der Vorlage in niederländischer Sprache, die er im Arrest auf Loevestein verfasste, bis zur letzten, mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat versehenen lateinischen Fassung, die 1640 in Paris erschien.“ Grotius´ Bewijs van den waren Godsdienst wurde also z.T. im Kerker geschrieben, thematisiert indes nicht den Gefangenen und dessen Verfasstheit während der Gefangenschaft.

Christian Friedrich Daniel Schubart hingegen, der mutige Kämpfer gegen Fürstenwillkür, der mit seinen sozialkritischen Schriften die Dekadenz des Absolutismus anprangerte und deshalb vom württembergischen Herzog Carl Eugen in den Kerker geworfen wurde, schrieb ebenso konkret wie anrührend über seine Haft auf Hohenasberg (von 1777 bis 1787):

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Die bitteren Jahre seiner Festungshaft beschreibt der Burschenschaftler Fritz Reuter, der 1836 wegen „Teilnahme an hochverräterischen burschenschaftlichen Verbindungen in Jena und Majestätsbeleidigung“ zunächst zum Tode verurteilt, dann zu 30 Jahren Festungshaft „begnadigt“ worden war – von denen er schließlich sieben absitzen musste –, in seinem niederdeutschen Roman Ut mine Festungstid:

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Seine Erfahrungen in einem sibirischen Gefangenenlager (in der Zeit von 1849 bis 1853) schildert Dostojewski in den Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (auch: Aufzeichnungen aus einem toten Haus); er thematisiert die Grausamkeit des Lagers, die Schikanen des Wachpersonals und die der Gefangenen untereinander, die hierarchische Gliederung, die keinerlei Aufbegehren duldet, die Bedeutung von Geld als „geprägter Freiheit“, mit der, will meinen: mit dem – und nur mit dem – man in dieser Parallelwelt überleben kann.

„Unser Zuchthaus lag am Rande der Festung, dicht am Festungswall. Wenn man zuweilen einen Blick durch die Spalten im Zaune auf die Welt Gottes warf – ob man nicht etwas von ihr sehen könne –, so sah man nur ein Stückchen Himmel und den hohen, von Unkraut überwucherten Festungswall, auf dem Tag und Nacht Wachtposten auf und ab gingen; und man dachte sich dann: es werden noch … Jahre vergehen, und wenn man wieder einmal einen Blick durch eine Spalte im Zaune wirft, wird man den gleichen Wall, die gleichen Wachtposten und das gleiche Stückchen Himmel sehen, nicht den Himmel, der über dem Zuchthause ist, sondern einen anderen, freien, fernen Himmel …

Einmal sah ich, wie ein Arrestant, der zwanzig Jahre in der Zwangsarbeit verbracht hatte und nun in die Freiheit gelassen wurde, sich von seinen Kameraden verabschiedete. Es gab Leute, die sich noch erinnerten, wie er zum erstenmal das Zuchthaus betreten hatte, jung, sorglos, ohne an sein Verbrechen und an die Strafe zu denken. Nun ging er als ergrauter Greis mit düsterem und traurigem Gesicht in die Freiheit … Ja, an diesem Orte konnte man Geduld lernen.“

Und zur Geduld wie zur Sehnsucht nach der Freiheit schreibt Rosa Luxemburg in Briefe aus dem Gefängnis:

„Ach, heute gab es einen Augenblick, da ich's bitter spürte. Der Pfiff der Lokomotive … sagte mir, daß … [sie] abdampft, und ich lief gerade wie ein Tier im Käfig den gewohnten ´Spaziergang´ an meiner Mauer entlang, hin und zurück, und mein Herz krampfte sich zusammen vor Schmerz, daß ich nicht auch fort von hier kann, oh, nur fort von hier!“

Selten zeitigen solche Briefe aus dem Gefängnis eine unmittelbare Wirkung; eine der wenigen bekannten Ausnahmen sind die Zuchthausbriefe von Max Hoelz:

„Max Hoelz war aufgrund einer falschen Anschuldigung 1921 zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt worden. 1927 erschienen seine ´Zuchthausbriefe´, herausgegeben mit einem Nachwort … [von] Egon Erwin Kisch. Ihre Veröffentlichung veranlasste eine Anzahl deutscher Intellektueller, darunter Bertolt Brecht, Martin Buber, Otto Dix, Albert Einstein sowie Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arnold Zweig und andere, eine ´Nachprüfung´ des Urteils zu verlangen. Am 18. Juli 1928 wurde Hoelz amnestiert und freigelassen.“

In seinem (1934 erschienenen) Gefängnisroman Wer einmal aus dem Blechnapf frißt schreibt Hans Fallada (der sechs Jahre seines Lebens in Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten saß):

„Der Strafgefangene Willi Kufalt geht in seiner Zelle auf und ab. Fünf Schritte hin, fünf Schritte her. Wieder fünf Schritte hin.

Einen Augenblick bleibt er unter dem Fenster stehen. Es ist schräg aufgestellt, soweit die eisernen Blenden das zulassen, und herein dringt das Scharren vieler Füße, auch einmal der Ruf eines Wachtmeisters: ´Abstand halten! Fünf Schritte Abstand!´

Station C hat Freistunde, eine halbe Stunde gehen sie dort im Kreis, an der frischen Luft.

´Nichts haben Sie zu reden! Verstanden?!´ ruft der Wachtmeister draußen, und die Füße scharren weiter.

Der Gefangene geht gegen die Tür, nun bleibt er dort stehen und lauscht in den Bau, der still ist.

´Wenn Werner heute nicht schreibt´, denkt er, ´muß ich zum Pfaffen gehen und betteln, daß sie mich in das Heim aufnehmen. Wohin soll ich sonst? Über dreihundert Mark macht mein Arbeitsverdienst sicher nicht. Die sind bald alle.´

Er lauscht immer noch. ´In zwanzig Minuten ist die Freistunde vorbei. Dann kommen wir runter. Sehen, daß ich vorher noch was Tabak krampfe. Ich kann doch nicht die letzten zwei Tage ohne Tabak sein.´

Er öffnet das Schränkchen. Sieht hinein. Aber natürlich ist kein Tabak da. ´Die Eßschüssel muß ich auch noch wienern, sonst kotzt Rusch mich an …´

Auf den Tisch legt er Jacke, Mütze, Halstuch. Wenn draußen auch ein strahlender, warmer Maitag ist, Halstuch und Mütze sind Vorschrift.

´In zwei Tagen ist es ja überstanden. Dann kann ich mich anziehen, wie ich mag.´

Er versucht sich vorzustellen, wie sein Leben dann sein wird, aber er kann es nicht.

´Da gehe ich also die Straße lang und da ist eine Kneipe und ich mache einfach die Tür auf und sage: Ober, ein Glas Bier …´“

Im Gegensatz zu Fallada, der sein Leben lang unter eben diesem seinem Leben litt, stilisierte sich Luise Rinser durch ihr (1946 erschienenes) Gefängnistagebuch (mit dem sie ihre Karriere als antifaschistische Schriftstellerin begründete) zur Märtyrerin – obwohl sie alles andere als ein Widerstandskämpferin war:

„Ihre Hitler verehrenden Gedichte sind … schon früh… bekannt geworden. [„Wir, des großen Führers gezeichnet Verschworene/Ungeborgen in scharfen Morgenstürmen/Halten auf Türmen und Gipfeln klirrende Wacht … Wir jungen Deutschen, wir wachen, siegen oder sterben, denn wir sind treu!“] Aber das ist nur ein Bruchteil. Als Junglehrerin hat sie ihren eigenen Schuldirektor, einen Juden, denunziert. Dadurch konnte sie sich profilieren und machte Karriere im Nazi-Staat. Sie wurde Ausbilderin beim Bund Deutscher Mädel, sie hat also Hitler-Jugend-Gruppenführerinnen ausgebildet. Ihr Biograf nennt Rinser daher eine Nazi-Pädagogin.“

„Was hat Luise Rinser also mit den Fakten rund um ihre Verfolgung und Verhaftung getan? Das, was ein Schriftsteller gemeinhin mit einem Stoff tut: Sie hat gerafft, zusammengezogen und dramatisiert. Nur dass der Stoff in diesem Fall kein Roman war, sondern ihr Leben, das sie auf gänzlich neue Füße stellte … Hätte Luise Rinser noch 20 Jahre länger gelebt und publiziert, hätte sie Hitler ganz allein besiegt.“

Autobiographische Erinnerungen an seine Inhaftierung(en) während des Dritten Reichs verarbeitete Wolfgang Borchert (Autor von Draußen vor der Tür) namentlich in seiner Erzählung Hundeblume: Häftling Nr. 432 (meine eigene Häftlingsnummer war, nur am Rande vermerkt, G1 15) entdeckt diese beim täglichen Hofgang; sie wird, nach und nach, zum Objekt seiner Hoffnungen und Wünsche, seiner Sehnsüchte und Projektionen. Als er sie endlich pflücken kann, erfüllt ihn ihr Anblick mit Zärtlichkeit und Güte; nächtens träumt er davon, wie er selbst zu Erde und wie aus dieser Erde neue Blumen werden:

„Die Tür ging hinter mir zu … Eine häßliche Tür mit der Nummer 432. Das ist das Besondere an dieser Tür, daß sie eine Nummer hat und mit Eisenblech beschlagen ist – das macht sie so stolz und unnahbar …

Du, Nummer 432, Menschlein – laß dich nicht besoffen machen von der Nacht! Deine Angst ist mit dir in der Zelle, sonst nichts! Die Angst und die Nacht. Aber die Angst ist ein Ungeheuer, und die Nacht kann furchtbar werden wie ein Gespenst, wenn wir mit ihr allein sind …

Die Wände waren so kalt und tot, daß ich krank wurde vor Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Man schreit wohl ein paar Tage seine Not raus – aber wenn nichts antwortet, ermüdet man bald. Man schlägt wohl ein paar Stunden an Wand und Tür – aber wenn sie sich nicht auftun, sind die Fäuste bald wund, und der kleine Schmerz ist dann die einzige Lust in dieser Öde …

[Eig. Anm.: Das Trommeln gegen die schweren Eisentüren gehört im Gefängnis zum Alltag wie die Luft zum Atmen; ich habe kaum eine Nacht erlebt, in der man nicht den Eindruck hatte, gleich müsse die ganze Anstalt aufgrund des ohrenbetäubenden Lärms zusammenbrechen.]

Habe ich schon gesagt, daß wir jeden Morgen eine halbe Stunde lang einen kleinen schmutzig-grünen Fleck Rasen umkreisen? … Auf der Suche nach Lebendigem, Buntem, lief mein Auge … zufällig über die paar Hälmchen hin … – und da entdeckte ich unter ihnen einen unscheinbaren gelben Punkt … Ich erkannte eine Blume, eine gelbe Blume. Es war ein Löwenzahn – eine kleine gelbe Hundeblume …

Die Sehnsucht, etwas Lebendiges in der Zelle zu haben, wurde so mächtig in mir, daß die Blume, die schüchterne kleine Hundeblume, für mich bald den Wert eines Menschen, einer heimlichen Geliebten bekam: Ich konnte nicht mehr ohne sie leben – da oben zwischen den toten Wänden!“

Und als Häftling 432 seine heimliche Geliebte endlich pflücken kann, ist er geradezu selig. Am Ort der Unseligen. Der Hoffnungslosen. Wo Menschen, vorgeblich, andere Menschen bessern wollen.

„Die ganze Nacht umspannten seine glücklichen Hände das vertraute Blech seines Trinkbechers, und er fühlte im Schlaf, wie sie Erde auf ihn häuften, dunkle, gute Erde, und wie er sich der Erde angewöhnte und wurde wie sie – und wie aus ihm Blumen brachen: Anemonen, Akelei und Löwenzahn – winzige, unscheinbare Sonnen.“

Ezra Pound, amerikanischer Dichter und Protagonist der literarischen Moderne, lebte seit 1924 im italienischen Rapallo; mit der von ihm verfassten Gefängnisliteratur, seinen Pisaner Cantos, namentlich mit den Cantos 72-73 (“Roosevelt, Churchill and Eden bastards to a man“: Cantos 73), mit seinen Cantos 72-73 habe er, Pound, antiamerikanische und rassistische (antisemitische) Hetze betrieben. So der Vorwurf. Interessierter Kreise.

Deshalb wurde Pound inhaftiert, wie ein Tier im Käfig gehalten und öffentlich ausgestellt; nach Ende des Krieges wurde er für geisteskrank erklärt und verbrachte die nächsten zwölf Jahre in einer staatlichen Nervenheilanstalt (in den USA).

Jedenfalls (und colorandi causa): Es war Ezra Pound, der Eustace Mullins, den Autor von The Federal Reserve Conspiracy – wo die Hintergründe der FED (amerikanischen „National“-Bank in den Händen einiger weniger Oligarchen) und deren unheilvolles Tun untersucht und einer breiteren Öffentlichkeit vor Augen geführt werden –, zu seinen, Mullins´, Forschungen über die Rothschilds, die Rockefellers und die Frères Lazard, über Paul Warburg, J. P. Morgan, über Edward Mandell House, Woodrow Wilson u.a. veranlasste: In diesem Kontext erscheint die Inhaftierung Pounds in einem völlig anderen Licht!

Mithin: Zweifelsohne war Pound ein politischer Gefangener; deshalb demütigten ihn seine Landleute, die amerikanischen „Befreier“ des faschistischen Italien, und stellten ihn in Pisa in einem Käfig aus. Wie ein wildes Tier. Das gewagt hatte, die Mächtigen dieser Welt zu attackieren.

Der Deutschlandfunk schreibt, fast siebzig Jahre später:

„Der Pound-Prozess[:] Unbestritten gehört Ezra Pound, der Verfasser der ´Pizan Cantos´, zu den bahnbrechenden Lyrikern des vorigen Jahrhunderts. Er hat Autoren wie James Joyce, T. S. Eliot und Ernest Hemingway und deren Werke entscheidend beeinflusst … Diese Autoren kommen auch im Pound-Prozess zu Wort: Während des Zweiten Weltkrieges hatte Pound über Radio Rom Kommentare gesprochen, derentwegen ihm nach Kriegsende in den USA ein Hochverratsprozess drohte. Zuvor jedoch wurde in einem Prozess die Frage nach seinem Geisteszustand erörtert; anschließend verbrachte Pound zwölf Jahre in einem Sanatorium.“

In einem „Sanatorium“, wo er mit größter Wahrscheinlichkeit mit Elektroschocks „behandelt“, will meinen malträtiert, gequält wurde.

Wo man seine Idendität auslöschen wollte. Denn das ist die wahre Aufgabe von Gefängnissen: die Identität der Gefangenen – die deshalb Gefangene sind, weil sie gegen die Regeln ihrer „Oberen“ aufbegehrt haben! – auszulöschen. Re-Sozialisierung bedeutet nichts anderes als Unter-Ordnung. Unterwerfung. Kapitulation. Vor den gesellschaftlich Mächtigeren. Die oft ungleich größere Verbrecher sind als die, welche sie einsperren. Lassen. Denn selbst zu handeln sind sie zu feige. Dafür brauchen sie ihre Adlati. Vom Polizisten über Staatsanwalt und Richter bis zu den Gefängniswärtern.

Oder will etwa allen Ernstes jemand behaupten, der Soldat, der desertiert, sei ein Verbrecher, der Büttel indes, der ihn darob zum Tode verurteilt, ein ehrenwerter Mensch?

Im Archipel Gulag schildert Alexander Solschenizyn