Colin Crouch ist britischer Politikwissenschaftler und Soziologe. Mit seiner zeitdiagnostischen Arbeit zur Postdemokratie und dem gleichnamigen, 2004 veröffentlichten Buch wurde er international bekannt. Colin Crouch ist Professor für Governance and Public Management an der University of Warwick.
Vorwort
I. Von einer defensiven zu einer durchsetzungsfähigen Sozialdemokratie
II. Wir sind jetzt alle (zumindest teilweise) Neoliberale!
III. Marktorientierung und Unzulänglichkeiten des Marktes
IV. Kapitalismus und Wohlfahrtsstaat
V. Der Wohlfahrtsstaat einer durchsetzungsfähigen Sozialdemokratie
VI. Bedrohungen und Feinde
VII. Sozialdemokratie als höchste Form des Liberalismus
VIII. Was ist mit der Partei?
IX. Eine realistische Prognose?
Anhang zu Kapitel V
Quellen
Anmerkungen
Die ungleiche Einkommensverteilung in den Vereinigten Staaten von Amerika hat einen derart extremen Punkt erreicht, dass es Sorgen gibt, sie könnte der Wirtschaft schaden. Die Ansicht wird nicht nur von den „Progressiven“ geäußert, von denen man solche Meinungen erwarten könnte, sondern vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Diese Entwicklung ist aus dreierlei Gründen höchst bemerkenswert.
Erstens werden IWF und OECD gewöhnlich mit einer orthodoxen Haltung zur Wirtschaft in Verbindung gebracht, die sich gegenüber Ungleichheit entweder gleichgültig zeigt oder sie sogar begünstigt.
Gleichgültigkeit findet oft im Klischee Ausdruck, „die Flut hebt alle Boote“, also dass, wenn es den Wohlhabenden gut gehe, eine gute Konjunktur allen Vorteile bringe und es egal sei, wenn dabei manche mehr profitieren als andere. Dahinter liegt üblicherweise eine Haltung, die eine wachsende Ungleichheit befürwortet, gemäß dem Glauben, Wachstum finde statt, wenn Unternehmer starke Anreize für Innovation und Investition vorfinden. Etwas Außergewöhnliches ist im Gange, wenn Experten von Organisationen wie dem IWF und der OECD nun befürchten, dieser Effekt werde durch das Schrumpfen mittlerer und geringer Einkommen untergraben, während die Einkommen der Wohlhabenden, vor allem innerhalb des Finanzsektors, weiter steigen.
Zweitens verfolgen die politischen und wirtschaftlichen Eliten der meisten Industrieländer weiterhin dieselben neoliberalen Ideale, die diese schädliche Situation ausgelöst haben. Die Vereinigten Staaten mögen wohl die Vorreiter dieser neuen Ungleichheit gewesen sein, fanden aber zahlreiche Nachahmer. Fast überall steigt die Ungleichheit, der Wohlfahrtsstaat wird ausgehöhlt, der Einfluss der Gewerkschaften schwindet und die Rechte der Arbeitnehmer werden immer weiter eingeschränkt. Gleichzeitig werden immer mehr öffentliche Ressourcen der Rettung des Bankensystems gewidmet, das die Finanzkrise ja verursacht hat. Diejenigen, die ihr Geld mit Finanzspekulationen verdienen, werden geschützt und immer reicher, während es jene, die es mit (Lohn-)Arbeit verdienen, immer schwieriger haben.
Die dritte bemerkenswerte Tatsache ist, dass diese negativen Entwicklungen nicht durch unausweichliche Kräfte jenseits menschlicher Kontrolle geschehen, sondern Resultate politischer Entscheidungen sind. Es stimmt zwar, dass mehr oder weniger unvermeidliche Faktoren in der globalen Wirtschaft es nicht leicht machen, wachsende Ungleichheit zu umgehen, umso auffallender ist dann aber, dass viele politische Entscheidungen solche Trends unnötig verstärken, statt ihnen entgegenzuwirken. Vor allem haben jüngste Änderungen in der Besteuerung in den meisten Ländern tendenziell Menschen mit hohen Einkommen begünstigt, deren Einkünfte vor Abzug der Steuern ebenfalls am stärksten angestiegen sind. Alternativen gibt es, nicht im Sinne utopischer Möglichkeiten, sondern in tatsächlich existierenden Beispielen, die wir um uns herum beobachten können. Doch selbst diese sind durch den Vormarsch antiegalitärer Doktrin bedroht.
Diese Befürchtungen der internationalen Organisationen sind ein starkes Gegengewicht gegenüber der antiegalitären Behauptung, Personen, die sich über Ungleichheit beschweren, seien hauptsächlich von „Neid“ getrieben. Es gibt aber ein zweites, nicht minder starkes Argument gegen diese Behauptung. Auch wenn ungleiche Vermögensverteilung nicht zwingend denjenigen schadet, die sich außerhalb der Reihen der Wohlhabenden befinden, so betreffen sie ihre negativen politischen Konsequenzen sehr wohl. Wenn Vermögensinteressen sich in politische Macht münzen lässt – wie es häufig der Fall ist – können sie somit auch die Marktwirtschaft und Demokratie verzerren. Dieses Thema nimmt im vorliegenden Buch einen wichtigen Platz ein. Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit ist nicht nur eine Frage der Verteilung des Einkommens und der Güter, sondern auch eine der Macht, also eine Frage der Demokratie.
Der Zerfall der Sowjetunion machte, falls es nicht schon vorher klar war, deutlich, dass der Kapitalismus das einzige uns bekannte komplexe System ist, das eine effiziente und innovative Wirtschaft bieten kann. Aber die Finanzkrise hat die potenziell schädlichen Strukturen einiger Aspekte des Kapitalismus aufgedeckt sowie seine Abhängigkeit vom Staat, ihn auf Kosten der Öffentlichkeit vor seinen eigenen Widersprüchlichkeiten zu retten, und die steigende Ungleichheit, die seine Elite scheinbar fordert. All das schafft berechtigte Zweifel, ob soziale und politische Strukturen gleichzeitig für das Wohl aller Bürger sorgen und den Bedürfnissen der Kapitalisten gerecht werden können. Zum Glück hat der Kapitalismus in seiner Geschichte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit bewiesen, die ihn mit vielen verschiedenen Gesellschaftssystemen kompatibel machten. Dies ist eines der Hauptcharakteristika, das seine Überlegenheit gegenüber dem Sowjetkommunismus belegt. Aber diese Eigenschaft kommt nicht notwendigerweise zum Einsatz. Alles hängt von Machtstrukturen innerhalb der diversen sozialen und politischen Interessen ab, einem Ungleichgewicht, in dem kapitalistische Belange (wie es heutzutage der Fall zu sein scheint) dem Rest der Gesellschaft Bedingungen stellen, wobei es unter anderen Umständen aber auch anderen Agenden ermöglicht werden könnte, Kompromisse abzuverlangen, wie es in vielen westlichen Ländern Mitte des 20. Jahrhunderts, in der Blütezeit des Wohlfahrtsstaats, der Fall war.
Die Kompromisse waren hauptsächlich gekoppelt an jene als Sozialdemokratie bekannte politische Bewegung, die in Verbindung mit Arbeiterbewegungen, Arbeitnehmerparteien und Gewerkschaften stand sowie mit dem Arbeitsrecht in seinen unterschiedlichen Ausformungen; in weiterem Sinne mit dem Einfluss, den diese Bewegung – und in manchen Staaten auch der Kommunismus – auf andere, rivalisierende politische Kräfte hatte. Dennoch finden wir heutzutage keine sozialdemokratische Partei, die trotz wachsender Unzufriedenheit mit vielen Aspekten des Kapitalismus die Überlegenheit ihres Zugangs selbstbewusst behaupten könnte. Man findet sie häufig in der Defensive; sie sind von Pessimismus geprägt und fühlen sich von der Geschichte im Stich gelassen. Das ist teils Zeugnis der überwältigenden Vorherrschaft der neoliberalen Doktrin, aber zum Teil auch im Umstand begründet, dass die sozialdemokratische Vision einige große Anpassungen nötig hätte, sollte sie ihren Anspruch durchsetzen wollen, die Alternative zu sein, die diese Orthodoxie herausfordert, den Kapitalismus gesellschaftsfähig zu machen und sich selbst als verbündete Bewegung oder Partei des wirtschaftlichen Wandels und der Innovation darzustellen, anstatt nur defensiven Schutz vor all dem anzubieten. So radikal sie auch sein mögen, sind dies jedoch Anpassungen, die in der Reichweite sozialdemokratischer Tradition sein sollten.
Ziel dieses Buches ist einerseits darzustellen, warum die Sozialdemokratie dieses Potenzial hat und andererseits, welche Anpassungen vorzunehmen sind, um das zu schaffen. Das ist eine Angelegenheit, in der teils neue Positionen zu Veränderung und Innovation eingenommen werden müssen und stärkere Bündnisse und Verschmelzungen mit Umweltschutz- und anderen kritischen Bewegungen vorgenommen werden müssen, teils aber auch das Erkennen und Herausfordern der politischen Macht des Finanzkapitals, das sowohl Ursache als auch negatives Ergebnis der Situation ist, in die uns der Neoliberalismus gebracht hat.
In meinen beiden Büchern Postdemokratie (2008) und Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus (2012) habe ich die Probleme erörtert, die sich einer egalitären Demokratie durch jüngste Entwicklungen in der globalisierten Wirtschaft stellen, und Wege gesucht, auf denen der einfache Bürger diese erkennen und bewältigen könnte. Leser und Rezensenten haben mich dafür kritisiert, nicht viel mehr als die Teilnahme an Bürgerinitiativen, Verbraucherschutzbewegungen und pflichtbewussten Fachorganisationen anzubieten, welche den Wirtschaftsmächten entgegentreten. Wo sind meine Alternativstrategien? Mein Zugang schien mir zweckmäßig, da die Zahl jener Leser, die wenig mehr als kleine Herausforderungen stellen können, bei Weitem jene ein oder zwei Personen überwiegt, die auch nur in die Nähe strategischer Politik kommen. Viele politische Bücher verbringen viel Zeit damit, Politiker zu mahnen, die niemals eine Zeile davon lesen werden. Die Autoren reden damit an ihrer eigentlichen Leserschaft vorbei, die nicht mehr gegen öffentliche Ereignisse tun können, als mit ihnen zurechtzukommen. Aber meine Kritiker haben Recht. Man muss, frei nach Antonio Gramsci, ein Pessimist im Verstand, aber ein Optimist im Willen sein. Während man als naiver Optimist unentwegt Niederlagen und schließlich Ernüchterung erlebt, erfährt man, von pessimistischen Erwartungen geleitet, welche die wissenschaftliche Erkundung der Wirklichkeit oft mit sich bringt, die unausweichliche Niederlage, weil man es nie versucht hat.
Dieses Buch hebt sich von anderen in seiner Darlegung der realen Möglichkeiten ab, die es zur Gestaltung einer besseren Welt gibt. Ferner will es sich von jenen Möglichkeiten abgrenzen, die eine das öffentliche und private Leben bestimmende, wohlhabende Elite anbietet.
Um dieses Buch einer allgemeinen Leserschaft zugänglich zu machen, habe ich davon abgesehen, den Text mit bibliografischen Verweisen zuzupflastern. Am Ende des Buches finden Sie daher eine Liste der Werke, die im jeweiligen Kapitel zitiert werden.
Einige der Gedanken in diesem Buch testete ich in öffentlichen Vorlesungen, die ich 2011 und 2012 hielt. Ich bin den dabei Anwesenden für Fragen und Kommentare dankbar, insbesondere dafür, meinen Ideen Schärfe verliehen zu haben, obwohl selbstverständlich niemand notwendigerweise meine hier geäußerten Meinungen teilt:
• Meine Abschiedsrede an der University of Warwick am 2. November 2011 zum Thema: „Was bleibt vom Öffentlichen in einer privatisierten Gesellschaft?“ Ebenfalls gilt mein Dank den Kollegen, die an der dann folgenden Konferenz „Jenseits des Öffentlichen“ teilgenommen haben: John Bennington, Dorothee Bohle, Wyn Grant, Jean Hartley, Guglielmo Meardi, Paul Marginson, Glenn Morgan, Andreas Rasche, Ralf Rogowski, Philippe Schmitter, Wolfgang Streeck, Jonathan Tritter, Jelle Visser, Noel Whiteside.
• Eine Vorlesung im Rahmen der Ralph Miliband Gedenkreihe an der London School of Economics and Political Science am 1. März 2012: „Social democracy as the highest form of liberalism“ („Sozialdemokratie als höchste Form des Liberalismus“).
• Die Cesare Alfieri-Vorlesung 2012 an der Facoltà di Scienze Politiche der Universität Florenz am 26. April 2012: „Europa e problemi della mercatizzazione: da Polanyi a Scharpf“ („Europa und die Probleme der Marktorientierung: von Polanyi bis Scharpf“).
• Die alljährliche LEQS-Vorlesung am European Institute of the London School of Economics and Political Science am 28. Mai 2012: „Eine europäische Asymmetrie: die Entwicklung von Märkten und die Bewältigung ihrer Externalitäten“ („A European asymmetry: making markets and dealing with their externalities“).
• Ein Artikel über Sozialdemokratie als höchste Form des Liberalismus, der im Rahmen einer vom Policy Network und der Foundation for European Progressive Studies am Nuffield College organisierten Konferenz, „Das nächste Mitte-Links-Jahrhundert: Verloren oder neu? Amerikanischer progressiver Liberalismus und die europäische Sozialdemokratie“ am 3. Juli 2012 entstand.
Ich habe für dieses Buch sehr Hilfreiches während meiner Teilnahme am Projekt „The Governance of Uncertainty and Sustainability: Tensions and Opportunities“ (GUSTO, Vertragsnummer 22530) im Rahmen des EU Framework Programme 7 gelernt, wo ich mit exzellenten Kolleginnen und Kollegen arbeiten durfte. Klarerweise sind alle daraus entnommenen Informationen und Ansichten ausschließlich meine eigenen und reflektieren nicht unbedingt die der Kollegenschaft, sie stellen auch keinesfalls die offizielle Meinung der Europäischen Kommission dar.
Die Endfassung dieses Buches hat auch von Vorschlägen von Philippe Schmitter, John Thompson und Mitarbeitern von Polity Press und des Passagen Verlags profitiert – was natürlich nicht zwingend bedeutet, dass ich alle ihrer Ansicht nach notwendigen Verbesserungen vorgenommen habe.
Dank gilt auch meiner Frau Joan, die in unserem endlosen, seit 45 Jahren andauernden Gespräch viele hier ausgeführte Ideen beigetragen hat und die mir die zahlreichen Stellen im Originalmanuskript zeigte, wo ich mich nicht klar genug ausgedrückt hatte. Ob sie das nachdrücklich genug gemacht hat, wird der Leser beurteilen.
Die europäische Sozialdemokratie muss aus ihrer defensiven Haltung, in der sie nun schon seit Jahren vor sich hin dümpelt, wachgerüttelt werden. Sie sollte erst gar nicht in dieser Haltung sein. Soziale Ungleichheit wird wieder verstärkt zum Problem; mit der Macht der Großkonzerne wachsen auch die Probleme für Konsumenten, Arbeitnehmer und Bürger; die Nichtbeachtung gesellschaftlicher Bedürfnisse zieht furchterregende Umweltprobleme nach sich. All diese Entwicklungen werfen Fragen der sozialen Gerechtigkeit auf. Es handelt sich dabei daher um Bereiche, in welchen die Sozialdemokratie in einer starken Position und der neoliberale Kapitalismus am angreifbarsten ist. Wir müssen das Paradox verstehen lernen, warum trotzdem die Sozialdemokraten in den meisten Ländern entmutigt zu sein scheinen und die Neoliberalen die Oberhand gewinnen. Auch müssen die Veränderungen erörtert werden, welche die sozialdemokratische Politik benötigt, um sich aus der Defensive zu bewegen und wieder durchsetzen zu können – gemeinsam mit Umwelt- und anderen Bewegungen in neuen Allianzen, besser eingebunden als in üblichen Rot-Grün-Koalitionen.
Streng genommen ist das Gegenteil von ‚defensiv‘ ja ‚offensiv‘, aber wenn man von einer „offensiven Sozialdemokratie“ spricht, könnte das leicht missverstanden werden.1 Das gleiche gilt für ‚aggressiv‘. Feministinnen haben uns ja gesagt, dass das feminine Pendant zur männlichen Aggressivität die Durchsetzungsfähigkeit ist. Da das altgriechische Wort demokratia (δημοκρατία) ein Femininum ist, erheben sie und ihre vielen adjektivischen Schwestern (sozial, christlich, liberal, demokratisch) nur dann Anspruch auf Durchsetzungsfähigkeit, wenn sie eine offensive Position einnehmen. Deshalb plädiere ich hier für eine durchsetzungsfähige Sozialdemokratie. Wenn sich eine politische Bewegung daher von der Defensive zur Durchsetzungsfähigkeit entwickeln soll, bedarf sie neuer, nach vorne gerichteter Interpretationen ihrer historischen Vision und muss zeigen, dass sie jene Kraft darstellt, die am geeignetsten ist, eine gesellschaftliche Erneuerung großen Stils zu bewerkstelligen.
Ich verwende den Begriff „Sozialdemokratie“ im herkömmlichen modernen Sinn, um jene politischen Bewegungen und Parteien zu bezeichnen, die es als ihre historische Mission sehen, einfache Arbeiter zu vertreten, da vor allem Gewerkschaften, indem sie versuchen, korrigierend in den Ablauf kapitalistischer Marktwirtschaft einzugreifen sowie in die Ungleichheit und sozialen Missstände, die sie ihrer Auffassung nach verursacht. Diese Parteien nennen sich Sozialdemokratische Partei, Labour Party oder Sozialistische Partei, aber der Begriff „Sozialdemokratie“ bedeutet heutzutage nicht mehr dasselbe wie „Sozialismus“. Von sozialistischen Bewegungen nimmt man für gewöhnlich an, dass sie kapitalistische Wirtschaftsordnungen und Märkte durch ein System des öffentlichen Eigentums vollständig ersetzen wollen, was eine staatliche oder genossenschaftliche Ordnung voraussetzt. Sozialdemokratische Parteien hingegen erkennen an, dass für die meisten Geschäftsbeziehungen der Markt und die Privathand die besten Lösungen darstellen; sie zeigen sich aber zutiefst skeptisch, dass der Markt ohne Unterstützung in der Lage ist, bestimmte grundlegende soziale Ziele zu erreichen. Diese Ziele umfassen das Bedürfnis nach einem würdevollen, möglichst gleichberechtigten Leben, selbst wenn man wirtschaftlich nicht sonderlich erfolgreich ist; und zweitens das Bedürfnis nach der nachhaltig erfolgreichen Verteilung der wichtigen gesellschaftlichen Aufgaben. Sozialdemokraten sind somit jene politisch aktiven Menschen, die gewillt sind, dem Markt hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, durch die Staats- oder auch lokale Regierungsmacht, insbesondere auch durch öffentliche Dienstleistungen als Bürgerrecht, bestimmte Einschränkungen aufzuerlegen, um ihn dadurch zu lenken.
Ich möchte nun detaillierter auf mein Eingangsstatement eingehen: In der modernen westlichen Gesellschaft gibt es außergewöhnliche gemeinschaftliche Bedürfnisse und Abhängigkeiten. Unsere Lebensweisen werden bedroht von Klimawandel und anderen Umweltproblemen – viele davon aufgrund dieser Lebensweise – und wir sind nun gefordert, gemeinsam Lösungen zu finden. Unsere Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme sind zunehmend voneinander abhängig, verknüpft über den globalisierten Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Finanzen. Diese Wechselbeziehungen zeigen sich als Wettbewerb nationaler Konkurrenten, doch im Handel verstärkt sich der Erfolg einer bestimmten Gruppe üblicherweise durch den Erfolg aller anderen. Diese hochentwickelte Wirtschaft braucht auch eine von kollektiven Leistungen abhängige, fortschrittliche Infrastruktur: Transport- und Kommunikationsnetzwerke, große Ressourcen von fachlichem Wissen und Handwerk, gemeinsame gesetzliche Normen. Westliche Gesellschaften sind (im Allgemeinen) reich und können es sich leisten, in diesen gemeinschaftlichen Angelegenheiten etwas zu unternehmen und gleichzeitig der Mehrheit ein gutes Privatleben zu erlauben. Aber unsere Gesellschaft wird zunehmend ungleicher und weniger bereit, öffentliche Dienstleistungen zu bieten und kollektives Risiko zu decken, während eine immer kleiner werdende Minderheit von wachsendem Wohlstand profitiert.
Man sollte vermuten, dass eine solche Welt für die Botschaften der Sozialdemokratie sehr empfänglich wäre. Paradoxerweise führt jedoch die dominierende politische Ideologie, der Neoliberalismus, die öffentliche Ordnung in die entgegengesetzte Richtung, hin zu einem immer größeren Augenmerk auf rein individuelle Bedürfnisse, besonders jene einer privilegierten Elite, hin zur Missachtung kollektiver Bedürfnisse, zur Negierung der Anliegen der breiten Mehrheit. Ebenso paradox, aber weniger überraschend ist, dass die globale gegenseitige Abhängigkeit von immer stärker werdender Xenophobie und von Misstrauen gegenüber Fremden begleitet wird. Obwohl Neoliberalismus und Xenophobie im Prinzip inkompatibel sind, gehen sie in vielen wichtigen Mitte-Rechts-Parteien oder Koalitionen in der modernen Politik anscheinend Hand in Hand.
Die Antwort auf diese Paradoxa findet sich in der Tatsache, dass die Logik der Politik auf Macht beruht und nicht auf der Logik der kohärenten Argumentation. Die moderne Logik der Macht hat verschiedene Komponenten. Ich bin darauf ausführlicher in meinen Büchern Postdemokratie und Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus eingegangen und möchte hier nur die Hauptargumente zusammenfassen: Eine der ersten Konsequenzen der wirtschaftlichen Globalisierung war es, Kapitalgebern eine größere Auswahl an Investitionsmöglichkeiten in der Welt zu bieten. Arbeiter in bereits industrialisierten Staaten mussten plötzlich mit Arbeitern in wesentlich ärmeren Ländern konkurrieren, wo Arbeits- und Sozialkosten sowie Unternehmensbesteuerung und die Zahl öffentlicher Dienstleistungen wesentlich niedriger waren, wo aber die Produktion von zentralen Standorten in hochentwickelten Ländern aus profitabel koordiniert werden konnte.
Ähnlich erging es Regierungen in Ländern der industrialisierten Welt, die plötzlich als Investitionsorte mit Ländern konkurrierten, deren Regierungen Investoren attraktive Angebote, wie niedrige Steuersätze, weniger Regulierung und schlechte Beschäftigungsverhältnisse unterbreiteten. Dieses Problem ist nicht so groß, wie es anfänglich scheint. Für einige Tätigkeiten benötigen Firmen eine qualitativ hochwertige Infrastruktur und Fachkräfte, die nur Staaten mit tragfähigen kollektiven Richtlinien und hohen Steuersätzen zur Verfügung stellen können – ein Argument für eine selbstbewusste, durchsetzungsfähige Sozialdemokratie, wie wir später sehen werden. Außerdem sollte Globalisierung bedeuten, dass Menschen in ärmeren Ländern nach einer gewissen Zeit genug verdienen, um Güter und Dienstleistungen aus den reicheren Teilen der Welt zu erwerben. Dieser Prozess hat bereits begonnen, was man zum Beispiel daran erkennt, dass chinesische Kunden deutsche Anlagegüter, britische Autos und italienische Schuhe kaufen. Trotzdem bestand der erste Globalisierungsschock darin, das Gleichgewicht der Verhandlungspositionen zwischen internationalen Investoren auf der einen und national verwurzelten Regierungen und Arbeitskräften in der entwickelten Welt auf der anderen Seite zu verändern. Hier fand die vermeintlich unlogische Allianz von Neoliberalismus und Xenophobie ihre Bestimmung: Der Neoliberalismus will unbeschränkte globale Märkte, und wenn Massenbevölkerungen mit gegenseitigem Argwohn und Intoleranz beschäftigt sind, dann werden sie transnationale Ordnungen wahrscheinlich nicht akzeptieren, die aber die einzigen Institutionen wären, welche die Märkte regulieren könnten.
Begleitet wurde diese Art der Globalisierung zweitens durch die Deregulierung der Finanzmärkte. Wie wir heute wissen, führte sie dazu, dass Investmentbanker eine Reihe höchst riskanter Investmentstrategien entwickelten, die einigen wenigen zu großem Reichtum verhalfen und dabei die gesamte Weltwirtschaft aus dem Gleichgewicht brachten. Das Resultat war die angloamerikanische Finanzkrise 2008. Diese machte jedoch dem System des unregulierten Risikohandels kein Ende. Wir sind so abhängig vom Bankensystem geworden, dass Regierungen häufig mit Kostenübernahmen nach Kürzungen in den Sozialausgaben die Banken aus jener schwierigen Lage retten mussten, in die sie sich selbst gebracht hatten. Die Armen waren angehalten, die Schulden der Superreichen zu tilgen. Regierungen ermunterten Banken auch zu einer Rückkehr zu ihren früheren verantwortungslosen, jedoch etwas gemäßigten Verhaltensmustern, damit sie wieder solvent werden konnten. In seiner erfolgreichen Zeit wurde das unregulierte Finanzsystem als Vorzeigemodell gepriesen, indem Banken und Märkte gemeinsam viele der Weltwirtschaftsprobleme lösen könnten und somit der sozialdemokratische Ansatz eines regulierten Marktes und einer starken Sozialpolitik nicht mehr benötigt würde. Nachdem man diesen Ansatz scheitern ließ, wurden nachfolgende Bemühungen, ihn erneut zu installieren, mit dem Argument verhindert, dass man sich den sozialdemokratischen Ansatz nicht leisten könne. Kopf: der Neoliberalismus gewinnt, Zahl: die Sozialdemokratie verliert.
Drittens – und dies geschah noch vor diesen beiden Veränderungen des modernen Kapitalismus – fand in der sozialdemokratischen Basis eine große Transformation statt. Diese war ursprünglich bei den Arbeitern in der Produktionsindustrie angesiedelt – vor allem bei den männlichen. Der Erwerb der Bürgerrechte durch diese Klasse war ein historischer Moment für organisierte Gesellschaften, da diese den einfachen Arbeitern erstmals gewährt wurden. Sie wurden, sofern sie die Möglichkeit auf ein gesichertes und würdevolles Leben hatten, zu Unterstützern einer Politik, welche die Grenzen der freien Marktwirtschaft erkannte. In der Arbeiterklasse wurden Gewerkschaften, Genossenschaften und sozialistische, sozialdemokratische und Arbeiterparteien gegründet. Jedoch hat sie seit den frühen 1970er-Jahren, beginnend in Nordeuropa und den Vereinigten Staaten, an absoluter und relativer Größe verloren. Mit der ständig effizienter werdenden Herstellung von Waren sank der Bedarf an großen Zahlen von Industriearbeitern; in den frühen Phasen der Globalisierung wurde vieles an manueller Arbeit in der Herstellung auf neu entstehende Volkswirtschaften abgewälzt; und die Nachfrage für verschiedene Dienstleistungen wurde größer, was eine andere Art von Arbeiterschaft hervorbrachte. Ein wichtiger Teil dieser neuen Arbeiterschaft war im öffentlichen Dienst beschäftigt: im Gesundheitswesen und in anderen Fürsorgeformen, in Bildung, im Polizei- und Sicherheitsdienst, in der öffentlichen Verwaltung. Hieraus entstand ein neues Reservoir für die Sozialdemokratie, da sich hauptsächlich Sozialdemokraten für die Stärkung dieser öffentlichen Dienste einsetzten. Insbesondere brachte das den sozialdemokratischen Parteien weibliche Mitglieder, da Posten im öffentlichen Dienst hauptsächlich mit Frauen besetzt waren. Private Dienstleistungssektoren stellten sich als weniger ergiebig heraus, nicht etwa weil die Arbeitnehmer in diesen Sektoren andere Parteien oder Einflüsse attraktiver gefunden hätten, sondern weil der private Sektor nie dazu tendiert hatte, ein starkes politisches Profil zu entwickeln. Das scheint zunächst allen Parteien gleich große Probleme zu bereiten, aber als die treibende Kraft, welche die grobe Machtaufteilung in der Wirtschaft infrage stellt, braucht die Sozialdemokratie eine positive, gut definierte Basis. Sie ist, verglichen mit Parteien, welche die Interessen derer vertreten, deren Stärken in Markt und Wirtschaft selbst liegen, unverhältnismäßig stark von einem Schwund der politischen Identität betroffen.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren bereits beide Basisgruppen der Sozialdemokratie in die Defensive gedrängt worden. Die Arbeiterklasse schrumpfte unaufhörlich weiter, und Angestellte im öffentlichen Dienst wurden von neoliberalen Politikern und Presseagenten als Schmarotzer verunglimpft, die angeblich von den Steuergeldern der hart arbeitenden Privatangestellten lebten. Wenn öffentliche Gelder (wie in der neoliberalen Rhetorik) so dargestellt werden, als könnte man das Geld genauso gut zum Fenster hinauswerfen, was soll man dann über die Personen sagen, die ihr Einkommen damit verdienen, dieses zum Fenster hinauszuwerfen?
Konservative politische Interessen sehen sich in Demokratien mit einem großen Problem konfrontiert: Wie können politische Kräfte, die hauptsächlich auf die Wahrung privilegierter Interessen ausgelegt sind, die nötige mehrheitliche Unterstützung der mittleren Gesellschaftsschicht gewinnen? Für den Großteil des 19. und 20. Jahrhunderts lag die Antwort (neben nationalistischen Appellen) zum Teil darin, auf die Massen an besitzlosen Arbeitern und Almosenempfängern zu zeigen mit dem Argument, dass diese in ihrem Neid die Besitztümer der unteren Mittelschicht genauso angreifen würden, wie jene der Reichen. Im späten 20. Jahrhundert waren die besitzlosen Massen zu einer kleinen Gruppe geschrumpft, der Kommunismus war zusammengebrochen und die alten Ängste waren nicht mehr plausibel. Die konservative Verteufelungsdoktrin musste neue Bedrohungen erfinden. Sie tat dies zum Teil mit der Darstellung des Wohlfahrtsstaats als ein System, das das Geld aus den Taschen aller Arbeitenden – sowohl reich als auch arm – nehme, um es jenen zu geben, die nicht arbeiten wollten, vor allem aber Ausländern, die ins Land gekommen seien, um den Bürgern die Arbeit wegzunehmen (was ihnen scheinbar gelang, während sie sich gleichzeitig weigerten zu arbeiten). Angestellte im öffentlichen Dienst werden so zu einer zusätzlichen Bedrohung, sie arbeiten ineffizient und zu überhöhten Gehältern und Zusatzbezügen und transferieren Gesellschaftswerte an Unwürdige. Wo sozialistische und sozialdemokratische Politiker einst als die Anführer im Kampf gegen jeglichen Privatbesitz dargestellt wurden, werden sozialdemokratische Politiker heute als diejenigen gesehen, die sich aus nicht wirklich erklärbaren Gründen mit dem Kapitaltransfer an die Nutzlosen und Ausländer beschäftigen.
In Wirklichkeit verfolgen viele moderne sozialdemokratische Parteien einen anderen Weg. Da ihre beiden wichtigsten Zielgruppen – Arbeiter und Angestellte im öffentlichen Dienst sowie die Gewerkschaften, die fast ausschließlich in diesen beiden Sektoren florieren – zum Problem wurden, vermuteten viele, dass die Kernwählerschaften, also die bislang zuverlässige Basis, doch nicht so gut und wichtig für die Partei waren. Dies brachte den „Dritten Weg“ der britischen Labour Party, die „Neue Mitte“ der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die New Democrats in den Vereinigten Staaten und mehrere andere hervor. Die Sozialdemokratie ist zu einer Bewegung geworden, die für ein allgemeines klassenloses Projekt der „progressiven Reform“ die Unterstützung der Wählerschaft überall in der Gesellschaft und finanzielle Unterstützung hauptsächlich von Firmen suchte. Sie hat auch jeglichen Versuch aufgegeben, die politische Kultur der breiten Gesellschaft zu verändern, und konzentrierte sich stattdessen darauf, dem zu entsprechen, was laut Marktforschung die Gepflogenheiten der bestehenden Kultur waren. Der Begriff „progressive Reform“ wurde zur Parole der liberalen und später sozialistischen Linken im 19. Jahrhundert, die mit fest verwurzelten und oft inkompetenten Institutionen in jahrhundertelang privilegierten Positionen konfrontiert waren. Dadurch verschwamm interessanterweise die Bedeutung des Begriffs. Er bezog sich auf ein Bedürfnis, die öffentlichen Dienste wieder aufzubauen und zu verbessern, die von Konservativen und ihren Niedrigsteueragenden vernachlässigt worden waren, aber die Arbeitsweisen der Angestellten im öffentlichen Dienst, die diese Dienstleistungen erbrachten und organisierten, wurden als genauso problematisch gesehen, insbesondere die Gewerkschaften, die sie vertraten. Sozialdemokratische Parteien des Dritten Wegs haben daher aufgehört, das Problem des akkumulierten Reichtums der Konzerne oder gar ungleiche Verhältnisse in der Gesellschaft zu thematisieren.
Diese Sozialdemokraten sahen sich von ihren alten Anhängern zuerst in eine peinliche Lage gebracht, und lösten sich dann auf zunehmend zynische Weise von ihnen. Heutzutage hört man gelegentlich einen sozialdemokratischen Politiker vom Bedürfnis sprechen, die ‚Verbindung mit der Kernwählerschaft wiederherzustellen‘. Nur selten bedeutet dies eine Rückkehr zum Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit; eher ist die gefühlte Notwendigkeit gemeint, xenophobisch zu sein, eine Notwendigkeit, so beklagen sie sich, deren Erfüllung ihre andere Wählerschaft von Angestellten im öffentlichen Dienst versucht, zu verhindern. Sie fühlen sich selbst auch dazu verdammt, als Kuratoren im politischen Museum die verfallenen Überreste der als ‚Gewerkschaften‘, ‚Arbeiterrechte‘, ‚allgemeine Gesundheitsversorgung‘ und ‚Sozialbürgerschaft‘ betitelten Ausstellungsstücke zu bewachen.
Der Niedergang der Sozialdemokratie bedeutet nicht, dass der Neoliberalismus großen Erfolg hätte – das heißt, wenn man die wirkliche Welt der Praxis und nicht die der Ideologie betrachtet. Nicht nur bekam er die Rechnung der Krise im Jahr 2008 präsentiert, auch seine zentrale Behauptung, mit der er sich beim Volk beliebt gemacht hat – dass er die Staatsherrschaft und -kontrolle durch die freie Entscheidungsmöglichkeit des Konsumenten am Markt ersetzt –, entpuppt sich immer mehr als Schwindel. Es ist dieses Charakteristikum, das bezweifeln lässt, ob der Kapitalismus gesellschaftstauglich gemacht werden kann oder ob die Gesellschaft ihn umformen wird, um ihn den eigenen Bedürfnissen entsprechend zu gestalten. Anders als die theoretischen Modelle in Wirtschaftslehrbüchern geht es dem real existierenden, politischen Neoliberalismus um die Maximierung der Macht großer Konzerne und reicher Einzelpersonen. Das ist ein allgemeines Problem, das sich über einige Wirtschaftssektoren erstreckt, wie das im aktuellen Buch von Stephen Wilks über die politische Macht der Wirtschaftskonzerne im Detail beschrieben wird. Dies wird jedoch in der zuvor erwähnten Reaktion auf die Finanzkrise besonders deutlich.
Zusätzlich dienen auch die Privatisierungswellen staatlicher Betriebe und öffentlicher Dienstleistungen, die das besondere Markenzeichen funktionierender Staatswirtschaft war, unternehmerischen Interessen. Wurde Privatisierung früher nur für bestimmte öffentliche Versorgungseinrichtungen eingesetzt, gliedert sie heute vornehmlich öffentliche Dienste in private Firmen aus. Üblicherweise bleibt der Staat Zahlmeister und nur wenige Firmen werden in die Untervergabe involviert. Die Dienstleistungsempfänger sind daher nicht mehr Kunden im wahren Sinne des Wortes, sondern Nutzer. Daher gibt es hier auch keinen echten Markt, sondern lediglich eine Reihe von Deals zwischen Beamten und Firmenvertretern.
Outsourcing wird mit dem Argument gerechtfertigt, dass es den Wettbewerb ankurble – und das sei die Grundvoraussetzung eines funktionierenden Marktes. Nur: die Zahl der Mitbewerber bleibt üblicherweise sehr niedrig. Im Fall der Wasserversorgung etwa praktisch null, da es bisher noch nicht möglich gewesen ist, dass mehr als eine Firma für die Wasserversorgung aus einem regional definierten Wassersystem zuständig ist. In anderen Fällen konkurriert eine sehr kleine Anzahl an Firmen in sehr begrenztem Ausmaß. Der Wettbewerb findet hauptsächlich in der Phase der Ausschreibung statt, wobei der Vertrag dann oft das alleinige Lieferrecht für eine bestimmte Zeitspanne beinhaltet. Dies ist zum Beispiel bei der Ausgliederung von Bildungs-, Gesundheits- und Sozialdienstleistungen der Fall. Um Versorgungssicherheit zu gewährleisten und häufige Unterbrechungen zu vermeiden, müssen Verträge lange Fristen haben, oft bis zu 25 Jahren. Während dieser längeren Intervalle gibt es also keinen Wettbewerb. Wenn Verträge neu ausgeschrieben werden, ist es sehr – jedoch nicht universell – wahrscheinlich, dass das auftragsführende Unternehmen den Vertrag verlängert bekommt; ihre Manager haben bis dahin gute Beziehungen zu den in den Verhandlungsprozess involvierten Beamten aufgebaut, und Turbulenzen werden vermieden, indem man beim bestehenden Betrieb bleibt.
Outsourcing wird auch damit gerechtfertigt, dass private Firmen neue Fachkenntnisse mitbringen. Aber eine Untersuchung des Expertenpools der wichtigsten Auftragnehmer zeigt, dass immer wieder dieselben Firmen in verschiedenen Sektoren auftauchen. Zum Beispiel hat die weltweit tätige britische Firma SERCO Verträge in allen Transportbereichen abgeschlossen, darunter für Flugsicherung, Gefängnisse und Sicherheit, das Management privatisierter Forschungszentren der britischen Regierung, Freizeitzentren, Verteidigung und Schulen. Ähnliche Berichte liegen über andere Konzerne in einer Reihe von anderen Ländern vor. Die Fachkenntnis dieser Unternehmer, und somit ihr wahres Kerngeschäft, ist es zu wissen, wie man an Regierungsverträge kommt und nicht das fundierte Wissen über die angebotenen Dienstleistungen. Für letzteres stellen sie Leute ein, die bereits in diesem Bereich gearbeitet haben – üblicherweise in den öffentlichen Organisationen, bei welchen die Unternehmen unter Vertrag stehen. Das erklärt, warum und wie sich ihre Tätigkeiten über solch breitgefächerte Bereiche erstrecken, deren einziger Zusammenhang das erfolgreiche Abschließen von Regierungsverträgen ist. Üblicherweise haben diese Firmen Ex-Politiker und Staatsbeamte im Vorstand und sind großzügige Förderer politischer Parteien. Auch das gehört zum Kerngeschäft. Es ist in der Tat schwierig zu sehen, welchen Nutzen letztendlich die Dienstleistungsnutzer aus dieser Art von politisch gesteuertem Wettbewerb ziehen.
Ein weiteres Argument für das Outsourcing besteht darin, dass es Kosten senke. Warum das so wäre, ist schwer zu verstehen, angesichts des geringen Wettbewerbs, der vertraulichen Beziehung zwischen Auftragnehmern und Beamten, der Notwendigkeit privater Firmen, zum Wohlgefallen ihrer Aktionäre genügend Profit zu machen, und der Transaktionskosten, die anfallen, wenn eine Dienstleistung ausgegliedert und nicht mehr intern angeboten wird. In einem Bereich jedoch scheint es erhebliche Kostenersparnisse zu geben: Privatfirmen können niedrige Löhne zahlen und schlechte Arbeitsbedingungen für das Personal verantworten. Die öffentliche Hand muss ihren Ruf als „guter“ Arbeitgeber aufrechterhalten, da sonst die Kritik der Öffentlichkeit schnell laut wird. Und wenn es doch einen Skandal wegen der Arbeitsverhältnisse in Firmen geben sollte, ist es trotzdem die öffentliche Hand, die den Vertrag ausgestellt hat, die politisch unter Beschuss kommt, und nicht die Firma, die ihn unterzeichnet hat. Im Vereinigten Königreich haben einige Auftragnehmer so niedrige Löhne gezahlt, dass ihre Angestellten im Rahmen einer Steuervergünstigung finanzielle Unterstützung aus öffentlicher Hand bezogen! Die niedrigen Löhne ermöglichen den Auftragnehmern die Behauptung, ihre Verträge hätten öffentliche Gelder gespart, während ein anderer Teil der öffentlichen Mittel die Last der Steuergutschriften trägt. Im Allgemeinen bleibt zu bezweifeln, ob überhaupt öffentliche Gelder gespart werden.
Schließlich werden Outsourcing und andere Arten der Beteiligung von Privatunternehmen an öffentlichen Geschäften mit der Behauptung gerechtfertigt, sie ermöglichten es Regierungen, die finanziellen Risiken großer Projekte mit Privatinvestoren zu teilen. Die Investoren machen bei erfolgreichen Projekten Profit und bei Misserfolg Verluste – genau wie der kapitalistische Markt funktionieren soll. Die Hauptbeispiele hierfür sind öffentlich-private Finanzierungspartnerschaften, die zur Förderung großer Infrastrukturprojekte und zum Bau von Schulen und Krankenhäusern herangezogen werden. Üblicherweise übernimmt die private Investmentgesellschaft den Kapitalaufwand eines öffentlichen Programms und ist im Gegenzug Besitzer des geschaffenen öffentlichen Guts (zum Beispiel ein Krankenhaus). Dann verpachtet sie das Gut wieder an den betroffenen öffentlichen Dienst, welcher über eine längere Zeitspanne die Kapitalanlage zurückzahlt. Aber die Vertragsbedingungen binden den öffentlichen Dienst an ein bestimmtes Nutzungsschema, das über die Jahre beträchtliche Rigiditäten mit sich zieht, da sich die Anforderungen an die Dienste verändern. Wichtiger noch: Nach der Finanzkrise 2008 gibt es nun eine Reihe von Beispielen, wo der Risikocharakter der Kapitalfinanzierung deutlich geworden ist. Ausnahmslos sind Zentralregierungen zur Hilfe gekommen, um das Risiko zu übernehmen und den Privatinvestoren die Rendite zuzusichern – womit die Regierungen im Verhältnis zu den öffentlichen Investmentprojekten wieder dort angelangt sind, wo sie am Anfang gewesen sind, in einer Position, aus der sie die gemeinsame Investition mit der Privatwirtschaft hätte retten sollen. Dies ist ein Beispiel für ein viel allgemeineres Problem. In der Wirtschaftstheorie trägt das Kapital das Unternehmensrisiko und die Zinsen spiegeln dieses Risiko wider. Jedoch darf das Kapital im veränderten Gleichgewicht der Machtstrukturen von Investoren auf der einen und Angestellten, Regierungen und der breiten Gesellschaft auf der anderen Seite häufig eine sichere Kapitalverzinsung fordern, was das Risiko auf die anderen Teilnehmer verlagert.
Ein wirklich striktes neoliberales Herangehen sieht für den Staat nur eine sehr kleine Rolle vor. Am deutlichsten wird das in der Forderung der US-Republikaner nach einer schlanken Regierung. Aber das wäre schlichtweg unrealistisch und hätte auch mit der Realität des Neoliberalismus wenig zu tun. Eine Gesellschaft, vor allem eine komplexe, moderne mit einer anspruchsvollen Wirtschaft, braucht eine Regierung. Mangels kohärenter Theorie einer Beziehung zwischen Regierung und Wirtschaft aufgrund ihrer primitiven regierungsfeindlichen Haltung ist den Neoliberalen ein erstaunlicher Kunstgriff gelungen. Indem nicht zwischen Märkten und Unternehmen unterschieden wird, sind sie in der Lage zu behaupten, eine Angelegenheit einem Unternehmen zu überlassen sei das gleiche, wie sie dem Markt zu überlassen. Diese Konzerne wiederum knüpfen enge Beziehungen mit Amtsträgern. Die Fiktion besteht weiter, obwohl genau die Eigenschaften eines Marktes – Auswahl für Konsumenten, keine politische Einmischung durch Geschäftsinteressen, Risikokapital – außen vor bleiben. Bestenfalls ist dies Irreführung; schlechtestenfalls pure Korruption. Der Neoliberalismus in dieser besonderen Form entwickelt sich zu einer höchst bedenklichen politischen Kraft. Und dennoch ist er die dominierende politische Ideologie und hat, wie oft behauptet wird, die Sozialdemokratie von der Bühne der Geschichte drängt.
Traurigerweise ist einer der Gründe, warum Sozialdemokraten von dieser Heuchelei der Beziehungen des Neoliberalismus zu großen Unternehmen politisch nicht profitieren konnten der, dass Regierungen mit sozialdemokratischen Parteien an der Spitze gemeinsam mit anderen Parteien darin verwickelt waren, dieses Beziehungsmuster von Regierung und Unternehmen zu dulden und sogar zu fördern. Dies geschah zum Teil aus den schlechtesten Gründen; sozialdemokratische Politiker haben auch Geld von Unternehmen erhalten und Positionen in Vorständen von Firmen besetzt, die Verträge mit der öffentlichen Hand abschlossen. Aber es gab auch ehrbare Motive. Wären 2008 die großen Banken in Konkurs gegangen, hätten einfache Bürger mit geringen finanziellen Ressourcen und geringen Chancen, einer Katastrophe zu entgehen, darunter am meisten gelitten. Die einfachste Herangehensweise an die Krise, eine, mit der sichergestellt werden konnte, dass die Banken kooperieren, war es, ihre verantwortungslosen Risiken auszugleichen und zu hoffen, dass sie so schnell wie möglich wieder Gewinne verzeichnen würden. Die einzige Möglichkeit sicherzustellen, dass dies geschah, war, zu genau den riskanten Praktiken zurückzukehren, die das Problem verursacht hatten.
Ähnliche Argumente gelten für die Privatisierung und das Outsourcing von öffentlichen Dienstleistungen. Bildung, Gesundheit, Pflege, die Renten und das Sozialversicherungssystem, öffentlicher soft profits