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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74091-809-5
In Sophienlust herrschte fröhliche Wochenendstimmung. Die Kinder hatten ihren schulfreien Samstag und waren demzufolge ganz besonders ausgelassen. Selbst die kleine sechsjährige Trixi, die sonst immer so still war, beteiligte sich an den Spielen der Kinder, und Dominik von Wellentin-Schoenecker war schon am frühen Morgen von Schoeneich herübergekommen.
»Na, heute kannst du ja wieder lachen«, sagte er zufrieden zu Trixi.
»Heute kommt ja auch Viola«, erwiderte die Kleine. In ihrer Stimme schwang ein sehnsuchtsvoller Ton. Das unbeschreiblich ausdrucksvolle zarte Kindergesicht hatte sich gerötet, die hellgrauen Augen strahlten.
Alle mochten Trixi, die nun schon fünf Wochen in Sophienlust weilte. Sie hatte den Kindern in dieser Zeit jedoch schon viel Stoff zum Nachdenken gegeben, ebenso den Erwachsenen. Denn ein Geheimnis umgab dieses Kind.
Auch heute dachte Denise von Schoenecker darüber nach, wie eine junge, schöne und erfolgreiche Frau wie die Rechtsanwältin Viola von Dueren wohl auf den Gedanken gekommen sein mochte, ein fremdes Kind aus einem städtischen Waisenhaus zu nehmen, um es auf ihre Kosten in Sophienlust unterzubringen.
Viola von Dueren hatte sich über den Grund nicht geäußert. Sie hatte ihnen dieses Kind mit mütterlicher Wärme anvertraut, und sie rief fast täglich an, um sich nach Trixis Befinden zu erkundigen. Außerdem kam sie jedes Wochenende, um Trixi zu besuchen. Denise hatte sich schon manchmal gefragt, ob es nicht ihr eigenes Kind sei, das sie aus einem unerfindlichen Grund hatte weggeben müssen, doch vieles sprach dagegen. So vor allem der Geburtsschein, der auf den Namen Beatrix Schüner lautete und demzufolge Trixi ein unehelich geborenes Kind war.
Vielleicht war Trixis Mutter eine Freundin von Viola von Dueren gewesen oder eine Verwandte. Aber offen blieb die Frage, warum Viola, die doch so an diesem Kind interessiert war, es nicht ganz zu sich genommen, sondern es in Sophienlust untergebracht hatte. Denn offensichtlich lebte sie in den besten Verhältnissen, war stets elegant gekleidet und fuhr einen teuren Sportwagen. Sie versorgte Trixi mit den entzückendsten Kindersachen und brachte ihr stets ein hübsches Spielzeug mit, obgleich in Sophienlust genügend Spielsachen vorhanden waren.
Eigenartig berührte es Denise auch, dass Trixi nur für die Stunden zu leben schien, die sie mit Viola verbringen konnte. Es gab an ihrem Benehmen zwar nie etwas auszusetzen, aber Trixi hatte sich bisher noch an keines der anderen Kinder angeschlossen, nicht einmal an Pünktchen, die es doch wahrhaftig verstand, jedem Kind das Einleben zu erleichtern.
*
Viola von Dueren hatte sich schon früh zum Aufbruch gerüstet, aber gerade, als sie das Haus verlassen wollte, läutete das Telefon. Es war ihr Bruder Joachim, ebenfalls Rechtsanwalt, und natürlich hatte er etwas Berufliches auf dem Herzen.
»Hör mal, Kleine, ich hätte da einen ganz dringenden und sehr diffizilen Fall, den du als Frau wahrscheinlich besser beurteilen kannst. Können wir uns gleich einmal darüber unterhalten?«
»Tut mir leid, Jo«, erwiderte Viola, »aber ich fahre weg.«
»Schon wieder«, kam es maßlos enttäuscht durch den Draht. »Jan scheint dich ja sehr zu beanspruchen. Hoffentlich können wir dann wenigstens bald Hochzeit feiern.«
»Nein, bestimmt nicht«, erwiderte sie mit belegter Stimme.
»Ist es gar ein anderer Mann?«, fragte ihr Bruder neugierig.
»Nein«, antwortete Viola wieder, aber das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Es war zwar das Kind, zu dem es sie hinzog, aber hinter diesem Kind stand wie ein Schatten ein Mann. Der Mann, den Viola von Dueren nicht vergessen konnte.
»Ich melde mich, wenn ich zurück bin«, sagte sie rasch. »Grüß die Familie. Auf Wiedersehen.« Und schon hatte sie den Hörer aufgelegt und lief rasch aus dem Haus, um nicht doch noch zurückgehalten zu werden.
Als Viola dann im Auto saß, rief sie sich noch einmal den Tag in die Erinnerung zurück, an dem sie Trixi zum ersten Mal gesehen hatte. Sechs Wochen war das nun her. Sie war damals nach einer ziemlich hartnäckigen Grippe zur Erholung ins Mittelgebirge gefahren. Eines Tages saß sie auf einer Bank, um sich von einem ungewohnt langen Spaziergang auszuruhen, als eine Kindergruppe, begleitet von einer Schwester, an ihr vorüberging. Und da hatte sie Trixi entdeckt. Ein zierliches Mädchen mit einem zarten Gesichtchen und Augen – Augen, die Violas Herzschlag zum Stocken brachten. Solche Augen, von diesem durchsichtigen hellen Grau, hatte sie nur einmal im Leben gesehen. Es waren Dirks Augen. Schon sechs Jahre war es her, dass sie ihm begegnet war, aber sie hatte ihn nicht vergessen können.
Das kleine Mädchen hatte sie angeblickt und schüchtern gelächelt. Alles, was Viola dann getan hatte, war aus einem unerklärlichen Gefühl heraus geschehen. Sie hatte in Erfahrung gebracht, dass die Kinder aus einem Waisenhaus kamen, und war hingegangen, um sich nach dem Namen des kleinen Mädchens zu erkundigen.
Viola musste lächeln, als sie an das Befremden, an die Verwunderung dachte, die ihre Fragen hervorgerufen hatten, und an die Bestürzung, als sie erklärte, für das Kind sorgen zu wollen.
Es war ein Kind, um das sich bisher nie jemand gekümmert hatte. Es war schon als Baby in das Waisenhaus gekommen, nachdem die Mutter bei der Geburt gestorben war. Es hatte keinen Vater und keine Angehörigen. Aber, wenn jetzt plötzlich jemand daherkam, der für Beatrix Schüner sorgen wollte, bedeutete das, dass ihr Platz für ein anderes Kind frei wurde.
Viola von Dueren hatte ihren Entschluss schnell gefasst und auch alle behördlichen Klippen überwunden. Schwierigkeiten hatte sie eigentlich nur von ihrer Familie zu erwarten und von Jan Leander, der sich seit drei Jahren beharrlich um ihre Hand bewarb. Deshalb hatte sie Trixi vorerst nach Sophienlust gebracht. Alles sollte klar sein, bevor sie auch den letzten Schritt wagte und das Kind ganz zu sich nahm. Nichts sollte Trixis neues Glück trüben, kein abfälliger Blick, keine unbedachte Bemerkung, die sie verletzen könnte.
Deswegen führte sie ihr Weg auch heute zunächst zu Jan. Sie wollte endlich offen mit ihm sprechen.
*
Das Haus, vor dem Viola hielt, stand fast herausfordernd in seiner extravaganten Bauweise an der Straße. Jan Leander war Architekt und einer von den Männern, die überall Erfolg hatten, auch bei den Frauen. Dass er so beharrlich um Viola warb, war wohl vor allem darauf zurückzuführen, dass sie ihn nicht anhimmelte wie die anderen.
»Dass du doch mal den Weg zu mir findest«, sagte er spöttisch. »Nun komm doch erst mal herein.«
Viola wich einen Schritt zurück, als er sie in die Arme ziehen wollte. Noch mehr als sonst war sie mit Abwehr gewappnet, was ihm sichtlich nicht behagte. Seine Stirn legte sich in Falten.
»Nun, was gibt es denn, das mir das Glück einbringt, dich hier zu sehen?«, fragte er anzüglich, als sie in dem kostspielig eingerichteten Haus waren. »Können wir endlich den Heiratstermin festsetzen? Ehrlich gesagt, meine Geduld ist erschöpft.«
Von ihrem Ja war er so überzeugt, dass er etwas anderes gar nicht in Betracht zog.
»Ich habe dir etwas zu sagen, Jan«, begann Viola stockend. »Ich werde ein Kind adoptieren.«
Es schlug wie ein Blitz ein. Er starrte sie mit weit offenen Augen an. »Sag das noch mal«, stieß er heiser hervor.
»Ich werde ein Kind adoptieren«, wiederholte sie.
»Bist du total übergeschnappt?«, fuhr er sie an.
»Ich ahnte, dass du so denken würdest«, erwiderte sie. »Unsere Heirat wird dadurch also hinfällig. Ich wollte dir das klarmachen.«
»Nun mal langsam«, sagte er ungehalten. Man sah ihm an, wie tief er sich in seiner männlichen Eitelkeit getroffen fühlte. »Ich habe doch wohl das Recht, eine weitgehendere Erklärung zu verlangen. Wir kennen uns drei Jahre, und seit wenigstens einem Jahr planen wir die Hochzeit.«
»Du plantest sie«, erwiderte sie aggressiv.
Sein Gesicht wurde hart. Es war nicht gut Kirschen essen mit ihm, wenn es diesen Ausdruck annahm, aber Viola blieb unbeirrt.
»Ich meine, dass du doch jung genug bist, um selber Kinder in die Welt zu setzen, wenn du schon so versessen darauf bist«, knurrte er. »Ich könnte auch ohne diese Schreihälse auskommen. Aber man gewöhnt sich ja an alles, doch ein fremdes Kind … Wie alt ist es denn überhaupt?«
»Sechs Jahre«, erwiderte sie leise.
»Sechs Jahre? Eine ganz idiotische Idee. Womöglich noch ein Bastard.«
»Schweig!«, fiel sie ihm ins Wort. »Wir brauchen nicht mehr darüber zu sprechen.«
»Und was sagt deine Familie dazu?«, höhnte er.
»Das ist allein meine Angelegenheit«, erwiderte sie kühl.
»Das sagst du.« Er umfasste ihre Handgelenke mit hartem Griff und zog sie zu sich empor. Wie Eisenklammern waren seine nervigen Finger. Sie konnte sich ihnen nicht entwinden. Und in seinen Augen war ein Ausdruck, vor dem sie erschrak.
»Ich bedeute dir also gar nichts«, sagte er mit einem gefährlichen Unterton. »Von einem Tag zum anderen vergisst du unsere Liebe, wegen eines lächerlichen Waisenkindes.«
»Sprich nicht so!«, begehrte sie auf. »Liebe … Weißt du überhaupt, was Liebe ist? War zwischen uns davon schon einmal die Rede? Du willst doch immer nur das eine, Jan, und weil du es von mir nicht so ohne Weiteres bekommen konntest, wolltest du sogar in den sauren Apfel beißen und mich heiraten.«
Seine Augen verengten sich. »Bei Gott, Viola, das ist eine seltsame Art der Rechtfertigung. Jawohl, ich liebe dich, wenn du es schon hören willst. Und ich bin kein dummer Junge, der sich einfach abservieren lässt. Ich mache mich nicht zum Gespött vor meinen Freunden.«
»Das ist es«, nickte sie. »Es wäre ja auch schandbar, wenn der siegessichere Jan Leander plötzlich zugeben müsste, dass eine Frau auch ohne ihn leben kann.«
Ein brutaler Zug legte sich um seinen Mund. »Du sollst ein Kind haben, aber ich werde der Vater sein«, zischte er. Sie bekam kaum noch Luft, so fest umklammerte er sie, aber mit letzter Kraft stemmte sie sich gegen ihn.
»Ich hasse dich«, schrie sie ihm ins Gesicht. »Du widerst mich an mit deiner Selbstherrlichkeit. Ich habe mich entschieden, gegen dich und für das Kind.«
»Wie du willst, aber das wirst du noch bereuen!«, stieß er hervor.
Viola hetzte hinaus. Ihre Hände zitterten, und ganz fest umklammerte sie das Steuer.
Trixi, dachte sie, du hast mich vor einer großen Dummheit bewahrt. Das werde ich dir immer danken.
Es war nicht mehr weit bis nach Sophienlust, und Viola hatte sich nur halbwegs beruhigt auf der Fahrt. Aber als sie in Trixis strahlende Augen blickte, als sich die Kinderärmchen um ihren Hals legten, fiel alles von ihr ab, was sie bedrückte.
»Wie geht es dir, mein Kleines?«, fragte sie liebevoll.
»Ganz gut, wenn du da bist, Viola«, flüsterte das Kind. »Sonst habe ich manchmal arge Sehnsucht.«
»Bald werden wir immer beisammen sein, Trixikind. Ich verspreche es dir. Es dauert nicht mehr lange.«
»Nur wir zwei allein oder hast du einen Mann?«, fragte die Kleine ängstlich.
»Nur wir zwei allein«, erwiderte Viola. »Nun ja, Jette wird dann wohl bei uns sein.«
Heute konnte sie das Trixi sagen, denn Jette war bereit, zu ihr zu kommen.
»Wer ist Jette?«, fragte Trixi staunend.
»Sie war Haushälterin bei meiner Tante, die kürzlich verstorben ist. Eigentlich wollte sie in ein Altersheim gehen, aber nun freut sie sich auf dich. Ich muss nur noch das Häuschen einrichten, dann hole ich dich.«
»Wie lange dauert das?«, fragte Trixi.
»Vielleicht drei Wochen, höchstens vier. So lange kannst du es doch sicher hier noch aushalten. Es ist schön in Sophienlust.«
»Wenn ich bei dir sein kann, ist es schöner«, erwiderte Trixi ernsthaft. »Warum willst du mich eigentlich haben, Viola?«
»Weil ich dich lieb habe, Trixi«, erwiderte sie zärtlich.
Das Kind betrachtete sie andächtig. »Es ist so schön, dass du ausgerechnet mich lieb hast. Es hatte mich doch niemand richtig liebt. Zwickst du mich mal, Viola?«
»Warum denn, mein Kleines?«
»Damit ich weiß, dass es kein Traum ist.«
»Da, ich zwicke dich«, kündigte Viola an.
»Aber richtig fest.«
Viola tat es, und Trixi lachte hellauf. Wie diese Augen leuchteten!
Wieder dachte Viola an Dirk Boering. Sie würde ihn wohl niemals wiedersehen, aber sie hatte nun ein Kind, das die gleichen Augen hatte wie er, obschon es keinerlei Verbindung zwischen Trixi und ihm zu geben schien.
*
Immer, wenn Viola kam, durfte Trixi mit ihr wegfahren. Die beiden verbrachten dann die Nacht in einem kleinen Gasthof, in dem sie schon bekannt waren. Ganz einsam lag er, und selten verirrte sich jemand hierher.
Für Trixi waren das stets zwei wundervolle Tage. Das Haus nannte sie Knusperhäuschen, und sie kam sich vor wie in einem Märchen. Aber das Leben mit Viola war kein Märchen für sie, sondern herrliche Wirklichkeit. Ausgehungert nach Liebe, dankte sie dieser mit jedem Blick, jedem Lächeln für das Glück, das auf sie herabgefallen war wie ein Gottesgeschenk.
Auch Viola genoss das Glück, mit Trixi allein zu sein. Eigentlich war es kaum begreiflich, denn sie war in einer harmonischen Familie aufgewachsen und hatte auch heute noch einen herzlichen Kontakt zu ihrer Familie. Sie hätte nichts vermisst, wäre nicht an einem Sommertag jener Mann in ihr Leben getreten, dem sie ihr junges, unberührtes Herz geschenkt hatte. Gerade einundzwanzig Jahre war sie damals alt gewesen, und Tante Henni hatte sie nach Travemünde eingeladen. Jene Tante Henni, deren Haushälterin Jette nun Trixi betreuen sollte, wenn sie selbst ihrem Beruf nachging.
Sie hatten sich am Strand gesehen und waren aufeinander zugegangen, als müsste es so sein. Dirk Boering und Viola von Dueren – es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Liebe bei ihr und wohl nur eine Sommerlaune bei ihm, denn ein paar Tage später sah sie ihn mit einer anderen Frau, die auch auf ihn zuging, schnell und ungeduldig, die ihn umarmte und küsste.
Jäh war alles Glück in Viola erloschen. Noch am gleichen Tag war sie abgereist, ohne ihn noch einmal gesehen zu haben. Zu tief und schmerzlich war sie getroffen. Aber vergessen hatte sie ihn nicht, obgleich sie dieses Vergessen gesucht und bei Jan zu finden gehofft hatte.
Wenn ihre Familie sich nun ähnlich verhalten würde wie Jan, ging es ihr durch den Kopf. Joachim war so nüchtern, und Katja, seine Frau, sehr kapriziös. War es nicht überhaupt besser, in eine andere Stadt zu gehen?
Wozu mache ich mir Gedanken, überlegte Viola. Ich bin erwachsen, siebenundzwanzig Jahre alt und unabhängig. Ich brauche niemandem Rechenschaft abzulegen, und wenn Jo Einwände macht, mache ich mich einfach selbstständig. Glücklicherweise war sie ja finanziell gesichert.
Aber sie kam nicht umhin, Trixi sacht auf diese Familie vorzubereiten.
»Würde es dir gefallen, Trixi, manchmal in einer großen Familie zu sein?«, fragte sie.
»Was für eine große Familie?«, wollte das Kind wissen.
»Mein Bruder, seine Frau und ihre Kinder«, erwiderte Viola mit belegter Stimme.
»Wollen sie mich denn auch haben?«, fragte Trixi zweifelnd.
»Das werden wir feststellen.«
»Es macht dir Sorgen, nicht wahr?«, fragte Trixi nachdenklich. »Ich möchte nicht, dass du meinetwegen Sorgen hast, Viola.«
»Oh, damit werden wir schon fertig werden, mein Liebling. Du bist mir wichtiger als sonst jemand auf der Welt.«
»Warum bist du dann eigentlich nicht meine richtige Mutti?«, fragte Trixi gedankenverloren. »Warum richtet es der liebe Gott nicht so ein, dass ein Kind zu der Mutti kommt, die es sich wünscht?«
»Ja, wenn man das wüsste«, lächelte Viola. »Aber uns hat er ja zusammengebracht, und darüber wollen wir froh sein.«
Trixi umarmte sie innig. »Niemand kann dich lieber haben als ich«, flüsterte sie.
*
Nun war auch dieses Wochenende vorüber. Viola hatte Trixi nach Sophienlust gebracht und erklärt, dass sie nun nicht mehr kommen könne, bevor sie sie endgültig zu sich holen würde.
»Ich werde viel zu tun haben, bis das Haus eingerichtet ist, das siehst du doch ein, Trixi?«, meinte sie vorsichtig.
»Ich würde dir so gern helfen«, sagte die Kleine. »Aber du weißt schon, wie es am besten ist. Ich muss aber wissen, dass es dir gut geht, Viola.«
»Ich werde dich anrufen«, versprach Viola. »Und nun vergiss das Lachen nicht. Schau, die Kinder sind doch alle lieb zu dir.«
Dafür, dass sie nun bald für immer zu Viola gehen konnte, war Trixi bereit, diesen Kindern manche Zugeständnisse zu machen. Pünktchen wunderte sich sehr, dass sie nun viel lebhafter wurde.
»In ein paar Wochen holt mich Viola«, erklärte Trixi. »Für immer.«
»Du bist das erste Kind, das froh darüber ist, dass es von Sophienlust weggehen kann«, meinte Pünktchen missbilligend. »Ich möchte nie fort.«
»Du hast ja auch keine Viola«, erklärte Trixi. »Aber du hast Nick.«
»Nick ist zu allen Kindern nett, nicht nur zu mir. Zu dir wäre er auch nett, wenn du es wolltest, obwohl du noch ein bisschen klein bist.«
Pünktchen war sehr froh, dass sie selbst nicht mehr so klein war, denn sie wollte mit Nick Schritt halten, der immer mehr in die Höhe schoss und viel schneller groß wurde, als ihr lieb war.
Nun war er auch lange nicht mehr so oft in Sophienlust wie früher. Darüber war Pünktchen sehr betrübt. Es passte ihr auch nicht recht, dass die Mädchen ihm schon nachschauten. Sie sah es ja immer, seit sie auch ins Gymnasium ging.
Wenn Pünktchen Trixi ansah, dachte sie an die Zeit, als sie nach Sophienlust gekommen war. Da war sie auch noch klein gewesen, aber ihr war Sophienlust wie der Himmel auf Erden erschienen.
Es war ihre Heimat geworden, aus der sie sich niemals weggesehnt hatte. Dass ein Waisenkind, das keine Eltern hatte, sich fortsehnen konnte, wollte ihr nicht in den Kopf. Und das sagte sie Trixi auch.
»Dich hat Nick gefunden, du hast es mir doch mal erzählt«, meinte Trixi darauf. »Und mich hat Viola gefunden. Und wie du von Nick nicht fort willst, will ich nicht von Viola fort.«
»Das ist aber doch was anderes«, widersprach Pünktchen. »Viola ist jung. Was ist, wenn sie heiratet und andere Kinder bekommt?«
»Sie hat gesagt, wir bleiben allein«, erklärte Trixi eigensinnig.
»Nur Jette kommt zu uns. Jette ist schon alt.«
»Na, wenn das nur gut geht«, meinte Pünktchen später zu Nick.
»Hübsche Mädchen heiraten doch immer, und die Viola ist schon sehr hübsch.«
»Aber sie ist kein Mädchen, sie ist eine Rechtsanwältin«, belehrte er sie. »Die weiß schon, was sie tut.«
*
Bevor Viola heimfuhr, legte sie noch eine kurze Rast ein. Jetzt drängte alles zu einer Entscheidung. Sie musste damit rechnen, dass Jan sich mit ihrem Bruder Joachim in Verbindung gesetzt hatte. Sie musste endlich ihre Karten auf den Tisch legen.
»Die Sonntagszeitung gefällig«, sagte eine Stimme und riss sie gewaltsam in die Wirklichkeit zurück. Viola nickte gedankenlos und legte ein Geldstück auf den Tisch.
Achtlos blätterte sie in der Zeitung, als ihr Blick wie von ungefähr auf eine unauffällige Notiz fiel.
Dr. Dirk Boering ist bereit, die Leitung der Forschungsabteilung des Bird-Konzerns zu übernehmen. Er wird in dieser Woche einige Vorträge über die Nutzung der Atomenergie für friedliche Zwecke halten. Dr. Boering ist nach einem sechsjährigen Aufenthalt in Australien am Sonnabend in London eingetroffen.
Die Schrift verschwamm vor Violas Augen. Warum gerade jetzt, hämmerte es in ihren Schläfen. Sechs Jahre lang hatte sie von ihm nichts gehört und gelesen. Aber er musste es sein, es konnte keinen zweiten Dirk Boering geben.
Viola starrte auf die Zeitung. Montag, Mittwoch, Freitag hielt er seine Vorträge in ihrer Heimatstadt. Sie konnte hingehen und ihn sehen, wenn sie wollte. Sie musste es tun, um bestätigt zu finden, ob sie ihre Sehnsucht sechs Jahre lang an ein Traumbild verschwendet hatte.
*
Als Viola das Haus betrat, in dem sie aufgewachsen war und das nun von ihrem Bruder Joachim, seiner Frau Katja und den beiden Kindern Jörg und Anja bewohnt wurde, nahm sie allen Mut zusammen.
»Nett, dass du kommst«, wurde sie von ihrer Schwägerin begrüßt, deren Mienenspiel ihr verriet, dass diese nicht gerade in bester Stimmung war.
»Ist Jo nicht da?«, fragte Viola verwundert.
»Er lässt sich von der Arbeit auffressen. Sogar am Sonntag«, erwiderte Katja unwillig.
»Familiensinn müssen wir abschreiben. Kannst du ihm nicht mal ins Gewissen reden, Viola?«
Katja war eine bezaubernde Frau. Viola hatte sich von Anfang an blendend mit ihr verstanden und wünschte heiß, dass dies auch nicht anders werden würde, wenn sie Trixi zu sich nahm. Eigentlich war sie ganz froh, sich im Moment allein mit ihr unterhalten zu können.
»Mach es dir bequem«, sagte Katja. »Möchtest du einen Martini oder lieber einen Wein?«
»Einen Wein, wenn es dir keine Umstände macht«, meinte Viola.
»Umstände – du bist gut. Was bleibt mir anderes übrig, als meinen Kummer zu ertränken?«
»Echter Kummer?«, fragte Viola erschrocken.
Katja seufzte schwer. »Heirate nie, empfehle ich dir. Es ist ein einziges Warten darauf, dass der Göttergatte mal heimkommt.«
»Ich habe nicht die Absicht zu heiraten«, erwiderte Viola ruhig.
»Ist es aus mit Jan?«, fragte Katja neugierig. »Um ehrlich zu sein, Jo hat mich vorhin angerufen und eine so komische Andeutung gemacht, aber klug bin ich daraus nicht geworden.«
»Katja, was würdest du sagen, wenn ich ein Kind bekäme?«, begann sie stockend.
Typisch Jan, dachte Viola, er musste seine Wut abreagieren. Sie lehnte sich zurück.
Natürlich hatte sie das falsch formuliert, wie der entsetzte Blick ihrer Schwägerin verriet.
»Du …, ein Kind?«, fragte Katja atemlos. »Mach mich nicht schwach.«
»Kein Baby, ein größeres«, stellte Viola gelassen fest. »Schon sechs Jahre alt und bald schulpflichtig.«
»Etwa ein vorehelicher Ableger von Jan?«, fragte Katja.
»Na, der wäre der Letzte, dem das passieren würde«, meinte Viola. »Ich möchte ein Kind adoptieren. Ehrlich gesagt, die Adoption ist schon fast perfekt.«
Katja sprang auf und fühlte Violas Stirn. »Du hast doch nicht etwa Fieber?«, fragte sie erschrocken.
»Ich bin völlig gesund und auch normal, wenngleich Jan mich verrückt genannt hat. Mit ihm ist es übrigens aus. Er hat kein Verständnis für meine Launen. Aber es sind keine Launen, Katja, es ist mein völliger Ernst. Ich werde Trixi in ein paar Wochen herholen.«
Katjas Mund öffnete sich und klappte wieder zu. »Sei froh, dass dein lieber Bruder nicht da ist«, stöhnte sie schließlich. »Sonst gäbe es jetzt ein schönes Theater.«
»Was für ein Theater?«, fragte da Joachims Stimme von der Tür her. »Dann stimmt es also, was Jan mir erzählt hat?«
»Diese Klatschbase«, entfuhr es Viola. »Dachte ich es mir doch, dass er sich hinter dich stecken würde. Aber ändern kann er doch nichts. Mein Entschluss steht ganz fest. Ich adoptiere Trixi.«
»Nun mal ganz langsam, Viola«, bemerkte ihr Bruder. »Ich will alles aus deinem Munde hören, bevor ich mich äußere. Jan ist nicht kompetent. Meine Schwester steht mir näher.«
Diese Worte machten Viola Mut. Sie erzählte alles der Reihe nach. Niemand unterbrach sie dabei. Als sie geendet hatte, nahm Joachim einen langen Schluck aus dem Glas, das Katja vor ihn hingestellt hatte.
»Und würdest du nun sagen, warum du dieses Kind so abgöttisch liebst?«, fragte er kühl.
»Nehmen wir einmal an, Trixis Augen würden mich an einen Mann erinnern, den ich nicht vergessen kann«, erwiderte Viola versonnen.
Joachim von Dueren stand auf. »Und wer ist dieser Mann?«
»Das, meine Lieben, werde ich euch nicht verraten«, erklärte Viola. »Entweder ihr akzeptiert meinen Entschluss oder nicht. Er ist unumstößlich.«
Katja legte ihre Hand auf Violas Arm. »Es ist dein Entschluss, und ich akzeptiere ihn, was dieser Paragraphenreiter auch sagen mag.«
Viola warf ihrem Bruder einen raschen Blick zu. »Jo ist zu beneiden«, sagte sie leise. »Du bist eine wundervolle Frau, Katja.«
»Was ich nicht eine Sekunde infrage stelle«, warf Joachim von Dueren ein. »Vielleicht könnte ich manches dagegen einwenden, Viola, aber auch ich sage, dass es dein Entschluss ist. Du musst wissen, was du tust. Aber was ist mit unserer Partnerschaft? Beruf und Kind, wie lässt sich das vereinbaren?«
»Jette wird zu uns kommen«, erwiderte Viola gelassen. »Natürlich kann ich die Hände nicht in den Schoß legen.«
»Und wo wollt ihr wohnen? In deinem Appartement?«
»Ich würde gern das Gartenhaus einrichten«, sagte Viola beklommen. »Wir könnten das Grundstück ja durch einen Zaun trennen.«
Das Gartenhaus, das sie meinte, lag am Ende des riesigen Grundstücks, auf dem dieses Haus stand.
Katja tippte sich an die Stirn. »Bist du noch bei Trost«, sagte sie leichthin. »Soll ich jedes Mal über den Zaun steigen, wenn ich nach deiner Trixi sehen will? Jette ist doch Kinder gar nicht gewöhnt.«
Violas Augen begannen etwas zu brennen. »Danke, Katja«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Tausend Dank, aber jetzt will ich euch nicht länger stören. Ihr habt so selten Zeit füreinander.«
Katja begleitete Viola zur Tür, und als sie zurückkam, stand ihr Mann noch immer kopfschüttelnd im Zimmer.
»Meine Schwester«, murmelte er. »Müsste ich nicht eigentlich aus der Haut fahren? So hübsch, so gescheit …, und dies alles nur für ein Kind?«
»Bleib schön in deiner Haut, Jo«, meinte Katja. »Ich habe sie gern – deine Haut und Viola auch. Sie muss diesen Mann schrecklich lieben«, fügte sie sinnend hinzu.
*
Langsam riss Trixi das Kalenderblatt ab. »Ein Tag ist schon bald zu Ende«, murmelte sie.
»Du machst es aber spannend«, lachte Malu. »Was steht denn drauf?«
»Ich kann es noch nicht lesen«, erwiderte Trixi leise.
Malu nahm ihr das Blatt aus der Hand. »Jedem ist sein Tag bestimmt«, las sie vor. »Na ja, das kann man auslegen, wie man will.«
»Jedem ist sein Tag bestimmt«, wiederholte Trixi leise. Dann zuckte sie die Schultern. »Ich bin müde.«
»Ich muss noch Französisch lernen«, sagte Malu. »Sei froh, dass du das noch nicht brauchst.«
Trixi drückte Violas Bild an ihr Herz. Ach, sie wollte gern lernen, um auch einmal so gescheit zu werden wie Viola. Sie wollte ihr nur Freude bereiten. Einen Tag war sie nun dem Beisammensein mit ihr schon näher. Und die Nächte vergingen ohnehin schneller.
Zu dieser Zeit packte Viola ihre Akten zusammen, die sie aus der Kanzlei noch mit nach Hause nehmen wollte. Nach dem Vortrag, zu dem sie heute gehen würde, wollte sie noch arbeiten.
Ihr Bruder trat ein. »Hast du dich mit dieser leidigen Scheidungsaffäre beschäftigt?«, fragte er. »Ich verstehe so was manchmal wirklich nicht. Was können diese Leute für Gründe haben, sich zu trennen? Sie haben doch wahrhaftig alles, wovon andere nur träumen.«
»Vielleicht liegt es daran, dass sie nichts mehr haben, wovon sie träumen können«, bemerkte Viola.
»Träume sind halt das Reich, aus dem man nicht vertrieben werden kann.«
»Du sagst es«, brummte er, »aber träume bitte nicht zu viel, Mädchen. Manchmal gibt es ein böses Erwachen.«
Vielleicht gibt es das schon heute für mich, dachte Viola, aber dann bleibt mir noch Trixi.
»Hast du noch etwas vor?«, fragte ihr Bruder. »Du hast dich so fein gemacht.«
»Ich gehe zu einem Vortrag«, erwiderte sie.
»Du hast wirklich Nerven. Oder ist es ein Vortrag über Kindererziehung?«
»Dazu braucht man nur Liebe«, lächelte sie.
»Aber nicht so viel Nachsicht, wie Katja sie bei den unseren exerziert. Jörg und Anja entwickeln sich zu Tyrannen.«
»Vielleicht sollte der Vater mehr Zeit für sie haben«, bemerkte Viola anzüglich.
»Ich renne ja schon«, erwiderte er.
Viola lächelte zufrieden, als sie ihm nachblickte. Er sah heute viel frischer aus. Allem Anschein nach hatte er gestern noch einen schönen Abend mit Katja verbracht. Und sie selbst war auf dem Weg, ihr Schicksal herauszufordern.
Viola musste lange suchen, bis sie einen Parkplatz fand. Anscheinend hatte der Name Dirk Boering eine große Anziehungskraft. Seltsam war es schon, dass so viele Menschen ihn kannten, in der gleichen Stadt, in der sie lebte. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie das Foyer betrat. Es waren überwiegend männliche Besucher da, und sie fühlte sich neugierigen Blicken ausgesetzt. Dabei war sie doch darauf bedacht, so wenig wie nur möglich bemerkt zu werden.
Viola nahm in der hintersten Reihe des Saales Platz, verschränkte ihre bebenden Hände ineinander und wartete.
Stille trat ein, als der hochgewachsene Mann an das Podium trat. Es war ihr Dirk! Er war älter geworden, seine Haare waren an den Schläfen ergraut. Seine Stimme klang kühl und sehr bestimmt. Unvorstellbar, dass sie einmal so zärtliche Worte gesagt haben sollte …
Und dennoch hörte sie diese und nicht jene nüchternen, die er jetzt sagte. Alles um sie versank. Es war vergeblich, sich gegen dieses übermächtige Gefühl zu wehren, das wieder von ihr Besitz ergriff. Sie begriff auch nicht, dass diese Stimme plötzlich schwieg, weil sie in ihr noch forttönte.
Der Beifall rauschte auf. Der Saal leerte sich.Viola ließ sich in der Menge forttreiben, und dann stand er fast unmittelbar vor ihr, an seiner Seite aber jene Frau, die sie schon in Travemünde gesehen hatte.
Sekundenschnell trafen sich ihre und des Mannes Augen. Staunen, Nichtbegreifen und eine so unendliche Zärtlichkeit war in seinen Augen, dass sie zurücktaumelte.
Mechanisch löste er sich von der Seite seiner Begleiterin. Viola schrak zusammen und lief wie gehetzt davon, auf der Flucht vor ihm und vor sich selbst.
Dirk Boering folgte ihr, aber sie war seinen Augen schon entschwunden, als er ins Freie trat. Man umringte ihn, redete auf ihn ein, und dann war plötzlich Ramona da.
»Dirk, was ist los mit dir?«, fragte sie leise.
»Es war Viola«, stieß er hervor. »Ich will sie nicht noch einmal verlieren.«
»Aber sie ist gegangen. Sie wollte dich nicht sprechen«, stellte sie fest.
»Und warum ist sie dann gekommen?«, fragte er rau. »Sie wusste, dass ich es bin.«
Mitfühlend betrachtete Ramona Boering ihren Bruder. »Vielleicht war es ein endgültiger Abschied«, sagte sie leise. »Sie wird inzwischen verheiratet sein.«
»Nein«, murmelte er, »dann wäre sie nicht gekommen. Mein Gott, Ramona, wenn ich doch nur wüsste, warum sie damals wortlos gegangen ist.«
Die beiden bahnten sich einen Weg durch die Menge zu ihrem Wagen.
»Sie muss hier in der Stadt sein«, überlegte Ramona. »Woher sollte sie sonst von diesem Vortrag wissen? Viel Reklame ist doch nicht gemacht worden. Wenn du es unbedingt willst, werden wir sie finden, Dirk. Diesmal ganz bestimmt.«
»Wenn es nicht zu spät ist«, sagte er leise.
*
Er ist da und wird hierbleiben, dachte Viola, als sie heimwärts fuhr. Und ich werde immer wieder in Versuchung geraten, seine Nähe zu suchen. Davor kann mich selbst Trixi nicht bewahren.
Ihr Herz klopfte schmerzhaft. In ihrem Kopf schien ein Mühlrad zu kreisen. Sie erreichte ihre Wohnung und wunderte sich, dass nichts geschehen war.
Dann saß sie an ihrem Schreibtisch, die Akten vor sich und konnte sich nicht konzentrieren. Als das Telefon läutete, war ihr nicht bewusst, dass es bereits Mitternacht war. Achtlos nahm sie den Hörer ab und meldete sich. Ihr Herzschlag setzte aus, als sie seine Stimme vernahm, die ihren Namen aussprach.
»Viola«, atemlose Spannung lag in den drei Silben. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Bitte, leg nicht auf«, fuhr er leise fort. »Ich muss dich sprechen. Wann kann ich dich sehen? Wäre es jetzt noch möglich?«
Nein, wollte sie sagen, aber sie brachte es nicht über die Lippen. Sechs Jahre hatte sie sich nach diesem Augenblick gesehnt, nun war er da.
»Ja, du kannst kommen«, erwiderte sie mit bebender Stimme.
Ganz still saß sie dann da und starrte auf ihre gefalteten Hände. Es war müßig, darüber nachzudenken, wie er ihre Telefonnummer gefunden hatte, ihren Namen wusste er ja, und da sich dieser nicht geändert hatte, konnte er ihn leicht im Telefonbuch finden.
Sie wollte jetzt nicht an diese andere Frau denken, auch nicht an die vergangenen Jahre. Aber das Kind durfte sie nicht vergessen. Sie hatte sich für Trixi entschieden, da sie Dirk für immer verloren glaubte. Auch jetzt sollte sich das nicht ändern.
*
Ramona hörte, wie ihr Bruder telefonierte, aber verstehen konnte sie nichts. Dann knarrte die Tür des Wandschranks, und schnell trat sie durch die Verbindungstür in sein Zimmer.
»Du willst noch weggehen, Dirk?«, fragte sie nachdenklich. »Meinst du, dass es gut ist, so impulsiv zu handeln?«
»Das ist meine Sache«, brummte er. »Ich habe sie wiedergefunden und werde sie festhalten.«
»Und wenn sie sich nicht festhalten lassen will? Vergiss nicht, dass sie nicht mehr das Mädchen von damals ist.«
»Meine liebe Mona«, sagte er spöttisch, »meinst du nicht, dass ich erwachsen genug bin, um mich nicht ständig von dir bevormunden zu lassen? Ich weiß, du meinst es gut«, lenkte er rasch ein, als er ihre bestürzte Miene wahrnahm, »aber vielleicht solltest du auch mal an dich denken. Sicher gibt es manchen Mann, der sich gern bemuttern lässt.«
Als er davonstürzte, dachte sie daran, dass sie ihm immer so zugetan gewesen war, dass sie bisher an ein eigenes Glück nie ernsthaft gedachte hatte. Nun war sie dreißig, und wenn Dirk doch noch seine Viola bekam, war sie allein. Aber sie wollte nicht mit ihrem Schicksal hadern, wenn Dirk endlich glücklich wurde.
Als Dirk vor Violas Wohnung stand, kamen ihm Zweifel, ob er richtig gehandelt habe. Wenn sie ihn nun – aus welchen Gründen auch immer – zurückwies?
Ganz kurz drückte er auf die Klingel. Leichte Schritte waren zu vernehmen, dann öffnete Viola die Tür. Wortlos blickten sie sich an. Eine Flamme schien sie einzuhüllen, und dann hielten sie sich auch schon umschlungen. Sekunden atemberaubenden Glücks löschten sechs Jahre aus. Gewaltsam mussten sie sich aus dieser Verzauberung lösen.
»Warum bist du mir damals davongelaufen?«, fragte er sofort.
Ein zitternder Seufzer kam über ihre Lippen. »Kannst du es dir nicht denken, Dirk?«, erwiderte sie leise. »Ich sah dich mit dieser Frau, und sie ist doch auch jetzt noch bei dir.«
»Ramona?«, stöhnte er. »Mein Gott, sie ist doch meine Schwester! Deswegen haben wir sechs Jahre verloren, Viola …«
Er war völlig fassungslos, aber Viola nicht weniger. Nicht ein einziges Mal war ihr ein solcher Gedanke gekommen. Die beiden hatten doch nicht die geringste Ähnlichkeit miteinander …
»Komm, Dirk«, sagte sie leise, »wir haben uns wohl manches zu sagen.«
Schwankend folgte er ihr. Noch immer konnte er keinen klaren Gedanken fassen. »Ich verstehe das alles nicht«, murmelte er tonlos und ließ sich schwer in einen Sessel fallen.
Jetzt verstand sie ihr Verhalten auch nicht mehr. Sie war eben viel zu jung gewesen damals. Sehr jung und sehr leicht verletzlich, weil sie zum ersten Mal geliebt hatte. Doch die Liebe war geblieben, es gab keinen Zweifel. Auch bei ihm.
»Es ist doch Wahnsinn, dass Ramona der Grund gewesen sein soll«, sagte er.
»Ihr seht euch gar nicht ähnlich«, meinte sie kleinlaut.
Ein kurzes, zorniges Lachen kam über seine Lippen. »Nein, wir sehen uns nicht ähnlich, aber dennoch sind wir Geschwister. Ich ließ sie damals nach Travemünde kommen, damit ihr euch kennenlernen solltet. Und gerade das war falsch. Ich könnte verrückt werden!« Natürlich schien nachträglich alles unsinnig, und Viola musste sich außerdem sagen, dass die Schuld allein bei ihr lag, weil sie nicht an seine Liebe geglaubt hatte. Aber jetzt war daran nichts mehr zu ändern. Und wie es weitergehen sollte, wusste sie auch nicht.
Wie von ungefähr fiel sein Blick auf das Foto von Trixi, das auf dem Biedermeierschränkchen stand. Seine Augen weiteten sich.
»Wer ist dieses Kind?«, fragte er bestürzt.
»Trixi«, erwiderte sie leise. »Darüber sollten wir auch sprechen.«
Sein Gesicht versteinerte sich. »Ist es dein Kind?«, stieß er hervor. »Gibt es einen anderen Mann?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist ein Waisenkind. Ich habe es adoptiert.«
Nun war es gesagt, und sie wartete auf seine Reaktion.
Er antwortete nicht. Er stand auf und ging zu dem Schränkchen, um das Bild genauer zu betrachten.
»Du kommst auf die absurdesten Ideen«, brummte er. »Erst hältst du meine Schwester für meine Geliebte oder sonst was, und nun willst du ein fremdes Kind adoptieren. Warum, Viola?«
»Sie hat deine Augen«, erwiderte sie beklommen. »Ich sah sie ganz zufällig und …«
»Oh, mein Gott«, fiel er ihr ins Wort, »viele Menschen haben graue Augen. In was hast du dich da verrannt?« Er umfasste ihre Arme und zog sie zu sich empor. Seine Lippen pressten sich an ihre Schläfe.
»Ich habe niemals solche Augen gesehen, nur bei dir und bei ihr«, flüsterte sie. »Ich liebe dieses Kind, Dirk.«
»Und ich liebe dich«, murmelte er. »Nur dich. Du ahnst ja nicht, wie sehr ich mich nach dir gesehnt habe. Ich will dich jetzt für mich haben und dich mit niemandem teilen müssen. Vor allem nicht mit einem fremden Kind.«
»Versteh mich, Dirk«, bat sie. »Ich hatte keine Hoffnung, dich jemals wiederzusehen. Ich wollte auch keinen anderen Mann. Trixi füllte die Leere in mir aus. Wenn du sie kennenlernst, wirst du fühlen, dass sie kein fremdes Kind mehr für mich ist.«
»Du hast dir das alles sehr reiflich überlegt?«
»Ja«, nickte sie. »Ich habe Trixi in einem privaten Kinderheim untergebracht und will sie in ein paar Wochen ganz zu mir nehmen. Ich habe die Adoption eingeleitet.« Eifrig holte sie die Papiere herbei. Ihr Herz klopfte stürmisch, und in ihr keimte eine Hoffnung, dass er ihr Verständnis entgegenbringen würde. »Sie ist ein uneheliches Kind«, fuhr sie mit belegter Stimme fort.
Blicklos starrte er auf das Papier. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. »Beatrix Schüner«, las er mit klangloser Stimme. »Mutter: Gisela Schüner.« Das Papier fiel ihm aus der Hand. Schwer stützte er sich auf den Tisch.
»Du hast Geister heraufgeschworen, Viola«, sagte er dumpf. »Ich war mit ihr verlobt, bevor ich dich kennenlernte.«
Es war seltsam, aber sie verspürte kein Erschrecken. Langsam wandte sie sich zu ihm um.
»Irgendwie habe ich geahnt, dass sie dein Kind sein muss«, sagte sie leise. »Wie hätte ich sie sonst so lieben können?«
»An etwas anderes denkst du nicht?«, fragte er verwirrt. »Nicht an ihre Mutter?«
»Sie ist tot. Sie starb bei der Geburt. Dirk, willst du mir nicht alles erzählen?«
So schnell konnte er sich nicht zurechtfinden. »Könnte ich bitte etwas zu trinken haben?«, fragte er düster.
»Aber gern.« Sie holte eine Flasche aus der Küche und schenkte ihm ein. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht.
»Wie kannst du nur so heiter sein?«, fragte er beklommen.
»Ich liebe dich, und ich liebe Trixi. Jetzt noch mehr, da ich weiß, dass sie dein Kind ist.«
Er schloss die Augen. »Du weißt nicht, was damals war«, sagte er dumpf.
»Du wirst es mir sagen. Wir werden über alles sprechen. Wusstest du, dass sie ein Kind erwartet?«
»Ja«, erwiderte er. »Wirst du mich jetzt verdammen?«
Sie legte ihre Hand an seine Wange. »Willst du das? Ich bin nicht mehr das Kind von damals, Dirk. Ich verdamme nicht, wo ich verstehen soll.«
»Verstehen …, es ist nicht einfach, alles zu verstehen. Gisela war nicht so, wie du dir die Mutter dieses Kindes vielleicht vorstellst. Sie war nicht so, wie sich ein Mann seine Frau vorstellt. Sie geizte nicht mit ihren Reizen und auch nicht mit ihren Gefühlen. Ich war nicht der einzige Mann in ihrem Leben und hegte Zweifel, ob ich der Vater dieses Kindes wäre, als sie es mir sagte. Ich hätte sie dennoch geheiratet, aber sie wollte plötzlich nicht mehr. Später erfuhr ich, dass sie krank war. Sie hatte Multiple Sklerose. Ich glaubte nicht daran, dass sie ein gesundes Kind zur Welt bringen würde. Ist das Kind gesund?«
Die Frage kam heftig. Viola hielt den Atem an. Eine schreckliche Angst ergriff von ihr Besitz.
»Ja, Trixi ist gesund«, erwiderte sie heftig. Es klang wie ein Aufschrei.
Er presste die Lippen aufeinander. »Was ist das für ein Gefühl, ein Kind zu haben, an dessen Mutter man sich kaum noch erinnert. Viola, warum nur musstest du das Kind finden?«
Ein kalter Schauer jagte über ihren Rücken. »Es war Schicksal«, flüsterte sie. »Du wirst dieses Kind kennenlernen und du wirst es auch lieben, Dirk.«
»Ich weiß nicht, ob ich es kennenlernen möchte«, murmelte er. »Selbstverständlich werde ich für das Kind sorgen. Aber ich habe dich wiedergefunden, und ich will dich niemals wieder verlieren. Etwas anderes kann ich im Moment nicht denken.«
»Aber wir können das Kind aus unserem Leben nicht mehr wegdenken«, sagte sie ruhig.
»Ich will nicht, dass Trixi zwischen uns steht«, begehrte er auf, riss sie in seine Arme und bedeckte ihr Gesicht mit ungestümen Küssen.