Das Buch
Zum Buch
Karen freut sich riesig auf den Campingausflug mit ihrem Freund Scott und seinen Kindern Julie und Benny. Gemeinsam wollen sie eine Woche lang durch die kalifornischen Wälder und Hügel wandern, begleitet vom befreundeten Ehepaar Gordon, das ebenfalls drei Kinder im Schlepptau hat. Zunächst scheint es auch ein friedlicher Ausflug zu sein – die Urlauber singen am Lagerfeuer und erzählen sich Gruselgeschichten.
Doch der abgeschiedene Wald, in dem sie campieren, ist der Wohnort der alten Einsiedlerin Ettie und ihres Sohns Merle. Ettie, die mit finsteren Mächten im Bunde steht, ist wild entschlossen, ihr Territorium um jeden Preis zu verteidigen. Dann gerät der einfältige, aber sehr gefährliche Merle außer Kontrolle, und für die Camper beginnt ein grauenvoller Alptraum.
Mit einem ausführlichen Verzeichnis aller im Wilhelm Heyne-Verlag erschienenen Werke von Richard Laymon am Ende des Buches.
Der Autor
Zum Autor
Richard Laymon wurde 1947 in Chicago geboren und studierte in Kalifornien englische Literatur. Er arbeitete als Lehrer, Bibliothekar und Zeitschriftenredakteur, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete und zu einem der bestverkauften Spannungsautoren aller Zeiten wurde. 2001 gestorben, gilt Laymon heute in den USA und Großbritannien als Horror-Kultautor, der von Schriftstellerkollegen wie Stephen King und Dean Koontz hoch geschätzt wird.
Besuchen Sie auch die offizielle Website über Richard Laymon unter www.rlk.stevegerlach.com
Der Wald
RICHARD LAYMON
DER WALD
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Marcel Häußler
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Impressum
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Die Originalausgabe
Dark Mountain
erschien 1987 bei Tor Books,
an imprint of Tom Doherty Associates
Vollständige deutsche Erstausgabe 10/2011
Copyright © 1987 by Richard Laymon
Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Published in arrangement with Lennart Sane Agency AB
Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer
Umschlaggestaltung und Motiv:
Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-05729-9
V002
www.heyne-hardcore.de
Widmung
Für meinen Bruder Bob,
der mit mir auf den Pfaden
unserer Jugend wanderte
Motto
Gib acht auf deiner Reise,
Setz deine Schritte mit Bedacht.
Und hüt’ dich vor der Hexe,
die in der dunklen Höhle wacht.
Dämpf’ deine Stimme,
Wandre nicht allein.
Und meide die Schatten –
Dort kann die Hexe sein.
Sie wartet und lauert.
Sie weiß dich dort in der Nacht.
Wandre nicht allein,
Setz deine Schritte mit Bedacht.
Teil Eins
TEIL EINS
1
1
Wieder hörte Cheryl das Geräusch – ein leises, trockenes Knistern von Schritten im Laub. Dieses Mal kam es ganz aus der Nähe.
Sie lag steif im Schlafsack und wagte kaum zu atmen, während sie auf die schräge Zeltwand starrte und versuchte, ruhig zu bleiben.
Es ist bestimmt nur ein Tier. Vielleicht ein Hirsch. Als sie vor ein paar Tagen auf einer Wiese unterhalb des Passes gecampt hatten, waren sie von einem Hirsch, der um ihr Zelt streifte, geweckt worden. Er war mit den Hufen durch die Blätter gestapft, hatte Zweige umgeknickt und in der Erde gescharrt. Danny hatte ihn »Bambi den Elefanten« genannt.
Dieses Geräusch war anders.
Es klang verstohlen.
Sie hörte es erneut, zuckte zusammen und grub die Fingerspitzen in ihre nackten Schenkel.
Vielleicht war etwas von einem Baum gefallen? Tannenzapfen? Das könnte sich so ähnlich anhören, dachte sie. Es war windig genug, um sie loszurütteln.
So muss es sein. Sonst würde ja jemand direkt neben dem Zelt stehen, und das ist unmöglich.
Sie waren seit zwei Tagen niemandem begegnet. Am frühen Nachmittag hatten sie den Lower Mesquite Lake erreicht. Der Gletschersee war bis auf dieses kleine Waldstück von kargen Felsen umgeben. Sie waren komplett um den See herumgewandert. Sie hatten den Wald erkundet. Sie hatten niemanden gesehen.
Nicht einmal, als sie über den niedrigen Grat zum Upper Mesquite Lake aufgestiegen waren.
Keine Menschenseele.
Cheryl atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen.
Schlaf jetzt, du Schisserin.
Cheryl konzentrierte sich darauf, ihre Beine, den Bauch und den Rücken zu entspannen, ließ sich von der Wärme einlullen und drehte den Kopf, um die verkrampften Nackenmuskeln zu dehnen. Sie hätte sich am liebsten auf den Bauch gelegt und tief im Schlafsack verkrochen, aber sie wagte nicht, sich so viel zu bewegen.
Ein Monster unter dem Bett. Es war wie damals als Kind, als sie gewusst hatte, dass unter dem Bett ein schreckliches Monster lauerte. Wenn sie völlig still lag, würde es sie in Ruhe lassen.
Ich bin achtzehn. Ich bin zu alt für so was.
Langsam begann sie, sich umzudrehen. Ihre nackte Haut rieb über den Nylonstoff, und es raschelte so laut, dass das andere Geräusch beinahe übertönt wurde. Cheryl erstarrte. Sie lag auf der Seite, mit dem Gesicht zu Danny. Das andere Geräusch kam von hinter ihr – ein Zischen, als würde jemand mit den Fingernägeln über die Zeltwand kratzen.
Sie warf sich gegen Danny und rüttelte ihn an den Schultern. Stöhnend hob er den Kopf. »Hä? Was ist …«
»Da draußen ist jemand«, keuchte sie.
Er richtete sich auf den Ellbogen auf. »Was?«
»Draußen. Ich hab jemanden gehört.«
»Wen?«
»Pst.«
Beide blieben still liegen.
»Ich hör nichts«, sagte er verschlafen.
»Ich hab aber was gehört. Mein Gott, jemand ist direkt am Zelt. Er hat daran gekratzt.«
»Bestimmt nur ein Zweig.«
»Danny.«
»Okay, schon gut, ich geh raus und seh mal nach.«
»Ich komm mit.«
»Wir müssen uns nicht beide den Arsch abfrieren. Ich geh schon.« Auf allen vieren durchwühlte er die Kleider und Ausrüstungsgegenstände am Kopfende. Kühle Nachtluft drang in den Doppelschlafsack. Er zog die Taschenlampe aus einem seiner Stiefel. »Bin gleich wieder da«, sagte er.
Cheryl rutschte zur Seite. Danny befreite sich aus dem Schlafsack und kroch nackt zum Ausgang. Auf Knien zog er den Reißverschluss des Moskitonetzes herunter.
Cheryl setzte sich auf. Kälte umfing sie. Zitternd schlang sie die Arme um ihre Brüste. »Vielleicht solltest du lieber nicht gehen«, flüsterte sie. »Komm zurück.«
»Nein, ist schon in Ordnung.«
»Bitte.«
»Ich muss sowieso mal pinkeln.« Er kroch durch die Zeltklappen. Als er zur Hälfte hindurch war, hielt er inne. Er stieß ein tiefes Stöhnen aus. Einer seiner Füße wich zurück.
Cheryl hörte ein feuchtes Klatschen. Etwas spritzte auf die Zeltklappen.
Dannys Beine klappten unter ihm zusammen und streckten sich. Er warf sich hin und her, die Knie schlugen auf den Zeltboden, sein Körper zuckte wild, durchgeschüttelt von nicht enden wollenden Krämpfen. Schließlich rührte er sich nicht mehr.
Cheryl sah entsetzt zu, wie Danny durch die Zeltklappen nach draußen gezogen wurde. Seine Hinterbacken verschwanden. Die Beine schleiften über den Boden, als würde er langsam in ein dunkles Maul gesaugt.
Cheryl war allein im Zelt.
Aber nicht lange.
2
2
Meg taumelte ins Wohnzimmer. Ein Träger des Nachthemds war ihr über die Schulter gerutscht. »Meine Güte, Süße, wie spät ist es?«
»Mitten in der Nacht«, sagte Karen.
»Sag mal, nennst du das wirklich Urlaub?«
»Aber sicher.«
»Ja, das hab ich mir gedacht.« Sie warf sich in einen Sessel, hängte ein Bein über die gepolsterte Armlehne und streckte sich nach einem Päckchen Zigaretten. »Wann holt er dich ab?«
»Um halb sechs.«
»Wahnsinn. Soll ich dir einen Kaffee kochen?«
»Ich will nicht ständig pinkeln müssen.«
»Scheiße. Mit den ganzen Kindern im Auto müsst ihr sowieso alle fünf Minuten anhalten.« Sie zündete sich eine Zigarette an.
»Sie sind eigentlich keine Kinder mehr«, sagte Karen. »Julie ist sechzehn. Benny ist dreizehn oder vierzehn.«
»Noch schlimmer. Verdammt, du kannst dich auf was gefasst machen.«
»Sie sind in Ordnung.« Karen lehnte den Rucksack gegen das Sofa und stopfte ihren Schlafsack hinein.
»Und wer ist diese andere Familie?«
»Die Gordons. Ich hab sie auch noch nie gesehen.«
»Haben die auch Kinder?«
»Drei.«
»Du wirst dich bestimmt prächtig amüsieren. Hoffentlich hast du nicht vor, mit dem Typen ins Bett zu steigen.«
»Mal sehen.« Karen schnallte den Rucksack zu, trug ihn zur Haustür und lehnte ihn dort an die Wand.
»Das klingt nach einer Menge Spaß. Ich wünschte, ich könnte mitkommen.«
»Du warst eingeladen.«
»Hör bloß auf. Einen Campingausflug brauche ich ungefähr so dringend wie eine dritte Titte.«
Karen ließ sich aufs Sofa sinken und begann, ihre Wanderstiefel zu schnüren. Es waren abgenutzte und zerkratzte Schuhe von Pivetta. Sie hatten seit ihrer Magisterprüfung vor vier Jahren ungetragen hinten im Wandschrank gestanden, aber sie waren bequem und fühlten sich so vertraut an wie gute alte Freunde, die Geschichten von staubigen Serpentinen, dem kalten Wind der Bergpässe, einsamen Seen, eisigen Flüssen und dem Rauch der Lagerfeuer erzählten. Karen band die Schnürsenkel zu und schlug sich auf die nackten Knie. »Das wird klasse.«
»Du bist eine Masochistin«, sagte Meg, während sie ihre Zigarette ausdrückte.
»Du hast keine Ahnung, was du verpasst.«
»Doch, allerdings. Zeit fürs Bett.« Sie stemmte sich aus dem Sessel hoch, gähnte und dehnte sich. »Also, amüsier dich gut, falls du es schaffst.«
»Klar. Bis nächsten Sonntag.«
»Grüß mir die Streifenhörnchen.« Sie wackelte mit den Fingern, drehte sich um und ging hinaus.
Karen warf einen Blick auf die Armbanduhr. Fünf Uhr achtundzwanzig. Sie lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. Ihre karierte Bluse stand am Bauch weit offen. Sie schloss den Knopf und überprüfte den Reißverschluss ihrer abgeschnittenen Cordhose. Alles in Ordnung. Sie gähnte. Vielleicht hätte sie Megs Angebot den Kaffee betreffend annehmen sollen. Sie atmete tief ein, und eine leichte, angenehme Müdigkeit breitete sich in ihrem Körper aus. Dann atmete sie mit geschlossenen Augen langsam aus.
Eine ganze Woche mit Scott in den Bergen. Kinder hin oder her, es würde herrlich werden. Sie würden Zeit finden, miteinander allein zu sein, wenn auch nur nachts. Es würde kalt sein, und sie würden sich aneinanderschmiegen, während der Wind gegen die Zeltwände blies …
Das Läuten der Klingel riss sie aus dem Schlaf. Sie sprang vom Sofa auf, eilte zur Tür und öffnete.
Scott stand unter der Verandalampe und lächelte sie durch das Fliegengitter an.
»Nimm deinen Wachturm und schieb ab.« Karen schloss die Tür. Als sie wieder aufmachte, hatte er sein Gesicht gegen das Gitter gepresst.
»Ich will dich vernaschen«, flüsterte er.
Einen Moment lang wirkte er wegen des zusammengepressten Gesichts wie ein Fremder. Karen spürte einen Kitzel der Angst. Dann trat er zurück und war wieder der freundlich lächelnde Scott. »Bist du startklar?«, fragte er.
»Ja.« Beim Öffnen des Fliegengitters beugte sie sich hinaus und warf einen Blick auf seinen Wagen in der Einfahrt. »Sind die Kinder da drin?«, fragte sie.
»Das war nicht einfach. Julie aus dem Bett zu holen, war der reinste Horror. Benny konnte es kaum erwarten loszufahren. Ich bin nicht sicher, ob er überhaupt geschlafen hat. Dann fiel ihm ein, dass wir unmöglich ohne seinen Feldstecher fahren konnten, aber wir wussten nicht, wo das verdammte Ding rumlag.«
»Habt ihr es noch gefunden?«
»Ja, aber deshalb sind wir so spät dran.«
»Ich verzeihe euch.«
»Danke.« Scott nahm sie in die Arme. Er roch nach Kaffee und Aftershave. Mit seinen Lippen auf ihrem Mund fühlte sie sich so geborgen, dass sie das Gefühl hatte, gleich wieder einzunicken. Bis seine Hände unter ihre Bluse drangen. Karen war hellwach, als sie an ihrem Rücken nach oben wanderten, durch die Achselhöhlen strichen und sich sanft über ihren Brüsten schlossen. Sie umkreisten sie. Sie streichelten sie. Ihre Brustwarzen versteiften sich unter der Berührung.
»Ich glaub, ich schicke die Kinder wieder nach Hause«, murmelte er.
»Mhmm. Ich hab dich vermisst.«
Er küsste sie noch einmal und umarmte sie fest. »Wir sollten lieber in die Gänge kommen. Hast du alles gepackt und so?«
»Alles bereit.«
Sie bückte sich, um ihren Rucksack aufzuheben. »Lass mich das machen«, sagte Scott. Während er den Rucksack nahm, ging Karen schnell zum Wohnzimmertisch, schnappte sich ihre Handtasche sowie den weichen Filzhut und folgte ihm dann zur Tür.
Die Morgenluft umschloss ihre nackten Arme und Beine und sickerte durch die Bluse wie kaltes Wasser. Schaudernd winkte sie dem Gesicht zu, das aus dem Heckfenster blickte. In dem blaugrauen Licht war es nur undeutlich zu erkennen, und sie hätte nicht sagen können, ob es Julie oder Benny war.
»Du kannst schon mal einsteigen«, sagte Scott.
Karen zuckte mit den Achseln. Sie wollte lieber warten und mit ihm zusammen einsteigen, deshalb folgte sie ihm zum Kofferraum. Dort stand sie mit hochgezogenen Schultern, verschränkten Armen und zusammengepressten Beinen und musste sich beherrschen, um nicht mit den Zähnen zu klappern.
Scott lächelte sie an, während er den Kofferraum aufschloss. »Die Heizung ist an.«
»Die frische Luft tut gut.«
Er lachte und legte ihren Rucksack auf die anderen. Dann schlug er die Klappe zu. »Hast du noch was vergessen?«
»Wahrscheinlich.«
Er lehnte sich entspannt gegen den Kofferraum und schien überhaupt nicht zu frieren. Allerdings trug er eine lange Hose und ein Flanellhemd. »Sonnenbrille?«, fragte er.
»Hab ich.«
»Jacke?«
»In meinem Rucksack. Ich wünschte, ich hätte sie an.«
»Lass uns fahren.«
Karen ging zur Beifahrerseite und ließ sich Zeit, bis Scott eingestiegen war, ehe sie die Tür öffnete. Sie beugte sich in den Wagen und lächelte über den Sitz nach hinten. »Morgen«, sagte sie.
»Hallo, hallo«, antwortete Benny und zwinkerte ihr dabei mit einem Auge zu. Er hob eine geschlossene Hand an den Mund, als hielte er ein Mikrofon. »Einen wunderschönen guten Morgen und danke, dass Sie unseren Sender eingeschaltet haben. Sie werden hören und staunen!«
»Hör auf, du Affe«, sagte Julie. Sie warf Karen ein kurzes, schmallippiges Lächeln zu und sah dann aus dem Fenster.
Karen stieg ein. Sie schlug die Tür zu. Die Heizung blies gegen ihre Beine. Sie seufzte und lehnte sich in der angenehmen Wärme zurück, während Scott rückwärts aus der Einfahrt fuhr.
»Was dagegen, wenn ich fahre?«, fragte Nick.
Sein Vater schlug die Heckklappe des Kombis zu. »Schaffst du es, nicht schneller als hundert zu fahren?«
»Wenn es dir egal ist, wann wir ankommen.«
»Unsere fahrplanmäßige Ankunftszeit ist vierzehn Uhr dreißig. Ich glaub, dazu müssen wir keinen neuen Geschwindigkeitsrekord aufstellen. Aber wenn du müde wirst, sagst du mir Bescheid.«
»Klar.«
Sie stiegen ein. Nick ließ den Motor an.
Sein Vater drehte sich nach hinten. »Muss jemand noch schnell einen Boxenstopp machen?«
»Igitt«, sagte Heather auf dem Rücksitz.
»Fies«, stimmte Rose ihr zu.
»Ich glaub, wir sind alle bereit«, sagte ihre Mutter.
»Sonnenbrillen? Hüte? Tampons?«
»Dad!«, stießen die Zwillinge im Chor aus.
»Arnold!«
»In großen Höhen«, sagte er, ohne die Miene zu verziehen, »treten schon mal Blutungen auf.«
»Nasenbluten«, sagte Rose.
Heather kicherte.
»Was auch immer«, sagte ihr Vater. »Man kann nicht vorsichtig genug sein. ›Allzeit bereit‹, oder Nick?«
»Ich hab meine dabei.«
Sein Vater brach in Gelächter aus und gab ihm einen Klaps aufs Knie.
»Ich hoffe, ihr habt solches Zeug aus eurem Programm gestrichen, bis wir die O’Tooles treffen«, sagte Mom.
»Scott ist nicht prüde.« Dad warf Nick einen Blick zu. »San Diego Freeway. Der führt gleich hinter Grapevine auf die 99.«
Nick fuhr los.
»Alle angeschnallt?«
Kurz vor der Kreuzung schaltete Nick den Blinker ein, obwohl kein anderes Auto in Sicht war. Mit seinem Vater neben sich wollte er vorschriftsmäßig fahren. Er hielt beinahe an, ehe er abbog.
»Wie heißt seine Freundin?«, fragte Mom.
»Sharon? Nein, Karen. Karen Soundso. Er hat sie im Supermarkt kennengelernt.«
»Eine Kassiererin?«
»Nein, nein, sie stand mit ihm in der Schlange. Ich glaub, er hat gesagt, sie wäre Lehrerin.«
»Oh, fies«, sagte Rose.
»Wie sieht sie aus?«
»Ein richtiger Wauwau. Hängeohren, haariges Gesicht, eine feuchte Nase. Aber ein hübscher Schwanz.«
»Und was weißt du wirklich über sie?«, fragte Mom.
»Nicht viel. Du kennst doch Scott. Er lässt sich nicht in die Karten gucken.«
»Ich hoffe, sie spielt Bridge. June war so toll.«
»Fang nicht mit ihr an.«
»Tja, war sie aber.«
»Ich finde, wir sollten über diese Person nicht reden, wenn die Mädchen dabei sind.«
»Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst. Sie hat nicht dich verlassen.«
»Aber meinen besten Freund. Das ist so gut wie das Gleiche. Wir sollten lieber das Thema wechseln. Du hast Grün«, sagte er zu Nick.
Nick bog nach links ab, fuhr die Auffahrt zur Schnellstraße hinauf und schämte sich, dass er sich hatte ablenken lassen. Er hatte schon ein paarmal gehört, wie seine Eltern die Trennung der O’Tooles erwähnten, aber noch nie waren sie dabei einem Streit so nahe gewesen. Es interessierte ihn brennend, auch wenn es ihn nichts anging. Er sollte sich lieber aufs Fahren konzentrieren, sonst würde sein Vater das Steuer übernehmen.
Nick fuhr gern. Er wünschte, sie hätten den Mustang genommen anstatt dieser Klapperkiste, doch zu fünft und mit den Rucksäcken hätten sie sich ziemlich quetschen müssen. Außerdem würde Dad den Mustang nicht eine Woche lang irgendwo mitten in der Pampa stehen lassen wollen. Letztes Jahr, oben im Yosemite Park, hatte jemand eine Scheibe des Kombis eingeschlagen und darin eine Party veranstaltet. Als sie zurückgekommen waren, hatten sie leere Bierdosen und einen zerrissenen rosafarbenen Schlüpfer auf dem Boden gefunden.
Der Einbruch hatte Nick Angst eingejagt, und er fühlte sich beklommen, als er jetzt daran dachte. Es war schlimm genug, dass ein paar fiese Typen in dem Auto Blödsinn gemacht hatten, aber was war, wenn man ihnen auf einem einsamen Wanderweg in die Arme lief? Was, wenn solche Leute über ihr Zelt stolperten?
Bisher war ihnen noch nichts Derartiges passiert, aber man musste damit rechnen. Nick war froh, dass die O’Tooles dieses Jahr mitkamen. Wie sein Dad war auch Scott O’Toole ein stattlicher Mann. Wenn es Ärger gäbe, würden sie damit fertigwerden.
Mit einem Gefühl der Erleichterung blickte er in den Seitenspiegel, blinkte und ordnete sich auf der rechten Spur ein. Er beschleunigte und fuhr auf die Überführung. Ehe die Straße sich über den Santa Monica Freeway spannte, ging er vom Gas. Auf dem Weg nach unten fuhr er wieder schneller, dann blinkte er nach links und kreuzte drei leere Spuren des San Diego Freeway.
Sein Vater beugte sich zu ihm und warf einen Blick auf den Tacho. Die Nadel schwankte zwischen 95 und 100 km/h. Mit einem anerkennenden Nicken lehnte er sich zurück. »Wenn du müde wirst, sag mir Bescheid.«
Benny beugte sich vor. »Hey, Karen?«, sagte er zu ihrem Hinterkopf. Sie drehte sich um und sah ihn an. Es war ein komisches Gefühl, ihr Gesicht so dicht an seinem zu haben – aufregend und warm und ein wenig peinlich. Er starrte sie an und hatte vergessen, was er sagen wollte.
Er hatte sie noch nie von so nah angesehen. Ihre Augen waren von einem klaren Blau – wie das Wasser des Swimmingpools. Zum ersten Mal bemerkte er die feinen goldenen Haare auf ihrer Oberlippe. Seine Cousine Tanya, ein dunkelhaariges Mädchen, hatte schon fast einen Schnurrbart. Das war ein wenig eklig, aber Karens Härchen waren so weich und flauschig, dass er sie liebend gerne berührt hätte. Vielleicht waren es nicht einmal genug, um sie zu spüren, aber auf ihren glatten, gebräunten Wangen schienen ein paar mehr zu sein.
»Was ist beim Elefanten klein und beim Floh groß?«, fragte er.
»Was denn?«
»Das F.«
Karen grinste und schüttelte leicht den Kopf.
Dann wandte sie sich ab. Benny konnte ihr Gesicht nicht länger sehen. Er lehnte sich zurück und betrachtete sie. Durch die Haare konnte er den Rand eines Ohrs erkennen. Er wünschte, sie würde sich noch einmal umdrehen, aber zuerst musste er sich einen neuen Witz ausdenken.
Er hatte Karen erst ein Mal zuvor gesehen. Normalerweise traf sich sein Vater nicht zu Hause mit ihr. Aber am letzten Samstag war sie zu ihnen gekommen und hatte mit ihnen gegrillte Rippchen gegessen. Sie hatte weiße Shorts und eine weite leuchtend rote Bluse mit grünen und weißen Blumen getragen und fantastisch ausgesehen. Als Dad sie vorgestellt hatte, hatte sie Bennys Hand geschüttelt und gesagt: »Freut mich sehr, dich kennenzulernen, Benny.«
Am Unterarm hatte sie eine blasse Narbe in der Form eines Hufeisens. Er wollte sie danach fragen, traute sich aber nicht.
Der Tag war bewölkt, weshalb niemand in den Pool stieg und er sie nicht im Badeanzug zu sehen bekam. Beim Abendessen saß sie ihm gegenüber. Obwohl es noch nicht dunkel war, hatte sein Vater Kerzen angezündet. In dem flackernden Licht glänzte ihr Haar golden. Er fand sie sehr nett. Trotzdem benahm sich Julie fürchterlich. Nach dem Essen nahm Tanya ihn und Julie mit ins Kino. Als sie wieder nach Hause kamen, war Karen weg. Als Dad sagte, sie werde bei ihrem Campingausflug mitkommen, drehte Julie durch. »Warum müssen wir sie mitnehmen? Ich kann sie nicht mal leiden! Ich will nicht fahren, wenn sie dabei ist.« Dad wirkte niedergeschlagen und fragte, warum sie Karen nicht möge. »Ach, vergiss es!«
»Ich finde sie nett«, sagte Benny.
»Ich auch«, erklärte Dad.
Manchmal konnte Julie richtig blöd sein.
»Hat jemand Hunger?«, riss ihn Dad aus seinen Gedanken.
»Ich!«, sagte Benny.
Julie zuckte die Achseln und las weiter in ihrem Buch.
»Julie?«
»Mir egal.«
»Ich könnte einen Happen vertragen«, meinte Karen und blickte dabei Dad an. Benny sah kurz ihr Profil, ehe sie sich wieder nach vorn wandte. Er seufzte. Mann, sie war echt eine Schönheit.
»Gut«, sagte Dad. »In ein paar Minuten sind wir in Gorman. Wir halten an und frühstücken eine Kleinigkeit.«
»Pass auf«, sagte Flash. Seine Stimme blieb ruhig, aber er stützte sich mit einer Hand am Armaturenbrett ab, als ein Sattelzug auf ihre Spur zog. Der Laster fuhr auf der steilen Steigung zum Tejon Pass nur halb so schnell wie sie. Sie schlossen rasch auf.
Nick steuerte den Wagen eine Spur nach links und schoss an dem Truck vorbei.
»Dämliches Arschloch«, murmelte Flash. Er nahm seine Hand vom Armaturenbrett. Nick sah nervös aus. »Alles in Ordnung mit dir?«
Der Junge nickte und leckte sich über die Lippen.
»Dieser … Er hatte überhaupt keinen Grund rüberzufahren.« Flash atmete zweimal tief durch und zog eine White Owl aus seiner Hemdtasche. Mit zitternden Fingern riss er die Zellophanverpackung auf. Er steckte die Zigarre in den Mund und zündete sie an, dann kurbelte er die Scheibe herunter, um den Rauch abziehen zu lassen.
»Ich sag dir was, Nick. Vietnam war nicht so gefährlich wie diese verfluchten Schnellstraßen. Verdammte Lastwagenfahrer. Versuchen, einen bei jeder Gelegenheit über den Haufen zu fahren. Man geht und fährt ihnen am besten aus dem Weg.«
Nick warf ihm einen Blick zu. Er wirkte immer noch verunsichert. »Schade, dass das hier keine F-8 ist«, sagte er. »Sonst könnten wir sie von der Straße pusten.«
»Guter Junge. Glaub mir, wir hatten unseren Anteil daran, Scott und ich. Wir haben uns ganze Konvois auf dem Ho-Chi-Minh-Pfad vorgeknöpft und ihnen die Scheiße aus dem Leib gebombt.«
»Arnold«, beschwerte sich Alice vom Rücksitz aus. Das hatte sie mitbekommen. Er sah nach hinten. Die Zwillinge schliefen. Rose war gegen die Tür gesackt, und Heather lehnte an ihr.
»Ich spreche leiser«, sagte er mit gedämpfter Stimme.
»Hör einfach auf, solche Wörter zu benutzen.«
Er schnippte die Asche ab und nahm einen tiefen Zug von der Zigarre. Rauch waberte um sein Gesicht. Rauch füllte das Cockpit. »Blue Leader, hier ist Flash. Bei mir hat’s eingeschlagen.«
Er schüttelte ruckartig den Kopf, um die Erinnerungen loszuwerden, während sein Herz zu rasen begann und sich sein Magen in einen Eisklumpen verwandelte. Oh Gott!
Der Kombi fuhr den Berg hinunter und nahm Geschwindigkeit auf.
»Nicht so schnell«, ermahnte er Nick.
Sein Sohn sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Geht’s dir gut, Dad?«
»Klar. Alles in Ordnung.« Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Die Erinnerungen wollten zurückkehren. »Gut, gut, gut«, sagte er schnell, um seine Gedanken in Schach zu halten. »Wir sind über den Berg. Die alte Karre hat es nochmal über den Pass geschafft. Es ist bestimmt höllisch heiß unten im Tal. Zum Glück haben wir eine Klimaanlage.«
3
3
»Ich habe sie geopfert, Ettie.«
Sie starrte auf die nackten Leichen des jungen Mannes und der jungen Frau, die nebeneinander ausgestreckt vor dem Zelt lagen. Der Mann lag auf dem Bauch und hatte eine schreckliche Wunde im Nacken. Die Frau, mit dem Gesicht nach oben, war zerschlagen und zerkratzt. Ettie sah Bissspuren an Mund und Kinn, an Schultern und Brüsten. Die linke Brustwarze fehlte.
»Ihn hab ich mit einem Beil geopfert«, sagte Merle, während er sich die Hände an den Hosenbeinen abwischte und zu lächeln versuchte. »Das Mädchen habe ich einfach erwürgt.«
»Sieht aus, als wäre das nicht das Einzige, was du mit ihr gemacht hast.«
»Sie war schön.«
»Merle, du hast keinen Funken Verstand im Kopf.«
Ihr Sohn zog sich den Schirm seiner verblichenen Dodgers-Kappe ins Gesicht, um seine Augen zu verbergen. »Es tut mir leid«, sagte er.
»Was sollen wir jetzt mit dir machen?«
Er zuckte die Achseln. Mit der Spitze seines Turnschuhs schoss er einen Tannenzapfen weg. »Du machst so was auch.«
»Nur wenn Er zu mir spricht.«
»Er hat zu mir gesprochen, Ettie. Ehrlich. Ich hätte das nie gemacht, aber Er hat mich darum gebeten.«
»Bist du sicher, dass du nicht einfach nur geil warst?«
»Nein, Ma’am. Er hat zu mir gesprochen.«
»Gestern hab ich gesehen, wie du den beiden nachspioniert hast. Ich hatte schon befürchtet, dass du so eine Nummer abziehen würdest, aber ich Idiotin hab dir vertraut. Ich hätte es besser wissen müssen.« Sie warf Merle einen wütenden Blick zu. Der Schirm seiner Kappe hob sich kurz, als er sie ansah. Dann senkte er sich wieder. »Was hast du mir versprochen?«
»Ich weiß«, murmelte er. »Ich hab doch schon gesagt, es tut mir leid.«
»Du wolltest es nie wieder tun, ohne zu fragen.«
»Ja, Ma’am.«
»Damit hast du uns was eingebrockt, Merle.«
Im Schatten seines Mützenschirms bemerkte sie ein dünnes Lächeln.
»Wisch dir das Grinsen aus dem Gesicht.«
»So schlimm ist es auch nicht, Ettie. Ich hab schon ihre Sachen durchsucht. Sie haben keine Feuererlaubnis.«
»Na und?«
Er schob die Kappe aus dem Gesicht, als hätte er nun keine Angst mehr, Etties Blick zu begegnen. »Wenn sie sich bei einem Ranger angemeldet hätten, hätten sie eine bekommen und auch gesagt, wo sie hinwollten. Aber sie haben keine. Also wissen die Ranger nicht, wo sie sind.«
»Tja, wenigstens etwas.«
»Selbst wenn jemand weiß, dass sie losgegangen sind, hat niemand eine Ahnung, wo er suchen soll. Wir begraben sie einfach und bringen ihr Zeug in die Höhle, dann ist alles in Ordnung.«
Ettie seufzte, verschränkte die Arme vor ihrem Busen und betrachtete die Leichen. »Ich spreche vorsichtshalber einen Zauber aus, um jeden zu bannen, der nach ihnen sucht.«
Merle sah sie zweifelnd an. »Vielleicht sollte ich das lieber machen.«
»Ich kann immer noch Bannkreise um dich heraufbeschwören, Junge, vergiss das nicht. Ich hab uns sicher aus Fresno rausgebracht, dein Verdienst war das nicht. Wenn du genug Verstand gehabt hättest, um mir zu holen, was ich brauchte …«
»Ich wurde gesehen.«
»Es hätte nicht mal eine halbe Minute gedauert«, sagte sie. Merle stand still da und beobachtete, wie sie sich neben die Leiche des Mannes kniete. Sie knotete einen Lederbeutel von ihrem Gürtel los und öffnete ihn. »Ich hätte dich niemals in die Künste einweihen sollen.«
»Sag so was nicht, Ettie.«
»Das hat uns endlosen Ärger eingebracht.« Sie wickelte sich eine Haarsträhne des Mannes um den Finger und riss sie ihm aus der Kopfhaut. Sie drückte die Strähne in die klaffende Wunde in seinem Nacken. Dickflüssiges Blut bedeckte die Haare. Sie drehte sie zu einem Strang, machte einen Knoten in der Mitte und stopfte sie in ihren Beutel. Dann hob sie seine Hand. Die Fingernägel waren bis aufs Fleisch abgekaut. Sie zog ihr Messer aus der Scheide, drückte die Klinge auf die Nagelhaut des Zeigefingers, schnitt den ganzen Nagel heraus und warf ihn ebenfalls in das Säckchen. Anschließend ging sie zu der Frau hinüber.
Ettie hockte sich neben die Leiche und riss auch ihr eine Strähne heraus. Sie drückte die Brust, um weiteres Blut herausquellen zu lassen, und tunkte die Haare hinein. Auch in diese Strähne knüpfte sie einen Knoten. Sie legte sie in den Beutel und hob eine Hand der Frau. Der pflaumenblaue Nagellack war teilweise abgeplatzt. Ein Nagel war abgebrochen, doch die anderen waren lang und ordentlich gefeilt. Sie schnitt vier Fingernägel ab, fing sie mit der Handfläche auf und schüttete sie zu den anderen Sachen.
»Mehr muss man nicht tun«, sagte sie und sah zu Merle auf. »Es hätte dich keine halbe Minute gekostet, und ich hätte einen erstklassigen Zauber sprechen können. Dann wären wir heute noch in Fresno. Du hättest nicht mal Blut mitnehmen müssen. Wenn du bloß genug Verstand gehabt hättest, mir Haare und Nägel zu bringen, hätte ich die Essenzen gehabt, um einen Schutz um uns zu errichten.«
»Mir gefällt’s hier gut«, nuschelte er.
»Tja, mir aber nicht.« Ihre Knie knackten, als sie aufstand. »Ich lege Wert auf mein körperliches Wohlergehen, Merle. Ich habe gern gutes Essen und ein kaltes Bier und hübsche Kleider und ein weiches Bett.«
»Und Männer«, fügte er mit einem angedeuteten Grinsen hinzu.
»Das stimmt.« Sie steckte das Messer in die Scheide an der Seite ihres Kleids und knotete den Beutel wieder an ihren Gürtel. »Das alles hast du mir weggenommen, weil du geil und leichtsinnig warst.«
»Ich hab es dir doch erklärt, Ettie. Er hat zu mir gesprochen.«
Sie glaubte ihm nicht. »Versuch nicht, deine Schuld zu leugnen, Merle. Und jetzt kümmerst du dich darum, die Leichen zu vergraben und ihre Sachen zur Höhle zu bringen. Ich komme vor Sonnenuntergang zurück und kontrolliere das, und ich will, dass dieser Platz aussieht, als wäre niemals jemand hier gewesen. Ist das klar?«
»Ja, Ma’am.«
»Und wenn du jemals wieder ohne meine Erlaubnis jemanden opferst, bist du der ärmste Junge, der auf dieser Erde rumläuft.«
Er sah zu Boden. »Ja, Ma’am.«
Ettie ließ ihn allein und ging am steingesäumten Ufer entlang. An der schmalen Südspitze des Sees, wo der Zufluss vom Upper Mesquite herunterplätscherte, kauerte sie sich nieder und trank Wasser aus der hohlen Hand. Selbst nach einem Monat hier oben konnte sie immer noch kaum fassen, wie kühl und frisch das Wasser war. Es war unglaublich, dass Wasser so gut schmecken konnte. Im September, wenn sie weggehen mussten, würde sie es vermissen. Aber sonst würde sie nichts vermissen: weder die Hitze, die die Felsen ausstrahlten, noch die Moskitos oder den Wind, der nachts oft derart wütete, dass sie nicht schlafen konnte, oder die Kälte nach Sonnenuntergang oder den harten Boden, auf dem sie schliefen. Sie wäre froh, all das hinter sich zu lassen.
Ettie schnallte die Leinenhülle ihrer Feldflasche auf, holte die Aluminiumflasche heraus und drehte den Deckel ab. Sie goss das alte Wasser weg. Die leere Flasche hielt sie unter einen moosbedeckten Felsvorsprung, und kühles, frisches Wasser floss über ihre Hand. Als die Flasche überlief, schraubte sie den Deckel fest und schob sie wieder in die Hülle. Beim Aufstehen spürte sie ihr Gewicht. Es war ein angenehmes Gefühl.
Dicht an dem Zufluss kletterte sie an den zerbrochenen Granitplatten zum Grat zwischen den beiden Seen hinauf. Oben drehte sie sich langsam um und suchte die Hänge ab, die hoch über ihr aufragten. Dann blickte sie zu dem Pfad, der vom Carver Pass hinab zum Nordende des Lower Mesquite führte. Alle paar Tage kamen Wanderer mit Rucksäcken vorbei. Bis gestern, als diese beiden dort ihr Zelt aufgeschlagen hatten, hatte sich Merle anständig benommen.
Verdammter Merle. So eine Scheiße!
Jetzt war der Pfad verlassen. Falls heute jemand auftauchen sollte, würde es höchstwahrscheinlich erst abends geschehen. Zum Pass war es ein anstrengender, drei Stunden langer Aufstieg vom nächsten See im Osten, deshalb müsste Merle eigentlich genügend Zeit haben, sich um die Schweinerei zu kümmern. Außerdem gab es ja noch den Zauber …
Ettie trat auf einen glatten Felsen und löste den Gürtel mit der Ausrüstung. Sie legte ihn zu ihren Füßen auf den Boden, öffnete die Knöpfe ihres verblichenen formlosen Kleids und zog es sich über den Kopf. Bis auf ihre schweren Stiefel und die Strümpfe war sie nackt. Sie spürte die Sonne auf ihrer Haut und die Liebkosung einer leichten Brise. Die Luft roch nach Hitze. Der Duft von versengten Piniennadeln und aufgeheizten Steinen.
Sie breitete ihr Kleid auf dem Granit aus und setzte sich darauf. Durch die dünnen Stoffschichten fühlte sich der Fels hart und rau an. Die Hitze sickerte hindurch und brannte an ihrem Hintern, während sie die Stiefel und die feuchten Strümpfe auszog.
Sie knotete den Lederbeutel von ihrem Gürtel los. Sie schlug die Beine übereinander und setzte sich aufrecht hin, den Rücken durchgedrückt, den Kopf gerade. Mit beiden Händen presste sie den Beutel an ihr Brustbein.
»Der Dunkelheit«, flüsterte sie, »übergebe ich die Essenzen meiner Feinde. Wie ihre Essenzen verborgen sind, so sollen auch alle Spuren ihrer Anwesenheit aus diesem Canyon verbannt werden, so dass diejenigen, die sie suchen, keinen Grund finden, hier einzudringen.«
Sie senkte den Kopf und öffnete die Kordel des Lederbeutels. Dann nahm sie eine blutige Haarsträhne heraus und stopfte sie in den Mund. Sie kaute langsam, bis sie den nassen Klumpen hinunterschlucken konnte. Sie wiederholte den Vorgang mit der zweiten Haarsträhne und spülte mit einem Schluck Wasser aus der Feldflasche nach. Dann kippte sie sich die Fingernägel in die Handfläche, nahm sie in den Mund und aß sie ebenfalls. Schließlich trank sie noch etwas Wasser.
Der Felsen fühlte sich rau und heiß unter dem Kleid an. Die Haare lagen schwer in ihrem Magen.
Aber sie hatte es erledigt.
Mit einem Lächeln hob sie die Feldflasche und goss sich das kalte Wasser über den Kopf. Es strömte über Gesicht und Schultern. Es benetzte ihren Rücken. Es floss über die Brüste, tropfte von den Nippeln und lief über den Bauch und die Seiten. Sie bewegte die Flasche nach vorn und schüttete sich auch über Beine und Unterleib Wasser. Bei der eisigen Berührung seufzte sie.
Allzu schnell war die Flasche leer.
Sie blickte auf das glitzernde Blau des Upper Mesquite. Warum nicht? Das Vergnügen hatte sie sich verdient. Sie ließ alles liegen und hüpfte über die glühenden Steine zum Ufer. Schaudernd und keuchend watete sie ins Wasser und zögerte nur einen Augenblick, ehe sie kopfüber hineinhechtete.