Wilkie Collins


Die Frau in Weiß

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-182-4


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III.



Sommer und Herbst vergingen nach meiner Heimkehr aus Paris und brachten keine Veränderungen mit sich, deren hier Erwähnung getan zu werden brauchte, wir leben so einfach und so ruhig, daß der Verdienst, welchen ich jetzt ununterbrochen einnahm, für alle unsere Bedürfnisse ausreichte.

Im Februar des neuen Jahres wurde unser erstes Kind – ein Sohn – geboren. Meine Mutter, meine Schwester und Mrs. Vesey waren unsere Gäste in der kleinen Taufgesellschaft, und Mrs. Clements war bei derselben Gelegenheit zur Hilfe meiner Frau zugegen. Marianne war unseres Knaben Pate, sowie Pesca und Mr. Gilmore (der letztere durch seinen Stellvertreter). Ich kann gleich hier bemerken, daß Mr. Gilmore, als er ein Jahr später zu uns zurückkehrte, zur Vervollständigung dieser Blätter beitrug, indem er auf mein Ersuchen die Aussage schrieb, welche am Anfange dieser Erzählung unter seinem Namen erschien, und die, obgleich der Reihenfolge nach die erste, doch die letzte war, die ich erhielt.

Das einzige Ereignis unseres Lebens, das mir jetzt noch mitzuteilen übrig bleibt, trug sich zu, als unser kleiner Walter sechs Monate alt war.

Ich wurde um diese Zeit nach Irland geschickt, um für das Blatt, bei welchem ich jetzt angestellt war, gewisse Skizzen anzufertigen. Ich war beinahe vierzehn Tage abwesend, während welcher ich unausgesetzt mit meiner Frau und Marianne korrespondierte, ausgenommen während der letzten drei Tage, wo mein Aufenthalt an einem Orte zu kurz und unsicher war, um Briefe zu empfangen. Ich machte den letzten Teil meiner Reise in der Nacht und als ich Morgens in meinem Hause anlangte, war zu meinem unbeschreiblichen Erstaunen Niemand da, um mich zu empfangen. Laura, Marianne und das Kind hatten es am Tage vor meiner Ankunft verlassen.

Ein Billett von meiner Frau, das die Magd mir übergab, vergrößerte mein Erstaunen durch die Nachricht, daß sie nach Limmeridge House gereist seien. Marianne hatte ihr untersagt, mir die geringste schriftliche Aufklärung zu geben – ich wurde gebeten, ihnen im selben Augenblicke, wo ich zurückkehrte, nachzureisen – es erwartete mich vollständige Aufklärung in Limmeridge und man verbot mir, mich inzwischen im mindesten zu beunruhigen. Damit endete das Billet.

Es war noch früh genug, um mit dem Frühzuge abzureisen, und ich langte noch am Nachmittag in Limmeridge House an.

Meine Frau und Marianne waren Beide oben. Sie hatten sich (um mein Erstaunen noch zu vergrößern) in dem kleinen Zimmer niedergelassen, das mir einst als Atelier angewiesen worden. Auf demselben Stuhle, auf dem ich früher zu arbeiten pflegte, saß jetzt Marianne mit dem Kind auf dem Schoße, das emsig an seinem Korallenringe zog – während Laura an dem wohlbekannten Zeichentische stand, an dem ich so viele Stunden beschäftigt gewesen und das kleine Album, das ich in vergangenen Tagen für sie gefüllt, offen in der Hand hielt.

"Was in aller Welt hat euch hierher geführt?" rief ich aus. "Weiß Mr. Fairlie –"

Marianne ließ mich nicht aussprechen, sondern benachrichtigte mich, daß Mr. Fairlie tot sei. Er hatte einen Schlagflußanfall gehabt und sich nicht wieder davon erholt. Mr. Kyrle hatte sie von seinem Tode in Kenntnis gesetzt und ihnen geraten, sich sofort nach Limmeridge zu begeben.

Ein matter Schimmer, wie von einer großen Veränderung tauchte in meinem Geists auf. Laura sprach, ehe ich mir noch klar geworden war. Sie schlich dicht an mich heran, um sich an dem Erstaunen zu werden, das in meinem Gesichte ausgedrückt war.

"Mein Herzens-Walter," sagte sie, "müssen wir dir wirklich erklären, wie wir hierher kommen? Ich fürchte, liebes Herz, ich kann dies nur tun, indem ich unsere alte Regel verletze und von der Vergangenheit spreche."

"Dazu ist nicht die geringste Notwendigkeit vorhanden," sagte Marianne, "wir können die Sache ganz ebenso deutlich und viel interessanter machen, indem wir von der Zukunft sprechen." Sie stand auf und hielt das strampelnde, lachende Kind in ihren Armen empor, "weißt du, wer dies ist, Walter?" fragte sie, indem die hellen Tränen des Glückes ihre Augen füllten.

"Selbst meine Verblüfftheit hat ihre Grenzen," entgegnete ich. "Ich glaube, ich bin noch im Stande, mein eigenes Kind zu erkennen."

"Kind!" rief sie mit all der leichten Fröhlichkeit früherer Zeiten aus. "Sprichst du auf diese familiäre Weise von einem der Grundeigentümer Englands? Weißt du, wenn ich dir diesen erlauchten Säugling zeige, in wessen Gegenwart du dich befindest? Mir scheint, nicht! Erlaube mir, zwei ausgezeichnete Persönlichkeiten einander vorzustellen: Mr. Walter Hartright – der Erbe von Limmeridge."

So sprach sie. Mit diesen letzten Worten habe ich Alles geschrieben. Die Feder zittert in meiner Hand; die lange, glückliche Arbeit vieler Monde ist vollendet! Marianne war der gute Engel unseres Lebens – Marianne schließe unsere Geschichte.

 

 

Inhalt




Einleitung

Die Aussage Walter Hartright's in Clement's Inn, London

I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV

Die Aussage von Advokat Vincent Gilmore in Chancery-Lane, London

I
II
III
IV

Miss Halcombe's Aussage

Aus Miss Halcombe's Tagebuch - I.

Aus Miss Halcombe's Tagebuch - II.

Aus Miss Halcombe's Tagebuch - III.


Die Aussage von Frederick Fairlie Esq re zu Limmeridge House


Fortsetzung von Mr. Fairlie's Aussage


Aussage der Elisa Michelson, Haushälterin zu Blackwater Park


Aussage der Hester Pinhorn, Köchin im Dienste des Grafen Fosco


Aussage des Arztes


Aussage der Jane Gould

Noch eine Aussage

Fortsetzung der Aussage Walter Hartright's

Erste Abteilung

I
II

Zweite Abteilung

I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII

Schluß der Erzählung von Walter Hartright

I
II
III

 

 

 

Einleitung



Was die Geduld des Weibes zu ertragen fähig ist und die Entschlossenheit des Mannes durchzusetzen vermag, wird diese Erzählung beschreiben.

Wenn man sich darauf verlassen könnte, daß das Auge des Gesetzes jeden verdächtigen Fall ergründete und sein Arm jeden Untersuchungsprozess ohne übertriebenen Beistand des geschmeidig machenden Goldes zu Ende führte, so wären die Ereignisse, welche diese Blätter füllen, durch die Gerichte vor das Tribunal der Öffentlichkeit gebracht worden.

Aber das Gesetz ist ja noch immer in gewissen unvermeidlichen Fällen der vorhergewonnene Diener des vollen Geldbeutels, und die erste Mitteilung dieser Erzählung blieb daher diesen Blättern vorbehalten. Wie einst der Richter sie hätte hören sollen, so möge jetzt der Leser sie vernehmen. Kein einziger Umstand von Wichtigkeit von Anfang bis zu Ende der Enthüllungen soll nach bloßem Hörensagen mitgeteilt werden.

Soweit Schreiber dieser einleitenden Zeilen (der sich Walter Hartright nennt) zufällig näher mit den zu erzählenden Begebnissen in Verbindung steht, als Andere, wird er dieselben als persönliche Erlebnisse mitteilen. Dort aber, wo seine Erfahrung mangelhaft ist, wird er von der Bühne des Erzählers abtreten, und seine Aufgabe wird an dem Punkte, wo er sie hat fallen lassen, von Personen wieder aufgenommen und fortgesetzt werden, welche über die vorliegenden Umstände nach eigener Erfahrung ebenso genau und bestimmt Bericht erstatten können, als er selbst es vor ihnen getan.

Auf diese Weise wird die hier mitgeteilte Erzählung von mehr als einer Feder geschrieben werden, sowie ja der Bericht über eine Verletzung der Gesetze im Gerichtshofe auf mehr als einer Aussage beruht – hier wie dort wird dasselbe erreicht, d.h. zu demselben Ende die Wahrheit immer in dem vollsten und hellsten Lichte dargestellt und der Leser in den Stand gesetzt, dem Verlaufe einer vollständigen Reihe von Begebenheiten zu folgen, indem wir die Personen, die am nächsten mit ihnen in Berührung kamen, in den einander folgenden Stadien Wort für Wort ihre eigenen Erlebnisse erzählen lassen.

Zuerst wollen wir Walter Hartright – Zeichenlehrer, achtundzwanzig Jahre alt – vernehmen.




Die Aussage Walter Hartright's in Clement's Inn, London



I.



Es war am letzten Julitage. Der lange, heiße Sommer ging zu Ende, und wir müden Pilger des Pflasters von London begannen an die Wolkenschatten auf den Kornfeldern und die Herbstbrisen am Meeresstrande zu denken.

Was mein armes Selbst betrifft, so ließ mich der scheidende Sommer arm an Kräften, arm an Frohsinn und, wenn ich die Wahrheit gestehen soll, auch arm an Gelde zurück. Ich hatte meinen Erwerb während des verstrichenen Jahres nicht so sorgsam zu Rate gehalten wie gewöhnlich, und da war es kein Wunder, daß meine Verschwendung mich jetzt in die Lage brachte, den Herbst auf sparsame Weise in meiner Mutter Häuschen in Hamstead und in meinem eigenen Junggesellenquartier in London zuzubringen.

Der Abend, dessen erinnere ich mich noch, war still und der Himmel umzogen; die Luft von London war so schwer, das ferne Summen des Straßenverkehres so schwach wie je; des Lebens kleiner Puls in mir, das große Herz der Stadt um mich her schienen beide gleichzeitig und mit der sinkenden Sonne matter und matter zu werden. Ich legte mein Buch von mir – ich hatte weniger darin gelesen, als vielmehr darüber geträumt und verließ mein Zimmer, um in die kühle Abendluft der Vorstädte hinaus zu wandern. Es war einer jener Abende, die ich allwöchentlich bei meiner Mutter und Schwester zubrachte, und ich richtete also meine Schritts nordwärts nach Hampstead zu.

Begebenheiten, die ich noch zu erzählen habe, nötigen mich, hier zu erwähnen, daß mein Vater zu der Zeit, von der ich jetzt schreibe, schon seit einigen Jahren verstorben und daß meine Schwester Sara und ich die einzigen überlebenden von fünf Geschwistern waren. Mein Vater war, wie ich, Zeichenlehrer. Seine Tätigkeit nun in diesem Berufe war im höchsten Grade lohnend für ihn gewesen, und seine zärtliche Besorgnis, die Zukunft Derer zu sichern, die von seinen Arbeiten abhängig waren, hatte ihn vom Augenblicke seiner Verheiratung an veranlaßt, einen weit größeren Teil seines Erwerbs der Versicherung seines Lebens zu widmen, als die meisten Leute für diesen Zweck nötig erachten. Dieser bewunderungswürdigen Vorsicht und Aufopferung hatten meine Mutter und Schwester es zu danken, daß sie nach seinem Tode ebenso unabhängig von der Welt waren, wie sie es während seiner Lebenszeit gewesen. Ich erbte seine Kundschaft und hatte alle Ursache, für die Aussichten dankbar zu sein, die mich bei meinem Eintritte in's Leben begrüßten.

Das stille Zwielicht zitterte noch auf den Hügeln der Heide, und London war unter mir im Schatten des wolkenumzogenen Nachthimmels in einen schwarzen Abgrund hinabgesunken, als ich vor dem Gartenpförtchen des Häuschens meiner Mutter stand. Ich hatte kaum geschellt, als schon die Haustür heftig geöffnet wurde; anstatt der Magd erschien mein würdiger italienischer Freund, Professor Pesca, und stürzte mir mit einem gellenden Freudenschrei – einer wahren Parodie auf einen englischen "Cheer" – entgegen.

Um seiner selbst willen und – erlaube man mir hinzuzufügen – auch um meinetwillen verdient der Professor die Auszeichnung einer förmlichen Vorstellung. Machte ihn doch der Zufall zum Ausgangspunkte der seltsamen Familiengeschichte, deren Schilderung sich in diesen Blättern vor uns aufrollen soll.

Ich war mit meinem italienischen Freunde zuerst dadurch bekannt geworden, daß ich ihm in großen Häusern begegnete, wo er in seiner Muttersprache, ich im Zeichnen Unterricht erteilte. Alles, was ich damals von seiner Lebensgeschichte wußte, war, daß er an der Universität Padua angestellt gewesen, daß er Italien aus politischen Gründen verlassen (welcher Art dieselben gewesen, weigerte er sich, irgend Jemandem mitzuteilen) und daß er seit vielen Jahren als Lehrer seiner Muttersprache anständig beschäftigt sei.

Ohne geradezu ein Zwerg zu sein – denn er war vom Kopfe bis zu den Füßen vollkommen proportioniert – war Pesca, glaube ich, das kleinste menschliche Wesen, das ich je außerhalb einer Schaubude gesehen habe. Durch seine persönliche Erscheinung überall bemerkbar, fiel er auch noch ferner überall, wo er sich bewegte, durch seine harmlose Sonderlingsart auf. Eine vorherrschende Idee nämlich schien bei ihm die zu sein, daß er dem Lande, das ihm eine Zuflucht und seinen Lebensunterhalt gegeben, seine Dankbarkeit beweisen müsse, indem er sein Möglichstes tue, sich zu einem Engländer heranzubilden. Nicht zufrieden damit, der Nation im Allgemeinen dadurch ein Kompliment zu machen, daß er beständig einen Regenschirm, Gamaschen und einen weißen Hut trug, trachtete der Professor auch darnach, in seinen Gewohnheiten und Vergnügungen sowohl, wie in seiner äußeren Erscheinung ein Engländer zu werden. Da er fand, daß wir als Nation uns durch unsere Liebe zu Körperübungen auszeichneten, gab sich der kleine Professor in der Unschuld seines Herzens aus dem Stegreif all unseren englischen Spielen und Vergnügungen hin, wo er nur immer Gelegenheit dazu fand, in der festen Überzeugung, daß er durch Willenskraft sich ebensogut unsere Leibesübungen aneignen könnte als unsere nationalen Gamaschen und unseren nationalen weißen Hut.

Ich hatte ihn auf der Fuchsjagd und beim Cricket (Schlagball-)Spiele blindlings sein Leben in die Schanze schlagen sehen, und bald darauf sah ich ihn ebenso blindlings sein Leben in der See bei Brighton auf's Spiel setzen.

Wir hatten einander dort durch Zufall getroffen und gingen zusammen zum Baden. Wären wir mit einer nur meinem Volke eigenen Körperübung beschäftigt gewesen, so hätte ich natürlich sorgfältig nach Pesca gesehen; da aber andere Nationen sich meist ebensogut im Wasser zu bewegen verstehen wie wir Engländer, so fiel es mir keinen Augenblick ein, daß die Schwimmkunst zu der Liste jener männlichen Körperübungen gehören könne, die der Professor auf eigene Hand lernen zu können glaubte.

Bald nachdem wir Beide das Ufer verlassen, hielt ich im Schwimmen inne, da ich fand, daß mein Freund mich nicht einholte, und wandte mich nach ihm um. Zu meinem Erstaunen und Entsetzen sah ich zwischen mir und dem Strande nichts als zwei kleine weiße Arme, die einen Augenblick über dem Wasser hin und her schlugen und dann verschwanden. Als ich an derselben Stelle hinuntertauchte, lag der kleine Mann ruhig zusammengerollt in einer Höhlung des Ufergesteines und sah nun merklich kleiner aus, als ich ihn je zuvor gesehen hatte. Während ich ihn an's Land trug – ein Zeitraum von wenigen Minuten – kam er in der frischen Luft wieder zum Leben zurück, und unter meinem Beistande gelang es ihm, die Stufen der Badekabine hinanzugehen. Mit seiner teilweisen Wiederherstellung kehrte ihm auch seine wunderbare Selbsttäuschung in Bezug auf das Schwimmen wieder zurück. Sobald er mit seinen klappernden Zähnen wieder sprechen konnte, lächelte er gedankenlos und meinte, es müsse ein Krampf gewesen sein.

Sobald er sich vollkommen wieder erholt und am Strande zu mir gesellt hatte, brach seine warme, südliche Natur augenblicklich durch alle künstliche, englische Zurückhaltung. Er überschüttete mich mit den wildesten Ausdrücken von Zuneigung – erklärte leidenschaftlich in seiner ausschweifenden italienischen Weise, daß sein Leben hinfort mir geweiht sei und daß er nicht eher glücklich sein werde, als bis er Gelegenheit gefunden, mir zum Beweise seiner Dankbarkeit einen Dienst zu leisten, den ich meinerseits bis an's Ende meines Lebens nicht werde vergessen können. Ich tat mein Möglichstes, dem Strome seiner Tränen und Beteuerungen Einhalt zu tun, indem ich das ganze Abenteuer von der heiteren Seite aufnahm, und es gelang mir endlich, wie ich mir einbildete, Pesca's überschwängliche Dankbarkeit gegen mich zu mäßigen.

Ich ahnte damals und auch später, als unsere angenehmen Ferientage in Brighton zu Ende gingen – freilich nicht, daß die Gelegenheit, mir zu dienen, nach der mein dankbarer Freund sich so feurig sehnte, so bald kommen sollte; daß er sie dann augenblicklich so eifrig ergreifen und dadurch den ganzen Lauf meines Lebens in einen neuen Kanal leiten und mein Wesen so verändern würde, daß ich mich selbst kaum wiedererkannte.

Und doch war dem so. Wäre ich nicht nach Professor Pesca untergetaucht, als er in seinem Steinbette unter dem Wasser lag, so wäre ich aller Wahrscheinlichkeit nach nie zu der Geschichte in Beziehung gekommen, welche diese Blätter erzählen werden – so hätte ich vielleicht nie auch nur den Namen des Weibes gehört, das seitdem in allen meinen Gedanken gelebt, dem alle meine Tatkräfte gehören, das der eine leitende Einfluß geworden, welchem mein ganzes Leben folgt.

II.



Pesca's Gesicht und Benehmen, als wir an jenem Abende am Gartenpförtchen meiner Mutter einander gegenüberstanden, genügten vollkommen, um mir zu sagen, daß sich irgend etwas Außergewöhnliches zugetragen habe. Es war indessen ganz nutzlos, augenblickliche Aufklärung von ihm zu fordern. Ich konnte nur, während er mich bei beiden Händen in's Haus zog, vermuten, daß er, mit meinen Gewohnheiten vertraut, jenen Abend, um mich sicher zu treffen, dort hinausgekommen, und daß er nur irgend eine Neuigkeit von ungewöhnlich angenehmer Beschaffenheit mitzuteilen habe.

Wir stürzten Beide sehr plötzlich und in einer die gute Sitte verletzenden Weise in's Zimmer. Meine Mutter saß lachend und sich fächelnd am offenen Fenster. Pesca war ein besonderer Liebling von ihr, und seine wildesten, excentrischesten Streiche waren in ihren Augen immer verzeihlich. Arme, liebe Seele! vom ersten Augenblicke an, wo sie entdeckte, daß der kleine Professor ihrem Sohne zugetan, öffnete sie ihm ohne allen Rückhalt ihr Herz, fand sich in alle seine sonderbaren ausländischen Eigentümlichkeiten, ohne auch nur zu versuchen, eine einzige von ihnen zu verstehen.

Meine Schwester Sara schloß sich trotz ihrer Jugend seltsamerweise bei Weitem schwerer an. Sie ließ Pesca's herrlichen Gemütsanlagen alle Gerechtigkeit widerfahren, aber sie konnte seine Eigentümlichkeiten nicht so unbedingt, wie meine Mutter, um meinetwillen hinnehmen. Bei ihren echt insularischen Begriffen von Schicklichkeit empörte sie sich fortwährend gegen Pesca's angeborene Verachtung äußerer Sitten, und sie war immer mehr oder weniger unverhohlen erstaunt über die Vertraulichkeit ihrer Mutter mit dem excentrischen kleinen Ausländer.

Ich habe nicht allein bei meiner Schwester, sondern auch bei Anderen die Bemerkung gemacht, daß wir von der jüngeren Generation lange nicht so herzlich und empfänglich sind wie unsere Eltern. Ich sehe oft alte Leute in der Erwartung irgend eines in Aussicht stehenden Vergnügens aufgeregt und bewegt, während ihre ruhigen Enkel ungerührt bleiben. Es fragt sich wirklich, ob wir wohl ebenso natürlich in unserer Knaben- und Mädchenzeit waren, wie unsere Großeltern zu ihren Zeiten gewesen sein mögen. Hat der große Fortgang in der Erziehung etwa einen zu langen Schritt getan, oder sind wir nicht etwa in diesen modernen Tagen ein klein wenig zu wohlerzogen?

Ohne zu versuchen, diese Fragen mit Bestimmtheit zu beantworten, darf ich wenigstens berichten, daß ich meine Mutter und Schwester nie zusammen in Pesca's Gesellschaft sah, ohne die erstere für die jüngere von Beiden zu halten. Heute zum Beispiel lachte meine Mutter herzlich über die knabenhafte Manier, in der wir in's Zimmer stürzten, während Sara mit gestörter Gemütsruhe die Scherben einer zerbrochenen Teetasse vom Boden aufnahm, die der Professor in seinem eiligen Laufe nach der Tür mir entgegen niedergeworfen hatte.

"Ich weiß wirklich nicht, was sich noch ereignet hätte, Walter, wärst du noch langer ausgeblieben," sagte meine Mutter, "Pesca ist halb wahnsinnig geworden vor Ungeduld, und ich vor Neugierde. Der Professor hat irgend eine wunderbare Neuigkeit mitgebracht, die, wie er sagt, dich betrifft, und er war grausam genug, uns auch nicht die kleinste Andeutung davon geben zu wollen, ehe sein Freund Walter käme."

"Sehr ärgerlich, es macht das Service unvollständig," murmelte Sara vor sich hin, indem sie trauernd wie ein in's weibliche übersetzter Marius auf die Trümmer der zerbrochenen Tasse schaute.

Unterdessen schleppte Pesca in seliger Unkenntnis des unverbesserlichen Schadens, den seine Hände angerichtet, einen großen Lehnstuhl zum anderen Ende des Zimmers, um uns alle Drei übersehen zu können, wie ein öffentlicher Redner seine Zuhörer überschaut. Nachdem er die Rückseite des Stuhles uns zugedreht, sprang er hinein und redete höchst aufgeregt aus dieser improvisirten Kanzel seine kleine Gemeinde von Dreien an.

"Jetzt, meine guten Lieben," begann Pesca (der stets "guten Lieben" sagte, wenn er "meine lieben Freunde" meinte), "hört mir zu. Die Zeit ist gekommen – ich erzähle meine gute Neuigkeit – ich spreche endlich."

"Hört, hört!" rief meine Mutter – wie ein Unterhausmitglied – auf den Scherz eingehend.

"Das Nächste, was er zerbrechen wird, Mama," flüsterte Sara, "wird der Rücken unseres besten Lehnstuhles sein."

"Ich gehe in meinem Leben um ein wenig zurück und richte meine Rede an das edelste aller erschaffenen Wesen," fuhr Pesca fort, indem er über den Stuhl hinweg heftig meine unwürdige Wenigkeit apostrophierte, "der mich tot (durch Krampf) am Boden des Meeres fand und mich wieder in die Höhe zog; und was sagte ich, als ich wieder in's Leben und in meine eigenen Kleider zurückkehrte?"

"Weit mehr, als notwendig war," entgegnete ich so verdrießlich wie möglich, denn die geringste Ermutigung in Bezug auf diesen Gegenstand diente nur dazu, daß sich des Professors Gemütsbewegung in eine Tränenflut auflöste.

"Ich sagte," fuhr Pesca beharrlich fort, "daß mein Leben hinfort meinem lieben Freunde Walter gehöre und das tut es. Ich sagte, daß ich nie wieder glücklich sein werde, bis ich irgend ein gutes Etwas für Walter getan und ich bin nie zufrieden mit mir gewesen, bis auf den heutigen, gesegneten Tag. Jetzt," schrie der begeisterte, kleine Mann aus vollem Halse, "jetzt dringt nur das überströmende Glück wie Schweiß aus jeder Pore meiner Haut; denn bei meiner Treue, meiner Seele, meiner Ehre, dieses Etwas ist endlich geschehen, und das einzige Wort, das uns zu sagen übrig bleibt, ist: richtig-Alles-richtig!"

Es dürfte vielleicht notwendig sein, hier zu wiederholen, daß Pesca sich etwas darauf zugute tat, in seiner Sprache sowohl wie in seiner Kleidung, seinen Manieren und Vergnügungen ein vollkommener Engländer zu sein. Da er einige unserer gebräuchlichsten Redensarten aufgegriffen, streute er sie in seine Unterhaltung ein, wie sie ihm eben einfielen, indem er sie in der Freude seines Herzens an ihrem Klange und seiner allgemeinen Unwissenheit über ihre Bedeutung in nach eigener Erfindung zusammengesetzten, auch wohl wiederholten Wörtern von sich gab und sie dabei ineinander laufen ließ, als ob sie aus einer einzigen langen Silbe beständen.

"Unter den stolzen Häusern Londons, in denen ich die Sprache meines Vaterlandes lehre," sagte der Professor, indem er ohne ein Wort weiterer Vorrede sich mitten in die so lange von ihm verschobene Erklärung stürzte, "ist ein mächtig vornehmes auf dem großen Platze, genannt Portland. Ihr wißt Alle, wo das ist? Ja, ja, steht-versteht-sich. Das vornehme Haus, meine guten Lieben, beherbergt eine vornehme Familie. Eine Mama, die blond und stark ist; drei junge Misses, die blond und stark sind; zwei junge Misters, die blond und stark sind, und ein Papa, der blondeste und stärkste von Allen, der, ein mächtiger Kaufmann, bis an den Hals in Gold steckt – einst ein schöner Mann, doch – da er jetzt einen nackten Kopf und ein Doppelkinn besitzt – gegenwärtig nicht mehr schön. Jetzt gebt Acht! Ich lese mit den jungen Misses den göttlichen Dante, und ach! Güte-du-meine-Güte! – keine menschliche Sprache vermag zu sagen, wie sehr der göttliche Dante die drei hübschen Köpfe verwirrt! Einerlei – Alles zu seiner Zeit und je mehr Stunden, desto besser für mich. Jetzt gebt Acht! Stellt Euch vor, daß ich die drei jungen Misses heute, wie gewöhnlich, unterrichte, wir sind alle vier unten zusammen in Dante's Hölle. Beim siebenten Kreise – aber einerlei: den drei blonden und starken jungen Misses sind alle Kreise gleich – beim siebenten Kreise dessen ungeachtet bleiben meine Schülerinnen stecken; und ich, um sie wieder in Gang zu bringen, deklamiere, erkläre und rede mich in unnützer Begeisterung in die glühendste Hitze hinein, als – da hört man einen Stiefel knarren draußen im Corridor, und herein tritt der goldene Papa, der mächtige Kaufmann und glückliche Besitzer des nackten Kopfes und des doppelten Kinnes. – Ja! meine guten Lieben, ich bin der Sache jetzt näher, als ihr glaubt. Habt ihr so lange Geduld gehabt? oder habt ihr zu euch selbst gesagt: Teufel – zum – Teufel! Pesca ist heute Abend langweilig?" Wir erklärten, daß er uns im höchsten Grade unterhalten habe. Der Professor fuhr fort:

"In seiner Hand hält der goldene Papa einen Brief, und nachdem er sich entschuldigt, daß er uns in unseren höllischen Regionen mit gewöhnlichen Tagesangelegenheiten störe, wendet er sich zu den drei jungen Misses, beginnt, wie ihr Engländer Alles, was ihr in dieser gesegneten Welt Zu sagen habt, beginnt mit einem großen O. 'O, meine Lieben,' sagte der mächtige Kaufmann, 'ich habe hier einen Brief von meinem Freunde Mr...... Wohlgeboren' (der Name ist mir entfallen, doch einerlei, wir werden darauf zurückkommen; ja, ja – richtig-Alles-richtig). Also der Papa sagt, 'ich habe hier einen Brief von meinem Freunde, dem besagten Wohlgeboren, er wünscht, daß ich ihm einen Zeichenlehrer empfehle, der zu ihm auf sein Landhaus kommen kann.' Güte – du – meine – Güte! Als ich den goldenen Papa diese Worte sagen hörte, hätte ich, wenn ich groß genug gewesen wäre, um zu ihm hinaufzureichen, seinen Hals mit meinen Armen umschlungen und ihn in einer langen, dankbaren Umarmung an meine Brust gedrückt! So aber zuckte ich nur auf meinem Stuhle zusammen. Ich saß auf Kohlen, und meine Seele brannte zu sprechen, aber ich hielt den Mund und ließ den Papa fortfahren. 'Vielleicht wißt ihr,' sagt dieser gute Mann des Geldes, indem er seines Freundes Brief zwischen seinem goldenen Daumen und Zeigefinger hin und her dreht, 'vielleicht kennt ihr einen Zeichenlehrer, meine Lieben, den ich empfehlen könnte.' Die drei jungen Misses sehen einander an und sagen dann (indem sie mit dem unvermeidlichen großen O anfangen): 'O nein, Papa! aber da ist Mr. Pesca – .' Bei dieser Erwähnung meiner kann ich nicht länger an mich halten – der Gedanke an euch, meine guten Lieben, steigt mir wie Blut in den Kopf – ich springe von meinem Stuhle, wie wenn plötzlich ein Speer aus dem Boden durch den Sitz desselben emporgefahren wäre – ich wende mich zu dem mächtigen Kaufmann und sage (englische Redensart): Lieber Herr, ich habe Ihren Mann! den ersten, allerersten Zeichenlehrer der Welt. Empfehlen Sie ihn heute Abend mit der Post und schicken Sie ihn morgen mit Sack und Pack (wieder eine englische Redensart) mit dem Zuge ab! 'Halt, halt,' sagt der Papa, 'ist er ein Ausländer oder ein Engländer?'

Engländer bis ins Rückenmark, entgegnete ich. 'Respektabel?' sagt Papa. Sir! sage ich (denn diese letzte Frage empört mich sehr und ich bin nicht länger vertraulich mit ihm), Sir! das unsterbliche Feuer des Genies brennt im Busen dieses Engländers, und was noch mehr ist, sein Vater besaß es schon vor ihm. 'Einerlei,' sagt dieser goldene Barbar von einem Papa, wir sprechen nicht von seinem Genie, Mr. Pesca. Wir verlangen in diesem Lande kein Genie, wenn es nicht zugleich auch respektabel ist – dann aber freuen wir uns sehr, es zu besitzen, sehr. Kann Ihr Freund Zeugnisse beibringen – Briefe, die seinen Charakter verbürgen?' Ich mache eine nachlässige Handbewegung. Briefe? sage ich. Ja! Güte-du-meine-Güte! Das wollt' ich meinen, wahrlich! Bände von Briefen und Portfolios voller Zeugnisse, wenn Sie es wünschen? 'Eins oder zweie werden genügen,' sagt dieser Mann des Geldes und des Phlegmas. 'Lassen Sie ihn mir dieselben zuschicken, mit Angabe seines Namens und seiner Adresse. Und halt, halt, Mr. Pesca – ehe Sie zu Ihrem Freunde gehen, nehmen Sie lieber ein Billet mit.'Kassenbillet! sage ich entrüstet. Kein Kassenbillet, bis mein braver Engländer es verdient hat, wenn ich bitten darf. 'Kassenbillet!' sagt Papa in großem Erstaunen; 'wer spricht denn von Kassenbilleten? Ich meine ein Billet, enthaltend die Bedingungen – ein Memorandum von dem, was man von ihm verlangt. Fahren Sie in Ihrem Unterrichte fort, Mr. Pesca, und unterdessen will ich Ihnen den notwendigen Auszug aus meines Freundes Briefe machen.' Der Mann der Waaren und des Geldes geht und nimmt Feder, Tinte und Papier zur Hand, und ich steige wieder in Dante's Hölle hinab und meine drei jungen Misses mir nach. In zehn Minuten ist das Billet geschrieben, und Papas Stiefel knarren wieder den Corridor entlang. Von diesem Augenblicke an weiß ich bei meiner Treue, meiner Seele und Ehre weiter nichts. Der herrliche Gedanke, daß ich endlich Gelegenheit gefunden, mich meinem teuersten Freunde in der Welt erkenntlich zu erweisen, und daß der Dienst bereits so gut wie schon geleistet ist, steigt mir zu Kopfe und macht mich trunken. Wie ich mich und meine jungen Misses wieder aus den höllischen Regionen heraufziehe, wie ich dann meine übrigen Geschäfte abmache und wie mein bißchen Mittagessen in meinen Hals hinabgleitet, weiß ich ebensowenig wie der Mann im Monde. Genug, ich bin hier, mit dem Billet des mächtigen Kaufmannes in der Hand, in Lebensgröße, heiß wie Feuer und froh wie ein König! Ha! ha! ha! richtig-Alles-richtig-richtig!" Hier schwenkte der Professor das Memorandum der Bedingungen über seinem Kopfe und endete seine lange, geläufige Rede mit seiner gellenden italienischen Parodie eines englischen "Cheers".

Sobald er geendet, erhob sich meine Mutter mit geröteten Wangen und glänzenden Augen. Sie ergriff beide Hände des kleinen Mannes.

"Mein lieber, guter Pesca," sagte sie, "ich zweifelte nie an Ihrer wahren Zuneigung für Walter – jetzt aber bin ich mehr als je davon überzeugt!"

"Gewiß, wir sind Professor Pesca um Walters willen sehr dankbar," fügte Sara hinzu. Sie erhob sich halb von ihrem Sitze, wie sie sprach, als ob sie ebenfalls an den Lehnstuhl treten wollte; sowie sie aber gewahr wurde, daß Pesca voller Entzücken meiner Mutter Hände küßte, blickte sie ganz ernst und blieb an ihrem Platze. "Wenn der familiäre kleine Mensch meine Mutter schon so behandelt, wie würde er da erst mich behandeln?" Gesichter sprechen zuweilen die Wahrheit, und das war ohne alle Frage Saras Gedanke, als sie sich wieder setzte.

Obgleich ich selbst die Herzensgüte in Pesca's Beweggründen dankbar anerkannte, so war ich doch über die Aussicht auf künftige Beschäftigung lange nicht so erfreut, als ich hätte sein sollen. Sobald der Professor mit den Händen meiner Mutter fertig war und ich ihm für sein Verwenden zu meinen Gunsten herzlich gedankt hatte, bat ich, das Memorandum über die Bedingungen sehen zu dürfen, das sein achtungswerter Beschützer zu meiner Durchsicht aufgesetzt hatte.

Pesca überreichte es mir mit einem triumphierenden Schwenken der Hand.

"Lies!" sagte der kleine Mann majestätisch. "Ich verspreche dir, mein Freund, daß das Schreiben des goldenen Papas wie mit Trompetenschall für sich selber redet."

Das Memorandum war jedenfalls deutlich, offen und verständlich. Es unterrichtete mich –

Erstens, daß Frederik Fairlie, Esquire, zu Limmeridge House, Cumberland, während eines Zeitraumes von wenigstens vier Monaten der Dienste eines durchaus tüchtigen Zeichenlehrers bedürfe.

Zweitens, daß die Pflichten, welche dem Lehrer obliegen würden, zweierlei seien. Er sollte den Unterricht zweier junger Damen in der Kunst der Wasserfarbenmalerei beaufsichtigen und dann seine Mußezeit dazu verwenden, eine wertvolle Sammlung von Zeichnungen, die ganz in Unordnung und vernachlässigt war, zu ordnen und aufzukleben.

Drittens, daß das Honorar, welches Demjenigen geboten werde, der sich diesen Pflichten gewissenhaft zu unterziehen anheischig mache, vier Guineen wöchentlich sei; daß er in Limmeridge House wohnen und dort wie ein Gentleman behandelt werden solle.

Viertens und letztens, daß Niemand sich um diese Stelle zu bemühen brauche, der nicht die untadeligsten Ausweise über Charakter und Fähigkeiten beibringen könne. Diese Ausweise solle man Mr. Fairlie's Freunde einsenden, der bevollmächtigt sei, das Übereinkommen abzuschließen. Dann folgten noch Name und Adresse von Pesca's Gönner auf dem Portlandplatze und damit endete das Memorandum.

Die Aussicht, welche dieses Anerbieten darbot, war allerdings eine anziehende – die Beschäftigung aller Wahrscheinlichkeit nach leicht und angenehm; sie wurde mir in der Herbstzeit des Jahres vorgeschlagen, wo ich am wenigsten zu tun hatte, und das Honorar war nach meinen persönlichen Erfahrungen in meinem Berufe außerordentlich anständig. Ich wußte dies; ich wußte, daß ich Ursache haben würde, mich glücklich zu schätzen, falls ich mir die angebotene Beschäftigung sicherte und dennoch hatte ich kaum das Memorandum gelesen, als ich schon eine unerklärliche Unlust verspürte, irgend etwas in der Sache zu tun. Ich hatte noch nie in allen meinen früheren Erfahrungen meine Pflicht und meine Neigung sich so in mir streiten gefühlt, als bei dieser Gelegenheit.

"O Walter, dein Vater hat nie ein solches Glück gehabt!" sagte meine Mutter, nachdem sie das Memorandum gelesen und mir zurückgehändigt hatte.

"Solche vornehme Leute kennen zu lernen!" bemerkte Sara, sich auf ihrem Stuhle aufrichtend – "noch dazu unter so angenehmen Verhältnissen der Gleichheit!"

"Ja, ja; die Bedingungen sind in jeder Beziehung verführerisch genug," erwiderte ich ungeduldig. "Aber he ich meine Zeugnisse einsende, möchte ich ein wenig Zeit haben, um zu überlegen –"

"Überlegen!" rief meine Mutter aus. "Ei, Walter, was ist mit dir?"

"Überlegen!" rief meine Schwester aus. "Welch eine sonderbare Idee unter so günstigen Umständen!"

"Überlegen!" stimmte der Professor ein. "was ist da weiter zu überlegen? Beantworte mir dies! Hast du nicht über deine Gesundheit geklagt und hast du dich nicht nach einem Schlucke Landluft gesehnt, wie du es nennst? Nun! das Papier da in deiner Hand bietet dir unausgesetzte Schlucke Landluft für vier Monate. Ist dem nicht so? Ja? Dann – du brauchst Geld. Nun! Sind vier Guineen die Woche gar nichts? Meine-Güte-du-meine-Güte. Gebe sie nur Einer mir und meine Stiefel sollen, wie die des goldenen Papas, mit einem Bewußtsein des überwältigenden Reichtums des Mannes, der in ihnen geht, knarren! Vier Guineen die Woche, und was noch mehr ist, die reizende Gesellschaft zweier junger Misses; und was noch mehr ist, dein Bett, dein Frühstück, dein Mittagsessen, deine üppigen englischen Tees und Gabelfrühstücke und dein schäumendes Bier, alles umsonst – wie, Walter, mein lieber, guter Freund – Teufel-zum-Teufel! – zum ersten Male in meinem Leben habe ich nicht Augen genug im Kopfe, um dich anzusehen und mich über dich Zu verwundern!"

Weder meiner Mutter offenbares Erstaunen über mein Betragen noch Pesca's eifrige Aufzählung der Vorteile, welche mir die neue Beschäftigung in Aussicht stellte, erschütterten meine scheinbar ungerechtfertigte Abneigung, nach Limmeridge House zu gehen. Nachdem ich alle kleinlichen Einwendungen aufgeworfen, die ich nur gegen meine Reise nach Cumberland erdenken konnte, und nachdem mir dieselben der Reihe nach zu meiner eigenen Niederlage beantwortet waren, versuchte ich, ein letztes Hindernis mit der Frage aufzurichten, was aus meinen Schülern in London werden sollte, während ich Mr. Fairlie's junge Damen nach der Natur zeichnen lehrte. Die einleuchtende Antwort hierauf war, daß der größere Teil derselben auf ihren Herbstreisen sein werde, und die wenigen, die dableiben würden, der Obhut eines Kollegen anvertraut werden könnten, dem ich seine Schüler einst unter ähnlichen Verhältnissen abgenommen hatte. Meine Schwester erinnerte mich daran, daß dieser Herr nur ausdrücklich für diese Saison seine Dienste angeboten, falls ich die Hauptstadt zu verlassen wünschte; meine Mutter bat mich ernstlich, doch nicht meine eigenen Interessen und meine Gesundheit durch eine einfältige Grille zu gefährden, und Pesca flehte mich in jammervollen Tönen an, ihm nicht bis in's innerste Herz weh' zu tun, indem ich das erste dankbare Dienstanerbieten ausschlüge, das er dem Freunde und Lebensretter zu machen im Stande gewesen.

Die offenbare Liebe, welche diese Vorstellungen eingab, hätte auf jeden Mann Eindruck gemacht, der nur ein Atom von richtigem Gefühle besaß. Obgleich ich meine unbegreifliche Wunderlichkeit nicht überwinden konnte, so hatte ich doch wenigstens so viel Tugend in mir, mich jenes Vorurteils zu schämen und die Erörterung damit zu enden, daß ich nachgab und Alles Zu tun versprach, was man von mir verlangte. Der Rest des Abends verging dann fröhlich genug unter heiteren Zukunftsplänen und Mutmaßungen über meine Stellung bei den jungen Damen in Cumberland. Pesca, von unserem nationalen Grog begeistert, der ihm auf wunderbare Weise, fünf Minuten, nachdem er seine Kehle hinunter gegangen, zu Kopf zu steigen schien, behauptete seine Ansprüche, als ein vollkommener Engländer angesehen zu werden, indem er in schneller Aufeinanderfolge eine Reihe von Reden hielt; die Gesundheit meiner Mutter ausbrachte, die meiner Schwester, die meinige und zusammen die Gesundheit von Mr. Fairlie und den beiden jungen Misses; worauf er gleich hinterher für die ganze Gesellschaft eine pathetische Dankesrede hielt.

"Ein Geheimnis, Walter," sagte mein kleiner Freund vertraulich, als wir zusammen nach Hause gingen. "Ein Geheimnis sei dir vertraut. Ich glühe bei der Erinnerung an meine Beredsamkeit. Meine Seele vergeht vor Ehrgeiz. Eines Tages werde ich in euer edles Parlament eintreten. Es ist der Traum meines ganzen Lebens, der "Ehrenwerte Pesca M. P" (Mitglied des Parlaments) zu werden!"

Am folgenden Morgen sandte ich des Professors Patrone auf dem Portlandplatze meine Zeugnisse ein. Drei Tage vergingen, und ich schloß daraus mit geheimer Genugtuung, daß meine Papiere nicht ausreichend genug befunden worden. Am vierten Tage kam jedoch eine Antwort. Dieselbe kündigte mir an, daß Mr. Fairlie meine Dienste annehme und mich ersuche, augenblicklich nach Cumberland aufzubrechen. Alle notwendigen Instruktionen betreffs meiner Reise waren sorgfältig und deutlich in einem Postskriptum beigefügt.

Ich traf ziemlich mißmutig meine Vorbereitungen, früh am folgenden Tage London zu verlassen. Gegen Abend kam Pesca, im Begriffe in sine Mittagsgesellschaft zu gehen, zu mir, um mir Lebewohl zu sagen.

"Ich werde meine Tränen während deiner Abwesenheit mit dem schönen Gedanken trocknen,", sagte er fröhlich, "daß es meine Hand war, die deinem Glücke in dieser Welt den ersten Schub vorwärts gegeben hat. Geh', mein Freund. Wenn deine Sonne in Cumberland scheint (englisches Sprichwort), da mache ja dein Heu, um's Himmels willen. Heirate eine der beiden jungen Misses, erbe die fetten Güter Fairlie's, werde Ehrenwerter Hartright M. P., und wenn du auf der obersten Stufe der Leiter angelangt bist, erinnere dich, daß Pesca, der unten steht, dir zu dem Allen verholfen hat!"

Ich versuchte, mit meinem kleinen Freunde über seinen Abschiedsscherz zu lachen, aber ich konnte meine üble Laune nicht bemeistern. Etwas in mir schlug einen fast schmerzlichen Mißton an, während er seine heiteren Abschiedsworte sprach.

Als ich wieder allein war, blieb mir nichts zu tun übrig, als nach dem Häuschen in Hamstead zu gehen und meiner Mutter und Schwester Lebewohl zu sagen.

III.



Die Hitze war den ganzen Tag über sehr drückend gewesen, auch der Abend war noch heiß und schwül.

Meine Mutter und Schwester hatten so viele letzte Worte zu sagen gehabt und mich so oft gebeten, noch fünf Minuten langer zu bleiben, daß es beinahe Mitternacht war, als die Magd das Gartenthor hinter mir schloß. Ich tat ein paar Schritte auf dem kürzesten Wege nach London zu, dann stand ich still und zögerte.

Der Mond stand groß und voll an dem dunkelblauen, sternenlosen Himmel, und die hügelige Heide sah in dem geheimnisvollen Lichte wild genug aus, daß sie Hunderte von Meilen von der Stadt hätte entfernt sein können, die weiter abwärts lag. Ich konnte mich nicht überwinden, eher als durchaus notwendig, zu der Hitze und trüben Luft von London zurückzukehren. Die Aussicht, in meine dumpfigen Zimmer schlafen zu gehen, und die, allmälig zu ersticken, schienen mir bei meinem unruhigen Körper- und Gemütszustande gleichbedeutend. Ich beschloß, durch die reinere Luft auf dem weitesten Umwege, den ich nur machen konnte, heimzuschlendern; den weißen sich hin und her schlängelnden Pfaden, die über die einsame Heide hinliefen, zu folgen und durch die am freiesten liegende Vorstadt von London dorthin zurückzukehren, indem ich den weg von Finchley einschlug und so in der Frische des neuen Morgens auf der Westseite des Regent's Park anlangte. Ich wanderte langsam auf der Heide dahin, im Genusse der himmlischen Stille und voll Bewunderung der sanften Abwechslungen von Licht und Schatten, wie sie einander rund um mich her auf der hügeligen Haide folgten. Solange ich bei diesem ersten und hübschesten Teil meines Nachtspazierganges war, blieb mein Geist für die Eindrücke des Anblickes passiv empfänglich; ich dachte nur wenig an irgend einen Gegenstand – ja, was meine Gefühle betrifft, so dachte ich eigentlich gar nicht.

Als ich aber die Heide verlassen und einen Nebenweg eingeschlagen hatte, wo es weniger zu sehen gab, zogen die Gedanken, welche die kommende Veränderung in meinen Gewohnheiten und Beschäftigungen natürlicherweise hervorriefen, mehr und mehr meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf sich. Als ich am Ende des Weges anlangte, war ich vollkommen in meine phantastischen Visionen von Limmeridge House, Mr. Fairlie und den beiden jungen Damen vertieft, deren Übungen in der Kunst der Wasserfarbenmalerei ich so bald beaufsichtigen sollte.

Ich war jetzt an der Stelle angekommen, wo vier Wege einander begegnen – der Weg nach Hampstead, auf dem ich zurückgekehrt war, der Weg nach Finchley, der nach West-End und der nach London. Ich hatte mechanisch den letzteren eingeschlagen und schlenderte langsam die Landstraße entlang – in unnützen Mutmaßungen, wie ich mich entsinne, über das Aussehen der jungen Damen in Cumberland – als in einem einzigen Augenblicke jeder Tropfen Blutes in meinem Körper durch die Berührung einer Hand, die leicht und plötzlich von hinten auf meine Schulter gelegt wurde, erstarrte.

Ich wandte mich schnell um, indem meine Finger sich fest um meinen Stock schlossen.

Da, in der Mitte des breiten, hellen Weges – da, als ob sie soeben aus dem Erdboden entsprungen oder vom Himmel gefallen wäre – stand die Gestalt einer einsamen Frau von Kopf bis zu Füßen in weißen Kleidern, ihr Gesicht in ernster Frage zu dem meinigen gewendet und mit der Hand auf die dunkle Wolke deutend, die über London hing.

Ich war über die seltsame Erscheinung, die so plötzlich in der tiefen Nacht an dieser einsamen Stelle vor mich hingetreten war, zu sehr erschrocken, um sie zu fragen, was sie verlange. Sie sprach zuerst.

"Ist das der Weg nach London?" sagte sie.

Ich sah sie aufmerksam an, als sie diese sonderbare Frage tat. Es war jetzt beinahe ein Uhr. Alles, was ich deutlich im Mondlichte unterscheiden konnte, war ein farbloses, junges Gesicht, mager und spitz um Kinn und Wangen; große, ernste, sehnsüchtig aufmerksame Augen; nervöse, zuckende Lippen und helles Haar von lichter, braungelber Farbe. Es lag nichts Wildes, nichts Unbescheidenes in ihrer Manier; dieselbe war ruhig und gefaßt, ein wenig melancholisch und hatte einen kleinen Anflug von Argwohn; nicht gerade die Manieren einer Dame und doch auch nicht die einer Frau aus der niedrigsten Klasse. Die Stimme, so wenig ich auch bis jetzt davon gehört, hatte etwas seltsam Stilles und Mechanisches in ihren Tönen, und ihre Sprache war außerordentlich schnell. Sie hielt eine kleine Tasche in der Hand, und ihre Kleidung – Hut, Shawl und Kleid, alles weiß – war, soviel ich dies beurteilen konnte, gewiß nicht von sehr zartem oder teuerem Stoffe. Ihre Figur war schlank und etwas über die mittlere Größe – ihr Gang und ihre Bewegungen frei von der geringsten Übertreibung. Dies war Alles, was ich in dem matten Lichte und unter den verwirrend seltsamen Umständen unseres Begegnens von ihr sehen konnte, welch eine Art von Frauenzimmer sie war und wie sie dazu kam, eine Stunde nach Mitternacht ganz allein auf der Landstraße zu sein, war mir rein unmöglich zu erraten. Das Einzige, wovon ich mich überzeugt fühlte, war, daß selbst der roheste Mensch und trotz der verdächtig späten Stunde und jener verdächtig einsamen Stelle ihren Beweggrund, zu mir zu sprechen, nicht hätte mißdeuten können.

"Haben Sie mich gehört?" sagte sie, noch immer leidenschaftslos, aber schnell und ohne die geringste Gereiztheit oder Ungeduld. "Ich fragte sie, ob das der weg nach London sei."

"Ja," erwiderte ich, "das ist der Weg, er führt nach St. John's Wood und Regent's Park. Sie müssen mich entschuldigen, wenn ich Ihnen nicht schneller antwortete. Ihr plötzliches Erscheinen erschreckte mich etwas, und ich kann mir dasselbe auch jetzt durchaus noch nicht erklären."

"Sie beargwöhnen mich doch wohl nicht, daß ich irgend etwas Unrechtes begehe, wie? Ich habe nichts Unrechtes begangen. Ich habe ein Unglück gehabt – ich bin sehr unglücklich, so spät hier allein zu sein, warum haben Sie mich im Verdacht, etwas Unrechtes getan zu haben?"

Sie sprach mit unnötiger Eindringlichkeit und Bewegung und zog sich mehrere Schritte von mir zurück. Ich tat mein Möglichstes, sie wieder zu beruhigen.

"Ich bitte Sie, nicht zu glauben, daß ich daran denken könnte, einen Verdacht gegen Sie oder irgend etwas Anderes zu hegen, als den Wunsch, Ihnen nützlich zu sein, wenn ich kann. Ich erstaunte nur über Ihr Erscheinen auf der Landstraße, weil mir dieselbe einen Augenblick vorher völlig leer geschienen."

Sie wandte sich um und deutete auf eine Stelle, wo der Weg nach London mit dem nach Hampstead zusammentraf und wo eine Öffnung in der Hecke war.

"Ich hörte Sie kommen," sagte sie, "und verbarg mich dort, um zu sehen, welch eine Art von Mann Sie seien, ehe ich es wagte, zu Ihnen zu sprechen. Ich zweifelte und fürchtete, bis Sie vorbeigegangen waren, und dann war ich genötigt, hinter Ihnen herzuschleichen und Sie zu berühren."

"Hinter mir herschleichen und mich berühren? warum nicht mich anrufen? Seltsam, um mich gelinde auszudrücken!"

"Darf ich Ihnen trauen?" fragte sie, "Sie denken nicht schlechter von mir, weil ich ein Unglück gehabt habe, wie?" Sie schwieg in Verwirrung, indem sie ihre Tasche aus einer Hand in die andere nahm, und seufzte bitterlich.

Die Einsamkeit und Hilflosigkeit der Frau rührte mich tief. Der natürliche Antrieb, ihr zu helfen und sie schonend zu behandeln, siegte über das Urteil, die Vorsicht und den weltlichen Takt, den ein älterer, weiserer und kälterer Mann in dieser seltsamen Lage Zu Hilfe gerufen hätte.

"Für jeden harmlosen Zweck dürfen Sie mir vertrauen," sagte ich. "Falls es Sie betrübt, mir Ihre seltsame Lage zu erklären, so sprechen Sie nicht weiter davon. Ich habe kein Recht, Erklärungen von Ihnen zu fordern. Sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann; wenn es mir möglich ist, will ich es tun."