Meditationen über ein Gefühl unserer Zeit
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1. Auflage 2022
© 2022 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Die englische Originalausgabe erschien 2020 bei The School of Life Press unter dem Titel Anxiety. © The School of Life 2020. All rights reserved.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Nadine Lipp
Redaktion: Regina Carstensen
Umschlaggestaltung: Karina Braun
Umschlagabbildung: Peeling White Paint on Morter. José Ramón Polo López / Flickr
Layout: The School of Life
Satz: inpunkt[w]o, Haiger (www.inpunktwo.de)
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-7474-0357-0
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-741-0
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-742-7
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EINLEITUNG
1. Ein Wunder, dass wir nicht noch ängstlicher sind
2. Angst & Evolution
3. Angst in modernen Zeiten
4. Grundvertrauen
FORMEN DER ANGST
1. Trauma & Angst
2. Selbsthass & Angst
3. Was die Angst triggert
4. Ablenkungsangst
5. Der gute Ruf & die Angst
6. Freundschaft & Angst
7. Gemeinschaft & Angst
8. Partys & Angst
9. Panikattacken & Angstzustände
10. Öffentlichkeit & Angst
11. Plan B & die Angst
12. Liebe & Angst
13. Sex & Angst
14. Einfachheit & Angst
15. Grübeln & Angst
16. Stoizismus & Angst
17. Angekommen sein & Angst
18. Losgelöstheit & Angst
19. Glück & Angst
EIN IDEALES LEBEN FÜR DIE ÄNGSTLICHEN
Im Grunde genommen ist es erstaunlich, dass wir es schaffen, hin und wieder ganz unbesorgt zu sein.
Wir sind so vielem ausgesetzt, es gibt so viele ernste und nicht vorhersehbare Gefahren, die unsere Seelenruhe bedrohen.
Wir leben auf einem übervölkerten Planeten, in einer Atmosphäre der Angst, Aufregung und des Ehrgeizes. Wir müssen uns in technologieoptimierten Städten zurechtfinden, sind biologisch aber für ein einfaches, ruhiges, reizarmes Leben in der Savanne veranlagt.
Wir verweilen in äußerst verletzlichen Körperhüllen, in denen jederzeit etwas passieren könnte; ein winziges Blutgerinnsel hat die Macht, uns in einem Augenblick zu töten.
Wir müssen ständig Lebensentscheidungen treffen, ohne die nötigen Fakten für eine wirklich gute Wahl zu kennen; wir wissen nie, was uns hinter der nächsten Ecke erwartet.
Da unsere Kindheit lange dauert, stehen die Türen für Turbulenzen und Verletzungen jeglicher Art eine geraume Zeit offen – unsere schöne und komplizierte Seele riskiert anhaltende Traumata durch Wunden, die uns schon zugefügt werden, bevor wir überhaupt laufen konnten.
Wir haben selten ausreichend Zeit, um uns mit den ruhigeren Teilen in uns zu verbinden oder um zu begreifen, dass uns, aus einer größeren Perspektive betrachtet, eine erhabene Bedeutungslosigkeit anhaftet. Wir nehmen kaum wahr, dass wir leben. Die Massenmedien peitschen unaufhörlich unsere Leidenschaften und Ängste auf – und machen uns blind für die gelassene, beständige, undramatische Güte und Hoffnung um uns herum.
In Beziehungen sehnen wir uns danach, unseren Schutzpanzer abzulegen; gleichzeitig haben wir – nicht unbegründet – Angst vor dem erheblichen Schmerz, den wir erfahren können, wenn wir einer anderen Person unsere Gefühle preisgeben.
Wir setzen Kinder in die Welt und sind unglücklich, wenn es ihnen nicht gut geht – und dennoch haben wir kaum eine Möglichkeit, sie vor ihrem Schicksal zu beschützen.
Im Job kann unser Ruf durch Arglist oder einen Irrtum von jetzt auf gleich ruiniert werden. Wir wollen unbedingt gewinnen, werden aber ständig vom Gespenst der Niederlage verfolgt. Wir sind nie so jung, schön oder intelligent, wie wir es gerne wären.
Unsere Vorstellungskraft erinnert uns ständig an alles, was fehlt, was schiefgehen kann und an sämtliche Situationen, in denen wir einst versagt haben.
Die Gefahren und Schwierigkeiten, denen wir im Leben begegnen, sind tatsächlich zahlreich und beängstigend. Und dennoch wird es immer Menschen geben, die uns ganz beiläufig sagen, wir sollten mal »entspannen« – als ginge das so einfach auf Knopfdruck, als wäre es nicht das Ergebnis einer lebenslangen Übung.
Nichtsdestotrotz sollten wir ernsthaft versuchen, ein paar unserer Ängste loszulassen – indem wir sie besser verstehen, Wege finden, sie zu lindern, und sie mit anderen Menschen teilen. So können wir es schaffen, die weniger beängstigenden Seiten des Lebens zu genießen, für einen Moment von unseren verdrießlichen Gedanken aufzublicken und das Wunder und den Segen, am Leben zu sein, wertzuschätzen.
Dies ist ein Buch über die Angst und wie wir sie überwinden.
Wir sind es gewohnt, ein Loblied auf den menschlichen Körper und Geist zu singen – und sie sind auch in vielerlei Hinsicht erstaunliche Meisterwerke. Wir haben Gehirne, die in der Lage sind, Fraktale zu definieren, Finnisch ins Bengalische zu übersetzen und La Traviata zu singen – und Körper, die das Matterhorn besteigen, Bälle mit 263 Stundenkilometern über ein Tennisnetz schlagen und neues Leben erschaffen, das bis zu hundert Jahre währt. Und dennoch sollten wir uns eingestehen, dass wir in vielen Bereichen fehlerhaft gebaut sind, und sei es nur, um uns selbst das Chaos und die Traurigkeit zu verzeihen, die uns immer wieder übermannen. Es liegt nicht nur uns persönlich, dass wir ängstlich sind; die Maschine, in der wir leben, ist eben nicht vollkommen perfekt.
Wir sind das Ergebnis evolutionärer Prozesse, die dazu geführt haben, dass wir nicht optimal an das angepasst sind, was heute von uns verlangt wird. Anatomisch betrachtet haben wir einige überflüssige Organe, die stören können – wie etwa das Steißbein, der letzte Teil der Wirbelsäule, ein Überbleibsel des Schwanzes, der uns Rücken- und Wachstumsschmerzen verursachen kann. Auch die Weisheitszähne, die männlichen Brustwarzen oder der Blinddarm sind mittlerweile ohne Funktion. Vergleichbares findet sich auch in unserem Kopf:
Die Verdrahtung in unserem Gehirn ist allzu überempfindlich gegenüber Kindheitserlebnissen. Noch im hohen Alter haben die meisten von uns ihre frühen Kindheitsjahre nicht verarbeitet.
Wir neigen dazu, nicht besonders nett zu uns selbst zu sein, was wenig hilfreich ist. Zu den meisten unserer Feinde sind wir weitaus freundlicher. Wir haben Methoden der Selbstbewertung verinnerlicht, die sich an den strengsten Stimmen in unserer persönlichen Geschichte orientieren.
Wir sind sehr schlecht im Denken: Wir geraten leicht in Panik, wehren wichtige Gedanken ab, sehnen uns nach Ablenkung und sind zimperliche Interpreten unserer selbst. Wir tun uns sehr schwer, herauszufinden, welchen Beruf wir ausüben möchten, wie wir unsere Talente am besten nutzen und was uns wirklich antreibt.
Vor einigen Gefahren haben wir viel zu viel Angst, während wir andere ignorieren, vor allem die Gefahr, nicht beizeiten wertzuschätzen, was wir haben.
Wir tun uns schwer, echte Bedrohungen von falschem Alarm zu unterscheiden.
Wir machen uns zu viele Sorgen darüber, was andere über uns denken; wir verhalten uns so, als würden wir weiterhin in kleinen Gruppen leben, wo jeder Klatsch und Tratsch Auswirkungen hat, und verlieren Jahre damit, den Vorstellungen von Fremden genügen zu wollen.
Wir haben eine naive Vorstellung von unseren Chancen auf Glück – und sind im Nachhinein bitter enttäuscht. Wir können nicht demütig akzeptieren, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass wir nicht reich und keine glückliche Ehe führen werden, und klagen an, wie unfair es in unserem Leben zugeht. Dabei entspricht es nur der statistischen Norm.
Wir neigen dazu, Abhängigkeiten zu entwickeln: Wir essen viel, trinken zu viel Alkohol, werden pornosüchtig und bewegen uns zu wenig.
Gemessen an unseren Möglichkeiten und Prioritäten denken wir viel zu oft an Sex.
Im Grunde sind wir darauf gepolt, unglücklich zu sein. Zufriedenheit war biologisch nicht vorgesehen. In der frühen Evolution muss es von Vorteil gewesen sein, unruhig und ängstlich zu sein – wer zu ruhig und ausgelassen war, wurde gefressen. Der Natur passt es eher, wenn wir in Habachtstellung sind, als dass wir einem Tiger zum Opfer fallen. Wir sind nicht dazu gemacht, »im Moment zu leben« – leichtfertig dahingesagt ist diese Aufforderung grausam.
Um mit unserem lästigen, schlecht angepassten Körper klarzukommen, haben wir die Medizin, die Ernährungswissenschaften und den Sport erfunden. Um mit unserem ebenso defizitären Gehirn umzugehen, müssen wir uns ernsthaft mit Philosophie, Psychologie und Selbstreflexion beschäftigen.
Heute leben wir zwar in einer viel sichereren und wohlhabenderen Welt als unsere Vorfahren, die modernen Zeiten haben aber auch Probleme mit sich gebracht, die zu unserer gesteigerten Angst beitragen.
Moderne Zeiten sind von Ehrgeiz geprägt. Wir wollen Krankheiten heilen, keine Zeit verlieren, immer glücklich sein und ewig leben. Das sind zwar hehre Ziele, aber da sie gezwungenermaßen unerreichbar sind, lassen sie uns angsterfüllt zurück. Wir fühlen uns entmutigt, sind enttäuscht von uns selbst und wütend auf unsere Gesellschaftssysteme. In der Geschichte der Menschheit haben wir schon immer gelitten, aber eine Qual blieb uns früher erspart: die Idee, dass ein perfektes Leben möglich wäre.
Menschen haben in der längsten Zeit ihrer Geschichte in Horden zusammengelebt. Die moderne Welt hat unsere enge Verbindung zu unserem Clan oder der Familie aufgelöst und uns in große Städte gespült; hier existieren wir allein und müssen uns ohne eine Gruppe zurechtfinden und klarkommen. Wir leben im Zeitalter des Individualismus. In vielerlei Hinsicht mag das eine Befreiung sein, es hat aber auch zur Folge, dass wir nun das Leben und das Leiden ohne einen Anker aushalten müssen. Wir fühlen uns über die Maßen für alles, was uns passiert, selbst verantwortlich und können niemanden beschuldigen, außer uns selbst.
Die moderne Welt ist auf das Erwerbsleben fixiert. Bei sozialen Zusammenkünften bleibt die Frage »Und was machst du?« nie aus, und nur, wenn wir eine ausreichend beeindruckende Antwort geben können, erfahren wir Anerkennung und gelten als eine interessante Person. Unser Selbstwertgefühl hängt von unserer Performance in einem unsicheren und ziemlich willkürlichen Wirtschaftssystem ab. Nett zu sein, reicht nicht mehr aus. Es verwundert nicht, dass Émile Durkheim, der erste Soziologe, der sich mit dem Thema Suizid beschäftigt hat, herausfand, dass die Suizidrate steigt, je mehr sich eine Gesellschaft auf die Erwerbsarbeit fokussiert. Weder Armut noch Krankheit sind die ausschlaggebenden Faktoren, die Menschen zu diesem letzten Akt der Verzweiflung treiben, es ist das Gefühl, nichts wert zu sein, nichts erreicht zu haben.
Moderne Gesellschaften glauben fest an das Konzept der Leistung. Demnach sind wir frei, unser Leben erfolgreich zu gestalten, wir brauchen nur genug Talent, Energie und sollten in unseren Bemühungen nicht in Bezug auf Herkunft, Klasse oder Geschlecht diskriminiert werden.
Hinter dieser gut gemeinten Idee steckt aber der Glaube, dass die, die es ganz nach oben geschafft haben, ihren Erfolg auch wirklich verdienen, und dass jene, die unten geblieben sind, es selbst verschuldet haben. Eine meritokratische Weltsicht verteilt Sanktionen und Belohnungen nach einem Gerechtigkeitsgedanken. Arme Menschen gelten dann nicht mehr als »Unglückliche«, die Mitgefühl und Freundlichkeit verdienen, sie werden als »Versager« abgewertet.
In einer Leistungsgesellschaft wird Armut zu einem Beleg persönlicher Inkompetenz, sie gilt nicht länger als Pech oder unglückliches Schicksal. Somit steigt die Versagensangst exponentiell.
Die meisten Massenmedien berichten hysterisch, katastrophenorientiert und rachsüchtig. Sie vermitteln uns permanent das Gefühl, dass die Außenwelt extrem gefährlich wäre, dass andere Menschen böse oder gewalttätig wären, dass alle sowieso gemein wären und unsere Gesellschaft in Anarchie und Entartung enden würde. Darüber hinaus machen diese Medien Menschen, die Fehler gemacht haben, lächerlich und verurteilen sie – und tragen so zu dem Gefühl bei, dass niemand jemals Vergebung oder Verständnis verdient hätte.