Der Autor

Nicolas Bouvier (1929–1998) wuchs in Genf auf und machte schon als 16jähriger erste Reisen nach Frankreich und Italien. Nach dem Studium der Geistes- und Rechtswissenschaften in Genf fuhr er 1953 mit Thierry Vernet im Auto über Jugoslawien, die Türkei und Iran nach Afghanistan. 1955 Weiterreise nach Japan. In den sechziger Jahren unternahm Bouvier mehrere ausgedehnte Reisen, u.a. nach Japan, China und Korea. Der Schriftsteller, Fotograf und Journalist publizierte mehrere Bücher, darunter Die Erfahrung der Welt und Skorpionfisch.

Titel der französischen Originalausgabe:

L’Echappée belle

Copyright © 1996 by Les Editions Metropolis, Genève

E-Book-Ausgabe 2014

Copyright © der deutschen Übersetzung

2007 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

www.lenos.ch

ISBN EPUB-E-Book 978 3 85787 565 6

Inhalt

Lob der Schweizer Wanderlust

Das Warten – die Erwartung

Das Reisen, das Schreiben, der Andere

Träumereien eines Bildersuchers

Rund um Gobineau

Rund um die Histoire du Soldat

Abschied von Louis Gaulis

Thesaurus pauperum

Ella Maillart

Vahé Godel

Brief an Kenneth White

Der orientalische Geschichtenerzähler: Albert Cohen

Henri Michaux: Herbst-Totenbuch

Biographische Notizen

Bibliographie

Weshalb dünke sich der Bettler

Heute nicht ein Fürst zu sein?

Sein Gezelt heisst Wolkenschatten

Und sein Prunksaal – Saatenrain.

Hafis

Lob der Schweizer Wanderlust

Mit diesem Buch möchte ich eine Schweiz würdigen, über die man zuwenig spricht: einer unsteten Schweiz, einer wanderlustigen Schweiz Lob zollen, von der allzuselten die Rede ist, einer seit zweitausend Jahren der Versuchung und der Leidenschaft des »Kommens und Gehens« erlegenen Schweiz. Ein Schweigen, ein Vergessen, das mich ärgert. Eine Unrast, die mich fasziniert.

Anlässlich einer kurzen, fruchtbaren Erfahrung als visiting professor an der University of Southern California stellte ich fest, dass die Schweiz in den Augen meiner Studenten das Musterbeispiel eines beständigen, sesshaften, vernünftigen, fleissigen Landes ist, das dem Sparen huldigt, sich hingebungsvoll dem Dienstleistungssektor widmet oder der Pflege des berühmten Militärgewehrs, das jeder Bürger samt vierzig Patronen bei sich zu Hause aufbewahren muss. Lauter Klischees, die glattweg aus Flauberts Wörterbuch der Gemeinplätze stammen könnten.

Ohne auch nur auf den Gedanken zu kommen, ihre Quellen nachzuprüfen, behaupten Orson Welles und Graham Greene im Film Der dritte Mann, die Kuckucksuhr sei der einzige Beitrag meines kleinen Landes zur westlichen Kultur. Ein schlimmer Irrtum! Die Kuckucksuhr ist nämlich aus dem Schwarzwald (aus Süddeutschland also) zu uns gelangt. Schade: Der nervende Ruf dieses melancholischen, aus seinem Nistkasten hüpfenden Vogels, der dir anzeigt, dass eine Stunde unwiderruflich vergangen ist, wurde von einem neurotischen, postromantischen Deutschen ausgetüftelt; eine Erfindung, vor der jeder echte Surrealist ehrfürchtig in die Knie müsste.

Sesshaft? Dass ich nicht lache! In Wirklichkeit sind die Schweizer das wanderlustigste Volk Europas. Jeder sechste Schweizer hat beschlossen, sein Leben im Ausland zu fristen. In dieser Hinsicht schlagen wir sogar die Iren.

Vernünftig? Das muss näher untersucht werden! Hinter der Ordnung, unter dem Lack des helvetischen »Wie es sich gebührt« [dt. im Orig.] spüre ich dicke Schichten Irrationelles vorbeitreiben, ein dumpfes Gären, das in Dürrenmatts ersten »Kriminalromanen«, in Fritz Zorns Mars so deutlich zum Ausdruck kommt, eine latente Gewalt, die dieses Land für mich so besonders und spannend macht. Die Schweiz ist eher bergmanisch denn bergsonisch – und oft näher bei Prag als bei Paris. Es würde mich nicht wundern, wenn man Alain Tanners Salamandre für einen polnischen Film halten würde oder wenn Maurice Chappaz’ L’Office des Morts tatsächlich in Böhmen geschrieben worden wäre.

In meiner alten Ausgabe der Encyclopaedia Britannica findet man eine ebenso erstaunliche wie zutreffende Definition der Schweiz: Kleines Land in Zentraleuropa, im Westen Europas gelegen.

In den Schulbüchern wird die Literatur der französischen Schweiz immer als Ausdruck der Verwurzelung dargestellt, der Introspektion, der persönlichen Aufzeichnung und eines mit dem Brandeisen der calvinistischen Strenge gezeichneten, Schuldgefühle weckenden Moralismus. Es stimmt: Diese Literatur gibt es tatsächlich. Charles Ferdinand Ramuz, Jacques Chessex, Yves Velan, Gustave Roud und auf der anderen Seite der Sprachgrenze Jeremias Gotthelf, Meinrad Inglin oder Friedrich Dürrenmatt in seinen ersten Werken, die sich alle nicht bemüht haben, diese Grenze zu überschreiten. Sie hatten es nicht nötig. Das Allumfassende lässt sich in eine begrenzte Geographie einschreiben: Hat nicht auch Ismail Kadare immer nur von seinem winzigen Albanien erzählt und dennoch, in seiner Sprache, die griechische Tragödie neu gestaltet? Selma Lagerlöf hat ihre Heimat Schweden nie verlassen; Maupassant entfernte sich nur widerstrebend von der Normandie oder den Pariser Bordellen.

Aber … aber es gibt ein Aber. Parallel dazu gibt es eine ganz besondere, oft wunderbare Heimatliteratur, eine nomadische Konstante in unserer Geschichte: das Fernweh, das Exil, die Suche, die Unrast, eine Form des Nicht-stillhalten-Könnens, was unsere Mentalität tief geprägt hat und also auch unsere Literatur. Es gibt seit über zweitausend Jahren eine unruhige Schweiz, eine wandernde, oft durch die Armut auf die Landstrassen getriebene Schweiz, von der man viel zuwenig spricht.

Schweigen: weil die gestaltenden Elemente einer introspektiven sesshaften Literatur sich leicht durch unsere politische und wirtschaftliche Geschichte erklären lassen. Sie sind augenfällig.

Worauf diese Schweizer Wanderlust beruht, die ich nicht etwa erfinde, sondern in Erinnerung rufe, ist jedoch geheimnisvoller. Natürlich gibt es dafür unbestreitbare wirtschaftliche Gründe, die innere Motivation jedoch ist rätselhafter und liesse sich vielleicht durch die Jungsche Psychoanalyse erklären, durch den Archetypus von »der anderen Seite des Berges«, wie es Ramuz meisterlich in seinem Roman La Séparation des Races bezeichnet, was aber viel schwieriger zu erklären ist.

Die fixierenden zentripetalen Elemente unserer geistigen und moralischen Geschichte, die schliesslich die heutige Schweiz in einer winzigen Alpen- und Seengeographie ausmachen werden – ich übernehme hier Alfred Berchtolds These aus La Suisse romande au cap du XXe siècle –, sind, nacheinander, die calvinistische oder zwinglianische Reformation, die pädagogische Tradition von Rousseau über Pestalozzi, Tœpffer, Claparède, Piaget usw. Dann die präromantische Naturbetrachtung (Haller und Rousseau), schliesslich die romantische Eloge der bukolischen Alpen, eines gar nicht so fernen Arkadiens, das wir schnell einmal gelernt haben, teuer, zu teuer, zu verkaufen. Anfänge des Schweizer Tourismus. In einer Reisebeschreibung amüsiert sich James Fenimore Cooper schelmisch über die Geldgier unserer Hirten.

Was die französische Schweiz angeht, so lässt sich vor der Reformation kaum von intellektuellem Leben sprechen. Doch kaum hatte man sich – zwischen 1530 und 1540 – für die »neue Religion« entschieden, wird die Begriffsdebatte und die religiöse Polemik zu Genfs Lebensinhalt. Das calvinistische Genf ist ein Zündfass, eine Brandbombe, und das ganze katholische Europa wünscht sich sehnlichst, es zu zerstören und dem Erdboden gleichzumachen. Diese Kampfliteratur ist eindeutig weder der galanten Frivolität noch den Liebesstanzen förderlich. Also: literarische Leere, wie Voltaire zweieinhalb Jahrhunderte später feststellt:

Nur König Davids alte Psalmen

mögen der Genfer Herz erfreuen

im Glauben, Gott freue sich an schlechten Versen.

Es stimmt: Die Romands sind nicht frivol. Sie lesen jedoch viel: Hobbes, Montaigne, Montesquieu, aber weder Brantôme noch Laclos, noch Restif de la Bretonne. Diese Lektüren sind verpönt; zudem hat man dafür keine Zeit, weil man inzwischen beginnt sich enorm zu bereichern.

Man wird auf Rousseau warten müssen, der seine Werke mit Citoyen de Genève zeichnet und der den Genfern sträflich unbeachtet bleibt – sie haben La Nouvelle Héloïse übersehen und Émile verboten –, bis die französische Schweiz eine eigene Literatur haben wird, auch wenn sie aufgrund ihrer Verblendung keine haben wollte. Madame de Staël und Benjamin Constant werden diese Literatur brillant weiterführen, jedoch ohne sich je ausserhalb des introspektiven und moralischen Kontextes zu bewegen, den man Rousseaus Confessions verdankt. Vergessen wir eine gewisse Neigung zu selbstgefälligen Schuldgefühlen und zur Selbstgeisselung nicht, die in unserer Literatur nur allzuoft anzutreffen ist und die Henri-Frédéric Amiel in seinem monumentalen Journal intime anwenden und bis zum Überdruss missbrauchen wird. Er geniesst im übrigen das zweifelhafte Privileg, das Wort »refoulement« erfunden zu haben, während ein halbes Jahrhundert vor ihm sein Landsmann, der Aargauer Arzt Zimmermann, das Wort »Verdrängung« [dt. im Orig.] schuf, was sich auch als »Abkapselung« übersetzen liesse.

Die Wandertradition jedoch, zu der zweifelsohne auch der grosse Wanderer Rousseau gehört, hat geheimnisvollere Wurzeln. Sie beginnt vor über zweitausend Jahren mit einer unerklärlichen Migrationsbewegung. Alfred Berchtold schreibt humorvoll: Die Helvetier betreten die Geschichte in dem Moment, da sie versuchen, aus der Geschichte zu treten. Was heisst: Sie verlassen ihr Territorium, das sich vom nördlichen Jura bis zum Genfersee erstreckt. Es ist ein fischreiches, wildreiches Schlaraffenland mit einem gemässigten Klima. 58 v. Chr. gelingt es Divico, dem Anführer der Helvetier, sein Volk davon zu überzeugen, dass es auf der anderen Seite des Berges, in den gemässigten Ländern des Südens, bestimmt noch viel besser ist. Sie ernten ihr Getreide, setzen ihre Dörfer in Brand, laden ihre Habe auf Karren, und der riesige Zug setzt sich in Richtung des südöstlichen Frankreichs in Bewegung, wo die Helvetier sich niederlassen wollen. Julius Cäsar, Zeuge und Beobachter dieses seltsamen Exodus, ist über diese Auswanderung beunruhigt, denn sie entvölkert die Grenze zum Rhein. Da er sie nicht zur Rückkehr bewegen kann, greifen seine Truppen bei Bibracte die Helvetier an. Die Schlacht dauert drei Tage: ein einziges Gemetzel auf beiden Seiten. Die Helvetier lassen die Hälfte der Ihren auf dem Schlachtfeld und kehren mit hängenden Ohren in ihre Heimat zurück. In seinem De bello Gallico stellt sich Cäsar die Frage über die Gründe dieser selbstmörderischen Auswanderung und meint, ohne selbst wirklich daran zu glauben, dieser Drang nach Süden [dt. im Orig.] sei auf den Druck der Sueben zurückzuführen, die sich kurz zuvor in der Bodenseeregion niedergelassen hatten. Er irrt sich: Die Sueben sind keineswegs so wetterwendisch wie die Helvetier und denken nicht im Traum daran, die wunderbare Gegend zu verlassen. Sechshundert Jahre später begegnen sich dort der heilige Gallus und der heilige Columban und schmeissen mit Vergnügen die verehrtesten Götzen ins Wasser, um sich dann, im Steinhagel und von Buhrufen begleitet, aus dem Staub zu machen, der eine, um die Abtei zu gründen, die seinen Namen trägt, der andere diejenige von Bobbio in Emilien. Von wegen eine »vernünftige« Schweiz!

Im 15. Jahrhundert und Anfang des 16. Jahrhunderts, nachdem sich zuerst die Schweiz der acht, dann der dreizehn Kantone konstituiert und sich entgegen fast allen Gesetzen erweiterte, die üblicherweise die Entstehung eines Staates regeln: vom Berg zur Ebene also, von der Armut zum Reichtum, von der bäuerlichen Einfachheit zur bürgerlichen Kultur und vom Dorf zur Stadt, wird die Eidgenossenschaft laut Claude Frochaux in eine neue Epoche eines erobernden Nomadismus treten. Diese umgekehrte politische Genese mag seltsam erscheinen: Ich habe in der Weltgeschichte nur zwei ähnliche Beispiele gefunden: das Makedonien von Philipp II., dem Vater Alexanders des Grossen, und das, was René Grousset in L’Empire des steppes als mongolischen Heizkessel der Hölle bezeichnet hat. Dieser überhitzte, von den Flüssen Orkon und Kerulen umgrenzte, von der Welt abgeschnittene Heizkessel explodiert. Reiterhorden überfallen Chinas Norden und verwüsten das Land, sie übernehmen die Macht im Reich des Himmels und gründen Dynastien wie die der Yuan im 13. Jahrhundert.

Auch in der bergigen Schweiz läuft der alpine Heizkessel über, und der brodelnde Schaum breitet sich weit bis nach Schwaben, bis ins Burgund, ins Elsass und in die Lombardei aus.

Die oft nur kurzen Überfälle scheinen nicht das Resultat einer abgestimmten Strategie zu sein; sie gleichen vielmehr den »Razzien« kriegerischer Hirten, den wilden Ausflügen von Berglern, die von einer Art alpinem »Spleen« befallen worden sind. Einmal stehen sie vor den Mauern einer Stadt, die bereit ist, sich zu ergeben; am nächsten Tag sind sie verschwunden (!?!), obwohl sie bloss den Marktplatz hätten zu umzingeln brauchen. Was ist passiert? Nun, die Jahreszeit rückt vor, das Heu muss eingebracht werden, die Färsen werden bald kalben: Sie kehren also im Eilmarsch in ihre Berge zurück. Diese Schweizer, halb Eroberer, halb Bauern, befinden sich tatsächlich in einer schizophrenen Situation. Eines schönen Morgens bewaffnet man sich mir nichts, dir nichts, steigt zu Tale, als müsste man um jeden Preis einer erdrückenden Vertikale entfliehen und die Luft der Ebene atmen, doch eine Schwade Heimweh genügt, und man kehrt nach Hause zurück. Ein Hin und Her, das im übrigen die Chronisten aus dem Konzept bringt, und selbst der listige Kardinal Schiner ist am Ende seines hervorragenden Lateins.

Für einige Zeitzeugen sind diese Schweizer Krieger die unberechenbarsten Gegner und die launenhaftesten, denen man auf dem europäischen Kriegsschauplatz begegnet. Sie sind stur vor Hochmut und halten sich nicht an die paar wenigen auf den Schlachtfeldern herrschenden Gesetze. Bei der Niederlage Karls des Kühnen in Murten wurden abgesandte Adelige aus seinem Gefolge, die über ein Lösegeld verhandeln wollten, kurzerhand abgeschlachtet wie Ochsen. Und in den Augen des venezianischen Condottiere Panigarola, der an der Schlacht teilgenommen und es für ratsamer gehalten hatte, die Seite zu wechseln, um es nicht mit diesen blutrünstigen Grobianen zu tun zu haben, sind die Schweizer die ungehobeltsten Feinde überhaupt.

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts, nach der Niederlage von Marignano, weichen die kollektiven Saubannerzüge der Schweizer einem individuellen Wandertrieb. Vaganten wie der Walliser Thomas Platter werden zu Humanisten, oder Humanisten wie sein Halblandsmann und Zeitgenosse Paracelsus werden zu Vaganten.

Thomas Platter wird um 1500 in Grächen im Oberwallis geboren. Seine Familie ist angesehen, aber mittellos, so dass der kleine Thomas erleben wird, wie seine Mutter dry kinder selber vergraben, als sy in einer gar grossen pestelentz gestorben waren; dan in der pestelentz mit dem tottengribell vergraben gar vill kostet. Er stirbt 1582 in Basel: als Ehrenbürger der Stadt, Hellenist, Hebraist, Drucker und Freund der Humanisten, Herausgeber der Christianae Religionis Institutio, Calvins »Unterricht in der christlichen Religion«. Sein Sohn Felix studiert Medizin in Montpellier, wird in Basel zum Stadtarzt und Professor an der dortigen Universität und wiederholt zu deren Rektor ernannt. Montaigne wird es sich auf seiner Reise nach Italien nicht nehmen lassen, ihn zu besuchen, und beschreibt dessen Haus als geräumig und prunkvoll (Geranien vor den Fenstern), in französischer Manier auf das bunteste und ornamentenreichste bemalt in einer Stadt, die er übrigens als sehr schön und gastfreundlich lobt.

Am Sterbebett seiner Frau schreibt der siebzigjährige Thomas Platter seine Lebenserinnerungen, eine Autobiographie, die er bescheiden Lebensbeschreibung nennt und die er seinem lieben sun Felix widmet und andren verriempten und glerten menner, die vor ettlich iaren in ir jugent mine discipuli gsin sind. Die lakonische Schilderung seiner unglaublichen Kindheit und Jugend und seines bewegten Lebens ist einer der schönsten Texte der Wanderliteratur, die uns an dieser Stelle beschäftigt.

Thomas Platter ist ein typischer Fall von claustrophobia alpina. Er ist sechs Jahre alt, als seine Mutter ihn in die Obhut seines Onkels gibt, wo er die geiss hietten musst. Er ist klein und schmächtig für sein Alter und besitzt nicht einmal Schuhe. Wenn er die Stalltür aufmacht, überrennen ihn die Ziegen: Hunderte Hufe trampeln über ihn hinweg, so das ich selten gantz zehen gehebt han, sunder bletz drab gestossen, gross schrunden. Und grossen durst, das ich manch mall mier selbs in dhand brintzlet han und das für den durst getrunken. Auf der Alp lebt er in ständiger Angst vor den Bären, den Luchsen, den Adlern, die die Herde angreifen und die Zicklein forttragen. Er fällt zweimal in tiefe Schluchten und rettet sich nur durch ein Wunder, und einmal fällt er in ein kessel heisser milch, die ob dem feur war und wurd dermossen verbrendt, dass die anmäler min lebtag von dir und andren gsechen sindt worden.

Man leidet besser nicht an Höhenangst, wenn man über die Alpen des Oberwallis zieht: wohin man schaut, nur hohe schrofen. Erinnern wir uns, dass im 16. Jahrhundert die Alp ganz und gar nicht das war, was romantische Erschauernde später aus ihr machen werden. Der Berg trennt, igelt ein, rutscht, tötet, gefriert, zerschmettert. Die Gletscher sind nicht erhaben. Für den, der sich hinaufwagt, sind es grusam hohe flu und stotzender graben. Böse Geister hausen im Berg, der Grättig zum Beispiel, der das Vieh in die Abgründe lockt. Und auch ein paar gute Geister wie das Wildmannli, ein kleines androgynes Geschöpf, dessen pralle Brüste immer voll Milch sind, die die Kinder gegen die Höhenangst abhärtet. Der kleine Thomas hat ganz offensichtlich keine Wildmannlimilch getrunken. Obwohl Kardinal Schiner es gern gesehen hätte, wenn uss dem Kind woll als bald ein Priester wird, beschliesst der elfjährige Thomas, dem pfaffen, der mich schier gar nütz lart und aber jämerlich übell schlug, zu entfliehen. Es reicht: Er ist der tiefen Schluchten und der steilen Felsen überdrüssig. Er entscheidet sich für die Landstrasse und für das Flachland und zug mit seinem Vetter Paulus Summermatter, der sich »Student« nennt, zum land uss, folgt ihm barfuss und nur mit einem hembdlin und einem röklin bekleidet bis nach München, Nürnberg, Breslau … Er ist unterwegs oft so hungrig, das ich den hunden bein uff der gassen han abgeiagt, die genaget, item brossmen in der schull uss den kleken gesucht und geessen.

Er zeichnet ein packendes Bild der Landstrassen des frühen 16. Jahrhunderts: ein ständiges Kommen und Gehen von Fürsten mit ihrer Eskorte, von Äbten mit ihrem Kapitel, von Kupplerinnen mit ihren Huren, von Spitzbuben, von Deserteuren, von Zigeunern, von fahrenden Schülern, die sich pompös magistri vagrantes – oder Bacchanten – nennen, aber meist nichts anderes sind als Banden brutaler Taugenichtse, die unter freiem Himmel nächtigen und von einer Schule zur anderen ziehen. Für den Lebensunterhalt müssen die Jüngeren sorgen, die »Schützen«, zu denen auch der kleine Thomas gehörte, die mit Singen und Betteln und Stehlen Geld und Nahrung auftreiben, sich von ausgegrabenen Rüben ernähren und die Hühnerställe plündern. Wenn die Bauern sie in der Ferne auftauchen sehen, binden sie die Hunde los, packen die Heugabel oder die Armbrust, und wenn sie einen erwischen, bringen sie ihn um. Die Maréchaussée schert sich keinen Deut um Ruhe und Ordnung. All diese Studenten studieren nichts, weil es nichts zu studieren gibt: Die katholische Kirche steht an einem Wendepunkt und nimmt ihre erzieherische Rolle nicht mehr wahr, die sie im Mittelalter meisterlich erfüllt hatte. An der Schull zu S. Elizabeth in Breslau wird der kleine Thomas Flöhe und Wanzen zu Tausenden antreffen, aber kein truckte biecher, alein der praeceptor hat ein trukten Terentium. Thomas entkommt zweimal seinem tyrannischen Vetter, der ihn verprügelt und verhungern lässt: Einmal kommt er bei einer Metzgerin in München unter, ein andermal bei einer frommen Witwe, einer Sattlerin, in Ulm, die ihm die fiess in ein warmen beltz bletz gewigglet hat. In den acht Jahren dieses Schelmenlebens lernt er weder lesen noch schreiben. In Schlettstadt im Elsass bringt ihm Johannes Sapidus schliesslich das Lesen bei. Lernen! Das ist Platters Leitspruch: Von nun an wird er lernen! Er muss lernen, weil er verstehen will! Acht auf den gesetzlosen Landstrassen verbrachte Jahre. Er hat zuviel erlebt: eisige Nächte, Galgen, Siechenhäuser, Hurenhäuser. In Zürich, wo er sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hält, wird er sozusagen ganz allein Latein, Griechisch, Hebräisch lernen. Eine einzige Predigt Zwinglis reicht, um ihn zur Reformation zu bekehren. Auf dessen Rat wird er den Seilerberuf ergreifen, den er später in Basel ausüben und dabei seine Arbeitsgefährten in Griechisch und Latein unterrichten wird – im Sommer unter einer Linde, im Winter in einer Gaststube, wo er sich, die Hände noch blutig von der harten Tagesarbeit, mit seinem umgebundenen Lederschurz am Kachelofen den Rücken wärmt. Zum grossen Verdruss der Universität, deren Professoren heimlich bei ihm Hebräischunterricht nehmen. Der Ruf dieses nicht standesgemässen Unterrichts verbreitet sich schnell: Margarete von Navarra lädt ihn an ihren Hof ein; der Herzog von Mailand schickt einen Beobachter in seinen Unterricht. Thomas Platter zwirnt seine Seile und nagt nach wie vor am Hungertuch. Mit fünfundfünfzig wird er Drucker: Er hat genug gelernt, um die Werke der Humanisten, seiner späteren Freunde, korrekt zu lesen und zu setzen. Ein harter Beruf damals: Die Termine der Frankfurter Buchmesse (bereits!) versetzen die Drucker in Panik. Die Faktoren arbeiten Tag und Nacht, betrinken sich mit billigem Schnaps, prügeln sich manchmal mit den schweren Druckstöcken sogar zu Tode. Dank seiner Sachkenntnis und seiner Hartnäckigkeit erwirbt Thomas Platter ein Vermögen. Ein paar Jahre vor seinem Tod ist er ein Mann.

Seine Autobiographie, die er keineswegs als »literarisches Werk« verstand, ist dank ihrer Nüchternheit ein aussergewöhnliches Zeitdokument über die Grausamkeit, aber auch über die Inbrunst des gnadenlosen 16. Jahrhunderts. Die Gewalt ist allgegenwärtig; die Seuchen ebenfalls. Vor dem Hintergrund tragischer Missgeschicke zeichnet Thomas Platter ein wunderbares Bild der Frau. Diese Frauen sind keine Mütter: Platters Mutter hat ihm ihre Liebe nie gezeigt; als er nach fünf Jahren wyt umbeinander getzogen in ferren landen in sein Dorf zurückkehrt, ist das erste, was sie zu ihm sagt: »Hatt dich der tüfel aber zuher getragen?« Die Frau ist auch nicht die Liebesgöttin wie bei Ronsard oder Brantôme: Platters Leben war zu hart, um Eros die Zeit und den Platz einzuräumen, die ihm zustehen. Die Frauengestalten, die seine Erinnerungen bevölkern, sind Beispiele an Mut und Erbarmen. Man findet sie am Bett der sterbenden Pestkranken, die, aus Angst vor der Ansteckung, von allen, auch von der Kirche, verlassen sind. Man sieht diese Frauen unter Lebensgefahr über die verschneiten Alpenpässe wandern. Ein Lob, das über dem Geschlecht und der Anziehungskraft steht und das man auch in den wunderbaren Seiten findet, die Michelet den französischen Reformierten der Religionskriege widmet. Ein anderer Aspekt von Platters Lebensbericht, der uns im Zusammenhang mit dem Schweizer Wandertrieb interessiert: Überall, vom Rhein bis zur Nordsee, begegnet er Schweizern, die übrigens in den deutschen Landen äusserst beliebt sind. Die stämmigen Eidgenossen lassen die gekrönten Häupter erzittern. Als sich in Breslau die Nachricht von der Niederlage der Schweizer bei Marignano verbreitet, berichtet Platter, dass man gross mittliden hat mit den Schwitzeren, das sy eben zu der zyt in der grossen Meilander schlacht übell gelitten hatten, das der gmein man sagt: »Jetzt hand die Schwitzer ir best pater noster verloren« (dan vorhin meint man, sy werin schier unüberwintlich).

Das Elend, die Gewalt auf der Landstrasse sind es, die aus Platter einen Humanisten machen, einen Verleger, einen Schriftsteller: ein Wissen, das ihm erlaubt, die Erfahrung zu entziffern.

Sein Zeitgenosse und Landsmann Paracelsus geht genau den entgegengesetzten Weg.

Paracelsus, Arzt, Phytologe, Alchemist, Chemiker, Kabbalist, ist neben Vesalius und Ambroise Paré die grösste medizinische Kapazität seiner Zeit. Und bei weitem die umstrittenste! Und bei weitem die faszinierendste! Platter, der ihm 1528 bei dessen Aufenthalt in Basel hätte begegnen können, erwähnt ihn nicht. Schade! Sie hätten sich zweifellos verstanden: der eine wie der andere vom Verlangen nach Wissen erfüllt.

    imago mundiParagrani alterius, Traact. I, De Philosophia,