Peter Tremayne ist das Pseudonym eines anerkannten Historikers, der sich auf die versunkene Kultur der Kelten spezialisiert hat. In seinen im 7. Jahrhundert spielenden historischen Romanen löst Schwester Fidelma, eine irische Nonne von königlichem Geblüt und gleichzeitig Anwältin bei Gericht, auf kluge und selbstbewusste Art die schwierigsten Fälle. Wegen des großen internationalen Erfolgs seiner Serie um Schwester Fidelma wurde Peter Tremayne 2002 zum Ehrenmitglied der Irish Literary Society auf Lebenszeit ernannt. 2007 erhielt er den Preis für die beste Krimiserie des französischen Verlags Univers Poche.
Im Aufbau Verlag erschienen bisher Die Tote im Klosterbrunnen (2000), Tod im Skriptorium (2001), Der Tote am Steinkreuz (2001), Tod in der Königsburg (2002), Tod auf dem Pilgerschiff (2002), Nur der Tod bringt Vergebung (2002), Ein Totenhemd für den Erzbischof (2003), Vor dem Tod sind alle gleich (2003), Das Kloster der toten Seelen (2004), Verneig dich vor dem Tod (2005), Tod bei Vollmond (2005), Tod im Tal der Heiden (2006), Der Tod soll auf euch kommen (2006), Ein Gebet für die Verdammten (2007), Tod vor der Morgenmesse (2007), Das Flüstern der verlorenen Seelen (2007), Tod den alten Göttern (2008), Das Konzil der Verdammten (2008), Der falsche Apostel (2009), Eine Taube bringt den Tod (2010), Der Blutkelch (2011) und Die Todesfee (2011).
Schwester Fidelma ist ins Reich des Königs von Laigin geeilt, um Bruder Eadulf, ihrem engsten Freund und Vertrauten zu helfen, der dort unter Mordverdacht steht. Schon am nächsten Morgen soll er gehängt werden. Fidelma, fest von seiner Unschuld überzeugt, versucht erst einmal, Berufung gegen das offenbar vorschnell ausgesprochene Todesurteil einzulegen. Doch die Mächtigen in der Stadt und der großen Abtei haben viel zu verbergen und scheinen größeres Interesse an Eadulfs Tod als an der Wahrheit zu haben. Ein Fall, bei dem es für Fidelma um alles oder nichts geht.
»Eine der interessantesten Detektivinnen der letzten Jahre.« Ellery Queen Mystery Magazin
Brilliant gestalteter Hintergrund … Wunderbar assoziativ.« The Times
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Vor dem Tod sind alle gleich
Historischer Kriminalroman
Aus dem Englischen von Friedrich Baadke
Inhaltsübersicht
Über Peter Tremayne
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Historische Anmerkung
Hauptpersonen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Impressum
Für Michael Thomas, meinen literarischen Agenten,
Mentor und Freund, der mich die ersten dreißig Jahre
meiner professionellen Schriftstellerei hindurch geführt hat.
Die Finsternis bringt eher unsere Ängste ans Licht,
als daß sie sie zerstreut.
Lucius Annaeus Seneca d. J.
(um 4 v. Chr. – 65 n. Chr.)
Die Kriminalromane um Schwester Fidelma spielen hauptsächlich in Irland um die Mitte des siebenten Jahrhunderts.
Schwester Fidelma ist nicht nur eine Nonne, die früher der Gemeinschaft der heiligen Brigitta von Kildare angehörte. Sie ist auch eine anerkannte dálaigh, eine Anwältin bei Gericht, im alten Irland. Da dieser Hintergrund nicht allen Lesern vertraut sein mag, soll diese historische Anmerkung einige wesentliche Punkte erläutern und damit zu einem besseren Verständnis der Geschichten beitragen.
Zu Fidelmas Zeiten bestand Irland aus fünf Hauptprovinzen, in denen Könige herrschten. Selbst das heutige irische Wort für Provinz lautet cúige, wörtlich: ein Fünftel. Vier dieser Provinzkönige – von Ulaidh (Ulster), von Connacht, von Muman (Munster) und von Laigin (Leinster) – erkannten mit Einschränkungen die Oberhoheit des Ard Rí oder Großkönigs an, der in Tara residierte, in der »königlichen« fünften Provinz von Midhe (Meath), deren Name »mittlere Provinz« bedeutet. Innerhalb dieser Provinzkönigreiche gab es eine Aufteilung der Macht unter Kleinkönigreichen und Stammesgebieten.
In diesem Band finden sich Rückbezüge auf den Streit zwischen Muman und Laigin um das im Grenzgebiet gelegene Unterkönigtum Osraige (Ossory), über das beide die Oberhoheit beanspruchten. Dieser Konflikt wird in dem Fidelma-Roman »Tod im Skriptorium« näher beschrieben.
Die Primogenitur, das Erbrecht des ältesten Sohnes oder der ältesten Tochter, war in Irland unbekannt. Das Königtum vom geringsten Stammesfürsten bis zum Großkönig war nur zum Teil erblich und überwiegend ein Wahlamt. Jeder Herrscher mußte sich seiner Stellung würdig erweisen und wurde von den derbfhine seiner Sippe gewählt, von der mindestens drei Generationen versammelt sein mußten. Wenn ein Herrscher nicht dem Wohl seines Volkes diente, wurde er angeklagt und abgesetzt. Deshalb ähnelte das monarchische System des alten Irlands mehr einer heutigen Republik als den feudalen Monarchien, die sich im Mittelalter in Europa entwickelt hatten.
Im Irland des siebenten Jahrhunderts gab es ein wohldurchdachtes Rechtssystem, das das Gesetz der Fénechus, der Landbebauer, genannt wurde, doch besser bekannt ist als das Gesetz der Brehons, abgeleitet von dem Wort breitheamh für Richter. Nach der Überlieferung wurden diese Gesetze zum erstenmal im Jahre 714 v. Chr. auf Befehl des Großkönigs Ollamh Fódhla zusammengefaßt. Über tausend Jahre später, im Jahre 438 n. Chr., berief der Großkönig Laoghaire eine Kommission von neun Gelehrten, die die Gesetze prüfen, überarbeiten und in die neue lateinische Schrift übertragen sollte. Dieser Kommission gehörte auch Patrick an, der später zum Schutzheiligen Irlands wurde. Nach drei Jahren legte die Kommission den geschriebenen Gesetzestext vor, die erste bekannte Kodifizierung.
Die ältesten vollständig erhaltenen Texte der alten Gesetze Irlands finden sich in einem Manuskript aus dem elften Jahrhundert in der Royal Irish Academy in Dublin. Erst im siebzehnten Jahrhundert gelang es der englischen Kolonialverwaltung in Irland schließlich, die Anwendung der Gesetze der Brehons zu unterdrücken. Selbst der Besitz eines Gesetzbuches wurde bestraft, oft mit dem Tode oder der Deportation.
Das Rechtssystem war nicht statisch. Alle drei Jahre kamen die Rechtsgelehrten und Richter beim Féis Teamhrach (Fest von Tara) zusammen und prüften und verbesserten die Gesetze entsprechend der sich verändernden Gesellschaft und ihrer Bedürfnisse.
Diese Gesetze wiesen der Frau eine einzigartige Stellung zu. Die irischen Gesetze gaben den Frauen mehr Rechte und größeren Schutz als irgendein anderes westliches Gesetzeswerk jener Zeit oder bis in die jüngste Vergangenheit. Frauen konnten sich gleichberechtigt mit den Männern um jedes Amt bewerben und jeden Beruf ergreifen, und sie taten es auch. Sie konnten politische Führer werden, Krieger in Schlachten befehligen, Ärzte, Friedensrichter, Dichter, Handwerker, Anwälte und Richter werden. Wir kennen die Namen vieler Richterinnen aus Fidelmas Zeit: Bríg Briugaid, Áine Ingine Iugaire, Darí und viele andere. Darí zum Beispiel war nicht nur Richterin, sondern verfaßte auch einen berühmten Gesetzestext, der im sechsten Jahrhundert aufgezeichnet wurde.
Die Gesetze schützten die Frauen vor sexueller Belästigung, vor Diskriminierung und vor Vergewaltigung. Sie konnten sich auf gleichem Rechtsfuß gesetzlich von ihren Ehemännern scheiden lassen und dabei einen Teil des Vermögens des Mannes als Abfindung verlangen. Sie konnten persönliches Eigentum erben und hatten Anspruch auf Krankengeld, wenn sie zu Hause lagen oder im Krankenhaus. (Im alten Irland gab es die ersten Krankenhäuser, die in Europa bekannt sind.) Aus heutiger Sicht schufen die Gesetze der Brehons fast ideale Bedingungen für die Frauen.
Diesen Hintergrund und seinen starken Gegensatz zu den Nachbarländern Irlands sollte man sich vor Augen halten, um Fidelmas Rolle in den einzelnen Romanen zu verstehen.
Fidelma wurde im Jahre 636 in Cashel geboren, der Hauptstadt des Königreichs Muman (Munster) im Südwesten Irlands. Sie war die jüngste Tochter des Königs Faílbe Fland, der ein Jahr nach ihrer Geburt starb. Sie wuchs unter der Aufsicht eines entfernten Vetters auf, des Abts Laisran von Durrow. Als sie mit vierzehn Jahren das »Alter der Wahl« erreichte, das bei Frauen als das Alter der Reife galt, ging sie wie viele irische Mädchen zum Studium an die weltliche Hochschule des Brehon Morann von Tara. Nach acht Jahren Studium erlangte Fidelma den Grad eines anruth, den zweithöchsten, den die weltlichen oder kirchlichen Hochschulen des alten Irland zu vergeben hatten. Der höchste Grad hieß ollamh, und das ist noch heute das irische Wort für Professor. Fidelma hatte die Rechte studiert, sowohl das Strafrecht Senchus Mór als auch das Zivilrecht Leabhar Acaill. Damit wurde sie dálaigh, Anwältin bei Gericht.
Ihre Rolle ähnelte der eines modernen Untersuchungsrichters, der unabhängig von der Polizei die Beweislage prüft und feststellt, ob eine Anklage zu erheben ist. Gelegentlich konnte sie aber auch vor Gericht als Vertreterin der Anklage oder, wie in diesem Fall, der Verteidigung tätig werden. In Fällen von geringerer Bedeutung konnte sie sogar, falls kein Brehon zur Verfügung stand, selbst das Urteil sprechen.
Zu jener Zeit gehörten die meisten Vertreter der geistigen Berufe den neuen christlichen Klöstern an, so wie in den Jahrhunderten davor alle Vertreter der geistigen Berufe Druiden waren. Fidelma trat in die geistliche Gemeinschaft in Kildare ein, die im späten fünften Jahrhundert von der heiligen Brigitta gegründet worden war. Zum Zeitpunkt der Handlung dieser Geschichte hatte Fidelma jedoch Kildare bereits enttäuscht verlassen. Die Gründe dafür sind in der Kurzgeschichte »Hemlock at Vespers« beschrieben worden.
Während das siebente Jahrhundert in Europa zum »finsteren Mittelalter« gezählt wird, gilt es in Irland als ein Zeitalter der »goldenen Aufklärung«. Aus allen Ländern Europas strömten Studierende an die irischen Hochschulen, um sich dort ausbilden zu lassen, unter ihnen auch die Söhne vieler angelsächsischer Könige. An der großen kirchlichen Hochschule in Durrow sind zu dieser Zeit Studenten aus nicht weniger als achtzehn Nationen verzeichnet. Zur selben Zeit brachen männliche und weibliche Missionare aus Irland auf, um das heidnische Europa zum Christentum zu bekehren. Sie gründeten Kirchen, Klöster und Zentren der Gelehrsamkeit bis nach Kiew in der Ukraine im Osten, den Färöer-Inseln im Norden und Tarent in Süditalien im Süden. Irland war der Inbegriff von Bildung und Wissenschaft.
Die keltische Kirche Irlands lag jedoch in einem ständigen Streit über Fragen der Liturgie und der Riten mit der Kirche in Rom. Die römische Kirche hatte sich im vierten Jahrhundert reformiert, die Festlegung des Osterfests und Teile ihrer Liturgie geändert. Die keltische Kirche und die orthodoxe Kirche des Ostens weigerten sich, Rom hierin zu folgen. Die keltische Kirche wurde schließlich zwischen dem neunten und dem elften Jahrhundert von der römischen Kirche aufgesogen, während die orthodoxe Ostkirche bis heute von Rom unabhängig geblieben ist. Zu Fidelmas Zeit wurde die keltische Kirche Irlands von dieser Auseinandersetzung stark beansprucht, weshalb man unmöglich über kirchliche Fragen der Zeit schreiben kann, ohne auf den weltanschaulichen Konflikt zwischen ihnen einzugehen.
Eins hatten die keltische und die römische Kirche im siebenten Jahrhundert gemeinsam: Das Zölibat war nicht allgemein üblich. Es gab zwar in den Kirchen immer Asketen, die die körperliche Liebe zur Verehrung der Gottheit vergeistigten, doch erst auf dem Konzil von Nicäa im Jahre 325 wurden Heiraten von Geistlichen verurteilt, aber nicht verboten. Das Zölibat in der römischen Kirche leitete sich hauptsächlich von den Bräuchen der heidnischen Priesterinnen der Vesta und der Priester der Diana her.
Im fünften Jahrhundert hatte Rom den Geistlichen im Range eines Abts oder Bischofs untersagt, mit ihren Ehefrauen zu schlafen, und bald danach die Heirat gänzlich verboten. Den niederen Geistlichen riet Rom von der Heirat ab, verbot sie ihnen aber nicht. Erst der Reformpapst Leo IX. (1049–1054) unternahm ernsthaft den Versuch, den Klerikern der westlichen Länder das allgemeine Zölibat aufzuzwingen. Es dauerte Jahrhunderte, bis die keltische Kirche ihren Widerstand gegen das Zölibat aufgab und sich Rom anschloß, während in der östlichen orthodoxen Kirche die Priester unterhalb des Ranges von Abt und Bischof bis heute das Recht auf Heirat besitzen.
Das Wissen um die freie Einstellung der keltischen Kirche zu geschlechtlichen Beziehungen ist wesentlich für das Verständnis des Hintergrunds der Fidelma-Geschichten.
Die Verurteilung der »Sünde des Fleisches« blieb der keltischen Kirche noch lange fremd, nachdem sie in der römischen bereits zum Dogma geworden war. Zu Fidelmas Zeit lebten beide Geschlechter in Abteien und Klöstern zusammen, die als conhospitae oder Doppelhäuser bekannt waren, und erzogen ihre Kinder im Dienste Christi.
Fidelmas eigenes Kloster der heiligen Brigitta in Kildare war solch eine Gemeinschaft beider Geschlechter. Als Brigitta sie in Kildare (Cill-Dara = die Kirche der Eichen) gründete, lud sie einen Bischof namens Conláed ein, sich mit ihr zusammenzutun. Ihre erste Biographie wurde 650, fünfzig Jahre nach ihrem Tode, von einem Mönch in Kildare mit Namen Cogitosus geschrieben, der keinen Zweifel daran läßt, daß es auch zu seiner Zeit eine gemischte Gemeinschaft war.
Zum Beweis für die gleichberechtigte Stellung der Frauen wäre noch darauf hinzuweisen, daß in der keltischen Kirche jener Zeit Frauen auch Priester werden konnten. Brigitta selbst wurde von Patricks Neffen Mel zur Bischöfin geweiht, und sie war nicht die einzige. Rom protestierte im sechsten Jahrhundert schriftlich gegen die keltische Praxis, Frauen die heilige Messe zelebrieren zu lassen.
Im Gegensatz zur römischen Kirche gab es in der irischen Kirche nicht die Einrichtung der »Beichtväter«, bei der »Sünden« den Geistlichen gebeichtet wurden, die dann die Vollmacht hatten, diese Sünden in Christi Namen zu vergeben. Statt dessen wählte man einen »Seelenfreund« (anam chara) unter Klerikern oder Laien, mit dem man Fragen seines emotionalen oder geistigen Heils besprach.
Damit sich der Leser mit den Namen besser zurechtfindet, habe ich eine Liste der Hauptpersonen beigefügt.
Im allgemeinen habe ich es aus naheliegenden Gründen abgelehnt, anachronistische Ortsnamen zu verwenden, habe jedoch einige wenige moderne Bezeichnungen übernommen wie Tara statt Teamhair, Cashel an Stelle von Caiseal Muman und Armagh für Ard Macha. Hingegen bin ich bei dem Namen Muman geblieben und habe nicht die Form »Munster« vorweggenommen, bei der im neunten Jahrhundert das nordische »stadr« (Ort) an den irischen Namen Muman angehängt und die dann anglisiert wurde. Ähnlich habe ich das ursprüngliche Laigin beibehalten statt der anglisierten Form Leinster, die aus dem nordischen Laigin-stadr hervorging. Der leichteren Lesbarkeit halber habe ich Fearna Mhór (der große Ort der Erlen), die Hauptstadt der Könige von Laigin zu jener Zeit, zu Fearna verkürzt, da es jetzt zu Ferns in der Grafschaft Wexford anglisiert worden ist.
Dieser Roman behandelt auch den Konflikt zwischen dem heimischen Gesetz der Brehons und dem anderen Rechtssystem, das die Geistlichen, die für die römischen Reformen waren, um diese Zeit in Irland einführen wollten; es wurde das System der Bußgesetze genannt. Diese Bußgesetze waren ursprünglich Regeln für die religiösen Gemeinschaften und leiteten sich hauptsächlich von den griechisch-römischen christlichen Kulturbegriffen her. Nach ihnen sollte man sein Leben ausrichten. Man versuchte sie jedoch auch auf die Gemeinden auszudehnen, die im Schatten der großen Abteien entstanden waren; das hing von den Persönlichkeiten der Äbte und Äbtissinnen ab.
Die Bußgesetze entwickelten sich oft zu einem strengen System von Regeln und Strafen, die auch Körperstrafen für Vergehen vorsahen. Sie stellten eher ein System der Rache dar als ein System von Schadenersatz und Rehabilitation, wie es die Grundlage der Gesetze der Brehons bildete. Als in vielen Gegenden Irlands die römische Form des Christentums in den religiösen und städtischen Zentren Fuß faßte, verdrängten die Bußgesetze zunehmend die Vorschriften der Brehons. Im späteren Mittelalter waren Hinrichtungen, Verstümmelungen und Auspeitschungen als Mittel der Bestrafung in Irland ebenso verbreitet wie im übrigen Europa. Doch zu Fidelmas Zeit war es noch nicht so, und solche Vorstellungen empörten die Anhänger des Systems der Brehons, wie der Leser nun feststellen wird.
Schwester Fidelma von Cashel, eine dálaigh oder Anwältin bei Gericht im Irland des siebenten Jahrhunderts
Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham, ein angelsächsischer Mönch aus dem Lande des Südvolks
Dego, ein Krieger von Cashel
Enda, ein Krieger von Cashel
Aidan, ein Krieger von Cashel
Morca, ein Gastwirt in Laigin
Äbtissin Fainder, Äbtissin von Fearna
Abt Noé, anam chara (»Seelenfreund«) des Königs Fianamail
Bruder Cett, ein Mönch von Fearna
Bruder Ibar, ein Mönch von Fearna
Bischof Forbassach, Brehon von Laigin
Mel, Hauptmann der Wache in Fearna
Fianamail, König von Laigin
Lassar, Besitzerin des Gasthauses zum Gelben Berg, die Schwester Mels
Schwester Étromma, rechtaire oder Verwalterin der Abtei Fearna
Gormgilla, ein Opfer
Fial, ihre Freundin
Bruder Miach, Arzt der Abtei Fearna
Gabrán, Kapitän eines Flußschiffes und Händler
Coba, ein bó-aire oder Friedensrichter, Fürst von Cam Eolaing
Deog, die Witwe Daigs, des früheren Hauptmanns der Wache in Fearna
Dau, ein Krieger in Cam Eolaing
Dalbach, ein blinder Einsiedler
Muirecht, ein junges Mädchen
Conna, ein junges Mädchen
Bruder Martan von der Kirche der heiligen Brigitta
Barrán, Oberrichter der fünf Königreiche
Die Pferde trabten den in Dunkelheit gehüllten Bergpfad entlang. Es waren vier, und sie schnaubten und keuchten, wenn ihre Reiter sie antrieben. Die Gruppe der Reisenden bestand aus drei Männern und einer Frau. Die Männer trugen die Tracht und die Waffen von Kriegern, doch die Frau unterschied sich nicht nur durch ihr Geschlecht von ihnen, sondern auch dadurch, daß sie in die Kutte einer Nonne gekleidet war. Die Abenddämmerung verbarg ihre Gesichter, aber der Zustand ihrer Pferde und ihre müde Haltung im Sattel verrieten, daß die vier an dem Tage schon viele Kilometer zurückgelegt hatten.
»Bist du sicher, daß dies der richtige Weg ist?« fragte die Frau und warf einen besorgten Blick auf die Wälder ringsum, durch die sie ritten. Der Pfad über den Berg senkte sich immer steiler ins Tal. Unter ihnen war gerade noch eine breite Lichtung mit einem recht großen Fluß zu erkennen.
Der staubbedeckte junge Reiter an der Spitze gab die Antwort.
»Ich bin schon oft als Kurier von Cashel nach Fearna geritten, Lady, und kenne diesen Weg gut. Ungefähr einen Kilometer weiter kommen wir an eine Stelle, wo ein anderer Fluß aus dem Westen in den Fluß da vor uns einmündet. Dort steht Morcas Gasthaus, und da können wir übernachten.«
»Aber es geht um jede Stunde, Dego«, erwiderte die Frau. »Können wir es nicht heute noch bis Fearna schaffen?«
Der Krieger zögerte mit der Antwort. Wahrscheinlich überlegte er, wie er seine Ablehnung respektvoll formulieren sollte.
»Lady, ich habe deinem Bruder, dem König, versprochen, daß ich und meine Kameraden für deine Sicherheit auf dieser Fahrt sorgen. Ich würde davon abraten, in dieser Gegend nachts zu reisen. Auf Leute wie uns lauern hier viele Gefahren. Wenn wir im Gasthaus bleiben und morgen früh aufbrechen, können wir die Burg des Königs von Laigin lange vor dem Mittag erreichen. Auch kommen wir ausgeruht an und nicht übermüdet von einem nächtlichen Ritt.«
Die hochgewachsene Nonne schwieg, und Dego nahm das als Zustimmung.
Dego gehörte der Kriegergarde Colgús, des Königs von Muman, an und war vom König selbst damit beauftragt, dessen Schwester, Fidelma von Cashel, nach Fearna zu geleiten, der Hauptstadt des Königreichs Laigin, das an Colgús Reich angrenzte. Er hatte nicht viel zu fragen brauchen, weshalb Fidelma diese Reise antrat, denn die Neuigkeit hatte sich im ganzen Palast von Cashel verbreitet.
Fidelma war von einer Pilgerfahrt zum Grab des heiligen Jakobus zurückgekehrt, die sie auf die Nachricht hin abgebrochen hatte, daß Bruder Eadulf, der angelsächsische Gesandte Erzbischof Theodors von Canterbury in Cashel, des Mordes bezichtigt wurde. Die Einzelheiten waren noch unklar, doch das Gerücht verlautete, Bruder Eadulf sei auf der Rückreise nach Canterbury, das im Lande der Angelsachsen weiter östlich lag, auf dem Wege durch das Königreich Laigin gefangengenommen und beschuldigt worden, jemanden umgebracht zu haben. Genaueres wußte man nicht.
Sehr gut wußten die Leute in Cashel, daß Bruder Eadulf im Laufe des letzten Jahres nicht nur ein Freund König Colgús, sondern auch ein ständiger Begleiter von dessen Schwester Fidelma geworden war. Es hieß, Fidelma habe sich entschlossen, die Reise nach Laigin zu unternehmen, um ihren Freund zu verteidigen, denn sie war nicht einfach eine Nonne, sondern auch eine dálaigh, eine Anwältin an den Gerichten der fünf Königreiche.
Gerücht hin oder her, Dego wußte, daß Fidelma mit einem Pilgerschiff in Ardmore gelandet und eilig nach Cashel geritten war, kaum eine Stunde mit ihrem Bruder verbracht hatte und dann nach Fearna, der Hauptstadt von Laigin, aufgebrochen war, wo Eadulf gefangengehalten wurde. Dego und seine Kameraden hatten sogar Mühe, mit der finster entschlossenen Fidelma mitzuhalten, die anscheinend besser reiten konnte als sie alle.
Unsicher schaute Dego sie an. In ihren blaugrünen Augen funkelte etwas, was jedem nichts Gutes verhieß, der ihren Willen durchkreuzen wollte. Er war sicher, daß sein Rat den besten Weg wies, aber er wollte Fidelma auch verständlich machen, weshalb er ihn gab. Er wußte nur zu gut, daß es ihr darauf ankam, die Hauptstadt von Laigin so schnell wie möglich zu erreichen.
»Es herrscht Feindschaft zwischen Cashel und Fearna, Lady«, gab er zu bedenken. »An der Grenze von Osraige wird noch gekämpft. Sollten wir auf umherstreifende Kriegertrupps aus Laigin stoßen, könnte es passieren, daß sie die Unverletzlichkeit deines Amtes nicht respektieren.«
Fidelmas ernste Miene lockerte sich einen Moment.
»Ich kenne die Lage, Dego. Dein Rat ist klug.«
Mehr sagte sie nicht. Dego öffnete den Mund, doch ein Blick in ihr Gesicht belehrte ihn, daß jedes weitere Wort überflüssig war und sie verärgern könnte.
Schließlich wußte niemand besser als Fidelma, wie es sich mit dem Streit zwischen Cashel und Fearna verhielt. Sie war schon einmal mit dem leicht erregbaren jungen König Fianamail von Laigin aneinandergeraten. Fianamail war sicherlich kein Freund von Cashel, und jetzt hegte er noch einen besonderen Groll gegen Fidelma.
Deshalb bewunderte Dego den Mut seiner Herrin, weil sie sofort ihrem angelsächsischen Freund zu Hilfe eilte und geradewegs ins Land ihres Feindes ritt. Nur die Tatsache, daß sie eine dálaigh bei Gericht war, erlaubte es ihr, sich so frei und ungehindert zu bewegen. Niemand in den fünf Königreichen würde es wagen, Hand an sie zu legen, denn darauf stand eine furchtbare Strafe: Verlust des Sühnepreises, unwiderrufliche Ausstoßung aus der Gesellschaft und Verlust allen Rechtsschutzes. Kein gesetzestreuer Mensch würde sich wissentlich an einer dálaigh bei Gericht vergreifen, noch dazu an einer wie Fidelma, die vom Großkönig Sechnassach selbst geehrt worden war. Die Würde einer dálaigh bei Gericht gewährte größeren Schutz als ihr Stand als Schwester des Königs von Muman oder gar der als Nonne im Dienste Christi.
Aber es waren nicht die gesetzestreuen Leute, die Dego Sorgen bereiteten. Er wußte, daß König Fianamail und seine Berater verschlagen und hinterhältig sein konnten. Es wäre so leicht, Fidelma töten zu lassen und dann zu schwören, daß herumziehende Geächtete die Tat begangen hätten. Deshalb hatte Colgú seine drei besten Krieger ausgesucht und sie gebeten, seine Schwester nach Laigin zu begleiten. Er erteilte ihnen nicht den Befehl dazu, denn sie wären in ebenso großer Gefahr wie sie, wenngleich er jedem von ihnen einen Amtsstab mitgab zum Zeichen, daß sie als seine Abgesandten den Schutz des Botschaftsrechts genossen. Ihnen einen größeren rechtlichen Schutz zu geben stand nicht in seiner Macht.
Dego und seine Kameraden Enda und Aidan ritten hinter ihr und hielten die Augen ständig offen, um jede Gefahr zu bemerken. Sie hatten ihren Auftrag ohne Zögern angenommen, trotz ihrer Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit des Königs von Laigin. Wohin Fidelma auch ging, sie würden ihr bereitwillig folgen, denn die Leute von Cashel hegten eine besondere Zuneigung zu der hochgewachsenen, rothaarigen jüngeren Schwester ihres Königs.
»Das Gasthaus ist da vorne«, rief Enda von hinten.
Dego kniff die Augen zusammen, um in der Dunkelheit besser zu sehen.
Da erkannte er die an einem Pfahl hängende Laterne, die traditionelle Art, in der die Gastwirte den Ort ihrer Häuser anzeigten und den müden Reisenden buchstäblich den Weg erleuchteten. Dego hielt vor einer Gruppe von Gebäuden an. Ein paar Stallburschen kamen aus den Schatten herbei und hielten die Zügel, während die Reiter ihre Satteltaschen abschnallten und auf die Tür zuschritten.
Ein breitschultriger älterer Mann öffnete sie, und ein Lichtstrahl fiel auf die Gäste vor den hölzernen Stufen, auf denen er stand.
»Krieger aus Muman!« Er runzelte die Stirn, als er ihre Kleidung und Waffen musterte. Sein Ton war nicht einladend. »Euresgleichen sehen wir heutzutage nicht oft in diesem Land. Kommt ihr in Frieden?«
Dego antwortete ihm mit finsterer Miene. »Wir ersuchen um deine Gastfreundschaft, Morca. Willst du sie uns verweigern?«
»Du kennst meinen Namen, Krieger. Woher?«
»Ich habe hier schon öfter übernachtet. Wir sind eine Gesandtschaft des Königs von Cashel an den König von Laigin. Ich frage noch mal, verweigerst du uns das Gastrecht?«
Der Gastwirt zuckte gleichgültig die Achseln.
»Mir steht es nicht zu, das zu verweigern, besonders bei so hochgestellten Reisenden wie Gesandten des Königs von Cashel an meinen eigenen König. Wenn ihr die Gastfreundschaft dieses Hauses beansprucht, so sollt ihr sie haben. Euer Silber ist sicher ebensoviel wert wie das anderer Leute.«
Ohne ein weiteres Wort wandte er sich mürrisch um und ging in die Gaststube zurück.
Im Kamin am Ende des großen Raumes brannte ein Feuer. An mehreren Tischen saßen Leute und speisten und tranken. In einer Ecke hockte ein alter Mann und spielte auf einer cruit, einer kleinen, u-förmigen Harfe. Niemand schien auf sein endloses Zupfen der Saiten zu achten. Einige der Anwesenden waren offensichtlich Einheimische, die mit ihren Nachbarn zusammensaßen und tranken, andere wiederum Reisende bei der Abendmahlzeit. Die geflüsterten Worte »Krieger aus Muman« hatten sich schnell verbreitet, und es wurde still, als sie eintraten. Selbst der Harfner hielt inne.
Dego blickte sich mißtrauisch um, die Hand am Schwertgriff.
»Verstehst du, was ich meine, Lady?« flüsterte er Fidelma zu. »Sie sind uns feind, und wir müssen aufpassen.«
Fidelma lächelte ihm ermutigend zu, ging zu einem freien Tisch, setzte ihre Satteltasche ab und ließ sich nieder. Dego, Enda und Aidan folgten ihrem Beispiel, doch die Blicke der Krieger wanderten umher. Die ungefähr zwanzig anderen Anwesenden blieben still und beobachteten sie verstohlen. Der Gastwirt hatte sich an das entfernte Ende des Raumes zurückgezogen und ignorierte die neuen Gäste.
»Wirt!« Fidelmas Stimme schnitt scharf durch den Raum.
Widerwillig kam der stämmige Mann in eisigem Schweigen zu ihnen herüber.
»Du bist anscheinend nicht gewillt, deine Pflichten nach dem Gesetz zu erfüllen.«
Morca hatte offensichtlich nicht mit ihren bestimmten Worten gerechnet. Überrascht und wütend starrte er sie an.
»Was versteht denn eine Nonne vom Gesetz der Gastwirte?« fragte er höhnisch.
Fidelma erwiderte in gelassenem Ton: »Ich bin eine dálaigh und besitze den Grad des anruth. Beantwortet das deine Frage?«
Die Atmosphäre schien noch kälter zu werden.
Dego legte wieder die Hand an den Schwertgriff, seine Muskeln spannten sich.
Fidelma hielt den Blick des Gastwirts mit ihren feurigen grünen Augen fest wie die Schlange den des Kaninchens. Der Mann schien wie gebannt. Ihre Stimme blieb sanft und elektrisierend.
»Du hast die Pflicht, uns zu Diensten zu sein, und zwar gutwillig. Wenn nicht, machst du dich des etech schuldig, also der Weigerung, die dir vom Gesetz auferlegte Pflicht zu erfüllen. Dann müßtest du einem jeden von uns unseren Sühnepreis zahlen. Wenn festgestellt wird, daß du wissentlich und böswillig gehandelt hast, könntest du auch das dire des Gasthauses verlieren, das Haus könnte ohne Entschädigung abgerissen werden. Mache ich dir das Gesetz klar, Gastwirt?«
Der Mann starrte sie an, als versuche er seine verlorene Stimme wiederzufinden. Schließlich senkte er vor ihrem feurigen Blick die Augen, trat verlegen von einem Bein aufs andere und nickte.
»Ich wollte nicht unhöflich sein. Die Zeiten … Die Zeiten sind schwierig.«
»Die Zeiten mögen schwierig sein, aber das Gesetz bleibt das Gesetz, und dem mußt du gehorchen«, erwiderte sie. »Meine Gefährten und ich brauchen ein Nachtlager und ein Abendessen – und zwar sofort.«
Der Mann nickte wieder, und seine Haltung wurde diensteifrig.
»Dafür wird sogleich gesorgt, Schwester. Sogleich.«
Er wandte sich um und rief nach seiner Frau, und das schien zugleich das Signal dafür, daß das Schweigen endete und die Unterhaltung wiederaufgenommen wurde. Auch die klagenden Töne der Harfe waren wieder zu vernehmen.
Dego lehnte sich zurück und entspannte sich mit einem schwachen Lächeln.
»Die Leute von Laigin mögen uns ganz sicher nicht, Lady.«
Fidelma seufzte leicht. »Sie glauben unglücklicherweise, sie müßten sich die Vorurteile ihres jungen Königs zu eigen machen. Doch das Gesetz hat über allem zu stehen.«
Die Frau des Gastwirts kam mit einem etwas gekünstelten Lächeln herbei und brachte Schüsseln mit Suppe aus dem Kessel, der auf dem Herd köchelte. Auch Met und Brot wurden ihnen vorgesetzt.
Eine Weile beschäftigten sich die vier Gäste mit ihrer Mahlzeit, denn sie waren den Tag über scharf geritten und hatten sich keine Mittagspause gegönnt. Erst nachdem sie sich satt gegessen hatten und sich ihren Tonkrügen mit Met zuwandten, achtete Fidelma mehr auf die unmittelbare Umgebung und die anderen Gäste.
Die Reisenden bestanden aus ein paar Mönchen in braunen wollenen Kutten und einer kleinen Gruppe von Kaufleuten. Dazu kamen noch Einheimische, meist Bauern, aber auch ein Grobschmied, die einen Trunk und einen Schwatz genossen. Am Nebentisch unterhielten sich zwei Bauern. Nach einer Weile merkte Fidelma, daß ihr Gespräch sich nicht um die üblichen Themen drehte. Sie wandte sich leicht um und hörte genauer hin.
»Es ist richtig, daß sie diesen Mann so hart bestrafen. Der Angelsachse hat es vollkommen verdient«, meinte der eine.
»Die Angelsachsen waren schon immer eine Pest für dieses Land, sie fallen über uns her und plündern unsere Schiffe und Küstenorte«, pflichtete ihm der andere bei. »Sie sind Piraten, und wir sind lange Zeit zu milde mit ihnen verfahren. Ein Krieg gegen die Angelsachsen würde Fianamail mehr einbringen als ein Krieg gegen Muman.«
Einem der Bauern fiel plötzlich auf, daß Fidelma ihnen zuhörte. Er wurde verlegen, hüstelte und erhob sich.
»Na, ich muß zu Bett. Ich will morgen das untere Feld pflügen.« Er wünschte dem Gastwirt und seiner Frau eine gute Nacht und ging hinaus.
Fidelma drehte sich zu seinem Gefährten um. Er war jünger und seiner Tracht nach ein Schafhirt. Den Grund für den überstürzten Aufbruch des anderen hatte er nicht begriffen, genüßlich trank er seinen Met weiter.
Fidelma begrüßte ihn mit einem freundlichen Nicken.
»Ich hörte, daß ihr von Angelsachsen gesprochen habt«, meinte sie. »Habt ihr hier Probleme mit angelsächsischen Piraten?«
Der Schafhirt wurde verlegen, als eine Nonne ihn ansprach.
»Die Küstenorte im Südosten sind oft von ihnen überfallen worden, Schwester«, antwortete er brummig. »Es heißt, daß drei Handelsschiffe, eins davon aus Gallien, erst vor einer Woche auf der Höhe von Cahore Point angegriffen, ausgeraubt und dann versenkt wurden.«
»Hab ich deinen Freund richtig verstanden, daß man einen solchen Piraten gefangen hat?«
Der Mann überlegte, was sie meinte, und schüttelte den Kopf. »Nein, keinen Piraten. Die Rede war von einem Angelsachsen, der eine Nonne ermordet hat.«
Fidelma lehnte sich zurück und war bemüht, sich ihren Schock nicht anmerken zu lassen. Der Mörder einer Nonne! Das konnte doch nicht ihr Eadulf sein, von dem der Mann da sprach? Vor neun Tagen hatte die Nachricht sie in einer Hafenstadt in Iberia erreicht. Das bedeutete, daß das Verbrechen, dessen man Eadulf beschuldigte, mindestens drei Wochen zurücklag. Die größte Sorge Fidelmas war es, daß die Ereignisse sich schnell entwickelt hätten und sie zu seiner Verteidigung zu spät käme, obwohl ihr Bruder eine Botschaft an Fianamail geschickt und um Aufschub des Verfahrens ersucht hatte. Doch daß Eadulf etwas mit der Ermordung einer Nonne zu tun haben könnte, das war kaum zu glauben.
»Wie konnte er so etwas Schreckliches tun! Weißt du, wie der Angelsachse heißt?«
»Das weiß ich nicht, Schwester. Ich will es auch nicht wissen. Der ist eben so ein mörderischer Hund von einem Angelsachsen, mehr weiß ich nicht, und das genügt mir auch.«
Fidelma schaute ihn tadelnd an. »Woher weißt du, daß er ein mörderischer Hund ist, wie du es ausdrückst, wenn du die Einzelheiten nicht kennst? Sapiens nihil affirmat quod non probat.«
Der Schafhirt war verwirrt. Sie entschuldigte sich sofort für ihren Hochmut, weil sie ihm mit einem lateinischen Zitat gekommen war, und übersetzte: » ›Ein weiser Mann behauptet nichts als wahr, was er nicht beweisen kann.‹ Es wäre doch besser, wenn du das Urteil des Richters abwarten würdest?«
»Nun, die Tatsachen sind schon klar. Nicht einmal die Mönche versuchen ihn zu verteidigen. Es heißt, der Angelsachse sei ein Mönch, deswegen könnte man denken, sie würden seine Verruchtheit decken. Er verdient sein Urteil.«
Verärgert starrte Fidelma ihn an.
»Das ist doch keine Rechtsprechung«, schnaubte sie. »Ein Mensch muß ein Gerichtsverfahren bekommen, bevor man ihn verurteilt und bestraft. Man kann niemanden bestrafen ohne ein Urteil der Brehons.«
»Aber der Mann hat doch schon sein Verfahren gehabt, Schwester, er ist verhört und verurteilt worden.«
»Schon verurteilt?« Fidelma konnte ihr Entsetzen nicht verbergen.
»Es heißt aus Fearna, gegen ihn ist verhandelt und er ist für schuldig befunden worden. Der Brehon des Königs ist von seiner Schuld überzeugt.«
»Der Brehon des Königs? Sein Oberrichter? Meinst du Bischof Forbassach?« Fidelma bemühte sich ruhig zu bleiben.
»Genau den. Kennst du ihn?«
»Den kenne ich allerdings.«
Fidelma erinnerte sich mit Bitterkeit. Bischof Forbassach war ihr Gegner von früher her. Sie hätte sich denken können, daß er dahintersteckte.
»Wenn der Angelsachse schuldig ist, was verlautet über seine Strafe? Wie hoch ist der Sühnepreis? Welche Entschädigung verlangt man von ihm?«
Nach dem Gesetz hatte jeder, der des Totschlags schuldig befunden wurde, wie bei allen anderen Verbrechen eine Entschädigung zu zahlen. Sie wurde die eric-Strafe genannt. Jeder Mensch in der Gemeinschaft hatte einen Sühnepreis, der sich nach seinem Rang und seiner Stellung richtete. Der Täter hatte die Entschädigung an das Opfer zu zahlen oder im Falle des Totschlags an dessen Angehörige. Dazu kamen noch die Gerichtskosten. Bei schweren Verbrechen büßte der Schuldige auch alle seine Bürgerrechte ein und mußte in der Gemeinschaft arbeiten, um sich zu rehabilitieren. Tat er das nicht, konnte er zum Wanderarbeiter heruntergestuft werden, der kaum höher stand als ein Sklave. Diese Leute hießen daer-fudir. Allerdings verfügte das Gesetz weise: »Jeder Tote löscht seine Schuld.« Kinder von Schuldigen wurden mit demselben Sühnepreis wieder in die Gemeinschaft aufgenommen, den ihr Vater oder ihre Mutter besessen hatten, bevor sie des Verbrechens schuldig befunden wurden.
Der Schafhirt starrte Fidelma an, als sei er von der Frage überrascht.
»Es wird keine eric-Strafe von ihm verlangt«, sagte er schließlich.
Das verstand Fidelma nicht, und sie sagte es auch.
»Von welcher Strafe ist dann die Rede?«
Der Schafhirt setzte seinen leeren Krug ab, wischte sich den Mund mit dem Ärmel und stand auf, um zu gehen.
»Der König hat erklärt, das Urteil solle nach den neuen christlichen Bußgesetzen gefällt werden, diesem neuen Rechtssystem, das wohl von Rom kommt, wie es heißt. Der Angelsachse ist zum Tode verurteilt. Ich glaube, er ist schon gehängt worden.«
Mit langsamen Schritten traten die Mönche aus der bronzebeschlagenen Eichentür der Kapelle heraus in das kalte graue Licht des Mittelhofs der Abtei. Es war ein großer Hof, mit dunklen Granitplatten ausgelegt, auf allen vier Seiten erhoben sich die hohen, freudlosen Steinmauern der Abteigebäude und ließen den Innenraum kleiner erscheinen, als er in Wirklichkeit war.
Die Reihe der kapuzentragenden Mönche, an der Spitze ein Bruder mit einem reichverzierten Metallkreuz, bewegte sich in gemessenem Schritt und mit gesenkten Köpfen. Sie hatten die Hände in den Falten der Kutten verborgen und sangen einen lateinischen Psalm. In kurzem Abstand hinter ihnen kam eine ähnliche Zahl von kapuzentragenden Nonnen, die ebenfalls die Köpfe gesenkt hielten und die Oberstimme des Psalms sangen. Das Echo in dem engen Raum erzeugte einen grausigen Effekt.
Sie stellten sich an zwei Seiten des Hofes auf, mit dem Gesicht zu einer hölzernen Plattform, auf der eine seltsame dreieckige Konstruktion aus aufrechten Pfählen errichtet war, die ein Dreieck von Balken trugen. An einem Balken hing ein Seil mit einer Schlaufe. Dicht unter die Schlaufe hatte man einen dreibeinigen Schemel gestellt. Neben dieser düsteren Vorrichtung stand breitbeinig ein hochgewachsener Mann. Er war bis zum Gürtel nackt und hielt die starken, muskulösen Arme über der breiten, behaarten Brust gekreuzt. Regungslos starrte er auf die Prozession von Mönchen und Nonnen, ungerührt und ohne Scheu vor der Arbeit, die er auf dieser makabren Plattform verrichten sollte.
Aus der Tür der Kapelle traten noch ein Mönch und eine Nonne und gingen mit raschen Schritten auf die Plattform zu. Die hagere Gestalt der Nonne vermittelte einen Eindruck von Größe, der sich aus der Nähe als Täuschung erwies, denn sie war nur mittelgroß, wenngleich ihre finstere, etwas hochmütige Miene ihr ein imponierendes Aussehen verlieh. Ihre Kleidung und das kunstvolle Kruzifix, das an einer Kette um ihren Hals hing, verrieten ihren höheren Rang. Neben ihr ging ein kleiner Mann mit düsterem grauem Gesicht. Auch seine Kleidung ließ einen höheren geistlichen Rang erkennen.
Sie hielten direkt vor der Plattform an. Auf eine kaum merkliche Handbewegung der Frau hin verstummte der Gesang.
Eine der Nonnen eilte herbei und blieb vor ihr stehen, den Kopf respektvoll gesenkt.
»Können wir fortfahren, Schwester?« fragte die reichgekleidete Nonne.
»Alles ist bereit, Mutter Äbtissin.«
»Dann wollen wir es mit Gottes Gnade weiterführen.«
Die Schwester blickte zu einer offenen Tür an der anderen Seite des Hofes hinüber und hob die Hand.
Sogleich kamen zwei stämmige Männer, Mönche nach ihren Kutten zu urteilen, daraus hervor und schleppten zwischen sich einen jungen Mann mit. Er trug ebenfalls eine Kutte, doch sie war zerrissen und schmutzig. Sein Gesicht war bleich, und seine Lippen zitterten vor Furcht. Schluchzen schüttelte seinen Körper, während er über die Platten des Hofes zu der wartenden Gruppe gezerrt wurde. Die drei Männer blieben vor der Äbtissin und ihrem Begleiter stehen.
Einen Moment herrschte Schweigen, das nur von dem angstvollen Schluchzen des jungen Mannes durchbrochen wurde.
»Nun, Bruder Ibar«, fragte die Frau in hartem, unversöhnlichem Ton, »willst du jetzt deine Schuld bekennen, da du an der Schwelle deiner Reise in die andere Welt stehst?«
Die Laute, die der junge Mann hervorbrachte, ergaben keinen Sinn. Er war zu verstört, um zusammenhängend sprechen zu können.
Der Begleiter der Äbtissin beugte sich vor.
»Bekenne, Bruder Ibar.« Seine Stimme zischte eindringlich. »Bekenne, und du brauchst nicht die Qualen des Fegefeuers zu erleiden. Gehe zu deinem Gott ein mit deiner Seele frei von Schuld, und Er wird dich mit Freuden aufnehmen.«
Endlich drangen verständliche Worte aus der Kehle des jungen Mannes.
»Pater Abt … Mutter Äbtissin … Ich bin unschuldig. Gott ist mein Zeuge, ich bin unschuldig.«
Die Miene der Frau verfinsterte sich mißbilligend.
»Kennst du die Worte im fünften Buch Mose? Hör zu, Bruder Ibar: ›… und die Richter sollen wohl forschen. Und wenn der falsche Zeuge hat ein falsches Zeugnis … gegeben … dann sollt ihr ihn nicht schonen: Seele um Seele, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß.‹ So lautet das Gesetz des Glaubens. Schwöre noch jetzt deinen Sünden ab, Bruder. Geh zu Gott ein, gereinigt von deinen Sünden.«
»Ich habe nicht gesündigt, Mutter Äbtissin«, rief der junge Mann verzweifelt. »Ich kann nicht widerrufen, was ich nicht getan habe.«
»Dann wisse, wohin dich deine Torheit unweigerlich führen wird, denn es steht geschrieben: ›Und ich sah die Toten, beide, groß und klein, stehen vor Gott, und Bücher wurden aufgetan. Und ein anderes Buch ward aufgetan, welches ist das Buch des Lebens. Und die Toten wurden gerichtet nach der Schrift in den Büchern, nach ihren Werken. Und das Meer gab die Toten, die darin waren, und der Tod und die Hölle gaben die Toten, die darin waren; und sie wurden gerichtet, ein jeglicher nach seinen Werken. Und der Tod und die Hölle wurden geworfen in den feurigen Pfuhl. Das ist der andere Tod. Und so jemand nicht ward gefunden geschrieben in dem Buch des Lebens, der ward geworfen in den feurigen Pfuhl.‹«
Sie schöpfte Atem und sah ihren Begleiter wie beifallheischend an. Der Mann neigte den Kopf und verzog keine Miene.
»Dann geschehe also Gottes Wille«, sagte er ohne Bewegung.
Die Frau nickte den beiden stämmigen Mönchen zu, die den jungen Mann festhielten.
»So sei es«, verkündete sie.
Sie drehten den Gefangenen herum, mit dem Gesicht zur Plattform, und schoben ihn trotz seines Sträubens vorwärts. Er wäre vornüber gefallen, wenn sie ihn nicht gehalten hätten. Bevor er das Gleichgewicht wiedererlangte, hatten sie ihm schon die Arme auf den Rücken gedreht, und einer von ihnen band sie mit einem kurzen Strick geschickt zusammen.
»Ich bin nicht schuldig! Nicht schuldig!« rief der junge Mann und wehrte sich vergeblich gegen sie. »Fragt nach den Handschellen! Nach den Handschellen! Fragt danach!«
Der kräftige Mann, der auf der Plattform wartete, trat nun vor und hob den Gefangenen so leicht hoch wie ein Kind. Er stellte ihn auf den Schemel, legte ihm die Schlinge um den Hals und erstickte seine Rufe, während einer der beiden Mönche ihm die Füße fesselte.
Dann stiegen die beiden Mönche von der Plattform herunter, während der Henker neben dem jungen Mann stehenblieb, der nun mit dem Hals in der Schlinge unsicher auf dem Schemel balancierte.
Die Mönche und Nonnen setzten wieder mit dem lateinischen Gesang ein, diesmal in schnellerem, härterem Ton. Die Äbtissin suchte den grimmigen Blick des Henkers und nickte kurz.
Der muskulöse Mann stieß einfach mit dem Fuß den Schemel unter dem jungen Mann fort, und der gab einen letzten erstickten Schrei von sich, ehe die Schlinge sich endgültig zuzog. Dann pendelte er mit zuckenden Beinen hin und her, bis der Strick ihn langsam erdrosselte.
Aus einem kleinen vergitterten Fenster über dem Hof starrte Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham auf das Geschehen hinunter. Nun erschauerte er, bekreuzigte sich und murmelte ein rasches Gebet für die Seele des Toten. Dann wandte er sich vom Fenster ab der düsteren Zelle zu.
Auf dem einzigen Schemel in der Zelle saß ein scharfgesichtiger, totenbleicher Mann und beobachtete ihn aus dunklen Augen, die in erschreckender Vorfreude funkelten. Er trug ein Mönchsgewand und am Hals ein kostbares goldenes Kruzifix.
»Also nun, Angelsachse«, sagte er mit spröder, einschüchternder Stimme, »wirst du vielleicht etwas über deine eigene Zukunft nachdenken.«
Trotz des Vorgangs, dessen Zeuge er soeben geworden war, leistete sich Bruder Eadulf ein grimmiges Lächeln.
»Ich glaube nicht, daß ich über meine Zukunft viel nachdenken muß. Ich meine eher, sie steht kurz vor ihrem Ende, was diese Welt anbetrifft.«
Die Lippen des Sitzenden verzogen sich höhnisch bei diesem Versuch des anderen, seinen Humor zu bewahren.
»Um so mehr Grund hast du, dich damit zu befassen, Angelsachse. Wie wir unsere letzten Stunden in dieser Welt verbringen, ist von Bedeutung für unser ewiges Leben in der anderen Welt.«
Eadulf setzte sich auf die hölzerne Pritsche. »Ich will mich mit dir nicht über Rechtskunde streiten, Bischof Forbassach, doch eins ist mir ein Rätsel«, sagte er leichthin. »Ich habe mehrere Jahre in diesem Lande studiert, aber eine Hinrichtung habe ich noch nie erlebt. Schließlich legt doch euer Gesetz, das Senchus Mór, fest, daß niemand in den fünf Königreichen für irgendein Verbrechen hingerichtet werden kann, wenn die eric-Strafe oder die Entschädigung gezahlt werden. Aus welchem Grunde wurde der junge Mann da unten umgebracht?«
Bischof Forbassach, Oberrichter des Königs Fianamail von Laigin und damit sowohl ein Brehon als auch ein Bischof des Königreichs, verzog die Lippen zu einem zynischen Lächeln.
»Die Zeiten ändern sich, Angelsachse. Die Zeiten ändern sich. Unser junger König hat verfügt, daß die christlichen Gesetze und Strafen – die wir die Bußgesetze nennen – an die Stelle der alten Bräuche dieses Landes treten. Was in allen anderen Ländern, die Christi Gesetze gebrauchen, für den Glauben gut ist, muß auch uns genügen.«
»Aber du bist doch ein Brehon, ein Richter, und hast geschworen, die Gesetze der fünf Königreiche zu bewahren. Wie kannst du Fianamail die legale Vollmacht zuerkennen, eure alten Gesetze zu ändern? Das kann nur alle drei Jahre beim großen Fest von Tara geschehen, wenn sich alle Könige, Brehons, Rechtsgelehrten und Laien darauf einigen.«