Cover

DAS BUCH

Höllenqualen und panische Angst gehören zum Ehealltag von Rosie Daniels, die mit dem brutalen Polizisten Norman verheiratet ist. Vierzehn Jahre lang hält sie es aus. Sie übersteht es sogar, als Normans Schläge ihr das Baby nehmen, das in ihrem Bauch heranwächst. Aber dann kommt der Tag, an dem sie einfach aus der Tür geht und in den nächsten Bus steigt. Unterwegs trifft Rosie nicht nur Menschen, die ihr weiterhelfen; sie stößt auch auf ein Ölgemälde, das sie sofort gefangen nimmt und ihr auf mythische Weise Kraft zu geben scheint. Doch während Rosie in ein selbstbestimmtes neues Leben aufbricht, verfolgt der von Rachegelüsten besessene Norman längst ihre Spur …

DER AUTOR

Stephen King, geboren 1947, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Er hat weltweit über 400 Millionen Bücher in mehr als 40 Sprachen verkauft und erhielt den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk.

DAS BILD

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Joachim Körber

Wilhelm Heyne Verlag

München

Die Originalausgabe

ROSE MADDER

erschien bei Viking, Penguin Inc., New York

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Vollständige deutsche Ausgabe 09/2013

Copyright © 1995 by Richard Bachman

Copyright © 1995 der deutschsprachigen Ausgabe

und Copyright © 2013 dieser Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann und Kompanie

Werbeagentur, Zürich unter Verwendung einer

Illustration von © Anja Filler

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-12797-8
V004

www.heyne.de

Für Joan Marks

Ich bin richtig Rosie,

Und ich bin Rosie Richtig,

Ihr glaubt mir lieber,

Ich bin ziemlich wichtig …

Maurice Sendak

Ein blutiger

Dotter. Ein Brandloch,

das sich in einem Blatt Papier ausbreitet.

Eine erboste Rose, die gerade zu erblühen droht.

May Swenson

Prolog – Dunkle Küsse

Sie sitzt in der Ecke und versucht, Luft in einem Zimmer einzuatmen, in dem es bis eben noch genügend gegeben hat, die aber nun völlig verschwunden zu sein scheint. Wie aus weiter Ferne hört sie ein dünnes Hchch-hchch und weiß, es ist die Luft, die ihren Hals hinabströmt und in fiebrigen, kurzen Stößen wieder entweicht, aber das ändert nichts an dem Gefühl, dass sie hier in der Ecke ihres Wohnzimmers ertrinkt, während sie die Fetzen des Romans betrachtet, in dem sie gelesen hatte, als ihr Mann nach Hause kam.

Nicht dass es ihr viel ausmacht. Die Schmerzen sind so groß, sie kann nicht auf Nebensächlichkeiten wie Atmung oder die Tatsache achten, dass kein Sauerstoff mehr in der Luft zu sein scheint, die sie einatmet. Die Schmerzen haben sie verschluckt wie der Wal angeblich Jonas, diesen heiligen Kriegsdienstverweigerer. Sie pochen wie eine giftige Sonne, die tief in ihrem Inneren scheint, an einer Stelle, wo bis heute Abend nur das angenehme Gefühl von etwas heranwachsenden Neuem vorgeherrscht hat. Etwas Gutem.

Schmerzen wie diese hat sie, soweit sie sich erinnern kann, noch niemals empfunden – nicht einmal damals, mit dreizehn, als sie mit dem Fahrrad einem Schlagloch ausweichen wollte, stürzte, sich den Kopf auf dem Asphalt aufschlug und eine Platzwunde zuzog, die, wie sich später herausstellte, genau elf Stiche lang war. Sie erinnerte sich an eine silberne Lanze des Schmerzes, gefolgt von einer dunklen, sternenerfüllten Überraschung, die in Wirklichkeit eine kurze Ohnmacht gewesen war … aber jene Schmerzen hielten keinem Vergleich mit diesen Qualen stand. Diesen schrecklichen Qualen. Ihre Hand auf ihrem Bauch spürt Haut, die keine Haut mehr ist; als wäre ihr Leib aufgeschnitten und das lebende Baby durch einen heißen Stein ersetzt worden.

O Gott, bitte, denkt sie. Bitte lass das Baby unversehrt sein.

Aber jetzt, wo ihr Atmen sich endlich ein wenig normalisiert, stellt sie fest, dass das Baby nicht unversehrt ist, dass er dafür gesorgt hat. Wenn du im vierten Monat schwanger bist, dann ist das Baby immer noch mehr ein Teil von dir als von sich selbst, und wenn du in einer Ecke hockst, das Haar dir in verschwitzten Strähnen am Gesicht klebt und du dich fühlst, als hättest du einen heißen Stein verschluckt …

Etwas haucht dunkle, feuchte Küsse auf die Innenseiten ihrer Oberschenkel.

» Nein « , flüstert sie. » Nein. O gütiger Gott, nein. Großer Gott, barmherziger Gott, lieber Gott, nein. «

Lass es Schweiß sein, denkt sie. Lass es Schweiß sein oder vielleicht hab ich mir auch in die Hose gemacht. Ja, das ist es wahrscheinlich. Als er mich zum dritten Mal geschlagen hat, hat es so wehgetan, dass ich mir in die Hose gemacht und es nicht mal bemerkt habe. Das ist es.

Aber es ist weder Schweiß noch Pipi. Es ist Blut. Sie sitzt hier, in der Ecke des Wohnzimmers, betrachtet das verstümmelte Taschenbuch, das halb auf dem Sofa und halb unter dem Beistelltisch liegt, und ihre Gebärmutter ist im Begriff, das Baby zu erbrechen, das sie bis jetzt ohne Beschwerden oder irgendwelche Probleme getragen hat.

» Nein « , stöhnt sie. » Nein, lieber Gott, bitte sag nein.«

Sie kann den Schatten ihres Mannes sehen, der verzerrt und in die Länge gezogen wie eine Vogelscheuche oder der Schatten eines Gehängten an der Wand des Durchgangs vom Wohnzimmer in die Küche tanzt. Sie kann einen Schattentelefonhörer sehen, der an ein Schattenohr gepresst wird, und den langen Schatten der Spiralkordel. Sie kann sogar seine Schattenfinger sehen, die die Spiralen aus dem Kabel drehen, sie einen Moment lang festhalten und dann in ihre ursprüngliche Form zurückschnalzen lassen wie eine schlechte Gewohnheit, die man einfach nicht ablegen kann.

Ihr erster Gedanke ist, dass er die Polizei ruft. Was selbstverständlich lächerlich ist – er ist die Polizei.

»Ja, ein Notfall«, sagt er. »Das können Sie aber singen, wunderbar, und sie ist obendrein schwanger.« Er horcht, lässt die Schnur durch die Finger gleiten, und als er wieder spricht, ist sein Ton gereizt. Die Andeutung von Zorn in seiner Stimme lässt ihre Angst wieder aufflackern und füllt ihren Mund mit einem metallischen Geschmack. Wer würde sich mit ihm anlegen, ihm widersprechen? Oh, wer könnte so närrisch sein, das zu tun? Selbstverständlich nur jemand, der ihn nicht kannte – der ihn nicht so kannte, wie sie ihn kannte. »Selbstverständlich werde ich sie nicht bewegen, halten Sie mich für einen Idioten?«

Ihre Finger gleiten unter ihr Kleid und am Schenkel hinauf zum durchnässten, heißen Baumwollstoff ihres Schlüpfers. Bitte, denkt sie. Wie oft ist ihr dieses Wort durch den Kopf gegangen, seit er ihr das Buch aus den Händen gerissen hat? Sie weiß es nicht, aber da ist es schon wieder. Bitte lass die Flüssigkeit an meinen Fingern klar sein. Bitte, lieber Gott. Bitte lass sie klar sein.

Aber als sie die Hand unter dem Kleid hervorzieht, sind ihre Fingerspitzen rot von Blut. Noch während sie sie betrachtet, frisst sich ein monströser Krampf durch ihr Inneres wie das Blatt einer Säge. Sie muss die Zähne zusammenbeißen, um einen Schrei zu unterdrücken. Sie hat Verstand genug, in diesem Haus nicht zu schreien.

»Vergessen Sie diesen Quatsch, kommen Sie einfach her! Aber dalli!« Er knallt den Hörer auf die Gabel.

Sein Schatten tanzt an der Wand und schwillt an, und plötzlich steht er unter dem Torbogen und sieht sie mit seinem geröteten, hübschen Gesicht an. Die Augen in diesem Gesicht sind so ausdruckslos wie Glasscherben, die am Rand einer Landstraße funkeln.

»Nun sieh dir das an«, sagt er, hebt kurz beide Hände und lässt sie dann mit einem leisen Klatschen wieder an die Seite sinken. »Sieh dir diese Schweinerei an.«

Sie streckt ihm die eigene Hand entgegen, zeigt ihm die blutigen Fingerspitzen – einen deutlicheren Vorwurf wagt sie nicht.

»Ich weiß«, sagt er, als würde die Tatsache, dass er es weiß, alles erklären und die ganze Angelegenheit in einen zusammenhängenden, rationalen Kontext bringen. Er wendet sich ab und betrachtet starr das zerfetzte Taschenbuch. Er hebt das Stück auf der Couch auf, dann bückt er sich und holt das unter dem Beistelltisch hervor. Als er sich aufrichtet, kann er den Umschlag sehen, der eine Frau in weißer Bauernbluse zeigt, die am Bug eines Schiffs steht. Ihr Haar weht dramatisch im Wind und entblößt die alabasterfarbenen Schultern. Der Titel, Miserys Reise, ist mit roten Buchstaben geprägt.

»Das ist das Problem«, sagt er und fuchtelt mit den Überresten des Taschenbuchs vor ihr wie ein Mann mit einer zusammengerollten Zeitung vor einem Welpen, der auf den Boden gepinkelt hat. »Wie oft hab ich dir schon gesagt, was ich davon halte, dass du so einen Mist liest?«

An sich lautet die Antwort darauf: niemals. Sie weiß, sie könnte hier genauso in der Ecke sitzen und eine Fehlgeburt haben, wenn er nach Hause gekommen wäre und gesehen hätte, wie sie die Nachrichten im Fernsehen anschaute oder einen Knopf an einem seiner Hemden annähte, oder einfach nur auf der Couch lag und ein Nickerchen machte. Es sind schwere Zeiten für ihn, eine Frau namens Wendy Yarrow macht ihm Ärger, und wenn Norman Ärger hat, müssen andere es ausbaden. Wie oft habe ich dir schon gesagt, was ich davon halte, dass du so einen Mist liest?, hätte er unabhängig davon gebrüllt, um was für einen Mist es sich handelte. Und dann, kurz bevor er mit den Fäusten loslegte: Ich will mit dir reden, Schatz. Aus der Nähe.

»Verstehst du nicht?«, flüstert sie. »Ich verliere das Baby.«

Es ist unglaublich, aber er lächelt. »Du kannst wieder eins bekommen«, sagt er. Als würde er ein Kind trösten, das seine Eistüte hat fallen lassen. Dann trägt er das zerrissene Taschenbuch in die Küche, wo er es zweifellos in den Mülleimer werfen wird.

Du Dreckskerl, denkt sie, ohne zu wissen, dass sie es denkt. Die Krämpfe setzen wieder ein, diesmal nicht nur einer, sondern viele, sie schwärmen in ihr aus wie grässliche Insekten, und sie streckt den Kopf tief in die Ecke und stöhnt. Du Dreckskerl, wie ich dich hasse.

Er kommt aus dem Durchgang und geht auf sie zu. Sie strampelt mit den Füßen und versucht, sich in der Wand zu verkriechen, während sie mit schreckerfüllten Augen zu ihm aufschaut. Einen Moment lang ist sie davon überzeugt, dass er sie diesmal umbringen wird, ihr nicht nur wehtun oder ihr das Baby nehmen, das sie sich so lange gewünscht hat, sondern sie richtig umbringen wird. Es hat etwas Unmenschliches an sich, wie er mit gesenktem Kopf, an den Seiten hängenden Händen und schwellenden Oberschenkelmuskeln auf sie zukommt. Bevor man Leute wie ihren Mann Schmier nannte, gab es einen anderen Ausdruck dafür, und dieser Ausdruck kommt ihr jetzt in den Sinn, als sie ihn mit dem gesenkten Kopf und Händen, die wie Pendel aus Fleisch an den Armen baumeln, das Zimmer durchqueren sieht, denn genau so sieht er aus – wie ein Bulle.

Sie stöhnt, schüttelt den Kopf, strampelt mit den Füßen. Ein Schuh gleitet von ihrem Fuß und bleibt auf der Seite liegen. Sie kann frische Schmerzen spüren, Krämpfe bohren sich in ihren Unterleib wie Anker mit alten, rostigen Widerhaken, und sie spürt mehr Blut fließen, kann aber nicht aufhören zu strampeln. Wenn er so ist, kann sie gar nichts in ihm sehen; nur eine Art schrecklicher Leere.

Er steht über ihr und schüttelt resigniert den Kopf. Dann geht er in die Hocke und schiebt die Arme unter sie. »Ich werde dir nicht wehtun«, sagt er, während er niederkniet, damit er sie ganz hochheben kann. »Also sei keine Memme.«

»Ich blute«, flüstert sie und erinnert sich, dass er der Person am Telefon gesagt hat, er würde sie nicht bewegen, selbstverständlich würde er das nicht tun.

»Ja, ich weiß«, antwortet er, aber ohne Interesse, geschweige denn Mitgefühl. Er sieht sich in dem Zimmer um und versucht zu entscheiden, wo der Unfall passiert ist – sie weiß so sicher, was er denkt, als wäre sie in seinem Kopf. »Macht nichts, es wird aufhören. Sie werden die Blutung stoppen.«

Werden sie auch die Fehlgeburt stoppen können?, schreit sie in ihrem eigenen Kopf, ohne daran zu denken, dass er es auch hören kann, wenn sie es kann, oder auf die argwöhnische Weise zu achten, wie er sie ansieht. Und wieder lässt sie sich selbst nicht hören, was sie noch denkt: Ich hasse dich. Hasse dich.

Er trägt sie durch das Zimmer zur Treppe. Er kniet nieder und legt sie am Fuß der Treppe hin.

»Bequem?«, fragt er fürsorglich.

Sie macht die Augen zu. Sie kann ihn nicht mehr ansehen, nicht jetzt. Sie glaubt, dass sie verrückt wird, wenn sie es tut.

»Gut«, sagt er, als hätte sie geantwortet, und als sie die Augen aufschlägt, sieht sie den Ausdruck, den er manchmal annimmt – diese Leere. Als wäre sein Geist weggeflogen und hätte nur den Körper zurückgelassen.

Wenn ich ein Messer hätte, könnte ich ihn erstechen, denkt sie … aber wieder ist es ein Gedanke, den sie sich nicht einmal selbst hören, geschweige denn ernsthaft in Erwägung ziehen lässt. Er ist nur ein tiefes Echo, möglicherweise ein Widerhall des Wahnsinns ihres Mannes, so sanft wie der Flügelschlag von Fledermäusen in einer Höhle.

Mit einem Mal strömt wieder Leben in sein Gesicht, und er steht mit knackenden Knien auf. Er sieht an seinem Hemd hinab und vergewissert sich, dass kein Blut daran ist. Prima. Er sieht in die Ecke, wo sie zusammengebrochen ist. Da ist Blut, ein paar Tropfen und Spritzer. Mehr Blut fließt aus ihr, schneller und heftiger; sie kann spüren, wie es sie mit einer ungesunden, irgendwie begierigen Wärme tränkt. Es ist ein Sturzbach, als hätte das Blut den Fremdling schon die ganze Zeit aus seiner winzigen Wohnstatt spülen wollen. Fast kommt es ihr vor – oh, was für ein schrecklicher Gedanke –, als hätte sich ihr eigenes Blut auf die Seite ihres Mannes gestellt … welche Seite das auch immer sein mag.

Er geht wieder in die Küche und bleibt etwa fünf Minuten dort. Sie kann hören, wie er sich zu schaffen macht, während die eigentliche Fehlgeburt stattfindet und die Schmerzen ihren Höhepunkt erreichen und mit einem flüssigen Schwall wieder abklingen, den sie so sehr spürt wie hört. Plötzlich ist ihr, als säße sie in einem Sitzbad voll warmer, dicklicher Flüssigkeit. Einer Art Blutsoße.

Sein in die Länge gezogener Schatten tanzt in dem Durchgang, als der Kühlschrank geöffnet und wieder geschlossen wird, und dann wird ein Schränkchen (das leise Quietschen verrät ihr, dass es das unter der Spüle ist) auf- und wieder zugemacht. Wasser läuft in das Spülbecken, und dann fängt er, kaum vorstellbar, etwas zu summen an – sie glaubt, es könnte »When a Man Loves a Woman« sein –, während ihr Baby aus ihr herausgespült wird.

Als er aus dem Durchgang herauskommt, hat er ein Sandwich in einer Hand – logisch, er hat noch kein Abendessen bekommen und muss hungrig sein – und einen feuchten Lappen aus dem Korb unter der Spüle in der anderen. Er geht in der Ecke in die Hocke, wohin sie gestolpert ist, nachdem er ihr das Taschenbuch aus der Hand gerissen und ihr drei feste Schläge in den Magen verpasst hat – wumm, wumm, wumm, leb wohl, Fremdling –, und macht sich daran, die getrockneten Blutstropfen und Spritzer mit dem Lappen aufzuwischen; der größte Teil des Blutes und der restlichen Schweinerei ist hier, an der Treppe, genau da, wo er sie haben will.

Beim Saubermachen isst er sein Sandwich. Sie findet, der Belag zwischen den Brotscheiben riecht wie der Rest des gegrillten Schweinefleischs, das sie am Samstagabend mit ein paar Nudeln machen wollte – eine leichte Mahlzeit vor dem Fernseher, während der Abendnachrichten.

Er schaut den Lappen an, der leicht rosa verfärbt ist, dann in die Ecke, dann wieder auf den Lappen. Er nickt, reißt einen großen Bissen aus dem Sandwich und steht auf. Als er diesmal wieder aus der Küche kommt, kann sie das leise Heulen einer näher kommenden Sirene hören. Wahrscheinlich der Krankenwagen, den er gerufen hat.

Er durchquert den Raum, kniet sich neben ihr hin und nimmt ihre Hände. Er runzelt die Stirn, weil sie so kalt sind, dann reibt er sie sanft, während er mit ihr spricht.

»Es tut mir leid«, sagt er. »Es ist einfach … so viel ist passiert … die Hure aus dem Motel …« Er verstummt, wendet sich einen Moment lang ab, dann sieht er sie wieder an. Er lässt ein seltsames, klägliches Lächeln sehen. Seht nur, wem ich das zu erklären versuche, scheint dieses Lächeln zu sagen. So weit ist es schon gekommen – herrje.

»Baby«, flüstert sie. »Baby.«

Er drückt ihre Hände, drückt sie so fest, dass es wehtut.

»Vergiss das Baby, hör mir zu. In einer oder zwei Minuten werden sie hier sein.« Ja – der Krankenwagen ist schon sehr nahe und saust heulend durch die Nacht wie ein unaussprechlicher Hund. »Du bist nach unten gegangen und ausgerutscht. Du bist gestürzt. Hast du verstanden?«

Sie sieht ihn schweigend an. Die Schmerzen in ihrem Unterleib klingen ein wenig ab, und als er ihr diesmal die Hände zusammendrückt – fester denn je –, spürt sie es wirklich und stöhnt.

» Hast du verstanden? «

Sie sieht in seine eingesunkenen, abwesenden Augen und nickt. Ein durchdringender Geruch von Salzwasser und Kupfer steigt rings um sie herum auf. Keine Blutsoße mehr – jetzt ist es, als würde sie in einem umgeschütteten Chemiebaukasten sitzen.

»Gut«, sagt er. »Weißt du, was passieren wird, wenn du etwas anderes sagst?«

Sie nickt.

»Sag es. Es ist besser für dich, wenn du es sagst. Sicherer.«

»Du würdest mich umbringen«, flüstert sie.

Er nickt zufrieden. Wie ein Lehrer, der einem denkfaulen Schüler eine komplizierte Antwort aus der Nase gezogen hat.

»Ganz recht. Und ich würde es auskosten. Bis ich mit dir fertig wäre, würde dir das, was heute Abend passiert ist, wie ein eingeklemmter Finger vorkommen.«

Draußen pulsiert scharlachrotes Licht in der Einfahrt.

Er nimmt den letzten Bissen seines Sandwichs in den Mund und steht auf. Er wird zur Tür gehen und sie hereinlassen, der besorgte Ehemann, dessen schwangere Frau unglücklich gestürzt ist. Bevor er sich abwenden kann, hält sie ihn an der Manschette seines weißen Hemds fest. Er schaut auf sie hinab.

»Warum?«, flüstert sie. »Warum das Baby, Norman?«

Einen Augenblick lang sieht sie einen Ausdruck in seinem Gesicht, den sie kaum glauben kann – so etwas wie Angst. Aber weshalb sollte er Angst vor ihr haben? Oder vor dem Baby?

»Es war ein Unfall«, sagt er. »Das ist alles, nur ein Unfall. Ich hatte nichts damit zu tun. Und so sollte es sich besser anhören, wenn du mit ihnen redest. Sonst gnade dir Gott.«

Sonst gnade mir Gott, denkt sie.

Draußen schlagen Türen; Schritte laufen zum Haus, das metallene Zähneklappern und Scheppern der Bahre ist zu hören, auf der sie an ihren Platz unter der Sirene gerollt werden wird. Er dreht sich noch einmal zu ihr um, sein Kopf ist in der Bullenhaltung gesenkt, seine Augen milchig.

»Du wirst wieder ein Baby bekommen, und so was wird nicht mehr passieren. Dem nächsten wird nichts geschehen. Ein Mädchen. Oder ein süßer kleiner Junge. Das Geschlecht spielt keine Rolle, richtig? Wenn es ein Junge wird, kaufen wir ihm ein kleines Baseballtrikot. Wenn es ein Mädchen wird …« Er macht eine unbestimmte Geste. »… eine Damenhaube oder so was. Wirst schon sehen. So wird es sein.« Dann lächelt er, und bei dem Anblick möchte sie am liebsten schreien. Als würde man einen Leichnam in seinem Sarg grinsen sehen. »Hör auf meine Worte, alles wird gut. Darauf kannst du dich verlassen, Herzblatt.«

Dann macht er die Tür auf, lässt die Sanitäter herein und sagt ihnen, sie sollten sich beeilen, überall sei Blut. Sie schließt die Augen, als sie zu ihr kommen, damit sie keine Möglichkeit haben, in ihr Innerstes zu sehen, und sie drängt ihre Stimmen so gut sie kann in den Hintergrund.

Keine Angst, Rose, mach kein Theater, es ist eine Kleinigkeit, nur ein Baby, du kannst ein neues haben.

Eine Nadel pikt in ihren Arm, dann wird sie hochgehoben. Sie lässt die Augen geschlossen und denkt: Ja, gut, ich schätze, ich kann ein neues Baby haben. Ich kann es haben und vor ihm in Sicherheit bringen. Vor seiner mörderischen Wut.

Aber die Zeit vergeht, und langsam verschwindet der Gedanke, ihn zu verlassen – der ohnehin nie richtig formuliert worden ist –, wie das Wissen um eine rationale, wache Welt im Schlaf versinkt; mit der Zeit gibt es keine Welt mehr für sie, außer der Welt des Traums, in dem sie lebt, eines Traums, der denen gleicht, die sie als kleines Mädchen hatte, in denen sie lief und lief, wie in einem Wald ohne Wege oder einem schattigen Labyrinth, während der Hufschlag eines großen Tieres sie verfolgte, ein Furcht einflößendes, wahnsinniges Geschöpf, das unaufhaltsam näher kam und sie irgendwann einmal erwischt hätte, sooft sie auch Haken schlug oder um Biegungen lief oder Spurts einlegte oder Kehrtwendungen machte.

Dem wachen Geist ist das Konzept des Traums bekannt, aber für den Träumenden gibt es kein Erwachen, keine wirkliche Welt, keine sichere Zuflucht; nur das kreischende Tohuwabohu des Schlafs. Rose McClendon Daniels schlief noch neun weitere Jahre im Wahnsinn ihres Mannes.

I – Ein Tropfen Blut

1

Alles in allem waren es vierzehn Jahre in der Hölle, aber das bekam sie kaum mit. Den größten Teil dieser Jahre verbrachte sie in einer so tiefen Benommenheit, dass sie dem Tode gleichkam, und mehr als einmal war sie fast davon überzeugt, dass sich ihr Leben so gar nicht abspielte, dass sie eines Tages erwachen, gähnen und sich strecken würde – so hübsch wie die Heldin eines Zeichentrickfilms von Walt Disney. Diesen Gedanken hatte sie meistens dann, wenn er sie so sehr verprügelt hatte, dass sie eine Weile das Bett hüten musste, um sich wieder zu erholen. Das machte er drei- bis viermal pro Jahr. 1985 – das Jahr von Wendy Yarrow, das Jahr der offiziellen Disziplinarmaßnahme, das Jahr der »Fehlgeburt« – war es fast ein Dutzend Mal geschehen. Im September dieses Jahres erlebte sie den zweiten und letzten Krankenhausaufenthalt als Folge von Normans Anwandlungen – den jedenfalls bis jetzt letzten. Sie hatte Blut gehustet. Er hinderte sie drei Tage lang daran, zu gehen, weil er hoffte, es würde wieder aufhören, aber als es stattdessen schlimmer wurde, befahl er ihr einfach, was sie sagen sollte (er befahl ihr immer, was sie sagen sollte) und brachte sie ins St. Mary’s. Dorthin brachte er sie, weil die Sanitäter sie nach der »Fehlgeburt« ins City General gebracht hatten. Wie sich herausstellte, hatte sie eine gebrochene Rippe, die in die Lunge stach. Sie erzählte die Geschichte vom Sturz die Treppe hinunter zum zweiten Mal innerhalb von drei Monaten und war davon überzeugt, dass nicht einmal der Internist, der die Untersuchung und Behandlung überwachte, sie diesmal glaubte, aber niemand stellte unbequeme Fragen; sie verarzteten sie nur und schickten sie wieder nach Hause. Aber Norman wusste, er hatte Glück gehabt, und danach war er vorsichtiger.

Manchmal, wenn sie nachts im Bett lag, schossen ihr Bilder durch den Kopf wie seltsame Kometen. Das häufigste war das der Faust ihres Mannes, mit getrocknetem Blut an den Knöcheln und auf der Goldgravur seines Rings von der Polizeiakademie. Manchmal waren die Worte auf diesem Ring – Hilfsbereitschaft, Loyalität, Kameradschaft am Morgen in die Haut ihres Bauchs gedrückt oder auf einer ihrer Brüste abgebildet. Dabei musste sie nicht selten an die blauen Stempel des Fleischbeschauers denken, die man auf Schweineschnitzeln oder Steaks sehen konnte.

Sie war immer dabei, gerade einzudösen, entspannt und gelöst, wenn diese Bilder kamen. Dann sah sie die Faust auf sich zukommen, wurde sofort hellwach und lag zitternd neben ihm und hoffte, er würde sich, selbst im Halbschlaf, nicht umdrehen und ihr einen Schlag in den Magen oder auf den Oberschenkel verpassen, weil sie ihn gestört hatte.

Sie kam in diese Hölle, als sie achtzehn war, und erwachte etwa einen Monat nach ihrem zweiunddreißigsten Geburtstag aus der Benommenheit, fast ein halbes Leben später. Was sie aufweckte, war ein einziger Tropfen Blut, nicht größer als ein Zehncentstück.

2

Sie sah ihn beim Bettenmachen. Er war auf dem Laken, auf ihrer Seite, etwa dort, wo das Kissen lag, wenn das Bett gemacht war. Sie hätte sogar das Kissen ein wenig nach links schieben und dadurch den Fleck verstecken können, der eingetrocknet eine hässlich kastanienbraune Farbe angenommen hatte. Sie sah, wie einfach es gewesen wäre, und fühlte sich versucht, es zu tun, und zwar hauptsächlich, weil sie das Laken nicht einfach wechseln konnte; sie hatte kein sauberes weißes Bettzeug mehr, und wenn sie eines mit Blumenmuster als Ersatz für das weiße mit dem Tropfen Blut darauf aufzog, würde sie auch das andere durch eines mit Blumenmuster ersetzen müssen. Wenn nicht, würde er sich mit Sicherheit beschweren.

Sieh sich einer das an, konnte sie ihn sagen hören. Die verdammten Laken passen nicht mal zusammen – unten ein weißes und darüber eines mit Blumen drauf. Herrgott, warum musst du so schlampig sein? Komm hierher, ich will mit dir reden – aus der Nähe.

Sie stand auf ihrer Seite des Bettes unter einem Strahl der Frühlingssonne, die faule Schlampe, die den ganzen Tag damit verbrachte, das kleine Haus zu putzen (ein einziger verschmierter Fingerabdruck in der Ecke des Badezimmerspiegels konnte Auslöser für einen Schlag sein) und zwanghaft darüber zu grübeln, was sie ihm zum Abendessen machen sollte; sie stand da und betrachtete den winzigen Blutfleck auf dem Laken, und dabei sah ihr Gesicht so völlig erschlafft und leblos aus, dass ein Beobachter sie für geistig zurückgeblieben hätte halten können. Ich hab gedacht, meine verdammte Nase hätte aufgehört zu bluten, sagte sie zu sich. Das hab ich wirklich.

Er schlug sie nicht oft ins Gesicht; dazu war er zu schlau. Ins Gesicht wurden die betrunkenen Arschlöcher geschlagen, die er in seiner Laufbahn als uniformierter Polizist und dann als städtischer Detective zu Hunderten verhaftet hatte. Schlug man jemand – zum Beispiel seine Frau – zu oft ins Gesicht, dann verloren die Geschichten vom Die-Treppe-Hinunterfallen, Mitten-in-der-Nacht-gegen-die-Toilettentür-Laufen oder Im-Garten-auf-den-Rechen-Treten ihre Glaubwürdigkeit. Dann merkten es die Leute. Dann redeten die Leute. Und mit der Zeit bekam man Ärger, auch wenn die Frau den Mund hielt, denn die Zeiten, als die Leute noch wussten, wie man sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmert, waren offensichtlich vorbei.

Das alles bezog jedoch nicht sein Temperament mit ein. Er hatte ein böses Temperament, ein sehr böses, und manchmal ging es einfach mit ihm durch. Das war gestern Abend passiert, als sie ihm das zweite Glas Eistee gebracht und dabei etwas auf seine Hand geschüttet hatte. Wumm, und ihre Nase blutete wie ein zerbrochenes Wasserrohr, ehe er noch recht wusste, was er tat. Sie sah seinen angewiderten Gesichtsausdruck, als ihr das Blut über Mund und Kinn lief, dann den Ausdruck besorgter Berechnung – wenn ihre Nase nun tatsächlich gebrochen sein sollte? Das bedeutete wieder einen Ausflug ins Krankenhaus. Einen Augenblick lang hatte sie gedacht, dass ihr nun eine richtige Tracht Prügel bevorstand, eine, nach der sie zusammengekrümmt in der Ecke lag, stöhnte und weinte und versuchte, so viel Luft zu bekommen, dass sie sich erbrechen konnte. In ihre Schürze. Immer in ihre Schürze. In diesem Haus schrie man nicht laut auf oder widersprach dem Hausherrn, und ganz sicher erbrach man sich nicht auf den Fußboden – das heißt, wenn man wollte, dass man den Kopf auf den Schultern behielt.

Dann hatte sein geschärfter Selbstschutzinstinkt die Oberhand gewonnen, und er hatte ihr einen mit Eis gefüllten Waschlappen geholt und sie ins Wohnzimmer geführt, wo sie sich aufs Sofa legte und den behelfsmäßigen Eisbeutel zwischen die tränenden Augen drückte. Dahin musste man ihn halten, informierte er sie, wenn man die Blutung rasch stoppen und die resultierende Schwellung gering halten wollte. Natürlich galt seine Hauptsorge der Schwellung. Morgen war Markttag, und eine geschwollene Nase konnte man nicht mit einer Sonnenbrille verbergen wie ein blaues Auge.

Dann hatte er zu Ende gegessen – gebratener Barsch und neue Röstkartoffeln.

Es gab keine nennenswerte Schwellung, wie ihr ein Blick heute Morgen in den Spiegel verraten hatte (er selbst hatte sie schon mit einem prüfenden Blick betrachtet und zufrieden genickt, bevor er eine Tasse Kaffee getrunken hatte und zur Arbeit gegangen war), und die Blutung hatte nach fünfzehn Minuten mit dem Eisbeutel aufgehört … hatte sie jedenfalls geglaubt. Aber irgendwann im Lauf der Nacht, während sie schlief, war ihr ein verräterischer Tropfen Blut aus der Nase gelaufen und hatte diesen Fleck hinterlassen, was bedeutete, sie musste trotz ihrer Rückenschmerzen das Bett abziehen und neu machen. In letzter Zeit hatte sie immer Rückenschmerzen; selbst wenn sie sich kaum bückte und nur leichte Sachen hob, hatte sie Schmerzen. Ihr Rücken war eines seiner liebsten Ziele. Im Gegensatz zu dem, was er »Schläge ins Gesicht« nannte, war es sicher, jemand in den Rücken zu schlagen … das heißt, wenn die fragliche Person ihren Mund halten konnte. Norman bearbeitete ihre Nieren seit vierzehn Jahren, und die Blutspuren, die sie immer häufiger in ihrem Urin fand, überraschten oder beunruhigten sie längst nicht mehr. Es war nur eine von vielen unangenehmen Begleiterscheinungen der Ehe, und wahrscheinlich gab es Millionen Frauen, denen es noch schlechter ging. Tausende allein in dieser Stadt. So hatte sie es jedenfalls immer gesehen, bis jetzt.

Sie betrachtete den Blutfleck, spürte ungewohnten Groll in ihrem Kopf pochen und spürte noch etwas, ein Kribbeln wie die Stiche winziger Nadeln, aber sie wusste nicht, dass es sich so anfühlte, wenn man endlich aufwachte.

Auf ihrer Seite des Betts stand ein kleiner Wiener Schaukelstuhl, den sie, ohne dass sie den Grund erklären konnte, immer als Pus Stuhl betrachtet hatte. Dorthin wich sie nun zurück und setzte sich, ohne den kleinen Blutfleck aus den Augen zu lassen, der auf dem weißen Laken prangte. Sie saß fast fünf Minuten in Pus Stuhl, und dann zuckte sie zusammen, als eine Stimme in dem Zimmer ertönte, weil sie anfangs gar nicht bemerkte, dass es ihre eigene war.

»Wenn es so weitergeht, wird er mich umbringen«, sagte sie, und als sie ihren ersten Schrecken überwunden hatte, nahm sie an, dass sie zu dem Blutstropfen sprach – dem kleinen Teil von ihr, der schon tot, der aus ihrer Nase gelaufen und auf dem Laken gestorben war.

Die Antwort darauf erfolgte nur in ihrem Kopf, und sie war unendlich viel schrecklicher als die Möglichkeit, die sie laut ausgesprochen hatte.

Vielleicht auch nicht. Hast du daran schon mal gedacht? Vielleicht auch nicht.

3

Sie hatte nicht daran gedacht. Der Gedanke, dass er sie eines Tages zu fest oder an der falschen Stelle schlagen würde, war ihr oft durch den Kopf gegangen (aber sie hatte ihn bis heute nie laut ausgesprochen, nicht einmal zu sich selbst), jedoch nie die Möglichkeit, dass sie überleben könnte …

Das Kribbeln in ihren Muskeln und Gelenken wurde stärker. Normalerweise saß sie nur mit im Schoß gefalteten Händen auf Pus Stuhl und sah über das Bett und durch die Badezimmertür ihr Bild im Spiegel, aber heute Morgen fing sie an zu schaukeln und bewegte den Stuhl mit kurzen, ruckartigen Bewegungen vor und zurück. Sie musste schaukeln. Das summende, kribbelnde Gefühl in ihren Muskeln verlangte, dass sie schaukelte. Um nichts auf der Welt wollte sie ihr eigenes Spiegelbild sehen, mochte ihre Nase auch kaum geschwollen sein.

Komm hier rüber, Süße, ich will mit dir reden – aus der Nähe.

Vierzehn Jahre lang. Hundertachtundsechzig Monate, angefangen damit, dass er sie in ihrer Hochzeitsnacht an den Haaren gezogen und in die Schulter gebissen hatte, weil sie eine Tür zugeschlagen hatte. Eine Fehlgeburt. Ein durchstochener Lungenflügel. Das Schreckliche, das er ihr mit dem Tennisschläger angetan hatte. Die alten Narben an den Stellen ihres Körpers, die von der Kleidung verborgen wurden. Größtenteils Bissspuren. Norman biss für sein Leben gern. Zuerst hatte sie sich einzureden versucht, dass es Liebkosungen waren. Seltsamer Gedanke, dass sie jemals so jung gewesen war, aber sie musste es wohl gewesen sein.

Komm hier rüber, ich will mit dir reden – aus der Nähe.

Plötzlich konnte sie das Kribbeln identifizieren, das mittlerweile ihren ganzen Körper ergriffen hatte. Sie verspürte Zorn, Wut, und diese Erkenntnis war von Staunen begleitet.

Verschwinde von hier, sagte dieser tief verborgene Teil von ihr plötzlich. Verschwinde auf der Stelle von hier, noch in dieser Minute. Nimm dir nicht mal Zeit, dich zu kämmen. Geh einfach.

»Das ist lächerlich«, sagte sie und schaukelte schneller denn je vor und zurück. Der Blutfleck auf dem Laken tanzte vor ihren Augen. Von hier aus sah er wie der Punkt unter einem Ausrufungszeichen aus. »Das ist lächerlich, wohin sollte ich gehen?«

Überallhin, wo er nicht ist, meldete sich die Stimme wieder. Aber du musst es sofort tun. Bevor

Bevor was?

Das war einfach. Bevor sie wieder einschlief.

Ein anderer Teil ihres Verstands – der gewohnheitsmäßige, zaghafte Teil – stellte plötzlich fest, dass sie diesen Gedanken ernsthaft in Erwägung zog, und stimmte ein entsetztes Gezeter an. Ihr Heim verlassen, wo sie vierzehn Jahre gewohnt hatte? Das Haus, wo sie alles mit einem Griff finden konnte? Den Mann, der sie, wenn auch cholerisch und schnell mit den Fäusten, stets gut versorgt hatte? Der Gedanke war lächerlich. Sie musste ihn vergessen, und zwar sofort.

Und das hätte sie wahrscheinlich auch getan, mit ziemlicher Sicherheit getan, wäre da nicht der Tropfen Blut auf dem Laken gewesen. Der einzelne, dunkelrote Tropfen.

Dann schau eben nicht hin!, rief der Teil ihres Verstands nervös, der sich für praktisch und vernünftig hielt. Um Himmels willen, schau nicht hin, es wird dir nur Scherereien einhandeln!

Aber sie stellte fest, dass sie nicht mehr wegsehen konnte. Ihre Augen blieben starr auf den Fleck fixiert, und sie schaukelte noch schneller. Ihre in weiße flache Turnschuhe gekleideten Füße trommelten einen immer schnelleren Rhythmus auf dem Boden (das Kribbeln war inzwischen fast ausschließlich in ihrem Kopf, schüttelte ihr Gehirn durch, heizte sie auf), und sie dachte: Vierzehn Jahre. Vierzehn Jahre wollte er mit mir reden – aus der Nähe. Die Fehlgeburt. Der Tennisschläger. Drei Zähne, einen davon hab ich geschluckt. Die gebrochene Rippe. Die Schläge. Das Kneifen. Und natürlich die Bisse. Ziemlich viele Bisse. Ziemlich viele

Hör auf! Es ist sinnlos, so was zu denken, weil du nicht fortgehen kannst, er würde dir folgen und dich zurückbringen, er würde dich finden, er ist Polizist, da gehört es zu seinen Aufgaben, Leute zu finden, darin ist er gut

»Vierzehn Jahre«, murmelte sie, und jetzt dachte sie nicht an die letzten vierzehn, sondern an die nächsten. Denn die andere Stimme, die tiefere Stimme hatte recht. Vielleicht tötete er sie nicht. Vielleicht nicht. Und wie würde sie sein, wenn er noch mal vierzehn Jahre mit ihr redete – aus der Nähe? Würde sie sich noch bücken können? Würde sie eine Stunde täglich haben – oder auch nur fünfzehn Minuten –, wenn sich ihre Nieren nicht wie heiße Steine in ihrem Rücken anfühlen würden? Würde er sie möglicherweise so fest schlagen, dass eine wichtige Verbindung abstarb, sodass sie einen Arm oder ein Bein nicht mehr bewegen konnte oder eine Gesichtshälfte von ihr schlaff und ausdruckslos herunterhing wie bei der armen Mrs. Diamond, die im Store 24 unten am Hügel arbeitete?

Sie stand unvermittelt und so heftig auf, dass die Lehne von Pus Stuhl gegen die Wand schlug. Sie blieb einen Moment lang schwer atmend stehen, ohne den Blick von dem kastanienfarbenen Fleck abzuwenden, dann ging sie zur Tür ins Wohnzimmer.

Was machst du da?, kreischte Ms. Praktisch-Vernünftig in ihrem Kopf – der Teil von ihr, der es in Kauf zu nehmen schien, verstümmelt oder getötet zu werden, nur um weiterhin in den Genuss des Privilegs zu kommen, dass sie wusste, in welcher Schublade die Teebeutel waren und wo unter der Spüle sie die Putzlappen aufbewahrte. Wohin willst du denn überhaupt

Sie brachte die Stimme zum Schweigen, obwohl sie bis zu diesem Augenblick nicht gewusst hatte, dass sie das konnte. Dann holte sie die Handtasche vom Tisch und ging durch das Wohnzimmer zur Eingangstür. Plötzlich kam ihr der Raum ziemlich groß vor, der Weg sehr weit.

Ich muss das hier Schritt für Schritt angehen. Wenn ich nur einen Schritt im Voraus plane, wird mich der Mut verlassen.

Aber eigentlich glaubte sie nicht, dass das ein Problem sein würde. Zunächst einmal hatte ihr Tun etwas Halluzinatorisches angenommen – ganz bestimmt konnte sie doch nicht einfach aus einer Laune heraus ihrem Haus und ihrer Ehe den Rücken kehren, oder? Es musste ein Traum sein, richtig? Und da war noch etwas: Nicht im Voraus zu planen, das war ihr in Fleisch und Blut übergegangen, angefangen in ihrer Hochzeitsnacht, als er sie wie ein Hund gebissen hatte, weil sie eine Tür zugeschlagen hatte.

Nun, du kannst nicht einfach so gehen, selbst wenn du nur bis zum Ende des Blocks kommst, bevor dir die Luft ausgeht, sagte Ms. Praktisch-Vernünftig. Zieh wenigstens diese Jeans aus, wo man sehen kann, wie breit dein Hintern geworden ist. Und kämm dich.

Sie hielt inne und war einen Moment lang nahe dran, die ganze Sache aufzugeben, bevor sie auch nur zur Eingangstür gekommen war. Dann entlarvte sie den Rat als das, was er war – ein verzweifelter Versuch, sie im Haus zu halten. Und ein listiger obendrein. Es dauerte nicht lange, um eine Jeans gegen einen Rock auszuwechseln oder sich das Haar zurechtzuzupfen und mit einem Kamm durchzufahren, aber für eine Frau in ihrer Situation war es mit Sicherheit lang genug.

Wofür? Selbstverständlich, um wieder einzuschlafen. Bis sie den Reißverschluss an der Seite des Rocks hochgezogen hatte, würden ihr ernsthafte Zweifel kommen, und bis sie mit dem Kämmen fertig wäre, würde sie zum Ergebnis gekommen sein, dass sie einfach einen kurzen Anfall von Wahnsinn erlebt hatte, einen vorübergehenden Blackout, der wahrscheinlich mit ihrem Monatszyklus zu tun hatte.

Dann würde sie ins Schlafzimmer zurückkehren und die Laken wechseln.

»Nein«, murmelte sie. »Das werde ich nicht. Auf keinen Fall.«

Aber als sie eine Hand auf den Türknauf legte, verweilte sie wieder.

Sie kommt wieder zu Verstand!, rief Ms. Praktisch-Vernünftig, deren Stimme eine Mischung aus Erleichterung, Jubel und – war es möglich? – gelinder Enttäuschung ausdrückte. Halleluja, das Mädchen kommt wieder zu Verstand! Besser spät als nie!

Jubel und Erleichterung der Stimme in ihrem Kopf verwandelten sich in stummes Entsetzen, als sie rasch zum Sims über dem Kamin ging, den er vor zwei Jahren eingebaut hatte. Wonach sie suchte, würde wahrscheinlich sowieso nicht da sein, es gehörte zu seinen eisernen Regeln, dass er es erst gegen Monatsende dort ließ (»damit du nicht in Versuchung kommst«, sagte er), aber es konnte nicht schaden, wenn sie nachsah. Und sie kannte die PIN-Nummer; er hatte einfach die erste und letzte Zahl ihrer Telefonnummer vertauscht.

Das WIRD schmerzhaft!, schrie Ms. Praktisch-Vernünftig. Wenn du etwas nimmst, das ihm gehört, wird es ziemlich schmerzhaft, das weißt du! ZIEMLICH!

»Ist sowieso nicht da«, murmelte sie – aber sie war da, die hellgrüne Bankkarte der Merchant’s Bank mit seinem eingestanzten Namen.

Nimm sie nicht! Wage es nicht!

Aber sie stellte fest, dass sie es wagte – sie musste sich nur diesen Tropfen Blut ins Gedächtnis zurückrufen. Außerdem war es auch ihre Karte, ihr Geld; war das nicht der Sinn des Eheversprechens?

Aber es ging an sich gar nicht um das Geld, wirklich nicht. Es ging darum, die Stimme von Ms. Praktisch-Vernünftig zum Schweigen zu bringen; es ging darum, diese plötzliche, unerwartete Flucht in die Freiheit zu etwas Notwendigem statt etwas Freiwilligem zu machen. Ein Teil von ihr wusste, wenn ihr das nicht gelang, würde sie wirklich nicht weiter als bis zum Ende des Blocks kommen, bevor die ganze unsichere Zukunft wie eine Nebelbank vor ihr liegen und sie hastig kehrtmachen und nach Hause gehen würde, um schnellstens die Betten neu zu beziehen, damit sie noch vor dem Mittag den Boden schrubben konnte … und so schwer es zu glauben war, als sie heute Morgen aufgestanden war, hatte sie an nichts anderes gedacht als daran, die Böden zu schrubben.

Sie achtete nicht auf das Zetern der Stimme in ihrem Kopf, holte die Bankkarte vom Sims, ließ sie in ihre Handtasche fallen und ging rasch wieder zur Tür.

Tu es nicht!, wimmerte die Stimme von Ms. Praktisch-Vernünftig. O Rosie, dafür wird er dir nicht nur wehtun, dafür schlägt er dich krankenhausreif, vielleicht bringt er dich sogar um – weißt du das denn nicht?

Sie wusste es wohl, ging aber trotzdem weiter, Kopf gesenkt und Schultern nach vorn gereckt, wie eine Frau, die bei starkem Gegenwind läuft. Das alles würde er wahrscheinlich tun … aber vorher musste er sie erst einmal haben.

Diesmal zögerte sie nicht, als ihre Hand den Türknauf berührte – sie drehte ihn, öffnete die Tür und ging hinaus. Es war ein wunderschöner, sonniger Tag Mitte April, Knospen zeigten sich an den Ästen der Bäume. Ihr Schatten fiel, als wäre er mit einer scharfen Schere aus Kohlepapier ausgeschnitten worden, über die Stufen und das frische Gras. Sie stand da, atmete die Frühlingsluft in vollen Zügen und roch die Erde, die durch einen Regenschauer in der Nacht, als sie schlafend mit einem Nasenloch über dem trocknenden Blutfleck im Bett gelegen hatte, durchnässt (und wahrscheinlich erfrischt) worden war.

Die ganze Welt wacht auf, dachte sie. Nicht nur ich.

Ein Mann im Jogginganzug lief auf dem Bürgersteig vorbei, als sie die Tür ins Schloss zog. Er hob die Hand zum Gruß, und sie grüßte zurück. Sie lauschte, ob die Stimme in ihr wieder mit ihrem Gezeter anfangen würde, doch die Stimme blieb stumm. Vielleicht hatte der Diebstahl der Bankkarte sie so geschockt, dass sie schwieg, vielleicht besänftigte sie auch nur die überirdische Ruhe dieses Aprilmorgens.

»Ich gehe«, murmelte sie. »Ich gehe wirklich und wahrhaftig.«

Aber sie blieb noch einen Moment lang, wo sie war, wie ein Tier, das so lange in einem Käfig gehaust hat, dass es die Freiheit, die sich ihm bietet, gar nicht begreifen kann. Sie griff hinter sich und berührte den Knauf der Tür – der Tür, die zu ihrem Käfig führte.

»Nicht mehr«, flüsterte sie. Sie klemmte die Handtasche unter einen Arm und ging die ersten zwölf Schritte hinein in die Nebelbank, die jetzt ihre Zukunft bildete.