Wolfgang Kraushaar

Der Aufruhr der Ausgebildeten

Vom Arabischen Frühling zur
Occupy-Bewegung

Für Anregungen und Unterstützung bei den Recherchen danke ich Karin König und Christoph Fuchs.

Inhalt

Einleitung

I

Ein junger Mann namens Mohammed

II

Die Schauplätze

 

Der Tahrir-Platz in Kairo: 18 Tage des Zorns

 

Die Wangfujing-Shopping-Mall in Peking: Der zarte Hauch einer chinesischen »Jasmin-Revolte«

 

Die Avenida da Liberdade in Lissabon: Die »Bewegung des 12. März«

 

Die Puerta del Sol in Madrid: Die Empörten der »Bewegung 15. Mai«

 

Die Plaza de Armas in Santiago: Der »Chilenische Winter«

 

Der Rothschild-Boulevard in Tel Aviv: Die »Bewegung des 12. März«

 

Der Zuccotti-Park in Lower Manhattan: »Occupy Wall Street«

 

Die globale Ausweitung der Anti-Banken-Bewegung

 

»Occupy Germany«

 

Der Platz vor der Europäischen Zentralbank: »Occupy Frankfurt«

III

Die Akteure

 

Die Figur des diplômé chômeur in den nordafrikanischen Ländern

 

Die akademische Arbeitslosigkeit in Ägypten

 

Die starke Rolle arabischer Frauen

 

Die Friedensnobelpreisträgerin Tawakkul Karman

 

In China bilden arbeitslose Akademiker »Ameisenstämme«

 

Chile: Die Studentenbewegung

 

Israel: Die Mittelschichtenbewegung

 

New York und die USA: Die überdurchschnittlich Qualifizierten

IV

Die virtuellen Räume

 

Facebook und twitter

 

Al Jazeera

 

Anonymous

 

Die Guy-Fawkes-Maske

V

Die Ursachen für den Fall der arabischen Autokratien

 

Drei Typen arabischer Herrschaftsformen

 

Die Krise des Neopatrimonialismus

 

Die Repression als Stützpfeiler

 

Die Anfälligkeit patriarchaler Herrschaftsstrukturen

 

Die Unterspülung der patrilinearen Familienstruktur durch Modernisierung

 

Der Youth Bulge

VI

Die Verursacher der weltweiten Finanzkrise

 

Der Thatcherismus und die Reaganomics

 

Die sukzessive Veränderung der politischen Rahmenbedingungen

VII

Die Prekarisierten erproben den Protest

 

Prekarisierung als Folge neoliberaler Politik

 

Die Prekarisierung der Ausgebildeten

 

Prekarität und Protest

VIII

Der Machtkampf in Kairo und der Verlust des New Yorker Occupy-Camps

 

Der Kampf um die Macht verschärft sich: Erneute Straßenkämpfe um den Tahrir-Platz

 

Die ägyptischen Parlamentswahlen

 

»Occupy Wall Street« verliert ihr Zentrum: Die Räumung des Zuccotti-Parks in Manhattan

 

Die Bewegung hat ihr Zentrum verloren

IX

Die Perspektiven

 

Die qualifizierten, aber weitgehend perspektivlosen Akteure

 

Die materiellen Interessen

 

Die (bloß) symbolische Macht

 

Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme

 

Die Erfolgsaussichten

Anmerkungen

Zum Autor

Einleitung

Wir alle sind – zumindest medial – Augenzeugen eines Jahres der unerwarteten, sich immer weiter ausbreitenden und durchaus folgenreichen Proteste gewesen. Das US-amerikanische Nachrichtenmagazin TIME hat ihre zentrale Figur, den Demonstranten, sogar zur »Person des Jahres 2011« erklärt.1 Von Tunesien aus ist der Funke auf Ägypten und dann von einem arabischen Land zum nächsten übergesprungen. Protestierende haben so lange aufbegehrt, bis sie ihre Regime zu Fall gebracht und ihre Potentaten verjagt hatten. Das wiederum hat Akteure in Ländern außerhalb des arabischen Raums dazu gebracht, sich an der Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo zu orientieren, diese zum Modellfall zu erklären und ihr Heft schließlich selbst in die Hand zu nehmen. Resultat war ein regelrechter Dominoeffekt. In zahlreichen Ländern ließen sich Hunderttausende von jungen Leuten durch den sogenannten Arabischen Frühling inspirieren, begannen selbst zu demonstrieren und ihre eigenen Plätze zu besetzen.

Dies alles hat sich vor dem Hintergrund dramatischer Großereignisse abgespielt, mit deren Folgen wir vermutlich noch lange zu tun haben werden. Im März 2011 kam es zu der Nuklearkatastrophe von Fukushima, die die Bundesregierung, die erst Monate zuvor ihren Ausstieg aus dem Atomausstieg proklamiert hatte, dazu gebracht hat, sich die wichtigste Forderung der Anti-AKW-Bewegung zu eigen zu machen und stufenweise aus der Atomenergie auszusteigen. Im Frühjahr verschärfte sich die Staatsverschuldung Griechenlands so sehr, dass sich die Regierung des Mittelmeerlandes im April mit der Bitte an die Europäische Union und den Internationalen Währungsfonds wandte, das infolge der Finanzkrise angebotene Rettungspaket in Anspruch nehmen zu dürfen. Seitdem hat sich dort nicht nur die Schulden- zu einer veritablen Stabilitätskrise ausgeweitet, die weitere EU-Länder bedroht, sondern eine Krise der Europäischen Währungsunion und der Europäischen Union insgesamt ausgelöst. Die Großdramen einer transnationalen Finanzkrise, die so weit geht, einen ganzen Staatenverbund in seiner Existenz zu bedrohen, und einer monströsen Umweltkatastrophe, die die Unbeherrschbarkeit der Atomenergie ein weiteres Mal bewiesen hat, stellen mehr als nur die Hintergrundkulisse dar, vor der sich auf eruptive Weise die Dynamiken sozialer Bewegungen abspielen.

Auch wenn nicht immer ganz klar ist, ob und wie sich Teile des alten Machtapparates – wie etwa das Militär in Ägypten – arrangiert haben und die Konflikte in manchen Ländern – wie vor allem in Syrien – unvermindert weiter anhalten und längst in bürgerkriegsähnliche Unruhen übergegangen sind, so haben die Proteste die politischen Verhältnisse in dieser Region, nicht zuletzt in Libyen, bereits nachhaltig verändert. Doch der Anstoß, den der Arabische Frühling gegeben hat, ist keineswegs auf diesen Raum beschränkt geblieben und hat mit Spanien, Portugal und Frankreich etwa auf Länder übergegriffen, die politisch, kulturell und religiös völlig anders strukturiert sind. Und dann ist noch ein Land hinzugekommen, das historisch wie politisch als Sonderfall gilt und dessen bisherige Sicherheitsarchitektur im Gefolge der genannten Ereignisse zunehmend auf dem Prüfstand steht: Israel. Dass auch dort Hunderttausende junger Leute, die vor allem zur Mittelschicht zu zählen sind, auf die Straße gegangen sind, macht eine weitere große Überraschung aus.

Schließlich ist im September 2011 in New York mit Occupy Wall Street eine Bewegung mit einer besonderen Ausstrahlung hinzugekommen. Es sieht ganz so aus, als sei die soziale und politische Welle, die über Monate hinweg so viele und so unterschiedliche Länder in Atem gehalten hat, nun im Epizentrum der Macht, zumindest der des internationalen Finanzkapitals, angekommen.

So gering die Anzahl der Demonstranten im Zuccotti-Park in Manhattan im Vergleich zur Menge auf dem Tahrir-Platz in Kairo und anderswo auch sein mochte, so stark war andererseits ihre symbolische Bedeutung. Mitten im New Yorker Finanzviertel, gewissermaßen an der Pforte zur wichtigsten Börse der Welt, der New York Stock Exchange, die Macht der Banken infrage zu stellen, ist erheblich gravierender, als dies an irgendeinem anderen Ort oder Platz auf der Welt zu tun.

Wer sich occupywallst.org, die Website der Aktivisten, anschaut, um sich mit ihrem eher minimalistisch anmutenden Selbstverständnis vertraut zu machen, dem fallen drei Punkte auf. Die Bewegung versteht sich als nichthierarchische Widerstandsbewegung unterschiedlicher Hautfarben, Geschlechter und Überzeugungen, als Ausdruck der seit den Worten des Ökonomen Joseph Stiglitz seitdem in aller Munde befindlichen »99 %«, die nicht länger bereit seien, die Gier und Korruption des »1 %« zu tolerieren, und – in ausdrücklicher Anlehnung an die Formen des »revolutionären Arabischen Frühlings« – als überzeugte Vertreter der Gewaltfreiheit. Vermutlich ist es gerade diese programmatische Kargheit, die es manchem Prominenten erleichtert hat, sich an die Seite der Demonstrierenden zu stellen.

Bereits einen Monat später hatten am 15. Oktober 2011 die Protestaktionen gegen das Banken- und Finanzsystem eine globale Dimension erreicht. Weltweit wurde in mehr als 900 Städten in rund 80 Ländern demonstriert. Hunderttausende sind an diesem Tag auf die Straßen gegangen, allein in Spanien und Italien dürften es zusammen eine Million gewesen sein. Mit einem Mal schien es, als seien durch das Auftreten von Occupy Wall Street die unterschiedlichsten Bewegungsströmungen miteinander synchronisiert worden.

Wer sich ein wenig mit der Phänomenologie dieser an so unterschiedlichen Stellen des Globus entstandenen Protestszenarien vertraut zu machen beginnt, dem wird schnell klar, wie schwierig es ist, das alles auf einen gemeinsamen Nenner bringen und auf dieser Grundlage Prognosen, vor allem Vorhersagen über Erfolg oder Misserfolg, formulieren zu wollen. Es erscheint schon schwierig genug, die Phänomene des Protests zu lesen, die neuartigen, ein ums andere Mal in die Medien gespülten Slogans, Codes und Chiffren zu verstehen. Seit einigen Monaten geht es um so schillernde wie gewöhnungsbedürftige Namen wie Adbusters und Anonymous, kryptisch anmutende Ausdrücke wie Culture Jamming und Hashtags, eigenwillige Bezeichnungen wie Geração à rasca und diplômé chômeur, bislang weitgehend unbekannte Frauen wie Camila Vallejo und Tawakkul Karman, einen gewissen Guy Fawkes oder eigentümliche Gerätschaften wie Human Microphones. Eine neue Bewegung bringt am laufenden Band neue Keywords hervor. Die Sprache der Akteure zu verstehen und die mit diesen Ausdrücken verbundenen sozialen Szenarien zu begreifen, stellt zunächst einmal eine ganz elementare Aufgabe der Decodierung dar.

Dann stellen sich folgende Fragen: Warum sind diese so energiegeladenen Proteste gerade in den nordafrikanischen Staaten aufgebrochen und warum haben sie sich in Windeseile von einem arabischen Land zum nächsten ausbreiten können? Warum sind die Proteste sogar über den Atlantik gesprungen und haben das mächtigste Land der Welt erfasst? Und wo liegen die Gemeinsamkeiten der Akteure? Gibt es überhaupt eine gemeinsame Schnittmenge bei den gegenwärtigen Protesten?

Angesichts des Panoramas, das sich im Lauf des Jahres 2011 ausgebreitet hat, ist es zwingend, in einer ganzen Reihe von Ländern von mehr als nur Protest zu sprechen. Zwar hat alles mit den üblichen Protestformen wie Demonstrationen, Sitzblockaden und Kundgebungen begonnen, jedoch ist es dabei vielerorts keineswegs geblieben. In zahlreichen Fällen wurde aus Protest Widerstand, aus Widerstand Aufruhr, und dieser wiederum mündete in einzelnen Fällen in einen regelrechten Aufstand gegen den oder die jeweiligen Machthaber. Die Fähigkeit zur Massenmobilisierung, zur Entschiedenheit im Vorgehen und zur Flexibilität im Umgang mit den in ihrer Gewaltförmigkeit zumeist haushoch überlegenen Organen der Staatsmacht hat Dynamiken ungeahnten Ausmaßes freizusetzen vermocht.

In der vorliegenden Publikation geht es um Protest, aber auch um mehr als nur diesen. Es handelt sich um eine Form, die die Protestaktionen der westlichen mit denen der arabischen Staaten miteinander verbindet – es geht um Aufruhr. Doch was macht einen Aufruhr eigentlich aus? Während es beim Protest um eine kollektive, in der Öffentlichkeit vorgebrachte Äußerung von Widerspruch und Unmut geht, steigert sich beim Aufruhr dieser Einspruch zu einer Form der Empörung, die in eine Auflehnung gegen die Staatsgewalt münden kann. Beim Aufstand handelt es sich hingegen um eine Form des zielgerichteten Widerstands gegen die Staatsgewalt, der sich zu seiner Durchsetzung auch gewaltsamer Mittel bedienen und zu einem Regierungssturz oder gar zu einem Wechsel des gesamten Systems führen kann.

Über die jeweiligen Aktionen hinaus wird aber auch nach den Trägern der Protest- und Widerstandsformen gefragt, danach, ob es im Hinblick auf die Akteure Spezifika gibt. Beobachter kamen rasch darin überein, dass es sich bei den Aktivisten sowohl in den arabischen Revolten als auch innerhalb der Occupy-Bewegung in ihrer überwiegenden Mehrheit um junge Erwachsene, also um die Gruppe der 18- bis 29-Jährigen, handelt. Diese verfügten nicht nur über besondere Kompetenzen im Umgang mit den im Internet zugänglichen social media, sondern zumeist auch über höhere Qualifikationen. Diese Bildungszertifikate aber, die vom Abitur bis zum Hochschulabschluss reichten, lautete die weitergehende Beobachtung, hätten sich für ihre Besitzer zumeist als wertlos erwiesen. Die Frage drängt sich deshalb auf, ob sich diese Beobachtung bestätigen lässt. Lassen sich der Aufruhr, die Revolten und die Aufstände, die im Jahr 2011 zu erleben waren, im Kern auf eine bestimmte Trägergruppe, die der »Ausgebildeten«, zurückführen? Falls die in Aufruhr und Aufstand übergegangenen Proteste tatsächlich von den »Ausgebildeten« ausgegangen sein sollten, was bedeutet das gesellschaftlich – zunächst einmal im Hinblick auf ihre Entstehungsursachen und ihre weiteren Perspektiven, dann aber auch für die Gesellschaft im Ganzen?

Außerdem gilt es noch auf eine Einschränkung hinzuweisen. Da es zu weit geführt hätte, alle Länder zu analysieren, in denen es im letzten Jahr zum Aufruhr gekommen ist, wurde hier eine Auswahl getroffen. Die Untersuchung des Arabischen Frühlings konzentriert sich auf Tunesien und Ägypten, die der Occupy-Bewegung auf die Vereinigten Staaten, Spanien, Portugal, Israel und die Bundesrepublik Deutschland. Außerdem sind mit China und Chile noch jeweils ein signifikantes lateinamerikanisches und ein ostasiatisches Land berücksichtigt worden, um den globalen Stellenwert der Proteste zu unterstreichen. Keine Berücksichtigung gefunden haben dagegen mit Griechenland, England und Russland drei besonders konfigurierte, aber jeweils anders gelagerte Fälle. Der erste der drei genannten Staaten ist wegen seiner Konstitutionsbedingungen für den geschilderten Problemzusammenhang eher atypisch, im zweiten hat es im August 2011 zwar heftige soziale Unruhen gegeben, die aber als klassische »riots« zu beurteilen sind, also eher als Akte, die keinen politischen Adressaten aufweisen und üblicherweise in Gewaltexzesse sowie Plünderungen münden, und im dritten haben sich die unterhalb der Schwelle von Aufruhr und Rebellion bewegenden Massenproteste gegen ein autokratisches, sich repressivster Mittel bedienendes Regime gerichtet.

Hamburg, im Februar 2012

I Ein junger Mann namens Mohammed

Auch an diesem Freitagmorgen – es ist der 17. Dezember 2010 – wartet er im Zentrum der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid auf seine Kunden. Er heißt Mohammed Bouazizi, ist 26 Jahre alt, soll zwar das Abitur gemacht, aber wegen mangelnder finanzieller Voraussetzungen nicht studiert haben können. Mehrfach hatte er versucht, bei der Armee unterzukommen oder irgendeine andere staatliche Stelle zu bekommen. Doch vergeblich. In seiner Perspektivlosigkeit war er sogar entschlossen, sein Heimatland zu verlassen. Aber auch diese Versuche, entweder per Schiff nach Sizilien oder auf dem Landweg nach Libyen zu gelangen, waren misslungen. Jedes Mal wurde er von der Grenzpolizei abgefangen. Das erste Mal musste er zur Strafe zwei Wochen im Gefängnis verbringen, das zweite Mal gleich ein halbes Jahr.

Als fliegender Obst- und Gemüsehändler, der seine Waren von einem Holzkarren aus anbietet, ist er seit dem Tod des Vaters der Haupternährer seiner Familie – der Mutter wie seiner fünf jüngeren Geschwister. Da er jedoch über keine Genehmigung verfügt, zeichnet sich wie schon an anderen Tagen zuvor ein Problem ab. Als kurz nach 11 Uhr die Polizistin Faida Hamdi erscheint, um sich nach den erforderlichen Papieren zu erkundigen, muss er passen. Als Vertreterin des Ordnungsamtes ist die 45-Jährige gezwungen, ihm den Handel zu untersagen. Da der junge Tunesier in der Vergangenheit bereits mehrmals mit den Ordnungskräften in Konflikt geraten ist, geht sie sogar so weit, sein Obst und Gemüse zu beschlagnahmen.

Was danach in der 250 Kilometer südlich von Tunis gelegenen und rund 40000 Einwohner zählenden Provinzstadt genau geschehen ist, lässt sich später nicht mehr zweifelsfrei rekonstruieren.2 Von vielen Einwohnern wird behauptet, dass Bouazizi die Maßnahme nicht akzeptiert habe. Schließlich sei ein Streit entstanden, in dessen Verlauf die – für einen Straßenhändler einen ganz besonderen Wert repräsentierende – Waage konfisziert worden sei und die Beamtin dem jungen Mann obendrein auch noch eine Ohrfeige gegeben habe. Doch für diese und andere nur wenig abweichende Darstellungen gibt es keine Augenzeugen.

Unstrittig ist hingegen, dass sich Bouazizi nach dem Zwischenfall zur Präfektur begibt, um seine Waage zurückzuverlangen. Als ihm das nicht gelingt, will er einen Vorgesetzten sprechen. Doch auch das wird ihm versagt. Frustriert, vielleicht auch zornig geht er nach Hause. Kurz darauf, es ist inzwischen Mittag, zieht er aus Protest mit seinem Holzkarren vor den Sitz des Gouverneurs. Dort nimmt er eine offenbar mit Benzin gefüllte Flasche in die Hand, ergießt sie über seinem Kopf und setzt sie in Brand. Der 26-Jährige steht wie eine lodernde Fackel vor dem Gouverneurssitz. Die Passanten sind schockiert, können aber nicht mehr rechtzeitig eingreifen. Als die Flammen erstickt sind, gibt es an dem Körper kaum noch Partien, die nicht in Mitleidenschaft gezogen worden sind.

Einer der Augenzeugen alarmiert per Mobiltelefon Bouazizis Cousin Ali, einen Supermarktbetreiber, der sofort zum Ort des Geschehens eilt. Als er dort eintrifft, bekommt er gerade noch mit, wie Mohammeds von den Flammen entstellter Körper auf eine Trage gehievt und von einem Krankenwagen abtransportiert wird. Geistesgegenwärtig nimmt er die gespenstisch anmutende Szene mit seinem Smartphone auf. Zusammen mit Aufnahmen von protestierenden Jugendlichen wird die Sequenz von einem seiner Freunde, nachdem dieser die Bilder ein wenig zusammengeschnitten und mit Musik unterlegt hat, auf facebook geladen und noch am selben Abend von dem arabischen TV-Sender Al Jazeera ausgestrahlt.

Der Nachrichtenkanal führt dazu ein Interview mit Ali Bouazizi, der so vor einem Millionenpublikum über den tragischen Fall seines Cousins berichtet. Der habe zwar ein Diplom gemacht, behauptet er, aber keine entsprechende Arbeit finden können, sei in einen Streit verwickelt und vor seiner Selbstverbrennungsaktion von der Polizei verprügelt worden. Der Sendebeitrag insgesamt wird anschließend wieder auf facebook gestellt. Durch diese mediale Kombination verbreitet sich das Drama des 26-Jährigen aus Sidi Bouzid in Windeseile. Das schreckliche Ereignis wird binnen weniger Stunden für arabische Jugendliche, die sich in einer ähnlich perspektivlosen Situation befinden, zum Fanal. Bereits am Tag darauf beginnen junge Leute auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Mohammed Bouazizi ist ihr Idol.

Während in vielen christlichen Ländern dem Weihnachtsfest entgegengefiebert wird, brechen in verschiedenen Teilen Tunesiens Unruhen aus. Tausende junger Leute protestieren gegen die hohen Lebensmittelpreise, die anhaltende Arbeitslosigkeit und die Inaktivität ihrer Regierung. In einem in der Nähe von Sidi Bouzid gelegenen Ort gehen die Sicherheitskräfte am 24. Dezember besonders rigoros gegen Demonstranten vor. Zwei von ihnen werden von der Polizei erschossen. In ironischer Weise bezeichnen die Demonstranten ihren Aufstand als »Jasmin-Revolution«. Sie verwenden absichtlich dasselbe Etikett, das ihr Regent, der 75-jährige Zine el-Abidine Ben Ali, gebraucht hatte, um seine am 7. November 1987 erfolgte Machtergreifung zu beschönigen. Indem nun auch die Aufständischen von einer »Jasmin-Revolution« sprechen, diese Metapher sozusagen okkupieren, beanspruchen sie, einen solch blumigen Ausdruck für ihre politischen Vorhaben allein rechtmäßig im Mund zu führen.

Am 28. Dezember kommt es dann zu einer denkwürdigen Begegnung. Im Krankenhaus von Ben Arous trifft Präsident Ben Ali mit einem Tross an Sicherheits- und Gefolgsleuten ein, um den schwerverletzten jungen Mann aus Sidi Bouzid, um den sich ein großer Teil der tunesischen Gesellschaft sorgt und über dessen Schicksal die ganze arabische Welt informiert ist, zu besuchen. Das Ganze wirkt jedoch wie eine Inszenierung. Denn mit Bouazizi kann niemand mehr sprechen, auch der Präsident nicht. Sein Körper ist von Mullbinden so weit eingehüllt, dass der 26-Jährige eher wie eine Mumie wirkt, die man aus einer ägyptischen Pyramide hervorgeholt hat. Lediglich im Mundbereich ist eine Öffnung zu erkennen, die mit Schläuchen verbunden ist. Ben Ali, der sich von seinem theatralischen Akt offenbar verspricht, dass von ihm eine gestisch-propagandistische Wirkung zur Eindämmung der Unruhen ausgeht, lädt Bouazizis Mutter in seinen Palast ein und macht ihrer Familie ein Geldgeschenk in Höhe von umgerechnet rund 10000 Euro. Und er präsentiert der Öffentlichkeit – im Sinne eines Ablenkungsmanövers – eine für das Unglück des jungen Mannes Schuldige.

Während Ben Ali seine Goodwill-Aktion in Szene setzt, wird in Sidi Bouzid die Polizeibeamtin Faida Hamdi festgenommen und nach Gafza in eine Gefängniszelle gebracht. Dort bleibt sie – ohne dass es irgendwelche Beweise für ihren tätlichen Übergriff gibt – wochenlang eingesperrt, ohne einem Untersuchungsrichter vorgestellt worden zu sein. Auch in diesem Fall bewegt sich die vom Regime geübte Rechtspraxis außerhalb der von einem Rechtsstaat als verbindlich geltenden Normen.

In der Zwischenzeit versuchen andere an ihrer Situation verzweifelnde junge Leute Bouazizis Vorbild nachzueifern. Zunächst zündet sich in Ariana ein 17-jähriger Schüler an, der zuvor eine Demonstration organisiert hat. Als er vom Direktor seiner Schule herbeizitiert wird, schüttet er sich in dessen Büro ein Lösungsmittel über den Kopf und zündet es an. Wie der Vertreter einer Lehrergewerkschaft bekannt gibt, ist er nur kurze Zeit später in einem Krankenhaus seinen schweren Verletzungen erlegen. Anders ergeht es einem gleichaltrigen arbeitslosen Jugendlichen in Kasserine. Als er sich mit Benzin übergießt und anzündet, gelingt es Passanten, die Flammen noch rechtzeitig zu ersticken. Er kommt mit leichteren Verletzungen davon. Es wird jedoch nicht die letzte derartig spektakulärer Verzweiflungstaten bleiben.

Für Mohammed Bouazizi – darin sind sich die Mediziner von Anfang an einig – gibt es keine Rettung mehr. Am 4. Januar 2011 erliegt der junge Tunesier schließlich im Krankenhaus von Ben Arous seinen schweren Verletzungen. An seiner Beerdigung beteiligen sich über 5000 Menschen. Die Menge der Trauernden bildet selbst eine Manifestation des Protests. Einer ihrer Sprecher, ein junger Mann namens Attia Athmouni, beschreibt noch einmal, wie alles geschah und wie Mohammed Bouazizi schließlich im Krankenhaus seinen Verletzungen erlag. Das schmucklose Grab liegt außerhalb der Stadt. Es ist umgeben von Kakteen, Oliven- und Mandelbäumen.

Tage-, ja wochenlang wird das Haus der Bouazizis nun von Reportern aus aller Welt belagert. Die Journalisten wollen eine möglichst anschauliche Darstellung der Geschichte haben, die für sie als Fanal wie als Geburtstunde der »Jasmin-Revolution« gilt. Zwei seiner Geschwister, sein Bruder Salem und seine Schwester Leila, widersprechen der von der Presse verbreiteten Darstellung, ihr Bruder habe Selbstmord verübt. Leila erklärt, er habe die Schande nicht ertragen können, von einer Frau geohrfeigt worden zu sein. Deshalb habe er sich mit Benzin übergossen. Dabei sei aus Versehen ein Funke übergesprungen und habe den Brand entfacht. Das schreckliche Ereignis sei kein Suizid, sondern ein Unfall gewesen. Damit würde das am weitesten verbreitete Deutungsmuster hinfällig, Mohammed habe sich aus Protest gegen die Verhältnisse in seinem Land, die Willkür der Polizei, die Perspektivlosigkeit der Jugend, die horrende Arbeitslosigkeit, den Mangel an Freiheitsrechten und anderes mehr das Leben genommen. Die Familie Bouazizi, so betonen die beiden Geschwister, sei völlig unpolitisch. Doch die Zweifel an dieser Darstellung liegen auf der Hand. Wahrscheinlich können die Geschwister einen Selbstmordakt deshalb nicht akzeptieren, weil er im Islam einen schweren Verstoß gegen den Glauben darstellt.

Durch die zahlreichen Interviews stellt sich aber auch heraus, dass einige der über Mohammed verbreiteten Informationen Stilisierungen oder schlicht Unwahrheiten darstellen. So versichern seine Mutter ebenso wie seine fünf Geschwister, dass er kein Abitur gemacht habe, geschweige denn studieren wollte. Als sein Vater starb, war er erst 14 Jahre alt und offenbar froh, dass er noch die mittlere Reife absolvieren konnte. Weil seine Familie bitterarm war, musste er Geld nach Hause bringen. Deshalb besorgte er sich einen Holzkarren und eine Waage. Auf einem Großmarkt kaufte er allmorgendlich Obst und Gemüse, zog dann vier Kilometer weit bis ins Zentrum von Sidi Bouzid und versuchte dort die Lebensmittel unter die Leute zu bringen. Von seinen Einkünften, die in der Woche nicht mehr als umgerechnet 40 Euro betragen haben sollen, lebte die gesamte Familie. Da er keine Lizenz besaß und deshalb ständig mit Ordnungskräften aneinandergeriet, war der Konflikt, der am 17. Dezember zur Eskalation führte, in gewisser Weise von Anfang an vorherbestimmt. Eines – darin stimmen die ansonsten so stark divergierenden Berichte überein – darf unabhängig von der Frage, ob er von der Polizistin geohrfeigt worden ist oder nicht, wohl als gesichert gelten: Mohammed Bouazizi hatte sich von den offiziellen Stellen seiner Stadt schikaniert, gedemütigt und in seinem Stolz verletzt gefühlt. Ein halbes Jahr vor seiner Selbstverbrennung, meldete Al Jazeera, habe die Polizei sogar eine Geldstrafe von umgerechnet 124 Euro gegen ihn verhängt, das Äquivalent für nicht weniger als drei seiner Monatseinnahmen.

Mittlerweile weiten sich die Unruhen immer weiter aus. Die jungen Leute treten mit einem unerwarteten Selbstbewusstsein auf und skandieren ein ums andere Mal: »Nieder mit Ben Ali!«, »Ben Ali muss weg!« Gleichzeitig gehen die Sicherheitskräfte immer brutaler vor. Demonstrationen in Kasserine, Thala, Rgueb, Meknessi, Feriana, Kairouan und Sousse werden von der Polizei mit Waffengewalt aufgelöst. Dabei kommen offiziellen Angaben zufolge 14 Menschen ums Leben; in Berichten westlicher Presseagenturen ist dagegen von 23 Todesopfern die Rede, und auf einer von der Menschenrechtsorganisation Nationaler Rat für Freiheit in Tunesien (CNLT) vorgelegten Liste werden gar die Namen von 50 Toten aufgeführt. Am 11. Januar greifen die Proteste auf die Hauptstadt Tunis über. Sie sind so stark und umfangreich, dass sich das Regime genötigt sieht, Universitäten und Schulen zu schließen. Man will offenbar verhindern, dass staatliche Einrichtungen zu einem Hort der Unruhe werden.

An den beiden darauffolgenden Tagen macht Ben Ali einige Zugeständnisse, um die Protestierenden zu beschwichtigen. Zunächst verspricht er die Freilassung von Demonstranten und die Einrichtung einer Kommission, die die landesweit angeprangerten Korruptionsfälle untersuchen, strafrechtlich verfolgen und künftig möglichst unterbinden soll. Dann kündigt er an, dass die Sicherheitskräfte nicht mehr auf Protestierende schießen würden und er bei den für 2014 vorgesehenen Wahlen nicht mehr kandidieren werde.

Doch keiner dieser Schritte scheint zu einer Entspannung zu führen. Der Unmut ist unverändert stark. In den Blogs heißt es inzwischen: »Es gibt kein Zurück mehr.« Die Proteste gehen unverändert weiter. Ben Ali resigniert schließlich, gibt am 14. Januar den Machtkampf auf und flieht nach Saudi-Arabien. Ein Regierungssprecher verkündet, dass die Regierung aufgelöst worden sei, und kündigt die Durchführung von Neuwahlen für den Zeitraum innerhalb der nächsten sechs Monate an. Die Amtsgeschäfte des Präsidenten werden zunächst noch zusätzlich von Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi wahrgenommen. Kurz darauf setzt der tunesische Verfassungsrat den Parlamentspräsidenten Fouad Mebazaâ für die Übergangszeit als geschäftsführendes Staatsoberhaupt ein.

Am selben Tag, an dem sich Ben Ali Hals über Kopf absetzt, veröffentlicht der in der Schweiz erscheinende Tages-Anzeiger unter der Überschrift »Sidi Bouzid, mon amour« einen emotionsgeladenen Text. Er stammt von einem Autor namens Taoufik Ben Brik, einem tunesischen Journalisten und Regimekritiker, der ein halbes Jahr im Gefängnis saß. Seine Worte vermitteln etwas von den in dem nordafrikanischen Land unter Jugendlichen bereits so lange aufgestauten Gefühlen. Sie wirken wie ein Manifest der Namenlosen.

»Es brauchte Männer wie Bäume, um meinem Land Sauerstoff zuzuführen. Um die Straßen anzuzünden, zu entflammen. Tunesien hatte keine Seele mehr, keinen Notausgang. Und Sidi Bouzid stand wie ein Mahnmal für die Verzweiflung: einige Häuserhaufen um eine drei Kilometer lange Hauptstraße in der ärmsten Region Tunesiens. Sidi Bouzid ist so hässlich, so trostlos, so voll von Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit, dass man als Bewohner jeden Tag verdammte, an dem man in diesem Ort aufwachte. Doch es fehlte den Menschen die Kraft, sich gegen das aufzulehnen, was sich wie eine ewige Fatalität anfühlte: gegen Hunger, Wucher, Repression. Kinder haben auf eine Mauer von Sidi Bouzid diesen Satz geschrieben: ›Seit zwanzig Jahren säen wir Scheiße.‹ Bis zu diesem hehren Tag, als Tunesien erwachte. In Sidi Bouzid, ausgerechnet. Niemand kann sich genau erklären, wie es zur Explosion kam, aber was erfüllt sie uns mit Freude! Mohammed Bouazizi kam aus Sidi Bouzid. Der junge, arbeitslose Mann übergoss sich auf offener Straße mit Benzin und zündete sich an, er starb an den Verletzungen. So sehr litt er unter den täglichen Demütigungen. War er etwa der Prophet, der brennende Mohammed in einem Land ohne Seele? Seine extreme Geste war ein Schock, ein Weckruf. Es brauchte Männer wie ihn, Männer wie Bäume, um dem Volk Mut zu machen, die Angst zu überwinden, die Eselshaut vom Körper zu reißen, die man uns übergestreift hatte. Die Kinder der Intifada von Sidi Bouzid gehören keiner Partei an, keiner Gewerkschaft. Sie identifizieren sich mit Mohammed Bouazizi. Sie erkennen sich in dessen Schicksal. Sie lehnen sich auf gegen dieses triste Leben ohne Ziel. Sie haben erlebt, wie ihre Väter und Großväter erniedrigt wurden, wie sich deren Rückgrat langsam beugte. Lange schien es, als hätten sie keine Kraft mehr für die Revolution. Obschon sie den Hass ihrer Vorfahren geerbt hatten, den Frust und den Abscheu. Nun bricht es aus ihnen heraus. Für die Kinder von Sidi Bouzid und für die Kinder Tunesiens sind das Tage der Trunkenheit. Sie wollen endlich mit erhobenem Haupt leben können.«3

Da die Proteste in Tunesien nicht abklingen und der politische Druck weiter anhält, erlässt der tunesische Justizminister am 26. Januar gegen Ben Ali, dessen Ehefrau Leila Trabelsi und andere Familienmitglieder einen internationalen Haftbefehl und bittet zu diesem Zweck auch Interpol um Mithilfe. Rund drei Wochen später geht das tunesische Außenministerium noch einen Schritt weiter und ersucht die Regierung Saudi-Arabiens um die Auslieferung des einstigen Präsidenten. Über ihn heißt es inzwischen, dass er einen Hirnschlag erlitten hätte und im Koma liege. Für diese Nachricht gibt es jedoch keine offizielle Bestätigung. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich dabei lediglich um den Versuch handelt, zu verhindern, dass Ben Ali vor Gericht gestellt und wegen seiner Untaten verurteilt werden kann. Genau das beabsichtigt jedoch die tunesische Regierung. Tunesiens amtliche Nachrichtenagentur TAP meldet wiederum ein paar Wochen später, dass gegen Ben Ali und seine Frau Anklage wegen »Verschwörung gegen die innere Sicherheit« erhoben worden sei. Zu den 18 Anklagepunkten gehörten auch »Anstiftung zu Chaos, Mord und Plünderung«. Laut Justizministerium wurden gegen Ben Ali auch Klagen wegen Drogenkonsums, Drogenhandels und Mordes eingereicht.

Es erscheint geradezu unglaublich. Der Selbstmord eines jungen Straßenhändlers löst in Tunesien einen Aufruhr aus, der sich wie ein Flächenbrand über die meisten arabischen Staaten ausbreitet und schließlich als »Arabischer Frühling« Tausende junger Leute in den unterschiedlichsten Ländern und Erdteilen dazu ermuntert, ebenso gewaltlos wie fantasievoll gegen die Bankenkrise und soziale Ungerechtigkeit zu protestieren. Ein junger Araber hat vermutlich ganz unfreiwillig für eine globale Welle des Protests gesorgt. Er selbst vereinigte in seiner Person alle Momente, die im Lauf der darauffolgenden Monate noch eine herausragende Rolle spielen sollten: Schulbildung, soziale Deprivation, berufliche Perspektivlosigkeit.

Das Europäische Parlament hat ihn inzwischen mit dem Sacharow-Preis ausgezeichnet. Und die in London erscheinende Times, eine der renommiertesten Tageszeitungen der Welt, ernannte ihn zur »person of the year«.4

II Die Schauplätze

In der Geschichte der Städte repräsentieren Plätze nicht nur die Zentren der Gesellschaft, auf denen Versammlungen und Märkte durchgeführt wurden, sondern häufig auch die Ausgangspunkte für Revolten und Rebellionen. Das war so mit der Place de la Concorde in Paris, die unter Ludwig XV. ursprünglich als Place Royale geschaffen, dann 1792 in Place de la Révolution umbenannt worden war. Das galt auch für den Platz des Himmlischen Friedens in Peking, wo chinesische Studenten etwa 1919 dagegen demonstrierten, dass ihr Land durch den Versailler Vertrag einem japanischen Protektorat unterstellt wurde. Plätze besaßen eine merkantile, eine öffentliche und häufig auch eine politische Funktion. Sie waren eine Art Wetterstation für die in der Bevölkerung vorherrschende Stimmung, sie waren potenziell aber immer auch für diejenigen ein Forum, die mit ihrer Lage unzufrieden waren und auf Veränderung drangen.

Das war im Zuge des Arabischen Frühlings und der Occupy-Bewegung nicht anders. Fast überall sind es zentrale Plätze gewesen, die eine herausragende Rolle gespielt haben. Es ging den Demonstranten darum, Brennpunkte des urbanen, des öffentlichen Lebens zu besetzen und dort ihr Anliegen vorzubringen. Dabei sollten nicht einfach nur Forderungen vertreten, sondern das Bestreben, zugleich für eine neue Kollektivität sorgen zu wollen, vorgelebt werden. Vor aller Augen sollte gezeigt werden, wie eine egalitäre, sich demokratisch formierende Protestbewegung auszusehen hatte. So mobil die verschiedenen Strömungen des Protests ansonsten auch sein mochten, sie haben auf diese Weise eine überaus stationäre Dimension ins Spiel gebracht.

Der Tahrir-Platz in Kairo: 18 Tage des Zorns

So wie 1989 der Platz der Plätze der Tian’anmen in Peking, der Platz des Himmlischen Friedens, gewesen ist, der so viele Aktivisten einer Demokratiebewegung das Leben gekostet hat, so war es im Jahr 2011 zweifellos – und das bei einem zumindest etwas hoffnungsvolleren Ausgang – der Tahrir-Platz in Kairo. Kein anderer konnte und kann es mit seiner Ausstrahlung, seiner symbolischen Bedeutung und sogar seinem unmittelbaren Wortsinn aufnehmen. Der in der Nähe des rechten Nilufers gelegene Platz der ägyptischen Metropole heißt seit dem Sturz der Monarchie durch eine Gruppe von Offizieren, darunter der spätere Staatspräsident Gamal Abdel Nasser, im Juli 1952 auf arabisch Mıdan at-Tahrır, was nichts anderes als »Platz der Befreiung« bedeutet.

Der Platz mit seinem mehrspurigen Kreisverkehr, der um eine Grünfläche in der Mitte führt, stellt in der Hauptstadt nicht nur ein Zentrum für den Individual-, sondern auch für den Bus- und U-Bahn-Verkehr dar und war in den Jahrzehnten danach häufig Schauplatz von zum Teil gewaltsam verlaufenen Protestereignissen. So etwa bei den sogenannten »Brotunruhen« im Januar 1977, als wegen der Erhöhung der Brotpreise Zehntausende vor Wut und Empörung den Platz erstürmt hatten. Doch die Entladung des Volkszorns wurde unter Präsident Anwar el-Sadat binnen weniger Tage vom Militär, das selbst vor dem Einsatz von Panzern nicht zurückscheute, blutig niedergeschlagen.

Der überragende Gebäudekomplex am Tahrir-Platz ist die Mogamma, das Hauptverwaltungsgebäude des ägyptischen Staates. Auf seinen 14 Stockwerken sind nicht weniger als 18000 Beamte und sonstige Bedienstete beschäftigt. Nicht zufällig erinnert das Monstrum, dessen Name auf deutsch schlicht »Der Komplex« heißt, an den ebenso gewaltigen wie einschüchternden Stil der Stalin-Ära. Das 1952 fertiggestellte, kafkaesk anmutende Gebäude war ein Geschenk der Sowjetunion. Nachdem Nasser zwei Jahre später Staatspräsident geworden war, galt es bis zu seinem Tod 1970 als dessen Machtsymbol. Die Mogamma war und ist – daran hat sich unter keinem seiner beiden Nachfolger Sadat und Mubarak etwas geändert – noch immer Stein gewordener Ausdruck der Autokratie. Die Bürger erscheinen ihm gegenüber wie auf ein Miniaturformat zurechtgestutzt und dürfen praktisch nur als Bittsteller auftreten. Am eindringlichsten ist diese bürgerfeindliche Grundeinstellung in der populären, vor zwei Jahrzehnten gedrehten Satire »Terror und Kebab« zum Ausdruck gebracht worden.5 Die Mogamma ist darin Sinnbild all dessen, was im ägyptischen Staat schiefläuft: Überbürokratisierung, Korruption, Schlendrian und permanente Zeitvergeudung. Vor diesem Gebäudekomplex spielten sich 2011 die entscheidenden Szenen der Freiheitsbewegung ab. Die Rebellen agierten im Angesicht des Machtsymbols einer Autokratie, die es zu stürzen galt.

Die Anzeichen für einen in großen Teilen der Bevölkerung verbreiteten Unmut und die Entstehung sozialer Unruhen hatten sich unter der Präsidentschaft Husni Mubaraks, der im Oktober 1981 nach der Ermordung Sadats an die Macht gekommen war und sein Land seitdem ununterbrochen mit den repressiven Instrumenten eines Notstandsgesetzes regierte, zuletzt immer mehr verdichtet. Das unmissverständlichste Signal war zunächst von der Kifaya-Bewegung ausgegangen. »Kifaya« heißt »Es ist genug«. Gemeint war die so überaus lange und demokratisch nicht hinreichend legitimierte Amtszeit Mubaraks. Die Bewegung, in der linke wie eher bürgerlich mittelständische Gruppen ebenso wie die Muslimbruderschaft miteinander verbündet waren, hatte deshalb 2004 eine Kampagne für eine Direktwahl des ägyptischen Präsidenten durchgeführt. Bei den in diesem Zusammenhang in mehr als einem Dutzend ägyptischer Städte stattgefundenen Versammlungen, Demonstrationen und Kundgebungen waren immer wieder Parolen zu hören, in denen Mubaraks Rücktritt gefordert wurde.

Ein anderer Schauplatz war die nördlich von Kairo im Nildelta gelegene Stadt Malhalla al-Kubra, in der sich die größte Textilfabrik des Landes befindet. Dort war es seit 2006 wiederholt zu großen Streikaktionen gekommen. Als die Arbeiter des Staatsbetriebes zum 6. April 2008 erneut einen Streik angekündigt hatten, versuchten die Sicherheitskräfte diesen mit aller Macht bereits im Keime zu ersticken. Dennoch lieferten sich Hunderte von Arbeitern mit den Polizeikräften Straßenschlachten, in deren Verlauf Autos und Geschäfte angezündet wurden und vier Demonstranten zu Tode kamen. Der in Doha, der Hauptstadt des kleinen Emirats Katar, stationierte Fernsehsender Al Jazeera berichtete stündlich über die dramatischen Ereignisse. Am nachhaltigsten brannte sich im Gedächtnis der Ägypter eine Aufnahme ein, in der zu sehen war, wie Textilarbeiter eine Tafel mit einem Mubarak-Porträt herunterrissen und wie wild auf ihr herumtrampelten. Einer der prominentesten regimekritischen Schriftsteller des Landes, Alaa al-Aswani, hatte angesichts dieser Bilder auf deren seismographische Bedeutung aufmerksam gemacht: »Allein im letzten Jahr gab es tausend illegale Streiks in Ägypten. Ich glaube, das Land steht kurz vor einem großen Wandel. Fast jeder spürt das.«6 Und er schien damit recht zu behalten.

Bereits im März 2008 hatte der Ingenieur Ahmed Maher und die Personalsachbearbeiterin Israa Abdel Fattah eine facebook-Gruppe gegründet, um die Textilarbeiter zu unterstützen. Sie gaben ihr nach dem Datum des Streiks den Namen Bewegung 6. April.7 Als sie über das Internet zu einem Generalstreik aufriefen, um gegen die immer weiter ansteigenden Lebensmittelpreise zu protestieren, meldeten sich daraufhin nicht weniger als 76000 facebook