Klaas Huizing

ZU DRITT

Karl Barth, Nelly Barth,
Charlotte von Kirschbaum

Roman

Die Briefe sind im Originalwortlaut gebracht, für die Passagen in Schweizerdeutsch gibt es im Anhang eine Übersetzung.

© 2018 Klöpfer & Meyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen.
Alle Rechte vorbehalten.
eISBN 978-3-86351-345-0

Lektorat: Petra Wägenbaur, Tübingen.

Umschlaggestaltung: Christiane Hemmerich

Konzeption und Gestaltung, Tübingen.

Titelfotos: Karl Barth-Archiv, Basel, 9014.7; 9077.2.

Herstellung: Horst Schmid, Mössingen.

Satz: Alexander Frank, Ammerbuch.

Druck und Einband: Pustet, Regensburg.

Mehr über das Verlagsprogramm von Klöpfer & Meyer
finden Sie unter: www.kloepfer-meyer.de

Am Dienstag morgen fing Nelly an mit unruhigen Fragen, und schon am Nachmittag kam es zu einem jener Ausbrüche weiblicher Dialektik, denen ich so schlechterdings nicht gewachsen bin, vor denen ich nur fliehen möchte oder auf die ich nur mit kaltem Zorn reagieren könnte, wenn ich mir nicht sagen müßte […], daß ich ja das Karnickel bin, das wirklich an Allem schuld ist und das nun mit Recht so gezüchtigt wird.

Karl Barth in einem Brief vom 21. 8. 1930 an Charlotte von Kirschbaum

Inhalt

PROLOG

Nelly

EINZUG HIMMELREICHALLEE

Lollo

Aus Karl Barths Der Römerbrief, 1922

Nelly

Lollo

Nelly

Lollo und Nelly

Nelly

Lollo und Karl

Brief von Lollo an Karl in Münster

Nelly und Lollo

Nelly und Karl

Eine Karte von Lollo

Lollo

Nelly

Lollo und Karl

Lollo

Nelly

Karl und Lollo

Nelly

Brief von Karl an Lollo

Lollo

Lollo und Nelly

Lollo

Lollo und Karl

Nelly und Karl

UMZUG

Nelly

Lollo

Nelly und Karl

Lollo

Nelly

Aus einem Brief von Karl an Lollo

Lollo

Aus einem Brief Karls an Lollo

Karl und Lollo

Lollo

Nelly

Aus einem Brief Karls an Lollo in München

Lollo und Nelly

Aus einem Brief Lollos an Karl in Bern

Lollo und Karl

Karl und Lollo

Aus einem Brief Lollos an Karl in Basel

Lollo

Karl und Lollo

Aus Barths Theologische Existenz heute!

Nelly

Karl und Lollo

Nelly

Lollo

Aus einem Brief Karls an Lollo in Bonn

Nelly und Karl

Lollo und Nelly

Aus einem Brief Lollos an Freunde über die Herbstreise in den Osten 1936

Nelly

Lollo

Nelly und Karl

Karl und Lollo und Nelly

Nelly und Karl und Lollo

Aus Karl Barths Trauerpredigt

Nelly

Karl und Lollo

Lollo und Nelly

Karl und Lollo

Lollo

Lollo und Karl

Nelly

Lollo

Karl und Lollo

Karl Barth: Kirchliche Dogmatik, III, 2

Lollo

Nelly, Karl und Lollo

Lollo

Karl Barth: Kirchliche Dogmatik, III/4

Lollo

Nelly

Lollo und Karl und Nelly

Nelly

AUSZUG

Lollo

Nelly und Karl

Karl und Lollo

Lollo

Lollo

Lollo und Karl

Lollo

Nelly und Karl

Karl

Lollo und Karl

Lollo und Nelly

Lollo

Lollo

Karl und Lollo

Aus Karls Rundbrief

Karl und Lollo

Lollo

Aus dem letzten Telefonat Barths mit Eduard Thurneysen am Abend vor seinem Tod

Nelly und Lollo

Lollo

Nelly

Lollo

Nelly

EPILOG

Markus

Christoph, genannt Stöffeli

Hans Jakob, genannt Hans-Joggeli

Franziska Nelly, genannt Fränzeli

Nachwort

ANHANG

Dank

PROLOG

Nelly

Sogar die Staubkörner vermieden es, sich zu bewegen, verharrten in der Lichtlanze, die sich gleich nach der Morgendämmerung durch die Jalousie gebohrt hatte, tanzten nicht, schwirrten nicht aus, blieben einfach ganz still in der Luft stehen, schienen ebenfalls hoch konzentriert zu lauschen, ob vielleicht ein Knarzen zu hören wäre, das Ächzen einer Diele.

Nein, nichts.

Charlotte hatte vor Monaten ganz nebenbei nach einem Schälchen gefüllt mit Sonnenblumenöl gefragt und nach einem Backpinsel, sie selbst hatte ihr beides ohne nach dem Grund zu fragen gegeben, erst jetzt kam ihr der Gedanke, Charlotte könnte die Scharniere ihrer Schlafzimmertür geölt haben, damit nächtens auch nicht das leiseste Geräusch nach draußen drang, wenn sie sich an der Garderobe zu schaffen machte. Und wahrscheinlich hatte sie mit einem scheinbar absichtslos abgelegten Buch jene Stelle im Fußboden markiert, die jede Berührung durch einen hässlichen Laut dokumentierte.

Seit Wochen tobte der Kampf.

Jeden Morgen hing über Karls Arbeitsweste, die er oft spät nachts nach einem langen Arbeitstag auf einen Bügel an die Garderobe hängte, die Strickjacke von Charlotte, die Karl ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte. »Für die kalten Abendstunden«, hatte er bei der Übergabe mit einem Schmunzeln gesagt, denn beinahe jeden Abend saßen Karl und Charlotte bei geringer Zimmerwärme ab zehn tief gebeugt über den Texten, als würden sie sich voreinander verneigen. Immer hielt Karl noch eine Stunde länger durch als Charlotte. Jede Nacht, wenn Nelly ihren Gang zur Toilette machte, schaute sie beinahe ängstlich zur Garderobe. Der Anblick schien sie zu verspotten. Diese Strickjacke umschloss die Weste von Karl, sogar die Ärmel hatte Charlotte ineinander verschlungen, als würde sie Karl lustvoll umarmen. Wo blieben die Hände, die nach ihr suchten und nach ihr griffen? Wann hatte zum letzten Mal Karls Zunge nach ihrer Zunge getastet?

Jede Nacht befreite sie ihren Karl aus der liebkosenden Umklammerung, verbannte Charlottes Strickweste, deren Weichheit sie zu verhöhnen schien, auf einen anderen Bügel an den äußersten Rand der Garderobe, hängte ihren Mantel vor und ihre Sommerjacke hinter Karls Weste, nickte befriedigt über ihre Richtigstellung und legte sich wieder hin. Sofort griff wenigstens der Schlaf mit weichen Händen nach ihr. Aber jeden Morgen, wenn sie sich als Erste, häufig noch vor ihrer Hausangestellten, erhob, eilte sie zur Garderobe und erschrak: Charlottes Strickjacke hatte Karls Weste zurückerobert, hing mit ihr glücklich vereint in der Eingangsgarderobe.

In einer Nacht, kurz vor Charlottes neuerlichem Geburtstag – dieser Tag lag bereits seit Wochen wie ein böser Dämon in ihrem Magen und boxte wütend darin herum –, glaubte sie sich am Ziel. Endlich. Seit einer halben Stunde zählte sie die Regentropfen, die nach dem kräftigen Schauer aus der undichten Regenrinne auf der Terrasse aufplatschten. Sie hörte, als sie auf der Lauer lag, endlich Schritte, tastende, suchende Schritte. Ihre Zähne kauten vor Aufregung auf der Unterlippe. Sie unterdrückte den Impuls, Licht zu machen. Sie erhob sich so vorsichtig, dass die Matratze keinen Grund fand, einen Ton zu geben. Auf Zehenspitzen ging sie zur Tür, erschrak kurz über die Kälte der Türklinke, schloss die Augen, um die Funken zu sammeln, die sie gleich versprühen würde, riss mit aller Entschlossenheit die Tür auf. Sie schaute in das vor Erschrecken bleiche Gesicht von Hans-Joggeli, ihrem Jüngsten, legte ihm gleichzeitig eine Hand auf den zum Schrei geöffneten Mund, nahm ihn mit der anderen Hand in den Arm und zog ihn in ihr Zimmer, stammelte eine Entschuldigung, sprach davon, sie habe an einen Einbrecher geglaubt, widerrief die Entschuldigung aber wieder, um Hans-Joggeli nicht zu ängstigen, legte eine Hand auf seine Stirn, diagnostizierte leichtes Fieber, packte ihn zu sich ins Bett, streichelte ihn, beruhigte ihn und schlief sogar noch vor ihm ein. Am Morgen verbat sie sich einen Blick zur Garderobe, schlug jedes Mal die Augen nieder, wenn sie daran vorbeiging.

Vor einer Woche hatte sie sich auf die Bettdecke gelegt und die Tür einen Spalt offen stehen lassen. Die Hände über dem Bauch gefaltet, die Augen geschlossen, wartete sie wie aufgebahrt auf Charlottes Erscheinung. Und wenn sie sich in der Garderobe verstecken würde? Der Gedanke nahm Kontur an. Wenn Charlotte dann die Garderobe vorsichtig beiseiteschob, würde sie plötzlich in ihr, in Nellys zu einem hämischen Begrüßungslächeln verzogenes Gesicht starren, sie würde vor Schreck einen leichten, keinen starken, nein, natürlich nur einen leichten Gehirnschlag erleiden, ein leichtes Hinken, ein verzogener Mundwinkel würde von dem Schlag zurückbleiben, ein leichtes Stottern vielleicht, sie würde ihre rechte Schreibhand verlieren, müsste auf die linke umschulen und wäre für Karl nur noch halb so viel wert. Zunächst gefiel ihr die Idee, sie verliebte sich in die Vorstellung einer hinkenden, sabbernden Invalidin mit Namen Charlotte, verliebte sich in die Vorstellung, böse zu sein, aber dann trat ihr das Bild ihres Karl vor Augen, wie er ganz besorgt nur noch Zeit für Charlotte hatte, wie er sie bemutterte, ihr alle Aufmerksamkeit angedeihen ließ, wie er ihr Leiden zu seinem Leiden machte – oh, darin war ihr Karl groß, sehr groß sogar! Wahrscheinlich würde sie, Nelly, schließlich beide trösten und pflegen müssen. Weil das Bett leicht vibrierte, spürte sie, wie sie lautlos lachte, nein, nicht weinte, sie lachte, ihr Körper übernahm die Regie und sie kroch ganz in das körperliche Lachen hinein, ließ sich immer wieder so herrlich schütteln. Genau in diesen Augenblicken musste Charlotte in den Flur geschlichen sein und hatte ihre Strickjacke über Karls Weste geworfen, die Ärmel fester verschlungen als in den Tagen zuvor. Wie oft wollte sie die Demütigung noch ertragen?

In den Tagen danach fühlte sie sich schrecklich ermattet, hätte nicht einmal die Kraft gehabt, sich bei einem Zimmerbrand zu erheben, überließ für Tage Charlotte das Feld. Heute Nacht aber fühlte sie sich kräftiger, nicht so erschöpft wie in den letzten Tagen. Jedes verstohlene Rascheln entging ihr nicht. Sie lächelte voller Überlegenheit. Sie wusste, wie sie aussah, wenn sie die Demut in den Rachen zurückzwängte und überlegen lächelte, ein stolzes Lächeln hatte ihr Karl dieses Lächeln früher stets genannt, ein stolzes Lächeln, und dann eine kleine Rüge angehängt, ein stolzes Lächeln, dem auch etwas Hochmut beigemischt sei. Hochmut, nun gut. Nelly war seine ehemalige Konfirmandin, sie wusste, was Hochmut bedeutete. Hochmut kommt vor dem Fall, aber sie lag bereits, lag in ihrem Bett, ihrem christlich reinen Bett mit ihrem christlich reinen Gewissen. Wann würde endlich das Geräusch, auf das sie wartete, den ersehnten Sieg in diesem Stellungskrieg ankündigen?

Da! Endlich! Nein, Schritte hatte sie nicht gehört, Charlotte schien wahrhaftig engelgleich schweben zu können, aber da war dieses metallische Geräusch, zunächst sehr vorsichtig, aber dann wurden die Bügel an der Garderobe nervös hin- und hergeschoben. Nelly hörte aus diesem Geräusch die Wut heraus, die in Charlotte anschwoll, mehrfach schob sie alle Bügel hin und her, stampfte sogar leise mit dem Fuß auf und dieses Stampfen ließ ihre Freude ansteigen, dann ein Knall! Ja. Sehr gut. Charlotte hatte die Frechheit besessen, ihre Tür ins Schloss krachen zu lassen und allen an ihrem Ärger Teilhabe verschafft. Auch ihren geliebten Karl, um dessen nächtliche Erholung sie doch so besorgt war, hatte sie wahrscheinlich aufgeschreckt.

Nelly spielte mit den Knöpfen von Karls Arbeitsweste, die sie herrlich wärmte. Summte vergnügt. Sie strich über den linken Ärmel der Weste, gefärbt in jenem intensiven Grün, das exakt dem Grün ihrer Augen glich.

Heute Nacht war sie die Siegerin.

Nelly, die Siegerin.

EINZUG HIMMELREICHALLEE

Lollo

Sie pickte immer wieder einzelne Sätze aus den Briefen von Karl heraus, die prompt lange in ihrem Kopf herumspazierten. Alle Menschen sind irgendwie traurig. Das war so ein Satz. So ein Satz half ihr, die vierzehn, manchmal fünfzehn Stunden dauernden Schichten im Krankenhaus in Krefeld zu überstehen. Und jetzt im Winter die zusätzlichen Stunden, wenn die Nacht gegen das Fenster drückte. Man musste es aussprechen. Alle Menschen sind irgendwie traurig.

Sie konnte es bestätigen, erinnerte die Einsamkeit und die Traurigkeit, die wie Geschwister bei ihr einzogen, als sie, erst vor Monaten auf die »Frauenschule München« gewechselt, vom Tod ihres Vaters auf dem Schlachtfeld erfuhr. Ihr Vater, dessen schlanke Hände für das Kriegshandwerk nicht geschaffen schienen. Ihr Vater, der ihr Bücher besorgt hatte, um ihren Wissensdurst zu stillen. Ihr Vater, der sie stets ermunterte, nachzufragen, wenn sie etwas nicht verstand. Und dieser Vater lag jetzt mit seinen schönen schlanken Händen in einem kalten Grab in Frankreich. Ihre Mutter wollte selbst getröstet werden, hatte keine Kraftreserven, um ihr, der Tochter, eine Stütze zu sein. Nach sie langweilenden Beschäftigungen als Stenotypistin und Bankangestellte begann sie eine Ausbildung als Rotkreuzschwester, um in jedem Kranken den eigenen Vater zu pflegen. Einsamkeit und Traurigkeit hatten offenbar auch nach Karl ihre Krallen ausgestreckt.

Weil sich die Haussuche in Münster, an deren Universität er zum Wintersemester nach seiner Honorarprofessur in Göttingen als ordentlicher Professor berufen worden war, in die Länge zog, lebte Karl allein, ohne seine fünf Kinder und seine Frau Nelly, die in Göttingen auf den Umzug warteten. Zum ersten Mal in seinem Leben wohnte Karl in einer Landschaft, die den Blick frei gab, war nicht von nahen oder fernen Bergen umgeben, aber diese weiten Ebenen, über die der Wind heranbrauste, oft riesige Schwaden von Regen im Gepäck, die an die Fensterscheiben wie mit Fäusten trommelten, blieben ihm fremd und ließen kein Gefühl von Heimat zu. Dann dachte er, wie er ihr schrieb, an das Bergli. Und dann musste auch sie an das Bergli denken. Die Idyllen der letzten zwei Sommer.

Das Bergli in Oberrieden, in der Schweiz. Davon schwärmte ihr Pfarrer Georg Merz, der sie vor Jahren in seinen privaten Gesprächszirkel eingeladen hatte, immer vor. Wenn sie nach den konzentrierten Gesprächen noch in kleiner Runde zusammensaßen, sprach er das Wort Bergli aus, als wäre es ein verheißener Ort: das Sommerhaus der Pestalozzis über dem Zürichsee. Dorthin nahm Georg sie vor mehr als einem Jahr mit, für gut zwei Wochen, und er hatte nicht zu viel versprochen. Es war ein Idyll. Ein starker Friede umgab diesen Ort. In diesen zwei Wochen freundete sie sich mit Gerty und Ruedi Pestalozzi, den Eigentümern des Anwesens an, war überglücklich, als in diesem Jahr erneut die Einladung ausgesprochen wurde.

Georg, der, wenn er sich unbeobachtet fühlte, immer die Schultern etwas hängen ließ, straffte sich und wuchs, sobald er den Namen Karl Barth aussprach. Und er führte den Namen Karl Barth ständig im Munde, nahm deshalb von Woche zu Woche an Statur zu. Seit mehreren Jahren war Georg Schriftleiter der Zeitschrift Zwischen den Zeiten, die von diesem Barth, dessen Freund Thurneysen und einem gewissen Gogarten gegründet worden war. Aber Georgs Losungswort hieß Römerbriefkommentar, das, sobald er es aussprach, die Stimmung im Raum im Nu umwälzte. Georg las gerne ganze Seiten aus dem Buch von diesem Karl Barth mit seiner kräftigen Stimme laut vor, und auch sie, Lollo, hatte sich angewöhnt, abends vor dem Löschen des Lichts einige Zeilen daraus laut zu lesen.

»Liebe ist das existentielle Vor-Gott-Stehen des Menschen: sein Angerührtwerden von der Freiheit Gottes und eben in dieser Berührung das Begründetwerden seiner Persönlichkeit, seine ›Individuation‹ dürfen wir vielleicht sagen.«

Dann spürte sie die Helligkeit, die von dem Text ausging, die sich im ganzen Zimmer verteilte, jeden Winkel ausleuchtete und sie beschützte und die Einsamkeit vertrieb. Als habe dieser Karl Barth eine schlummernde Elektrizität in den Wörtern entdeckt.

Zwischen Gott und Mensch bestehe ein unendlich qualitativer Unterschied, behauptete Karl Barth mit dem dänischen Philosophen Kierkegaard. Auf menschlicher Seite sei der Glaube ein Hohlraum, den die Gnade als Einschlagtrichter hinterlasse. Krisis, Wagnis, Sprung, Entscheidung, Revolution, neue Welt, Gott ist Gott, senkrecht von oben! Das waren ganz neue Vokabeln, die sie bisher in keiner Predigt vernommen hatte. Alle spürten das Neue, das hier nach Worten rang, das vorwärtsdrängte, das Mut machte.

Nur flüchtig hatte sie diesen Karl Barth einmal in der Kirchengemeinde von Georg getroffen, war aber viel zu schüchtern gewesen, um ein Gespräch zu suchen. Lollo hätte am liebsten den Zug, der sie in die Schweiz brachte, angeschoben, als sie hörte, dieser Karl Barth würde den Sommer auf dem Bergli verbringen.

Weil sie die Letzte in der Reihe war, die Karl Barth begrüßte, als er nach drei langen Wochen endlich eintraf, fiel ihr zunächst seine Brille auf, eine runde Gelehrtenbrille, in der sich die Sonnenstrahlen spiegelten. Als er aber endlich vor ihr stand und, einen knappen Kopf größer als sie, auf sie lächelnd hinunterblickte, konnte sie endlich in seine Augen sehen. Augen, in denen sich alles versammelte, was sie bisher an den Texten fasziniert hatte: diese konzentrierte Kraft, dieser unbändige Wille, dieser feine Witz, aber auch die Bürde des Neuerers. Ein elektrifizierter Blick.

Ihre Stimme kam ihr einen Ton zu schrill vor, als sie versuchte, ihrer Freude über die Begegnung Ausdruck zu geben. Für ihre Kranken in Krefeld fand sie immer ein passendes Wort, in Georgs Zirkel sprach sie für Gäste der Runde einladende Worte von großer Wärme, aber jetzt empfand sie ihre Worte als zu leicht und ihre Beine fühlten sich an, als würde sie schlittern, obwohl sie doch mit festem Schuhwerk auf sicherem Grund stand.

»Der gute Georg hat mir schon mächtig viel Gutes von Ihnen berichtet, Frau von Kirschbaum oder wenn ich Sie, wie alle hier, Lollo nennen darf. Unsere Gerty rühmte mir mit eindringlichen Worten ihren schnellen Verstand und ihren unstillbaren Wissensdurst. Willkommen also auf dem Bergli, auch ich werde ab heute alles Menschenunmögliche versuchen, damit Sie sich hier erneut gut aufgehoben und behütet wissen. Vertrauen Sie uns, liebe Lollo.«

Ein fester Händedruck. Ihre Hand wurde etwas länger geschüttelt als in Deutschland üblich.

Am Abend rief nach einer lauten und fröhlichen Diskussion über eine Stelle aus Karls Römerbriefkommentar der Hausherr Ruedi aus, Karl möge ihm seine runde Brille leihen, er sei nur ein einfacher Unternehmer und kein Gelehrter, habe zwar eine achtjährige Erfahrung als Redaktor des CVJM-Monatsblatts Glocke aufzuweisen, die aber offenbar nicht hinreiche, um Karl Barth zu verstehen, wahrscheinlich würde Karls Brille ihm zur Einsicht verhelfen. Karl reichte ihm die Brille, Ruedi setzte sie auf und begann sofort sehr nachdrücklich zu nicken, jetzt sei auch er ein Sehender, schäme sich dafür, bisher als ein tumber Tor beinahe nichts verstanden zu haben, oh ja, wenn man Gott und Welt vertausche, wie Karl schreibe, dann werde das ganze Leben Erotik ohne Grenze! Wie schrecklich! Neben Lollo hielt sich Gerty die Hand vor den weit aufgerissenen lachenden Mund. Lollo presste die Knie zusammen, was sie immer tat, wenn sie sich wohlfühlte.

Der große Calvin habe, wie Karl in das abklingende Gelächter hinein nahezu flüsternd sagte und dabei nochmals an seiner Pfeife zog, in seinem mächtigen Hauptwerk Unterricht in der christlichen Religion eine schöne Metapher über die Brille geprägt, denn wie Augenkranke und alte Leute mithilfe der Brille deutlich zu lesen verstünden, so bringe die Bibel unser verworrenes Wissen um Gott in die richtige Ordnung, zerstreue das Dunkle und zeige uns deutlich den wahren Gott. Jeden Morgen, wenn er die eigene Brille aufsetze, die ihm doch häufig eine Last sei, müsse er daran denken. Wir Christen seien alle Brillenträger, weil wir mit der Brille der Bibel in die Welt sähen, auch Ruedi, Ruedi sei nur in der glücklichen Lage kein Rezept von einem Augenarzt zu benötigen. Das sei eine besondere Form der Erwählung, mit der er, Karl, leider nicht dienen könne.

Weil sie merkte, wie ihr Gesichtsfeld verschwamm, wischte sich Lollo eine Träne aus dem Auge. Offenbar hatte sie gelacht, als sie sich an die Szene erinnerte. Stunden wahrer Empfindung. Aber die Erinnerung machte die eigene Einsamkeit noch unerträglicher.

Lollo ging mit tastenden Schritten und bloßen Füßen durch den Raum, schlurfte sogar, als wären im Boden kleine Unebenheiten, Löcher, in die sie einsinken könnte und die zur Folge hätten, dass sie sich den Knöchel verstauchen würde, aber durch den kleinen Trick vermochte sie wenigstens, ihre Füße zu überlisten und sie glauben machen, sie sei auf dem Bergli und liefe jetzt mit bloßen Füßen über die Wiese vor der Veranda, auf der noch der Tau lag.

Mit bloßen Füßen.

Mit bloßen Füßen?

Mit bloßen Füßen!

Immer wieder sagte sie sich diese Worte vor, die ihre Magie nicht verloren hatten, die die Einsamkeit zusammendrückten und Raum für ein Rudel glücklicher Erinnerungen frei machten.

Gerty.

Gerty berührte sie immer, sobald sie mit ihr sprach, legte eine Hand auf ihren Arm oder umfasste ihre rechte Hand mit beiden Händen, als müsse sie sie wärmen, hakte sich bei ihr ein, wenn sie eine kleine Wanderung machten, legte ihr häufig einen Arm um die Taille und schaute dabei suchend in die Runde, als halte sie Ausschau nach ihrem Mann Ruedi, der häufig mit einem Fotoapparat irgendwo herumstand, als müsse er alles dokumentieren.

»Ruedi hat so häufig einen Fotoapparat vor dem Gesicht, dass ich meinen eigenen Mann manchmal gar nicht erkennen kann, wenn er mit blankem Gesicht vor mir steht.«

Der Vorschlag, mit bloßen Füßen über die Wiese zu gehen, kam von Gerty, die in einer Broschüre gelesen hatte, wie gesund es sei, mindestens einmal am Tag die Schuhe von sich zu werfen und den unmittelbaren Kontakt mit der freien Natur zu suchen. Von ihr kam auch der Vorschlag, einmal pro Woche im Freien zu übernachten. An einem der Abende hatte Gerty so lange alle in den Arm genommen und nickend angelächelt, bis auch Karl zögerlich seine Bergschuhe ausgezogen hatte, bis der Verandatisch auf die Wiese verfrachtet und die Brotzeit mit bloßen Füßen eingenommen wurde. Und spät abends hatten sogar die Frauen miteinander getanzt.

Heute fand sie in sich keine Kraft mehr, aber morgen würde sie Gerty einen Brief schreiben, wie sehr sie sie bewundere, sechs Kinder großzuziehen und gleichzeitig ein offenes Haus zu führen, jedes Jahr 1.000 Übernachtungen auf dem Bergli zu verkraften und stets neugierig zu bleiben. Und wie sehr sich ihre bloßen Füße danach sehnten, wieder über die Wiesen auf dem Bergli zu laufen.

Sie erinnerte die sehr weiße Haut von Karls Füßen, schlanke, sehnige Füße, die mit jedem Schritt erschraken, wenn sie den Boden berührten, deshalb wirkten seine Schritte etwas unbeholfen wie bei einem Schwimmer, der über einen Kiesstrand zum Meer stelzt. Wie gerne hätte sie Karl eine Hand angeboten. Sein zufriedenes Lächeln, als er endlich den Tisch erreichte und Platz nehmen konnte. Er aber war der Erste, der am darauffolgenden Tag erneut den Vorschlag machte, sich vom schweren Schuhwerk zu entledigen, um die Natur in ihrer ganzen Herrlichkeit zu spüren.

Weil während der vielen Gespräche zwischen den Lektürezeiten und den kleinen Arbeiten im Haus die Gedanken wie bei einem Federballspiel so schnell hin- und herflogen, fasste sie am dritten Abend den Entschluss, etwas Ordnung zu stiften, indem sie wichtige Argumente zusammenführte und in ihrer klaren Schrift, die sich leicht demütig nach rechts neigte, zu notieren. Erst nachdem alle sich einen erquickenden Schlaf gewünscht hatten, traute sie sich, Karl die drei Blätter in die Hand zu drücken, der nicht überrascht schien, dabei so nah an sie herantrat, dass sie noch den Schmorbraten riechen konnte, den sie zum Nachtmahl gegessen hatten, der die Blätter hob und sie dabei schwenkte, als halte er seine Ernennung zum ordentlichen Professor in Händen.

Als sie am anderen Morgen etwas verspätet zum Frühstück erschien, war Karl gerade mit der Verlesung der Seiten fertig, klatschte in die Hände, dann klatschten alle, Karl stand auf und verbeugte sich tief. Solch eine Arbeit liefere ihm nicht einmal einer seiner Doktoranden ab, diese Begabung, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen, Gedankenketten zu erstellen und Urteilsfähigkeit zu beweisen, sogar Vorschläge für Romanlektüren zu unterbreiten, sei ganz außerordentlich. Wie viel Potenzial doch in den Frauenköpfen stecke, und in ihrem so zarten Kopf allzumal, dieses gottgeschenkte Talent müsse gefördert werden, alle hier im Raum seien Zeuge, wie hier auf dem Bergli sich für das Fräulein Lollo ein ganz neuer Weg abzeichne, und alle hier im Raume würden ihren Teil dazu beitragen, ihr diesen Weg zu ebnen, und er, Karl, bestehe nun darauf, mit allen anderen gleichzuziehen und künftig mit ihr im vertraulichen Du zu verkehren: »Also, liebe Lollo, du hast uns mit dem Zeugnis deiner Geisteskraft, die uns allen zugutekommt, ein großes Geschenk unterbreitet. Zwar ist der Morgenkaffee kein adäquates Getränk, um auf deine Zukunft anzustoßen, die erst in unklaren Konturen vor uns liegt, aber es sei doch gesagt: Du bist eine Bereicherung für unsere Runde, du bist scharfhörig und von analytischem Verstand. Ein armdickes Kompliment von meiner Seite. Vielen lieben Dank.«

Gerty war aufgesprungen und zu ihr geeilt, hatte sie in den Arm genommen, gedrückt, dann sie an den Händen gehalten, den Kopf in den Nacken gelegt und so glücklich gelacht, als habe Lollo ihr soeben mitgeteilt, sie sei endlich in anderen Umständen. Ruedi setzte sein dramatisches Gesicht auf und ergänzte, auch er werde nicht hintanstehen, wenn es gelte, Lollo Türen in die Zukunft zu öffnen. Auf ihn sei Verlass. Immer. Georg nickte mit geschlossenen Augen, blieb aber stumm. Auf Lollos Gesicht versammelte sich Licht.

Im Fensterquadranten, in dem stets Karls Kopf einsam studierend von der Terrasse aus zu sehen war, tauchte in den folgenden Tagen jetzt immer häufiger auch ihr Kopf auf, endlich konnte auch sie den Blick genießen und studieren, wie der See unter ihnen mit dem Himmel rang und das Licht zu schlucken versuchte.

Sie schaute ungläubig an sich herunter, offenbar hatten sich die Hände, als sie so intensiv an das Bergli gedacht hatte, selbst bedient und ihre schweren Bergschuhe hervorgeholt, denn mit ihren bloßen Füßen stand sie jetzt in den Bergschuhen in ihrem Zimmer. Immer hatte sie sich nach dem Meer gesehnt, nach dem Watt, nach Schlick, in dem die Füße sich schmatzend fortbewegten, überall Pfützen, die die Erinnerung an das Meer speicherten, der moderige, leicht faulige Geruch, der jeden Schritt begleitete. Nur einmal war sie auf Borkum gewesen, aber dieses eine Mal, an dem auch ihr Vater zugegen war, hatte sie glauben lassen, Wasser sei ihr Element. Erst auf dem Bergli verblasste die Sehnsucht, wurde abgelöst von der Lust, die Muskeln zu spüren, Muskeln in den Waden, von denen sie bisher nichts gewusst hatte, eine Lust, die die Anstrengung auswischte. Ruedi war ein kundiger Führer, kannte jede stiläugige Pflanze und jedes noch so scheue Getier, konnte bereits am frühen Morgen an den Wolken ablesen, ob der Tag ein guter Tag für eine Wanderung war: Nie gerieten sie in ein Wetter.

Auch auf den Wanderungen liebte Gerty es, sie an der Hand oder am Arm zu nehmen, wenn es bergab ging. An einem der letzten Tage auf dem Bergli klagte Karl bei einem leichten Abstieg über Ischiasschmerzen, eine Berufskrankheit von Menschen, die zu oft auf dem Hosenboden sitzen, wie Karl mit einer wegwerfenden Handbewegung sagte. Aber da hatte Gerty bereits seinen linken Arm um ihre Schultern gelegt und Lollo aufgefordert, den rechten Arm zu nehmen, und so schritten sie sehr vorsichtig, jeden ihrer Schritte abfedernd, Richtung Tal. Zunächst wurde der Weg zurück von besorgten Fragen von Ruedi begleitet, die, je näher sie dem Ziel kamen, von launigen Kommentaren Georgs abgelöst wurden. Er schlug vor, künftig auch die Bergwacht in die Hände von Frauen zu legen, denn Karl scheine, wenn er in sein Gesicht schaue, in seinem Schmerz sehr wonnevoll zu baden.

Lollo aber glaubte, den Herzschlag von Karl, den sie auf den Schmerz zurückführte, zu spüren, ein mächtiger Trommeltakt, der sich auf sie übertrug und bis in ihren Kopf reichte. Sie warf deshalb Georg einen vorwurfsvollen Blick zu. Sehr schnell erholte sich Karl, als sie wieder auf sicherem Terrain waren. Alle Vorschläge von ihr, den Ischias durch Massagen oder Moorpackungen zu kurieren, lehnte er lachend ab, seine Lebensgeister kämen bereits zurück, weil er hier so glücklich von zwei Marien aus Magdala umhegt werde, da gebe sich auch ein Ischias grummelnd geschlagen. Sie blieben noch minutenlang auf der Terrasse so eng umschlungen sitzen, weil Ruedi einen Schnappschuss machen wollte, aber zunächst einen neuen Film suchen und einlegen musste. Noch am Abend hallte der Herzschlag von Karl in ihrem Kopf nach. Doppelherz, nuschelte sie, als sie endlich leise lachend in den Schlaf fand.

Vielleicht hielt er genau in diesem Augenblick jenes Foto in Händen, um das Karl sie beim Abschied vom Bergli gebeten hatte. Sie möge es nicht missverstehen, bitte, aber er müsse sich stets ein Gesicht vor Augen halten, ein konkretes Du, mit dem er im Gespräch bleibe, denn wenn er ein Gesicht vor Augen habe, dann seien die langen einsamen Stunden am Schreibtisch leichter zu ertragen, dann beginne ein unendliches Gespräch, und ja, das wünsche er sich, »Seit ein Gespräch wir sind«, hatte er mit einem schalkhaften Heben der linken Augenbraue gesagt, er wünsche sich dieses unendliche Gespräch mit ihr, die bereits so viel wisse und klug nachfrage, sie sei ein Ansporn, durchzuhalten und der Trägheit zu widerstehen, und er sei sich sicher, jedes Foto von ihr spiegle diese animierende Lebendigkeit wider und trotze damit auch dem alttestamentlichen Bilderverbot.

Nach der Rückkehr hatte sie sich tagelang nicht entscheiden können, welches Bild sie ihm schicken sollte, hatte mit verspannten Schultern eine halbe Nacht über ihrem Schuhkarton gebeugt, in dem sie ihre Aufnahmen aufbewahrte, immer wieder alle Fotos angesehen, eine kleine Auswahl gemacht, sich für jedes Foto eine Pantomime ausgedacht, sich schließlich für jene Aufnahme entschieden, die sie in ihrer Rotkreuzschwesterntracht zeigte, weil das Bildnis Karl nicht an einen Urlaubstag erinnern sollte, sondern an einen Auftrag, den beide auszuführen hatten. Sie verbot sich jedes Anschreiben, steckte das Foto in ein Kuvert und brachte es in der knappen Mittagspause auf die Post, rechnete auf dem Rückweg aus, wie lange es mutmaßlich dauern würde, bis sie mit einer Rückantwort rechnen konnte.

Bereits nach vier Tagen hielt sie seine Antwort in Händen, spürte, noch bevor sie den Brief öffnete, eine Kraft, die von diesem Schreiben ausging. Dieses Bild sei wahrhaftig ein Gehilfe seiner Freude, so unvermittelt hob der Brief an, und wie er schon auf dem Bergli mehrfach zu sich selbst gesagt habe, ihr zarter Kopf vertrage einen Hut, der ihr Haupt einrahme, und jetzt erkenne er das weiße Häubchen der Tracht und dahinter einen Kranz blühender Blumen wie eine florale Aureole, die ihr Haupt umgebe. Und vielleicht müsse er ein ganzes Leben darauf verwenden, um in diesem Gesicht lesen zu können, denn so viel stehe darin geschrieben, jetzt endlich wisse er, für welches Du er täglich schreibe, und wie gerne würde er ihr von Angesicht zu Angesicht einen Text vorlesen, der für dieses Du geschrieben sei.

In der ersten Nacht ließ sie den Brief auf ihrem Nachttisch liegen, konnte ihn bereits nach der zweiten Lektüre auswendig, aber er übte eine so starke magnetische Wirkung auf sie aus, dass ihre Hände immer wieder nach ihm griffen. Um Ruhe zu finden, verbarg sie ihn deshalb in ihrer Handtasche, und weil auch dort das magnetische Feld noch zu stark war, versteckte sie ihn in ihrem großen Koffer. Morgen, morgen würde sie Karl einen längeren Brief schreiben. Es musste sich etwas verändern. Es musste etwas vorangehen.

Krefeld durfte nur eine Durchgangsstation sein.

DURCHGANGSSTATION!

Aus Karl Barths Der Römerbrief, 1922

Der Vertauschung von Gott und Welt entspricht, weil sie ein Laufenlassen der Natur bedeutet, die Vertauschung des Unentbehrlichen, Unvermeidlichen an seine dämonische Karikatur, die doch grundsätzlich mit jenem auf einer Linie liegt. Das ohnehin Bedenkliche rollt dem Absurden entgegen. Libido wird alles, das Leben Erotik ohne Grenze. Denn die Grenze zwischen dem »Normalen«, und dem Perversen öffnet sich, wenn zwischen Gott und Mensch nicht eine geschlossene Grenze, eine letzte unerbittliche Schranke und Hemmung ist. […] So tritt die letzte Entleerung und Zersetzung ein, das Chaos zerfällt in seine Bestandteile und es wird alles möglich. Nun wirbeln die Atome, nun wütet der Kampf ums Dasein. Unvernünftig geworden die Vernunft selbst, ohne Metallgehalt auch die Gedanken der Pflicht und der Gemeinschaft. Eine Welt voll persönlicher Willkür und sozialen Unrechts tut sich auf – nicht nur im Rom der Kaiserzeit.

Nelly

Nach den Wochen, die Karl ohne sie auf dem Bergli verbracht hatte, schien er ihr verändert. Er fand offenbar nicht wie gewohnt in den Alltag und die Abläufe zurück. Als würde sein Körper in einer fremden Sprache sprechen, die ihr unbekannt, rätselhaft und verstörend erschien.

Ob sie seine Schuhe zum Schuster bringen solle, ob sie unbequem seien, ob sie vielleicht drückten?

Karl blickte sie staunend an, dann fragend, dann wie ertappt. Rettete sich hüstelnd in ein Lachen. Nein, nein, die Schuhe seien bequem, sehr sogar, sie wundere sich vielleicht, warum er nach Stunden der Arbeit am Schreibtisch sich der Schuhe entledige und barfüßig durch die Wohnung schlurfe. Fränzeli habe ihn auch bereits staunend gefragt. Nein, Gerty, ihre, Nellys Freundin Gerty sei daran schuld, denn sie habe auf dem Bergli alle animiert, stundenweise barfüßig auf der Veranda und der angrenzenden Wiese den Kontakt mit der guten Schöpfung zu suchen, und sie wisse doch, wie nachdrücklich ihre Freundin Gerty für Neuerungen zu werben wisse. Er habe als Letzter dem Ansinnen nachgegeben, als Letzter, wie gesagt, habe sich sogar etwas für seine zwei kleinen Zehen, die der Schöpfer offenbar vergessen habe, vollständig zu töpfern, geschämt, sei aber schließlich diesem Rausch, Rausch, ja Rausch sei das richtige Wort, erlegen, es seien unbekannte Sensationen, die sich ihm erschlossen hätten, man fühle, wenn man, zunächst noch tastend über eine mit Tau bedeckte Wiese laufe, wie schön und gut Gottes Schöpfung sei.

Sensationen, das Wort, das ihr aus Karls Mund fremd vorkam und ungewohnt roch, ließ sie aufhorchen. Sie spürte, wie ihre Zehen in den Schuhen verkrampften.

Ob er von ihr und seinen Kindern erwarte, sie sollten sich zum mittäglichen Tee im Garten barfüßig einfinden? Und ob auch die Hausangestellte, die nicht einmal mit festen Schuhen Tee auftragen könne, ohne dass sich der halbe Inhalt auf den Untertassen wiederfinde, die Schuhe von sich werfen solle, erwarte er dann von der Bediensteten mehr Präzision? Das wäre ihr, Nelly, die kurz davor stünde, diese Fenna zu entlassen, obwohl bald ein Umzug anstünde und die Aufregung für alle im Haus eigentlich keinen Sinn mache, einen Versuch wert.

Karl verschränkte die Arme im Rücken, drückte sein Kreuz durch, wollte offenbar nicht nachgeben.

Ihre Freundin Gerty, und dafür bewundere Karl und auch sicher sie selbst ihre Freundin, sauge den guten Geist einer neuen Zeit nach den langen düsteren Perioden auf, sie habe dafür ein gutes Gespür. So habe sie auch sehr beredt dafür geworben, in warmen Nächten nicht nur bei weit geöffnetem Fenster zu schlafen, sondern auch in den Liegestühlen in Decken warm eingeschlagen und den bestirnten Himmel über alle gespannt zumindest stundenweise draußen zu nächtigen, die Veranda auf dem Bergli sei ein wunderbarer Schlafsaal unter Gottes Firmament, er wolle die Erfahrung durchaus nicht missen. Durchaus nicht.

Ihre Worte schienen ihr wie eingeweckt, als sie widersprach.

Für Lungenkranke könne das angehen, wenn denn das Klima wie in den Schweizer Bergen, namentlich in Davos, Heilung verspreche, aber hier in Göttingen, wohin sie ihm, wie Karl sich wohl noch erinnere, mit großem Magengrimmen gefolgt sei, mache es wenig Sinn, den eigenen Garten zur Lungenheilstätte zu erklären. Und in Münster, wohin es Karl und in seinem Gefolge alle hin verschlagen werde, fehlten die Berge vollständig, nicht einmal eine so lächerliche Anhöhe wie der Harz weit und breit, aber bei einem nächsten gemeinsamen Ausflug auf das Bergli sei sie gerne bereit, die Erfahrung mit ihm zu teilen. Und gerne lasse sie sich von Gerty Lektüre schicken, um sich lesend in die neue Sicht einzuüben. Ob sie sich darauf einzustellen habe, dass sich ihr Karl bald als Nudist erkläre? Gott habe Adam und Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies doch mit Fellen und wahrscheinlich auch Schuhwerk ausgestattet, ob Karl diese kluge Entscheidung Gottes zurücknehmen wolle, um den Wiedereinzug ins Paradies zu befördern?

Sie konnte an Karls Gesicht die Anstrengung ablesen, mit der er nach Worten fahndete, hörte aber nur ein leises Pfeifen seiner Lungen, als er den Mund öffnete, dann sich umdrehte und in sein Zimmer ging, die Tür aber offen ließ. Beschuht kehrte er zurück und ging an ihr vorbei in den Garten. Sie folgte ihm.

Ihr Sieg schmeckte wie eine Niederlage.

Lollo

Würde sie ihre Augen zur Diät zwingen, dann würde sich auch ihr Körper fügen, der ihr stets gehorchte, wenn sie ihn zur Räson rief. Als ihr Busen ihr zu üppig vorkam, hatte sie Abnäher an ihrem aus Musselin angefertigten Büstenhalter, den sie erst vor wenigen Wochen nicht ohne Stolz erstanden hatte, angebracht, und ihr Busen hatte sich gefügt, hatte seine Tendenz zur Vorwitzigkeit eingestellt. Wahrscheinlich hatte auch die Zimmergymnastik, die sie nach einem abgegriffenen Buch von einem gewissen Moritz Schreber, das Gerty ihr geliehen hatte, sehr gewissenhaft auch nach den anstrengenden Diensten ausführte, sie in dem Ansinnen unterstützt. Nie, auch in ihrer Kindheit und Jugend nicht, hatte sie einen großen Bewegungsdrang verspürt, aber nach den Wochen auf dem Bergli meldete der Körper bisher ungeahnte Bedürfnisse an, und es gab, bei nüchterner Überlegung, keinen Grund, diesen Bedürfnissen nicht nachzugeben, denn die mit den kleinen Aufstiegen und mit den auch anspruchsvolleren Wanderungen verbundenen Anstrengungen auf dem Bergli dämpften, wie sie wohlwollend registriert hatte, ihre innere, sie oft herumwerfende Unruhe. Heilgymnastische Übungen, die sie sich nur bei wenigen einsamen Wanderungen an Sonntagen im Freien traute auszuführen, gaben ihr eine Balance zurück, die sie nach dem frühen Tod des Vaters nie wieder erreicht hatte.

Sie verbot sich, das Bild von Karl griffbereit im Zimmer aufzubewahren, aber wenn sie es verstaute, suchten ihre Augen, auch wenn sie es ihnen verbot, heimlich nach dem Ort, wo sie das Bildnis deponiert hatte, und jetzt gehorchte ihr Körper ihr nicht, denn ihre Füße ließen sich gerne verführen, präzise diese Richtung einzuschlagen, und ihre Hände machten sich zu Handlangern, zogen mit sichtbarem Verlangen die Schublade auf, wühlten in der Handtasche oder ertasteten im Koffer unter der Wäsche den Zackenrand des Fotos.

Niemals vor dem Zubettgehen das Bild anzusehen, hatte sie sich als Regel auferlegt, denn in den ersten Tagen, nachdem auch Karl ihr ein Bildnis auf ihr Bitten und Drängen hin zugeschickt hatte, ersann sie Ausflüchte, eine starke Blutung, eine Diarrhöe, um ins Schwesterheim zu eilen und der Augenlust nachzugeben. Die Oberin machte sich bereits ernsthafte Sorgen, also zwang sie sich, diese hastigen, hungrigen Läufe durch die Flure im Krankenhaus zu unterlassen.

Noch immer wurde sie rot, wenn die abgelichteten Augen von Karl durch die Brille hindurch sie trafen, biss sich auf die geballte Faust, weil sie sich ärgerte, blies die Backen auf, fächerte sich Luft zu, schüttelte dann aber, sich ergebend, lachend den Kopf. Sogar in diesem Bild lebte seine Kraft weiter. Genau diese unbändige Kraft war es, die in Wellen auf sie übergriff, so wie sie jüngst auf die anderen auf dem Bergli übersprang und alle wie in einer heiligen Gemeinschaft versammelte. Sobald Karl im Raum war oder den Raum betrat, begann der Raum zu leben, die Wände schienen sich vor ihm zu verneigen, oder rückten noch näher heran, wie auch die anderen im Raum näher an ihn heranrückten. Da war Ruedi, ein im Alltag selbstsicherer Mann, der sich augenblicklich in einen schüchternen Schüler zurückverwandelte. Da war Gerty, die sie auch wegen ihrer unerschütterlichen Suche nach neuen Erfahrungen so lieb gewonnen hatte, die in diesen Augenblicken, wenn Karl mit feinem Humor einen kleinen Exkurs hielt, oder, was auch vorkam, ganz entschieden und ohne Ansehen der Person harsch Stellung bezog und wie ein Staatsanwalt reden konnte, ganz durchsichtig zu werden schien, als würde die Kraft ohne Widerstand durch sie hindurchgehen. Oder Georg. Wie oft hatte sie über seine roten Ohren lächeln müssen, wenn er sich in einer Diskussion erhitzte, diese Ohren schienen Feuer gefangen zu haben, wenn diese Kraft von Karl ausging und alle zusammenband. Eduard, Karls enger Freund Eduard Thurneysen, mit dem das vertrauliche Du ausgesprochen worden war, nachdem Lollo eine ganze Textpassage aus seinem Dostojewski-Buch rezitiert hatte, schloss die Augen, wenn Karl, wie er gerne sagte, »in Fahrt war«, vergaß sogar, an seiner Pfeife zu ziehen.

Und sie? Angefasst! Das war das richtige Wort, sie fühlte sich nicht nur berührt, sondern kräftig angefasst, und ihr Körper sehnte sich danach, angefasst zu werden. Sie entdeckte an sich diese bei ihrer Freundin Gerty zunächst erstmals bemerkte Lust, andere zu berühren, hatte Karl, als dieser einmal sinnend allein vor dem Fenster stand, ganz vorsichtig von hinten berührt, aber diese Berührung hatte bereits hingereicht, um eine kleine Wolke von Traurigkeit, die sie seit den frühen Morgenstunden begleitet hatte, verdunsten zu lassen. Als Karl sich umdrehte und sie anlächelte, sogar ihre beiden Hände umgriff, konnte sie sich nicht mehr vorstellen, jemals wieder traurig zu werden.

Offenbar empfanden alle in seiner Nähe diese Kraft, die ihnen Mut zusprach, die ihrem Leben eine Ausrichtung gab, die die Alltagssorgen, mit denen doch auch jeder zu kämpfen hatte, wenigstens für Stunden, für Tage vergessen machte, sie erlebten einen eigenen Willen, der plötzlich von sich absehen konnte, eine erhebende Erfahrung, die von diesem einen Menschen ausging: Karl, der so ganz anders war als alle Menschen, die sie, aber sicherlich auch alle anderen, bisher kennengelernt hatte.

Berge versetzen. Alle glaubten sie, sie könnten hier auf dem Bergli Berge versetzen. Und als alle vom Bergli abstiegen, fühlte offenbar jeder sich erneuert, nicht nur lächerlich erholt. Und alle spürten, als der Alltag wieder an ihnen zehrte, die Lücke, die durch die Abwesenheit von Karl auf dem Bergli gerissen worden war. Und sie, Lollo, empfand diese Lücke und die fehlende Nähe noch stärker, denn sie hatte keinen Partner, an dem sie sich in Stunden innerer Bedrängnis anlehnen konnte. Sie spürte nur die Lücke. Ihre Hände langten ins Leere. Stundenlang lag sie auf dem Bett und suchte die geschenkte Kraft in sich, die täglich schwächer zu werden schien, die nur durch den konzentrierten Blick auf das Bildnis von Karl aufgefüllt werden konnte.

Sie schimpfte sich eingebildet, kniff sich so stark, dass blaue Flecke auf ihren Oberschenkeln sichtbar wurden, biss sich sogar einmal mit aller Kraft auf den Unterarm und musste die Bisswunde tagelang durch eine Mullbinde vor den Blicken der Patienten und Mitschwestern verbergen, aber das Verlangen von Karl nach einem Bildnis von ihr, sein Geständnis – war es nicht ein Geständnis? – musste sie doch glauben machen, er habe nachdrücklich sie in sein Herz geschlossen und erwählt. Wie oft hatte er sie gelobt, für ihre schnelle Auffassungsgabe, für ihren geäußerten Wunsch, künftig die alten Sprachen zu lernen, hatte sogar die Idee in den Raum geworfen, sie, Lollo, könne seine künftige Sekretärin werden. Nein. Ganz entschieden nein. Sie war nicht eingebildet, Karl hatte sie erwählt. Es gab kein anderes Wort dafür.

ERWÄHLT.

Die Augenblicke der Sicherheit und der Hochgefühle wurden abgelöst von Stunden des Schwankens, der kritischen Selbsteinwürfe, der Verzweiflung, die anwuchs, wenn ein Wind witzelnd um das Haus tobte. Sie war ein Wackelpudding. Ihr Glaube war nicht stark genug. Und die lauschende Stille in ihrem Zimmer war unerträglich.

Sie schämte sich für ihre Schwäche.

Ihr Gesicht fühlte sich aufgedunsen an, aber in diesen kritischen Sekunden fand sie schließlich doch eine Kraft in sich, aufzustehen. Sie musste handeln. Sie wollte handeln. Offenbar strahlte sie auf der Krankenstation eine noch größere Wärme aus, denn die Patienten schenkten ihr häufiger lächelnde Blicke, drückten ihr oft die Hände, zeigten Dankbarkeit für jede kleine Zuwendung, sogar die Oberin sagte einen Satz, den man als großes Lob deuten konnte.

Und seit sieben Tagen saß sie abends nach den Turnübungen über einer lateinischen Grammatik, eine griechische war schon bestellt, konjugierte fleißig die ersten Verben. Ihre geschwinden Fortschritte spornten sie noch stärker an. Auf ihr Gedächtnis war sie immer stolz gewesen, aber diese Vokabeln flogen ihr einfach zu, als könnten sie gar nicht darauf warten, in ihrem Kopf zu nisten. Morgen bereits würde sie in einem Brief Karl bitten, ihr einen leichten lateinischen Text zu nennen, an dem sie erste Übungen probieren könnte.

Nein. Sie war durchaus nicht eingebildet, aber es war doch offensichtlich: Auf ihrer Arbeit ruhte ein Segen. Sie durfte sich auserwählt fühlen. Auserwählt unter den Frauen.

Sie sah, wie ihre Hände aus einer Tüte einen silbernen Bilderrahmen auspackten, wie sie die Klemmen der Hinterwand entfernten, wie sie das Foto von Karl einlegten, justierten und festklemmten. Jetzt stand Karl in Silber gerahmt auf ihrem Nachttisch, daneben die lateinische Grammatik. Eine Helligkeit strömte aus diesem Bild und vertrieb die Dunkelheit in den Schrank.

Ihr Körper freute sich unbändig. Badete in dieser Helligkeit. Und sein Blick streichelte ihren Bauch und kitzelte ihre Füße.

Nelly

Warum dieser flehentliche Ton! Wo versteckte sich ihre Stärke? Sie konzentrierte sich auf das Atmen, um nicht zu weinen.

»Du fählsch mer.«

Karl kratzte sich den Unterarm, eher aus Verlegenheit, denn das Ekzem, das ihn zu Beginn seiner Studienzeit gequält hatte, war längst verheilt. Aber es musste heraus.

Eine gewisse Hartleibigkeit müsse er ihr doch unterstellen, wiederholt habe er ihr doch zu verstehen gegeben, dass ihr Kommandoton, der zuerst die Haushaltshilfe Hermina und jetzt Fenna dazu bewogen hätte, ohne jede Vorwarnung ihre Sachen zu packen, in dem friedlichen Göttingen unangemessen sei. Sie sei doch Zeuge gewesen, dass sich die Haussuche in Münster leider noch um Monate verzögere, eine neue Kraft für wenige Monate zu finden, um sie mit den fünf Kindern zu entlasten, sei kein einfaches Unterfangen. Er werde sich bei seinen alten Kollegen hier in Göttingen erkundigen, ob sie eine Adresse wüssten, wo Nelly nachfragen könne.

Ein Anflug eines alten Lächelns entdeckte sie auf Karls Gesicht. Auch er sähe den kleinen Hans-Joggeli, den letzten in der Reihe ihrer gesammelten Werke, gerne öfter, wie er das Krabbeln, das Stehen und die ersten tastenden Gehversuche lerne, aber zwischen ihnen beiden herrsche doch eine große Einigkeit darüber, dass sie das Regiment über ihre Kinder häufig allein führen müsse, er sei doch eher für die Belustigung zuständig, und es fehle ihm auch an Zeit, weil er auf dem Gebiete der Wissenschaft viel nachzuholen habe und der plötzliche Erfolg seines Römerbriefkommentars, dem er