Leitfaden für erwachsene Idealisten
Aus dem Englischen von
Christiana Goldmann
Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de
© der E-Book-Ausgabe 2014 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-609-5
E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
© der Neuausgabe 2013 by Hamburger Edition
Deutsche Erstausgabe 2010 by Hamburger Edition
© der Originalausgabe 2008 by Susan Neiman
Titel der Originalausgabe: »Moral Clarity. A Guide for Grown-Up Idealists«, Harcourt 2008
ISBN 978-3-86854-271-4
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
Typografie und Herstellung: Jan und Elke Enns
Satz aus der Sabon von Dörlemann Satz, Lemförde
Für meine Mutter,
Judith Chayes Neiman
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Einleitung
Erster TeilReal und Ideal
1Nackte Tatsachen
2Ideale und Ideologie
3Unter dem Galgen
Zweiter TeilWerte der Aufklärung
4Mythen oder Ungeheuer
5Himmel und Erde
6Glück
7Vernunft
8Ehrfurcht
9Hoffnung
Dritter TeilGut und Böse
10Die »Odyssee«. Ein Exkurs
11Und das Böse?
12Helden der Aufklärung
13Moralische Klarheit
Danksagung
Bibliografie
Zur Autorin
Ich weiß, wo ich bin.
Geboren wurde ich zwar in Atlanta, Georgia, seit 1982 lebe ich aber überwiegend in Berlin, einer Stadt, in der nichts unklarer scheint als die Moral und nichts unmoralischer als die Klarheit. Mir ist also nicht entgangen, dass der Titel dieses Buches zunächst auf Unverständnis stößt. Wie sollte es auch anders sein in einem Land, in dem das Wort Held verstaubte Bilder toter Verwandter in Wehrmachtsuniformen hervorruft und das Wort moralisch eher als Schimpfwort denn als Auszeichnung taugt? Aber auch in Amerika war der Titel als Provokation gemeint. Ebenso wie in Europa werden moralische Begriffe dort zunehmend von den Rechten, die jede Unterscheidung zwischen Denken und Dogma, zwischen Klarheit und Einfachheit verwischen, gebraucht. Ausgehend von der Annahme, dass vereinfachte Moralbegriffe gefährlich, gar unmoralisch sein können, haben fortschrittliche Kräfte – kann man das Wort links noch benutzen? – entschieden, auf den moralischen Wortschatz zu verzichten. Eine solche – in letzter Konsequenz nicht nur sprachliche – Selbstverstümmelung mag verständlich sein, sie ist aber am Ende fatal. Aus Angst vor Missbrauch werden die stärksten Begriffe, die wir haben, gerade denjenigen überlassen, die sie am ehesten missbrauchen. Wer aber die Missstände einer Gesellschaft verändern möchte, steht ohne eine Sprache der Moral mit leeren Händen da.
Dieses Buch verbindet zwei Projekte, die mich seit Jahren begleiten. Das erste entsprang dem Wunsch, eine Replik auf Theodor W. Adornos und Max Horkheimers »Dialektik der Aufklärung« auszuarbeiten. Denn trotz aller Nuancen und Einsprüche dieser Autoren bleibt nach der Lektüre ihres Buches kaum Hoffnung auf eine Aufklärung, die nicht dazu verdammt ist, sich selbst zu zerstören. Die Resignation wird durch andere einflussreiche Autoren noch verstärkt: wie etwa durch Foucault, der behauptete, die wichtigste Leistung der Aufklärung sei nur eine verschleierte Fortentwicklung der Herrschaftsmethoden. Gegen solche gängigen Vorstellungen wollte ich bereits seit Langem zeigen, wie viel Kraft in der Aufklärung noch steckt, wenn man sie von ihren Karikaturen befreit.
Diese philosophischen Ansätze auszuarbeiten, wurde durch die Politik des neuen Jahrhunderts noch dringlicher. Wie manch andere Entwicklung auch zeigte sich die Vereinnahmung der Sprache der Moral durch die Rechten in den USA am deutlichsten. Leider beweisen die sogenannten Tea Parties, dass der Missbrauch moralischer Begriffe, die die Bush-Regierung kennzeichnete, keine vorübergehende Phase war. Umso überraschender wirkt die Reaktion vieler ihrer Gegner: Anstatt zu überlegen, wie man verantwortlich mit der Sprache der Moral umgeht, werden Begriffe wie böse oder Held nicht wie Werkzeuge, sondern wie Waffen betrachtet, zu denen nur einer wie Bush oder bin Laden greift.
Auch wenn dieses Problem durch die amerikanische Rhetorik in den USA offensichtlicher zutage tritt, ist es längst auch in Europa präsent. Wer unverfroren von Moral, Ehre, Eigenverantwortung oder Helden spricht, wird als konservativ, wenn nicht rechts eingestuft. Wer herumnuschelt, wenn nach Idealen oder Fortschritt gefragt wird, steht heute eher links. Dies hat seine Ursache in den kulturellen Entwicklungen, deren philosophische Grundsätze hier analysiert werden. Doch das Buch will nicht nur analysieren; die Leser werden auch aufgefordert, den Mut aufzubringen, Begriffe zu benutzen, die ihnen vorher peinlich erschienen. Denn ohne die Sprache der Moral sind wir nicht einmal in der Lage, die Welt zu beschreiben – geschweige denn, sie zu verändern.
Susan Neiman, Berlin im Mai 2010
Sodom und Gomorrha eignen sich genauso gut wie andere Orte, um über Gut und Böse nachzudenken, überraschen mögen nur die Gründe dafür. Normalerweise stehen sie für einen einfachen Fall von Verbrechen und Strafe: Sodoms Bewohner haben gesündigt und Gott vernichtet sie, er verwandelt eine blühende Stadt in einen Trümmerhaufen und eine Frau in eine Salzsäule, weil sie einen wehmütigen Blick zurückgeworfen hat. Für Fundamentalisten besteht die Sünde ganz allgemein in sexueller Ausschweifung und im Besonderen in Homosexualität, beides in ihren Augen abscheuliche Laster, die den Fortbestand der Gemeinschaft bedrohen. Für Homosexuelle ist die Zerstörung der Stadt ein Beispiel für die Unmenschlichkeit traditioneller Religion. Für den Marquis de Sade lud die Geschichte zu Gewaltvorstellungen ein, die das Recht auf den Kopf stellen. De Sade kannte die Bibel allerdings besser als die meisten der heutigen Leser.
Die Geschichte scheint zwar glasklar zu sein, aber eigentlich ist sie wunderbar vielschichtig. Zunächst muss man kein Fundamentalist sein, um die Sünde zu verabscheuen, die den Bewohnern Sodoms zum Verhängnis wird: Nicht um Unzucht oder Homosexualität geht es, sondern darum, dass sie von Lot, der in seiner Gutherzigkeit zwei Fremde bei sich aufgenommen hat, verlangen, er solle sie ihnen ausliefern, damit sie sie vergewaltigen können. Die Vorstellungen der alten Mittelmeervölker darüber, was Gastgeber und Gast einander schulden, lieferten das Fundament der traditionellen Moral, und Verstöße dagegen bedrohten die sozialen Bande in ihrem Kern. Für die Griechen war ein solcher Verstoß Grund genug, gegen Troja in den Krieg zu ziehen. Lot nimmt seine Gastpflichten so ernst, dass er dem rasenden Pöbel sogar seine jungfräulichen Töchter anbietet, wenn er nur seine Gäste verschone. Die Gäste erweisen sich als Engel. Sie blenden die Sodomiter, als diese die Tür einschlagen wollen, und besiegeln ihr Verderben. Doch ob man nun an Engel oder die Gültigkeit des antiken Gastrechts glaubt, die Verfehlungen der Sodomiter wird man in jedem Fall abscheulich finden.
Einige Versionen führen die Darstellung im Buch Genesis weiter aus, so als reiche eine Gruppenvergewaltigung nicht, um die Vernichtung zu rechtfertigen: Sie meinen, die Sodomiter seien nicht nur unmoralisch gewesen, sie hätten sich antimoralisch gebärdet. Einer jüdischen Erzählung zufolge ereigneten sich Gruppenvergewaltigungen von Fremden nicht bloß zufällig, Sodoms Gesetze schrieben sie geradezu vor. Laut einer anderen Erzählung wurde, wer Fremden half, mit dem Tode bestraft – ein Los, das eine der Töchter Lots erlitt, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, weil sie einem Armen ein Stück Brot gegeben hatte, ebenso wie eine weitere, namenlose Jungfrau, die für dasselbe Vergehen mit Honig bestrichen und auf einem Hausdach den Bienenschwärmen überlassen wurde. Selbst das Steuerwesen in der Stadt war perverserweise regressiv. Wer zwei Ochsen besaß, musste einen Tag für die Gemeinde arbeiten, wer einen Ochsen besaß, wurde für zwei Tage herangezogen. Und zur Krönung all dessen waren die Sodomiter auch noch undankbar, denn die Stadt war mit Reichtümern gesegnet. Gärtner, die Gemüse in ihren Wassern wuschen, konnten Goldflocken aus den erdigen Wurzeln schütteln, die Straßen waren statt mit Steinen mit Saphiren gesäumt, und sieben Baumarten – Traube, Feige, Granatapfel, Walnuss, Mandel, Apfel und Pfirsich – spendeten all ihren Wegen Schatten. Doch trotz dieses Überflusses fürchteten die Sodomiter nur eins: teilen zu müssen. In einer Quelle heißt es, Sodoms Bewohner töteten sämtliche Vögel, damit diese nur ja kein Körnchen aufpickten. Wo Freundlichkeit gegenüber Fremden die Grundlage der Zivilisation bildet, da ist das Handeln der Sodomiter doppelt empörend. Viele Orte ignorieren das moralische Gesetz, Sodom stellt es auf den Kopf.
Der wichtigste Teil der Geschichte spielt sich jedoch vor der Zerstörung der beiden Städte Sodom und Gomorrha ab. Nachdem Gott Abraham in Sein Vertrauen gezogen und ihm versprochen hat, ihm Macht zu verleihen, eröffnete Er ihm die Absicht, die Städte vernichten zu wollen. Abrahams Reaktion ist ehrfurchtgebietend. Bis dahin hatte Abraham Gottes Worte schweigend empfangen, doch nun hält er inne und spricht offen heraus: Was, wenn unter den Sündern 50 Unschuldige wären? Sollte der Richter der ganzen Welt wirklich die Unschuldigen mit den Schuldigen verderben?1 Der Richter der ganzen Welt stimmt ihm zu: Wenn es 50 Gerechte in Sodom gibt, werde Er die Stadt verschonen. Aber der HErr ist doch sicherlich kein Pedant. Was, wenn es weniger wären? Würde Er die ganze Stadt zerstören, weil fünf an der Zahl fehlten?2 Die Antwort erfolgt prompt: Der HErr werde Sodom retten, wenn sich 45 Gerechte in der Stadt finden. Der HErr wird doch nicht willkürlich sein? Was, wenn es nur 40 gute Menschen in der Stadt gibt?3 Abraham handelt Gott auf zehn herunter, und diese Zahl ist kein Zufall. Für eine Handvoll Menschen ist es leicht, aus einer brennenden Stadt zu fliehen, und genau das geschieht dann auch. Obwohl Lot versucht, sie zu warnen, stößt er selbst bei einigen Mitgliedern seiner Familie auf taube Ohren, so schart er die Übrigen um sich und macht sich davon.
Es sind drei Aspekte an Abrahams Handeln, die Menschen wie mich berühren. Erstens: sein entschiedener Universalismus. Abrahams Sorge um die Unschuldigen in Sodom gilt nicht seinen Freunden oder Nachbarn, sie gilt den Unschuldigen überall. Die Menschen von Sodom bleiben abstrakt und namenlos und sind es dennoch wert, dass er sein Leben für sie einsetzt. Der zweite ist seine Entschlossenheit. Mit seinem Einsatz für die Unschuldigen gefährdet er sein eigenes Leben. Schließlich lebt er nicht in einer Demokratie, sondern in einer Welt, in der Könige es nicht gerade schätzen, von ihren Untertanen getadelt zu werden. Abraham wagt es, den König der Könige daran zu erinnern, dass Er dabei ist, das moralische Gesetz zu brechen. Aus dem Text geht klar hervor, dass Abraham sich fürchtet. Seine Worte sind weder stolz noch weinerlich, sie sind die Bitte eines Dieners an einen Herrn, der ihn mit einem Blick vernichten könnte. »Siehe doch, ich habe mich erdreistet, zu dem Herrn zu reden, obwohl ich Staub und Asche bin«, so leitet er seinen Handel mit Gott ein. »Der Herr möge doch nicht zürnen, dass ich noch einmal rede«, steht vor der Zeile, in der er Gott auf 30 herunterhandelt.4 Der dritte bemerkenswerte Aspekt an dieser Geschichte ist die Beachtung der Details. Moralische Urteile lassen sich nicht ein für alle Mal fällen, vielmehr müssen wir die Unterschiede im Blick behalten. Zahlen sind wichtig. Auch graduelle Differenzen. Abraham mag wie ein Kaufmann sprechen, aber er denkt wie ein Moralist. Wenn er sogar Gott dazu bringt, auf die kleinen Unterschiede zu achten, wer von uns kann sich dann dagegen sträuben? Moralische Urteile sind bedächtig, spezifisch und selten absolut. Zweierlei aber geht aus der biblischen Geschichte ganz klar hervor: Vergewaltigung ist ein Verbrechen – und Kollateralschäden sind es ebenfalls.
Wir haben moralische Bedürfnisse, Bedürfnisse, die so stark sind, dass sie, wie Abrahams Geschichte beweist, unseren Selbsterhaltungstrieb außer Kraft setzen können. Die Geschichte zeigt auch, dass diese Bedürfnisse nicht in der Religion wurzeln oder in irgendeiner Form göttlicher Gebote. Sie schließen das Bedürfnis ein, Ehrfurcht auszudrücken und Empörung zu äußern, wie auch das Bedürfnis, Schönfärberei und Scheinheiligkeit zurückzuweisen und die Dinge beim Namen zu nennen. Sie schließen das Bedürfnis ein, unser eigenes Leben als eine Geschichte mit Bedeutung zu sehen – Bedeutungen, die wir der Welt verleihen und die eine wesentliche Quelle menschlicher Würde sind –, weil wir unser Leben andernfalls für wertlos halten würden. Das fundamentalste und erstaunlichste Bedürfnis ist allerdings, dass wir die Welt mit moralischen Kategorien betrachten wollen. Diese Bedürfnisse gründen in der Struktur der Vernunft. Religion oder Gefühle mögen sie zwar fördern, aber sie werden durch sie nicht lebendig gehalten. Wie ich im Folgenden ausführen werde, beruhen sie auf dem Prinzip des zureichenden Grundes, das uns als Kompass dient. Moralisches Hinterfragen und politisches Engagement fangen dort an, wo es uns an Gründen fehlt. Wenn rechtschaffene Menschen leiden und böse Menschen gedeihen, beginnen wir nach dem Warum zu fragen. Forderungen nach moralischer Klarheit lassen die Glocken so laut ertönen, weil wir mit Recht danach suchen. Wer sie nicht findet, wird sich stattdessen wahrscheinlich mit einer sehr viel gefährlicheren moralischen Einfachheit oder Reinheit begnügen.
Dieses Buch entstand als Reaktion auf Bedürfnisse, die Leser meines vorigen Buches »Das Böse denken« geäußert haben. Konzipiert als eine Geschichte der Philosophie, hat es das Interesse von Lesern außerhalb der Universität erregt, die ernsthaft über Werte und ethische Fragen diskutieren wollten. Mehr Menschen, als ich mir je hätte träumen lassen, sagten mir, genau so etwas hätten sie sich immer von der Philosophie erhofft, und baten mich, noch einen Schritt weiter zu gehen. Ich hatte die Geschichte der neuzeitlichen Philosophie des Westens neu gelesen, um zu zeigen, dass ihre bedeutenden Denker nicht von erkenntnistheoretischen Rätseln angetrieben wurden, sondern von der Suche nach dem Sinn des Bösen und des Leidens, wie sie sich in den Ereignissen ihrer Zeit manifestierten. Könnte ich nicht, fragten die Leser, meine eigenen Ansichten zu diesen philosophischen Fragen in Bezug setzen zu den Geschehnissen unserer Zeit?
Ich konnte es nicht. Die Aufgabe war überwältigend, und es schien vermessen, auch nur den Versuch zu machen. Vielleicht hätte nichts anderes als die amerikanischen Präsidentschaftswahlen von 2004 mich überzeugen können, es zu tun. Wie viele Menschen, die an jenem 3. November bestürzt waren, hat mich die Behauptung sprachlos gemacht, für Bush hätten sich die Wähler deshalb entschieden, weil ihnen moralische Werte am Herzen lagen. Entweder waren sie auf einen ungeheuren Schwindel hereingefallen, oder die Opposition hatte dramatisch versagt. Vermutlich waren die Wahlen ein Ergebnis von beidem, aber das zu klären, ist Sache der Historiker. Das Nützlichste, das ich als amerikanische Philosophin tun konnte, war, die philosophischen Grundlagen des zeitgenössischen politischen Diskurses zu untersuchen und die Rahmenbedingungen für Alternativen zu formulieren. Der Ausdruck moral clarity ist keine Erfindung der Konservativen – der Journalist William Safire hat ihn bis auf eine 1934 vor der American Philosophical Association gehaltene Rede zurückverfolgt –, doch spätestens seit 2001 ist er fest in konservativer Hand. In Amerika ist der Ausdruck so eng mit George W. Bush verbunden, dass nur seine Parteigänger ihn zu benutzen geneigt waren. Dieses Buch beabsichtigt, ihn sich zurückzuholen.
Es war noch nie überzeugend zu argumentieren, dass, wenn die Republikaner das Feld der individuellen Tugenden besetzt halten, die Demokraten nach wie vor soziale Werte für sich beanspruchen würden. Ebenso wenig überzeugt es, darauf hinzuweisen, dass viele Menschen nicht deshalb in die Kirche gehen, weil sie geistlichen Beistand suchen, sondern schlicht deshalb, weil sie dort Dienstleistungen in Anspruch nehmen können, die im heutigen Amerika von keiner anderen Institution erbracht werden. In »Conservatives Without Conscience« meinte John Dean, Nixons ehemaliger Rechtsberater, sogar, die culture wars seien inszeniert worden, um der Rechten eine Plattform zu geben, nachdem ihre traditionellen Angriffsziele mit dem Ende des Kalten Kriegs verschwunden waren. All diese Behauptungen mögen wahr sein, doch sie übersehen eine quälende Kluft. In der säkularen Kultur des Westens gibt es keinen klaren Ort für moralische Kategorien, und ihre Verwendung löst bei vielen tiefes Unbehagen aus.
Die Wahlen von 2004 haben einiges deutlich gezeigt. In der ganzen Welt stritten die Menschen über die Gründe ihres Ausgangs, so viel aber war klar: Jeder, gleichgültig wo, war von moralischer Leidenschaft getrieben. Ob sich die Wähler nun von ihren Ansichten zum Terrorismus, zum Irakkrieg oder zur Abtreibung hatten leiten lassen – bei diesen Wahlen hatte nicht wirtschaftlicher Nutzen den Ausschlag gegeben. Bushs Wähler gehörten eher zu denen, die unter seiner Wirtschaftspolitik gelitten hatten, während für viele seiner heftigsten Gegner in Aussicht stand, von Bushs Steuersenkungen zu profitieren. Zyniker und Marxisten der alten Schule müssen ihre Grundsätze überdenken. Bertolt Brechts berühmtes Aperçu »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral« erweist sich einfach als eine Sache der Chronologie. Sobald unsere Mägen aufhören zu knurren, beginnen wir zu moralisieren.
Barack Obamas Fähigkeit, moralische Bedürfnisse anzusprechen, war der Schlüssel zu seinem unwahrscheinlichen Erfolg im Jahr 2008. Als die erste Auflage dieses Buches im Januar des Wahljahres erschien, hatte ich mich bereits als Wahlkampfhelferin engagiert, sehr zur Belustigung vieler meiner Freunde, die meinten, nur eine Intellektuelle, die jeglichen Sinn für die Realität in Amerika verloren habe, könne Obama eine Chance einräumen. Die Lektüre seines Buches »Dreams from My Father«5 hat meine eigenen Träume neu beflügelt: dass ein Mann von großer Intelligenz, offensichtlicher Integrität und zurückhaltender Leidenschaft tatsächlich Präsident der Vereinigten Staaten werden könnte. Überflüssig zu erwähnen, dass sich so die Sehnsüchte der Bürgerrechtsbewegung, die mein politisches Bewusstsein geformt hat, erfüllen würden. Vor einem halben Jahrhundert im Süden geboren, habe ich Männer und Frauen mit nahezu übermenschlicher Geduld Zeilen wie »I’m gonna be a registered voter one of these days« singen hören. Wie hoch unsere Erwartungen in den 1960er Jahren auch waren, niemand hätte sich vorstellen können, dass irgendein Afroamerikaner es so weit bringen würde können. Aber man braucht nicht auf Kindheitserinnerungen zurückzugreifen. Vor knapp einem Jahr habe ich mir noch nicht vorstellen können, dass jemand, der sich um die Präsidentschaft bewarb, seine Wahlkampfveranstaltungen regelmäßig mit Sätzen wie »Okay, Pennsylvania, lass uns die Welt verändern« beenden würde – gesprochen mit jenem Anflug von Nüchternheit, der jedem Pathos die Spitze brach. Daneben leitete er die beste Wahlkampforganisation, die man je gesehen hat. Wie war das doch gleich mit dem erwachsenen Idealismus?
Keine 24 Stunden nach der Wahl lag die Analyse vor: »It’s the economy, stupid.«6 Kritiker, die stolz auf ihre Fähigkeit sind, Phrasendrescherei zu durchschauen, beharrten darauf, dass die Finanzkrise im Herbst die Wähler in eine solche Verzweiflung gestürzt hatte, dass sie bereit gewesen seien, andere Hoffnungen und Befürchtungen hintanzustellen. Wer gern die Vorsehung als Erklärung heranzog, nannte den Zusammenbruch an der Wall Street einen Akt Gottes. (Ich habe dies sowohl aus dem Mund eines schwarzen Baptisten aus dem Süden gehört als auch von einem jüdischen Unternehmer, der sich für fairen Handel einsetzt.) Es dauerte keinen Monat, da hatten sich solche Thesen zu Binsenwahrheiten verfestigt: Obamas unwahrscheinlicher Sieg sei das Ergebnis eines noch unwahrscheinlicheren Ereignisses, der schlimmsten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression. Tatsächlich, sagten einige, sei die Krise so tief gewesen, dass die Republikaner sie nicht hätten erben wollen – daher seien sie auch bereit gewesen, auf einige der schmutzigeren Tricks zu verzichten, die ihnen in der Vergangenheit zum Sieg verholfen hatten. Eine kleine Welle von Karikaturen ließ durchblicken, dass Obama bloß ein weiterer Schwarzer sei, der den Dreck aufräumen sollte, den die Weißen hinterließen.
Den ökonomischen Erklärungen dicht auf den Fersen folgten die demografischen Deutungsmuster, die die Wahlen bereits begleitet hatten. Diagramme und Schaubilder gaben ihnen einen streng wissenschaftlichen Anstrich. Einige Beobachter meinten, die Republikaner hätten die Wahlen zwangsläufig verlieren müssen, weil ihre Einstellung zur Einwanderung sie für die hispanische Wählergruppe unmöglich machte. Weitschweifige Analysen, in denen die amerikanische Bevölkerung in Kategorien unterteilt wurde, hielten es für überflüssig, ihre grundlegendste Annahme zu rechtfertigen: Am Ende zählt nur eins, die Gruppenloyalität.
Aus der Entfernung sahen solche Analysen vielleicht plausibel aus, aber sie erklärten nicht, was an der Basis geschehen war. Millionen von Amerikanern aller Rassen, Klassen und Altersgruppen opferten Zeit und Geld, die sie eigentlich nicht hatten, um mit vollem Einsatz am Wahlkampf mitzuarbeiten: Mit wie viel Witz und Kreativität Obamas Kampagne betrieben wurde, beeindruckte mindestens ebenso wie die Anzahl der Helfer. Welche Gruppeninteressen hätten die 45000 Anwälte motivieren sollen, die von morgens bis abends an den Wahlurnen standen, um sicherzustellen, dass diesmal keine Stimmen gestohlen wurden? Wie den Stahlarbeitern, Hausfrauen und Ärzten, die Wähler in die Verzeichnisse eintrugen und in ganz Amerika von Tür zu Tür gingen, lag ihnen nur das Gemeinwohl am Herzen – die res publica, wie die Römer sagten, die Wurzel unseres Wortes Republik. Sie waren, unter jedwedem Blickwinkel, viel zu verschieden, um auf Statistiken reduziert zu werden; unbelehrbare Zyniker kamen zu dem Schluss, sie hätten einen unsichtbaren Zaubertrank getrunken.
Es ist immer leichter, nach vertrauten Erklärungen zu greifen, als eine Wahrheit anzuerkennen, die sie infrage stellt. Eine solche Wahrheit konnte man auf den Gesichtern derjenigen erkennen, die sich in der Nacht des 4. November 2008 in Chicago versammelt hatten, um einen, wie jedermann wusste, historischen Augenblick zu feiern. Als 1989 die Mauer fiel, haben die Berliner ihre grauen Straßen mit Sekt begossen. Die Wahl Obamas bedeutete pure Freude. Man sah die Gesichter von Menschen, die beflügelt wurden durch das, was uns beflügeln sollte – durch Ideale, die, in der Person Obamas, die Chance hatten, ihrer Verwirklichung näher zu kommen, als wir lange zu hoffen gewagt hatten. Zweifelsohne war der Zustand der Wirtschaft ein Faktor, ein wirtschaftlicher Wandel zieht oft einen politischen nach sich. Was aber die Menschen mit der richtigen Einstellung auf die Straße getrieben hatte – nicht als wütender Mob oder Massen, die nach dem Faschismus brüllten –, waren keine ökonomischen Ängste, sondern die richtige Art von Idealen. Wenn wir nicht verstehen, warum diese Wahlen gewonnen worden sind, besteht wenig Aussicht darauf, ihre Versprechen zu realisieren.
Die internationalen Reaktionen auf Obamas Sieg machen dies sogar noch deutlicher. Sie lassen sich nicht auf irgendwelche Sonderinteressen zurückführen. Eine Begeisterungswelle folgte der anderen, und das ließ sich nicht mit schlichter Erleichterung erklären: Das mächtigste Land der Welt wird nicht mehr von Personen regiert, denen niemand über den Weg traut. Die deutsche Wochenzeitung, die sich das ganze Jahr über in blasierten Bemerkungen über die angeblich messianischen Ambitionen des Kandidaten ergangen hatte, verkündete plötzlich, Obamas Sieg sei nichts weniger als eine zweite amerikanische Revolution.7 Von Kuala Lumpur bis Kapstadt forderten die Regierungen erfreut, Amerika solle wieder seine Rolle als Führer der freien Welt einnehmen. Israels Massenblatt Yedioth Aharonth brachte eine Schlagzeile aus nur zwei Wörtern: Ha Tikvah. Wirklich verblüffend für diejenigen, die wissen, dass die Wörter – sie bedeuten Die Hoffnung – auch den Titel der israelischen Nationalhymne bilden. Dass Kenia den Tag nach Obamas Wahl zum Nationalfeiertag erklärt hat, erstaunte niemanden. Aber wer hätte vorhersehen können, dass eine irische Gruppe einen Song mit dem Refrain schrieb: »O’Leary, O’Reilly, O’Hare and O’Hara/ There’s no one so Irish as Barack Obama«? Oder dass ein Beduinenstamm aus Galiläa ihn flugs zu einem Mitglied machte? Die israelische Zeitung Ha’aretz zog das Fazit, dass der Tag seiner Wahl eine Veränderung für die gesamte Welt mit sich brachte und ihren Bewohnern einen Grund gibt, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Die Schlagzeile in The Scotsman sagte dasselbe weniger geschliffen: ALLES IST MÖGLICH.
All diese Aussagen sind heikel. Jetzt, wo ich sie niederschreibe, hat Obama noch nicht viel Zeit gehabt, um zu enttäuschen. Sogar in seiner Rede unmittelbar nach dem Wahlsieg warnte er, dass angesichts der hohen Erwartungen eine Enttäuschung unvermeidlich sei. Dennoch leben wir immer noch in einem anhaltenden Augenblick, den wir, was auch folgen wird, auskosten sollten. Gute Nachrichten sind freilich nicht so einfach zu genießen. Wie vieles andere, von technischen Errungenschaften wie der Luftfahrt bis zum Stimmrecht für Frauen, wurde Obamas scheinbar unmögliche Wahl in sehr kurzer Zeit als gewöhnliches Phänomen wahrgenommen. Die Euphorie wurde von einem allgemeinen Drang abgelöst, sich Sorgen zu machen, denn aufzuzählen, wie viele Möglichkeiten des Scheiterns es gibt, vermittelt ein vertrautes Gefühl. In dem Augenblick selbst zu verweilen, war verwirrend: Außerhalb des Kinos erwarten wir mittlerweile, dass die Guten entweder den Kampf verlieren oder ihre Seele.
Vor 200 Jahren suchte Kant nach Zeichen des Fortschritts in der Menschheitsgeschichte. Wie dieses Buch zeigen möchte, hielt weder er noch irgendein anderer ernst zu nehmender Philosoph der Aufklärung den Fortschritt für unvermeidlich. Für Kant gab es so viele Gründe zu zweifeln, dass er sich mit sehr wenig begnügte: Die Hoffnung, die die Menschen auf der ganzen Welt spürten, als sie von der Französischen Revolution erfuhren, war ihm Anzeichen genug, dass die Menschheit sich von der Vision einer besseren Welt bewegen ließ – und damit die Möglichkeit hatte, sich ihr anzunähern. Kant schrieb dies 1794, als die Französische Revolution bereits deutliche Spuren moralischer Fäulnis aufwies. Gleichwohl reichte die kollektive Hoffnung und Freude, die ihren Ausbruch begleitet hatten, um Kant den Glauben an die Zukunft der Menschheit zu bewahren.
Die T-Shirts mit »Yes, We Can« in Koreanisch, Hindi und Russisch zeigen, dass Obamas Wahl ein nicht weniger historischer Augenblick war, der von Bedeutung bleiben wird, was immer auch danach geschieht. Wenn es mehr als nur ein glanzvoller Augenblick sein soll, müssen wir verstehen, wie es dazu kam. Wenn wir die Vorstellungen der vergangenen Jahrzehnte entwirren, wird uns das dabei helfen. Und was noch sehr viel wichtiger ist: Es wird uns darauf vorbereiten, neue, handlungsorientierte Positionen in einer völlig vernetzten Welt einzunehmen. Zu verstehen, welche Vorstellungen zum Handeln antreiben, ist besonders dann wichtig, wenn das Gedächtnis so schwach ist wie die Verlockungen des Revisionismus stark: Sicherlich auch um strafrechtliche Konsequenzen abzuwehren, werden die Bush-Jahre schon jetzt umgedeutet und als Versagen eines exzessiven Idealismus dargestellt. Wie es dazu gekommen ist – und wie solche Revisionen zukünftig zu verhindern wären –, das ist eine der Fragen, auf die dieses Buch eine Antwort geben wird.
Von all den Kräften, die zum Rechtsruck in der amerikanischen Kultur beigetragen haben, befremden die philosophischen Anstrengungen, die sich hinter dem zeitgenössischen Konservativismus verbergen, wohl am meisten. In den 1960er Jahren galt den Konservativen schon das Wort intellektuell als Schimpfwort – man erinnere sich an Spiro Agnew. Als die Linke jedoch stärker pragmatische Fragen in den Blick nahm, machte sich die Rechte daran, Think Tanks zu gründen. Unter dem Einfluss von Schriftstellern wie Leo Strauss und Ayn Rand lasen jüngere Konservative Platon und Aristoteles. Mithilfe von Organisationen wie dem Liberty Fund und der Olin Foundation finanzierten Geschäftsleute aus dem Mittleren Westen, die ihr Vermögen in der chemischen Industrie oder mit Telefonunternehmen gemacht hatten, Seminare über das Wesen des Bösen in den ungarischen Bergen oder luden Gelehrte nach Chicago ein, um über Recht und Tugend zu diskutieren. In der Zwischenzeit beschloss die Linke, weil sie endlich mehr Einfluss haben wollte, den utopischen Visionen den Rücken zu kehren zugunsten der solideren Basis einer interessenorientierten Politik. Das war ein schwerwiegender Fehler, denn damit warf sie den moralischen Kompass über Bord, der den großartigsten Anstrengungen der 1960er Jahre die Richtung gewiesen hatte – der Bürgerrechtsbewegung, der Opposition gegen den Vietnamkrieg und den Forderungen nach der Gleichstellung der Frau. Während viele linke Aktivisten vollauf mit Identitätspolitik beschäftigt waren, stürzten sich viele linke Akademiker in heftige Auseinandersetzungen über Theorien des Postkolonialismus. Die These, dass nicht nur Recht und Gerechtigkeit, sondern auch das Ich und die Welt von Interessen und Macht bestimmt sind, war für viele außerhalb der akademischen Welt viel zu abstrus, als dass sie sich darum geschert hätten, aber sie erwies sich als äußerst kräftezehrend für jene innerhalb der Wissenschaft. Als die Rechte ihr Studium der Klassiker beendet hatte, stand die Linke vor dem theoretischen Zusammenbruch. Das Ende des Kalten Krieges bescherte den Bürgern des Ostens Güter, die sie immer hatten haben wollen, und dem Westen Informationen, auf die er lieber verzichtet hätte: dass die Träume des Sozialismus sich in einen Albtraum verkehrt hatten. Die Krise, die sich während der 1970er Jahre verschärft hatte, weil der neuen Linken keine bessere Revolution als der alten Linken gelungen war, spitzte sich mit den Enthüllungen, wie entsetzlich die alte gewesen sei, weiter zu. Das Ende der Sowjetunion bot den unverstellten Einblick in ein Imperium, von dem nur die Starrköpfigsten bestritten, das es genau das war, als das Ronald Reagan es bezeichnet hatte. Was war die tyrannische, kaltblütige Ermordung von Millionen Frauen und Männern, wenn nicht böse? Selbst diejenigen, die sich an das alte Sprichwort klammerten, »Wo gehobelt wird, fallen Späne«, mussten zugeben, dass das Ergebnis unbrauchbar war. Von Berlin bis Peking gab es Millionen von Menschen, die unter Regimen gelebt hatten, die sie den verkündeten Grundsätzen nach hätten befreien müssen, und die sich nun gegen Jahrzehnte der Knechtschaft auflehnten.
Willkürliche Verhaftungen, Hungersnot und Mord waren nichts Neues, wohl aber die Größenordnung, die sie im 20. Jahrhundert erreichten. Das Verstörende an den sowjetischen Verbrechen war, dass sie im Namen von Prinzipien begangen wurden, die den meisten von uns lieb und teuer sind. Diese Kritik zurückzuweisen ist leicht: Theoretisch untergraben Stalins Verbrechen die Legitimität sozialistischer Ideale ebenso wenig wie die Inquisition die der christlichen. Doch nachdem alle Argumente ausgereizt worden waren, hatte am Ende des Jahrhunderts die Bereitschaft zugenommen, nicht bloß bestimmte Prinzipien über Bord zu werfen, sondern überhaupt die Vorstellung, dass man nach Prinzipien handeln solle. Im stalinistischen Terror waren die mutigsten Bürger getötet worden, und im Osten überlebte eine freudlose, bittere Kultur, gezeichnet von Zynismus und Neid. Wenn das beim Kampf für die Ideale von Freiheit und Gerechtigkeit herauskam, wäre es dann nicht besser, die Hände in den Schoß zu legen? Auch wenn es niemals deutlich ausgesprochen wurde, so war dies doch die einzige vernünftige Schlussfolgerung aus der Lektüre bekannter politischer Schriftsteller, deren stolzer Pessimismus kaum Raum ließ, sich noch in irgendeine Richtung zu bewegen.
Die, deren Geschäft es ist, über Ethik nachzudenken, haben andere Versäumnisse zu verantworten. Gewiss, Philosophen untersuchen Moralbegriffe, nur tun sie es oft in einer unverständlichen, von alltäglichen Belangen losgelösten Sprache. Die Philosophie hat in den letzten Jahren hervorragende Arbeiten zu ethischen Fragen hervorgebracht, allen voran das Werk von John Rawls, der nicht nur ein brillanter Theoretiker gewesen ist, sondern auch ein Mann, der für seine persönliche Integrität bekannt war. Er verurteilte beispielsweise heftig den amerikanischen Einsatz von Atomwaffen, ohne je zu erwähnen, dass er als Infanterist der US-Armee an der Invasion Japans vor Hiroshima teilnehmen sollte und so wahrscheinlich einer der amerikanischen Soldaten war, die durch die Bombe gerettet wurden. Dennoch ist seine Arbeit abstrakt genug, um Jahrhunderte Bestand zu haben, da sie nahezu keinerlei historische Bezugnahmen aufweist. Obwohl er über die spezifisch moralischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts enorm viel wusste – und sie ihn bekümmerten –, sprach er weder in seinen Büchern noch in seinen Seminaren darüber. Jahre nachdem ich das Glück gehabt hatte, seine Studentin zu sein, wagte ich es, ihn zu fragen, warum er niemals explizit über Themen wie den Holocaust gesprochen habe. »Oh«, meinte Rawls mit seinem Südstaatenakzent, den er auch nach Jahren der Arbeit an den Eliteuniversitäten des Nordens nicht verloren hatte, »ich verstehe sie nicht gut genug, um das zu tun.«
Das klingt wie die Einstellung, die der irische Dichter W. B. Yeats vor langer Zeit beschrieben hat: »Den Besten fehlt es an Überzeugung, die Übelsten sind von der Kraft der Leidenschaft erfüllt.«8 Rawls hatte zwar, wie andere auch, tiefe Überzeugungen, aber seine Bescheidenheit wirkte wie eine Fessel. Angesichts der beängstigend dringlichen Moralprobleme, die uns im Alltag begegnen, empfinden viele aufrichtige Philosophen nicht mangelndes Interesse, sondern Unzulänglichkeit. Doch hinter den anerkennenswerten Versuchen, Scheinheiligkeit und Selbstgerechtigkeit zu vermeiden, lauert oft die Angst davor, in konkreten Fällen ein moralisches Urteil zu äußern. Der Nichteinmischungspakt, der Philosophen davon abhält, über die Geschichte zu reden, und Historiker daran hindert, über Moral zu sprechen, sorgt dafür, dass sich nur wenige Menschen mit der nötigen Kompetenz ins Gefecht stürzen – außer es geht um Fragen, die so spezifisch sind, dass nur andere Spezialisten sich dafür interessieren.
Feine Unterscheidungen zeugen von Bedenken, vom Bewusstsein der möglichen Komplexität moralischer Urteile. Komplexität kann jedoch lähmend wirken. Manchmal sind Skrupel, wie Wittgenstein mahnt, nur Missverständnisse. Was aus Bescheidenheit und moralischem Feingefühl entstanden ist, führt zu Haltungen, die moralische Urteile selbst fehlgeleitet erscheinen lassen – als heuchlerischer Versuch, willkürliche Macht über jene auszuüben, die anderer Meinung sind. Vom Relativismus, für den alle moralischen Werte gleich sind, ist es nur ein kleiner Schritt zum Nihilismus, für den alles Reden über Werte überflüssig ist. Wirklich gleiche Werte heben einander auf. Die Ausblicke, die sich dadurch eröffnen, sind so trüb, dass viele die Tür zur moralischen Reflexion ganz zuschlagen und sich an die einfachsten moralischen Meinungen aus ihrer nächsten Umgebung halten. William Bennett und selbst Bill O’Reilly erreichen Millionen von Lesern, die begierig sind, über Werte zu reden, weil ihnen kein anderer etwas zu bieten hat.9 Nicht die in ihren Büchern verteidigten Positionen, sondern die Tatsache, dass darin etwa das Gute und die Gerechtigkeit offenbar ernsthaft und ohne Jargon erörtert werden, treibt die Menschen erst zur Lektüre – und später in die Wahllokale. Nicht jeder in Kansas liest Platon, viele lesen Schriftsteller, die Platons Werke kennen und sich nicht schämen, Ideen aufzugreifen, die wie seine klingen.
Wörter wie realistisch und idealistisch werden in der gegenwärtigen politischen Diskussion derart salopp benutzt, dass Philosophen eher zusammenzucken und stöhnen, als dass sie sie ernst nehmen. Doch die Tatsache, dass sie nachlässig verwendet werden, macht sie noch nicht bedeutungslos. Die achtlose Verwendung von Begriffen, mit denen Philosophen seit mehr als 2000 Jahren ringen, wirkt sich auf unsere politische Landschaft aus. Sie zu untersuchen ist keine Frage der politischen Philosophie, sondern einer Metaphysik, die stark genug ist, einen moralischen Standpunkt zu untermauern – vor allem die Tatsache, dass wir unser Handeln an moralischen Gründen ausrichten und es auch so wahrnehmen wollen.
Ist Glaube der Motor der Moral? Viele Menschen, Gläubige und Ungläubige, teilen diese Ansicht. Diese Überzeugung ist so verbreitet, dass Abrahams Konfrontation mit Gott vor Sodom wenig Beachtung findet. Seine Bitte für die anonymen Bewohner Sodoms ist weitaus weniger bekannt als sein Schweigen vor dem Befehl des HErrn, seinen eigenen Sohn zu töten. Die Fesselung Isaaks ist Futter für die Orthodoxie jeglicher Couleur. Wenn eine Stimme sagt, du sollst deinen Sohn, deinen einzigen geliebten Sohn nehmen, mit ihm zu einem entfernten Berg reisen, der dir später noch genannt wird, dann sattelst du deinen Esel und tust es, in der Gewissheit deines Glaubens, dass Gott schon jedes Problem, das sich unterwegs ergibt, lösen wird. Die Christen sehen in der Bereitschaft Abrahams, seinen Sohn zu opfern, eine Vorwegnahme der Bereitschaft Gottes, den Seinen zu opfern. Für Muslime ist die Bereitschaft so grundlegend, dass nicht Isaak, sondern Ismael, der Urahn des Islam, als das vorgesehene Opfer dargestellt wird. Angesichts mörderischer Kreuzzügler schöpften Juden im Mittelalter aus der Geschichte den nötigen Mut, um sich und ihre Kinder zu töten und so einer Zwangstaufe zu entgehen. Wie lange jüdische, christliche und muslimische Theologen sich auch abmühten, um vielfältige Bedeutungen im Text zu entdecken, die alles bestimmende Bedeutung ist diese: Abrahams bedingungslose Bereitschaft, Gottes Befehl, zu opfern, was ihm am liebsten sei, eilends zu befolgen, ist der Akt, der ihn qualifiziert, Stifter jener Religionen zu werden, die auch heute noch abrahamitisch genannt zu werden.
Heiden von Mesopotamien bis Mexiko haben Menschenopfer dargebracht; wie griechische Tragödien zeigen, war nicht einmal die Tötung des eigenen Kindes undenkbar. Für die antike Welt war der bemerkenswerteste Teil der Geschichte Abrahams die Tatsache, dass Gott befiehlt, das Opfer zu schonen. In unserem Kontext ist das Wichtigste, dass der Befehl von oben kam. Derselbe Mann, der eben noch Gott entgegengetreten ist, damit dieser das Leben unschuldiger Fremder schont, wartet schweigend auf die Anweisung, seinen eigenen Sohn zu retten. Darum ist die Geschichte für die meisten Überlieferungen so zentral. Für orthodox religiöse Denker gründet der Glaube in einem Autoritätsverhältnis. Wahrer Glaube bedeutet, so die Erläuterung mancher Christen, die Bereitschaft, den Intellekt zu kreuzigen und etwas zu glauben, gerade weil es absurd ist. Für diese Gläubigen ist der Abraham vom Berg Morija ein Vorbild. Wenn er dem himmlischen Vater in einer so bedeutsamen Angelegenheit vertraut, dann sollten wir Übrigen imstande sein, auch bei weniger gewichtigen Anlässen dem Glauben zu folgen.
Ich habe gegen Parteilichkeit nichts einzuwenden. Der Abraham, der Gottes Zorn auf sich zu laden wagt, indem er für die Rettung ihm unbekannter Unschuldiger eintritt, ist die Sorte Mensch, die überall eine Ungerechtigkeit bekämpfen würde. Er ist im besten aller Sinne zutiefst menschlich, furchtsam und unvollkommen, aber weder seine Furcht noch seine Schwäche stehen seiner Vernunft im Weg. Er ist ehrfürchtig, doch nicht unterwürfig, denn sein Glaube beruht auf moralischem Rückgrat und nicht umgekehrt. Kurz gesagt, er ist, was ich einen Helden der Aufklärung nennen möchte. Wie Kierkegaard uns lehrt, hat der Abraham, der seinen Sohn zum Berg Morija führt, Ethik und Aufklärung hinter sich gelassen.10 Kants Kommentar zu dieser Stelle ist ebenso unmissverständlich: Abraham hätte nachdenken und zu dem Schluss kommen sollen, dass jemand, der ihn zu solchem Tun auffordert, nicht Gott sein kann. Kein Zweifel, auf welcher Seite er steht.
Dennoch wäre es falsch zu behaupten, der Abraham von Sodom und Gomorrha sei der echtere. Das Alte Testament ist selbst wunderbar mehrdeutig. Und obwohl Theologen darum kämpfen zu beweisen, dass ihr Standpunkt derjenige ist, der von der Religion tatsächlich sanktioniert wird, gibt es für jede Religion Hinweise, die in beide Richtungen zeigen. Manche bestehen darauf, zu glauben hieße, sich zu unterwerfen, und unterstreichen die Notwendigkeit, den Gesetzen zu gehorchen, deren Begründungen wir nicht zu verstehen brauchen. Fundamentalisten behaupten gern, dass der Moralkodex, der ihrem Glauben entspringt, nicht darauf angewiesen ist, vom Intellekt nachvollzogen zu werden. Was der HErr uns zu tun wünscht, ist leicht dem Buch der Bücher zu entnehmen. Aber sie mögen ruhig predigen, dass Gottes Worte eindeutig sind, Fundamentalisten können gleichwohl, wie alle anderen auch, nicht auf Interpretation verzichten. Ihre Interpretationen nehmen Passagen und Praktiken in den Blick, in denen der Gehorsam und die äußere Autorität betont werden, sei es nun die Autorität des HErrn selbst oder die seiner Stellvertreter in der Priesterschaft. Das gemeinsame Bibel- oder Koranstudium ist oft Teil der fundamentalistischen Kultur, aber der Eifer richtet sich darauf, dass der Einzelne Zeugnis ablegt und nicht analysiert. Am Ende bestreiten die fundamentalistischen Autoritäten, dass schlichte menschliche Vernunft Fragen von Recht, Gerechtigkeit oder Wahrheit entscheiden kann.
Doch Lehren sind selten aus sich heraus verständlich, und heilige Bücher sind in einem Code geschrieben, der wie jeder andere entziffert werden muss. Dabei geht es nicht darum, dass überkommene Prinzipien, die einst selbstverständlich waren, auf moderne Situationen angewendet werden, die so eindeutig nicht sind. Kein Gesetz schreibt in sich bereits vor, wie es anzuwenden ist. Ein Großteil der alten Gelehrsamkeit entsprang der Notwendigkeit, herauszufinden, welche moralischen Urteile aus welchen moralischen Setzungen folgten. Jede der drei religiösen Traditionen des Westens hat, im Gegensatz zu einem fundamentalistischen, einen rationalistischen Zug, der auf die religiösen Schulen der Antike zurückgeht, in denen sich der moderne Begriff der Gelehrsamkeit herausgebildet hat. Das nach der Zerstörung des Tempels in den Jeschiwot von Babylon und Jerusalem praktizierte dialektische Denken bildete die Grundlage des Talmud, beeinflusste aber auch das Rechtsdenken in jeder Tradition. Die subtilen Unterscheidungen, die unter den gotischen Bögen der Sorbonne herausgearbeitet wurden, sollten dazu dienen, die Heilslehren der Kirche zu verdeutlichen; sie wirkten sich nicht nur auf unseren Begriff von Substanz und Akzidens aus, sondern formen bis auf den heutigen Tag das philosophische Denken. Die in den Bogengängen der Kairoer al-Azhar-Universität heute noch praktizierten Koranstudien erinnern an das frühe Mittelalter, als die Mauren die Wissenschaft nach Südeuropa brachten. All diese Häuser der Gelehrsamkeit entstanden aus der Frömmigkeit derer, die damit befasst waren, dem, was aus ihren heiligen Schriften folgte, für das alltägliche Leben einen Sinn zu verleihen.
Statt unsere Fähigkeit zum Vernunftgebrauch als eine Bedrohung für unseren Gehorsam gegenüber Gott zu betrachten, hält diese Tradition ihn gerade für dessen Erfüllung. (In einigen jüdischen Gleichnissen heißt es, Gott lache vergnügt, wenn Seine Kinder Ihn mit einem besonders guten Argument schlagen.) Wenn die Vernunft eine Gabe Gottes ist, dann wollte Er, dass wir uns ihrer bedienen, und dieser Tradition zufolge ist unsere Fähigkeit, der Welt einen Sinn zu verleihen, bloß ein weiterer Beweis für Gottes Güte und damit Seines Ruhmes. Solche Tatsachen sollen uns davon abhalten, die Welt entlang des Gegensatzes religiös – säkular in zwei Lager zu spalten. Viele rationalistische Theologen haben mehr mit säkularen Sozialdemokraten zu tun als mit ihren Glaubensbrüdern, manch ein Fundamentalist steht einem postmodernen Nihilisten näher, als er weiß. An eine Weltsicht zu glauben, weil sie absurd ist, ergibt für beide Sinn. Weit wichtiger als der Glaube an die Existenz oder Nichtexistenz Gottes ist, was man für die Folgerungen aus dem Glauben hält. Leitet Er unser Verhalten durch Regeln und Gebote, die uns vorgegeben sind, oder verlangt Er von uns, sie eigenständig zu durchdenken? Verlangt Er von uns, der Welt einen Sinn zu verleihen, oder verzichtet man darauf zu glauben, dass es Sinn überhaupt gibt?
Der Unterschied zwischen den beiden moralischen Paradigmen ist weitaus bedeutender als die Entscheidung, sich als religiös oder säkular zu bezeichnen. Diese Paradigmen ließen sich mit sehr viel trockeneren Begriffen beschreiben, Abraham oder Gott brauchten gar nicht erwähnt zu werden. Doch die Bibel ist deshalb so großartig – auch wenn man nicht weiß, was es bedeutet, sie göttlich zu nennen –, weil sie diese Alternative mit einer Klarheit präsentiert, die seither nicht mehr erreicht werden konnte. Nennen wir daher das erste Paradigma Abraham vor Sodom, der sich weigert, sich in der Bescheidenheit der Resignation einzurichten, und stattdessen verlangt, dass seine Welt einen Sinn ergibt. Wer sich diesem Paradigma anschließt, hält an dem Grundsatz fest, dass es für jedes Geschehen Gründe gibt und dass es an uns ist, diese Gründe aufzuspüren. Diesem grundlegenden Gesetz muss jeder, auch Gott, Folge leisten, und es veranlasst uns, nicht nur nach Gerechtigkeit, sondern nach erkennbarer Gerechtigkeit zu suchen. Das zweite Paradigma ist das von Abraham am Berg Morija, der überhaupt nichts fragt. Das zu tun, meint er, wäre ein Akt des Misstrauens, ja der Rebellion. Verlangt Vertrauen, keine Fragen zu stellen? Dieser Mann des Glaubens ist sich sicher: Die Forderung, Gründe für Gottes Gebote zu finden, verträgt sich nicht mit der dankbaren Bejahung der Schöpfung und ist schlicht überheblich.
Zwischen den beiden Geschichten um Abraham liegen in der Bibel nur ein paar Seiten, zwischen ihren jeweiligen Aussagen liegen Welten. Die eine hält dazu an, uns den göttlichen Befehlen zu unterwerfen, wie haarsträubend sie auch sein mögen, am Ende werden sie uns richtig führen. Die andere drängt uns, Fragen zu stellen, denn selbst eine Anordnung, die mit Gottes Stimme ergeht, mag einer Überprüfung bedürfen. (Wer darauf besteht, dass Gott niemals unrecht hat, behauptet, dass Er vor Sodom nur Abrahams Mitgefühl auf die Probe gestellt hat. Nach dieser Lesart ist natürlich nicht Gott, sondern Abraham der Schüler, der die Prüfung mit Bravour besteht. Doch wer immer der Lehrer ist, die Vorstellung, dass Moral durch Überlegung erlernt werden muss, bleibt der entscheidende Punkt.) Beide Geschichten sind fester Bestandteil unseres Repertoires, fest verankert im ersten Buch der Bibel, von dem so viele andere abhängen. Mehr als ein zeitgenössischer jüdischer Theologe hat behauptet, die beiden Abrahame seien miteinander zu vereinbarende Seiten einer Seele, doch ihre Begründungen zeigen, dass selbst diejenigen, die an die Autorität der Bibel glauben, sie hier nicht eindeutig finden. Sie müssen entscheiden, wie das Buch zu interpretieren ist.
Jede seriöse Interpretation wird die Frage aufwerfen: Ist das, was ist, gut, weil Gott es liebt, oder liebt Er es, weil es gut ist? Wie die Leser Platons sich erinnern werden, ist diese Frage nicht auf den Monotheismus beschränkt.11 Sokrates wurde wegen angeblicher Gottlosigkeit hingerichtet. Sein Verbrechen bestand nicht im Atheismus – er verehrte durchaus die Götter Athens –, sondern darin, dass er darauf bestand, die Vernunft müsse zuerst kommen. Ob etwas gut ist, ist nicht beliebig. Die Dinge müssen in sich gut sein, denn deshalb lieben die Götter sie; durch ein Dekret der Götter wird etwas, das von Übel ist, nicht gut, bloß weil Götter es so wollen.