Das Buch
„Dunkelbraune Haarbüschel liegen wie kleine Vogelnester im Waschbecken. Wie ein Überbleibsel von einer Person, die ich nicht mehr bin. Als hätte ich von meinem alten Ich nur drei Millimeter übrig gelassen.“
Es gibt Momente, die teilen das Leben in Vorher und Nachher. Kristophers Selbstmord ist so ein Moment für Luise. Vorher war sie ein unscheinbares Mädchen, jetzt ist sie allein. Sie rasiert sich die Haare ab und errichtet eine Mauer um sich, die sie vor der Welt beschützt und gleichzeitig von ihr ausschließt. Dann begegnet sie Jacob. Er ist still und misstrauisch – und fasziniert von ihr.
Doch erst als Luise Nachrichten von Kristopher bekommt – E-Mails aus der Zwischenwelt, mit Aufgaben für seine kleine Schwester –, macht sie einen Schritt auf Jacob zu. Und so entsteht ganz langsam und zart zwischen Abschied und Loslassen etwas vollkommen Neues ...
Die Autorin
Anne Freytag, geboren 1982, hat International Management studiert und als Grafikdesignerin gearbeitet, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Erwachsenen- und All-Age-Romanen widmete. Mit ihrem Jugendbuch-Debüt Mein bester letzter Sommer schrieb sie sich direkt in die Herzen ihrer Leser. Der Roman wurde von Buchhändlern und der Presse gleichermaßen gefeiert und für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2017 nominiert.
Zuletzt bei Heyne fliegt erschienen: Den Mund voll ungesagter Dinge.
Lieferbare Titel
Mein bester letzter Sommer
Den Mund voll ungesagter Dinge
ANNE FREYTAG
NICHT WEG UND
NICHT DA
Roman
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Copyright © 2018 by Anne Freytag
Copyright © 2018 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Martina Vogl
Umschlaggestaltung und -illustration: Ann-Kathrin Hahn, Das Illustrat, München
Innenillustrationen: Das Illustrat, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-22083-9
V002
www.heyne-fliegt.de
Dieser Roman ist für alle,
die einen Weg aus der Dunkelheit suchen.
Und für die, die ihnen entgegengehen.
Ich wünsche euch serendipity.
MITTWOCH, 1. FEBRUAR,
07:06 UHR
Ich halte noch immer den Langhaarrasierer in der Hand. Er vibriert monoton durch meinen Körper. Dunkelbraune Haarbüschel liegen wie kleine Vogelnester im Waschbecken. Wie ein Überbleibsel von einer Person, die ich nicht mehr bin. Als hätte ich von meinem alten Ich nur drei Millimeter übrig gelassen. Ich schaue in den Spiegel, direkt in meine Augen und sehe die meines Bruders. Ich habe nie kapiert, wie ähnlich Kristopher und ich uns sehen. Bis jetzt. Bis zu diesem Moment. Mein Kopf ist nackt und mein Blick skeptisch. So wie seiner. Nur in Tintenschwarz. Ich schalte den Rasierer aus und lege ihn auf die Ablage. Direkt neben das verkalkte Glas, in dem jetzt nur noch eine Zahnbürste steht.
Durch den menschlichen Körper fließen im Durchschnitt fünf bis sechs Liter Blut.
Ausgesehen hat es nach mehr.
MITTWOCH, 8. MÄRZ
Jacob
Sie fixiert die Tür wie eine Zielscheibe. Den Schal und die Mütze hat sie in der Hand, ihre Jacke ist noch offen. Darunter trägt sie einen riesigen blauen Pullover, der sie fast verschluckt. Er geht ihr bis zu den Knien. Die Ärmel sind zu lang.
Ihre Schritte hallen durchs Treppenhaus. Ich stehe bei den Briefkästen in der Nische neben den Stufen und beobachte sie. Eigentlich wollte ich nur wissen, wer da so trampelt, aber dann konnte ich nicht mehr wegsehen.
Ich kenne sie. Sie war an meiner Schule. Die kleine Schwester von einem Typen aus meiner Stufe. Ganz hübsch, aber irgendwie mausgrau. Und außerdem zu jung. Jetzt ist sie das nicht mehr. Weder mausgrau noch zu jung. Ich betrachte ihren Nacken, den kahl geschorenen Kopf, ihre langen Beine. Sie hat die Statur eines Rehs, bewegt sich aber wie eine Kriegerin. Stampft die Treppen hinunter, zielstrebig und abgehackt. Von dem unscheinbaren Mädchen, das sie mal war, hat sie nur drei Millimeter übrig gelassen. Den Rest hat sie abrasiert.
Ihr Gesicht ist schmal mit einem unnachgiebigen Ausdruck. Die dunklen Augenbrauen heben sich von ihrer hellen Haut ab wie eine Stammesbemalung. Die Unterlippe ist gepierct. Ein silberner Ring mit einer kleinen Kugel. Er glänzt im schwachen Licht des Flurs.
Als sie auf meiner Höhe ankommt, bemerkt sie mich und bleibt unvermittelt stehen. Als hätte jemand auf Stopp gedrückt. Ich warte darauf, dass sie etwas sagt, aber das tut sie nicht. Sie runzelt nur die Stirn und sieht mich aus schmalen Augen an. Sie sind so schwarz wie nasse Erde.
Wir teilen einen Blick, der etwas zu lang ausfällt. Ein paar Sekunden. Dann schlingt sie sich den Schal um den Hals, setzt die Mütze auf und verschwindet im Schnee.
Luise
Mama und ich sitzen am Küchentisch und essen schweigend ein Curry, das nach fast nichts schmeckt. Die Soße ist zäh und gelb und das Fleisch trocken. Aber man wird satt. Ich schaue neben mich. Auf das unbenutzte Platz-Set, das wie ein Mahnmal zwischen uns liegt. Wir sind wie Spielfiguren eines Brettspiels. Angefangen haben wir zu viert, jetzt sind es nur noch wir zwei. Aber immerhin ist meine Mutter mal zu Hause.
Als Papa vor eineinhalb Jahren ausgezogen ist, haben wir den Tisch an die Wand geschoben, weil Mama meinte, dass die Küche so etwas geräumiger wäre. Aber das war nicht wirklich der Grund. In Wahrheit ging es um die Leere, die wir zu dritt nicht füllen konnten. Ein Tisch hat nun mal vier Seiten.
Ein paar Tage später hat Kristopher an die Wand über Papas Tischseite ein großes Bild gehängt. Einen hässlichen Clown. Er sah unserem Vater ziemlich ähnlich. Kristopher hat ihn gut getroffen. Ich werde nie vergessen, wie wir gelacht haben. Mama, mein Bruder und ich. Es war eine beschissene Zeit. Aber wir haben gelacht.
Mein Blick fällt auf den Clown, und ich stehe unvermittelt auf, die Stuhlbeine schrammen über die Fliesen, Mama hält in der Bewegung inne, den Löffel auf halbem Weg zwischen Teller und Mund.
»Kann ich das abhängen?«, frage ich und zeige auf das Bild. Sie legt den Löffel weg und nickt.
Ich stelle den Clown mit dem Gesicht zur Wand auf den Boden und setze mich wieder hin.
»Wie war es bei Dr. Falkstein?«, fragt Mama, ohne mich anzusehen.
»Ganz toll«, sage ich. »Ich glaube, ich bin geheilt.«
»Wie war es wirklich?«, fragt sie.
»Es war okay«, antworte ich und behalte für mich, dass ich außer Hallo nichts gesagt habe. Nicht ein Wort.
»Es wird dir guttun, darüber zu reden.«
Darüber. Das ist ein faszinierendes Wort, weil sich bei jedem Menschen etwas anderes dahinter verbirgt. Darüber ist ein Deckmantel für Dämonen. Darüber wird nicht gesprochen, oder darüber wurde Stillschweigen vereinbart, oder darüber wage ich nicht einmal nachzudenken.
Ich möchte mein Darüber einfach nur vergessen. Ohne darüber zu reden.
Jacob
Ich verlasse das Haus. Die Luft ist kühl und schwer, aber es hat aufgehört zu schneien. Ich schaue nach oben. Die Wolken sind aufgerissen, und der Himmel hat große blaue Flecken. Sie sind dunkel. Schwarz-Blau mit einem Schuss Violett. Wie Blutergüsse. Dieser Farbton erinnert mich an meine Kindheit.
Ich laufe die Stufen zur U-Bahn hinunter. Die Luft, die mir entgegenweht, verrät, dass ich sie gerade verpasst habe. Ich schlendere bis zum anderen Ende des Bahnsteiges und setze mir im Gehen die Kopfhörer auf. Ich drücke auf Play, lehne mich an die Säule und schließe die Augen. Ich höre dieses Lied zurzeit andauernd. »The Only Thing« von Sufjan Stevens. Mein Bruder kann es nicht mehr hören. Er sagt, meine Musik macht ihn wahnsinnig. Oder depressiv. Aber mich macht sie ganz. Deswegen hat er mir die Kopfhörer geschenkt. Es sind richtig gute. Damit ich ganz sein kann, ohne dass er ausrastet.
Ich sage immer mein Bruder, aber korrekt wäre Halbbruder. Er ist mir der wichtigste Mensch auf der Welt. Alles, was er viel tut, tue ich wenig. Lachen, reden, Freunde treffen. Ich bin vor drei Jahren zu ihm gezogen. Seitdem sind es nur noch er und ich. Und seine diversen Freundinnen. Bis zu meinem achtzehnten Geburtstag gab es noch Frau Kubicki vom Jugendamt, die darauf aufgepasst hat, dass auch alles mit rechten Dingen zuging. Dass ich die Schule nicht vernachlässige, meinen Abschluss mache, nicht in Schwierigkeiten gerate. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass ich sie mochte, aber sie war in Ordnung. Ich hätte es wirklich schlimmer treffen können.
Mein Bruder dagegen ist großartig. Dafür ziemlich unselbstständig. Er hatte immer eine Stiefmutter, die alles für ihn erledigt hat. Sie wollte Mutter sein, und er wollte eine haben. Es war also die perfekte Symbiose. Bis er ausgezogen ist. Da ist ihm dann aufgefallen, dass er von nichts eine Ahnung hat. Aber anstatt es zu lernen, hat er Andrea angerufen. Seitdem kommt sie ein Mal die Woche zu uns, holt seine Wäsche ab und bringt sie dann zwei Tage später sauber und gebügelt wieder. Arthur mischt meine Sachen unter seine, weil ich koche und für uns beide einkaufe. Seit ich da bin, ist es ordentlich, sagt Andrea. Und das Wäschewaschen macht ihr wirklich nichts aus. Sie sagt, sie tut das gern.
Eisiger Wind weht mir entgegen, die U-Bahn fährt ein. Die Luft, die sie vor sich herschiebt, riecht abgestanden und metallisch. Ich öffne die Augen. Die Türen gehen auf. Menschen fließen an mir vorbei. Ich steige ein, stelle mich in Fahrtrichtung neben die Tür und denke plötzlich an das Mädchen. An ihre dunklen Augen und ihren runden Hinterkopf. Ich frage mich, wie er sich anfühlt. Ihr kurzes Haar auf meiner Handfläche.
Luise
Ich sitze im Schneidersitz auf meinem Bett, höre »No Other Way« von Paolo Nutini und warte auf Mings Anruf. Gleich ist es zwanzig nach acht – telefonieren wollten wir vor fast einer Stunde.
Das ist das Problem daran, nur eine Freundin zu haben: Wenn sie sich nicht meldet, tut es keiner. Andererseits ist Ming viel mehr als nur eine Freundin. Sie ist eher so etwas wie zehn Freunde in einer Person. Ein Konzentrat.
Wir kennen uns seit knapp vierzehn Jahren und damit länger, als wir bewusst denken können. Ming war immer da. Seit ich ganz klein bin. Wir sind zusammen in den Kindergarten und in die Grundschule gegangen und danach an dasselbe Gymnasium. Wir waren unzertrennlich. Bis vergangenen Juni herauskam, dass Mings Vater in den vielen Überstunden gar nicht gearbeitet hat. Zumindest nicht an Projektplänen. Misaki – so heißt Mings Mama – hat ihm daraufhin den Prozess gemacht. Erst kam die Scheidung, dann der Umzug nach Berlin. Ming wollte bei ihrem Vater bleiben, damit sie nicht aus München wegmuss, doch der ist zu seiner Kollegin Schrägstrich Freundin Schrägstrich dem Grund der Trennung nach Stuttgart gezogen. Und Ming? Die hat ihr Leben in Kisten gepackt, sich von mir verabschiedet und ist ins Auto ihrer Mutter gestiegen. Das war am 12. August morgens um sechs. Jetzt führen Ming und ich eine Fernfreundschaft. Sie ist der eine Mensch, der weiß, wie es hinter meiner Maske aussieht – der andere, der das wusste, ist tot.
Das Lied ist zu Ende. Ich spiele es von vorn. Und dann endlich springt das Skype-Icon in meinem Dock auf und ab. Ich nehme den Anruf an, und die Videoverbindung wird aufgebaut.
»Es tut mir so, so leid, Lu«, sagt Ming, »aber unser blödes Familienessen« – sie setzt das Wort mit den Fingern in Anführungszeichen – »hat natürlich viel länger gedauert, als ich wollte.«
Familienessen. Das Wort ist wie ein Schlag. Ich stecke ihn weg und frage: »Was war denn?«
»Ach, nichts weiter«, sagt sie und wechselt das Thema. Früher haben Ming und ich über alles geredet. Über die großen und die kleinen Dinge. Über Wichtiges und Unwichtiges. Jetzt reden wir hauptsächlich über mich. Darüber, wie es mir geht. Oder über sichere und seichte Themen, die eigentlich keinen interessieren. Ich bin wie ein Kriegsgebiet, wie ein Feld voller Tretminen, das Ming zu überqueren versucht. Sie prüft die Inhalte und schneidet alles heraus, das mich verletzen könnte. Sie tut es aus Rücksicht. Weil sie es nicht noch schlimmer machen will. Und genau damit macht sie es schlimmer. Weil sie mich ausgrenzt. Mir zuliebe.
»Du hast dir die Haare wieder rasiert«, sagt sie.
Ein seichtes, sicheres Thema.
»Ja, vorgestern«, sage ich, »Ich habe mich für meinen ersten Termin bei Dr. Falkstein schick gemacht.«
Ming grinst. »Verstehe. Dann bleibst du also dabei?«
»Ich glaube schon«, sage ich und füge dann hinzu: »Warum? Findest du es blöd?«
»Nein«, sagt sie. »Gar nicht. Wäre ich nicht so ein unglaublicher Feigling, würde ich es selbst mal probieren.«
Ich versuche, mir vorzustellen, wie Ming mit einem kahl rasierten Kopf aussehen würde. Es wäre schade um ihre Haare – sie sind mittelbraun und lang und glänzen wie verrückt. Sie hat asiatische Haare. Ich glaube, die glänzen mehr als andere. Trotzdem würde es Ming stehen. Ich glaube, es gibt nur wenig, das ihr nicht stehen würde.
»Ich habe nur gefragt«, sagt Ming schließlich, »weil du sie jetzt schon eine ganze Weile nicht mehr rasiert hast.« Kurze Pause. »Deswegen dachte ich, du lässt sie wieder wachsen.«
»Nein«, sage ich und streiche mit den Händen über meinen Kopf. »Ich mag es so.«
»Ich auch«, sagt Ming. Das Bild wackelt kurz, als sie das Handy von der einen in die andere Hand nimmt.
»Was ist mit dir?«, frage ich. »Gibt’s was Neues?«
»Nicht viel«, sagt sie.
Das sagt sie immer.
»Und wie ist dieser Dr. Falkstein so? Ich meine, ist er nett?«
Und wieder sind wir bei mir angekommen. Alles, was ich will, ist ab und an zu vergessen, was passiert ist. Die Wahrheit für ein paar Minuten zu leugnen und mich in Alltäglichkeiten zu verlieren. In Geschichten über Mings Leben. Über Berlin und ihre neue Schule. Über Jungs. Über all die Dinge, von denen sie mir früher erzählt hätte.
»Na ja, er ist ein Therapeut«, sage ich.
»Und die Praxis?«
»Sehr britisch.«
Ming mustert mich mit ihrem vorsichtigen Blick. »Wirst du mit ihm reden?«
Alle denken, das hilft. Manchmal frage ich mich warum.
»Keine Ahnung«, sage ich. »Ich weiß nicht, was das bringen soll.«
Sie lächelt. »Ich stelle es mir irgendwie ganz schön vor, jemandem alles erzählen zu können.«
»Du kannst mir alles erzählen«, sage ich.
»Ich weiß«, sagt sie. »Aber ich meine einer fremden Person. Jemandem, der einen nicht kennt. Der nichts von einem weiß, außer die Dinge, die man ihm selbst gesagt hat.«
Vielleicht hat sie recht. Vielleicht kann man anders mit jemandem reden, der nur dazu da ist zuzuhören.
»Ach ja, was ich dich noch fragen wollte«, wechselt sie das Thema. »Was hat deine Mutter eigentlich zu dem Piercing gesagt?«
Ich fasse automatisch an meine Unterlippe und drehe die kleine Kugel zwischen meinen Fingern hin und her.
»Nichts«, antworte ich. »Ich habe Narrenfreiheit. Vermutlich denkt sie, das ist meine Art, damit umzugehen.«
Damit. Das ist genauso wie darüber.
Jacob
Ich bin müde vom Training. Meine Arme sind schwer, und mein Nacken ist verspannt. Ich hätte echt vorher einkaufen gehen sollen. Der Supermarkt ist voll. Der Boden braun und matschig.
Ich gehe durch die Reihen und bleibe vor dem Kaffee-Regal stehen. Auf einer der Packungen ist eine Plantage auf der Vorderseite abgedruckt. Menschen ernten Kaffee und lächeln dabei. Die Erde ist schwarzbraun. Wie ihre Augen. Ich sehe ihren kahl rasierten Kopf und diesen harten Blick. Ein Blick wie ein Schlag. Wie eine Wand aus Wut, hinter die sie niemanden lässt. Ich bin genauso.
MITTWOCH, 15. MÄRZ
Luise
Sein Sessel, die Couch, die schweren Vorhänge an den hohen Fenstern, die holzgetäfelten Wände: Alles hier schreit nach englischem Landhaus. Nach einer Mischung aus Jane Austen und Bed and Breakfast an der Küste. Unterschiedlich gemusterte Stoffe, prall gefüllte Daunenkissen und seltsame Tischchen, auf denen nutzlose Dinge aus Porzellan stehen – rechts neben mir zum Beispiel ein weißer Dackel. Das Einzige, was die Illusion zerstört, sind die Zertifikate an den Wänden. Sie hängen zwischen wuchtigen Bilderrahmen, in denen Menschen, Blumenvasen und Landschaften festgehalten wurden. Gegen ihren Willen. So wie ich.
Auf einem der Gemälde erkenne ich eine Fuchsjagd. Viele Pferde und Hunde, einen Wald, ein paar Männer in roten Uniformen, einer von ihnen bläst in eine Trompete oder ein Horn – ich kenne mich da nicht so aus. Daneben ist das Bild einer jungen Frau, die an einen Kamin gestützt dasteht, die Stirn an den Unterarm gelehnt. In der linken Hand hält sie etwas. Es sieht aus wie ein Brief. Zu ihren Füßen sitzt ein Hund, der mitfühlend zu ihr aufblickt. Es ist ein trauriges Bild.
»Ich möchte dir wirklich helfen, Luise.«
Mir helfen. Alle wollen sie mir helfen. Als wäre ich eine alte Frau, die es nicht mehr allein über die Straße schafft.
»Aber das kann ich nur, wenn du mit mir sprichst.«
Ich glaube, er kann es auch dann nicht.
Das Polster, auf dem ich sitze, ist steif. Es sieht gemütlicher aus, als es ist. Ich sehe noch einen Moment in das Gesicht der Frau, dann schaue ich weg. Zurück zu ihm. Er hat sich in meine Richtung gebeugt, stützt die Ellenbogen auf seinen Knien ab. Fachmännisch und freundschaftlich. Sein erwachsenes Gesicht ertrinkt in einem einfühlsam-wohlwollenden Ausdruck. Seine Augen sagen: Ich war auch mal fünfzehn. Ich weiß, wie es dir geht.
Einen Scheißdreck weiß er.
»Manche Dinge können wir nur verarbeiten, wenn wir über sie sprechen«, sagt er sanft.
Manche auch nie, denke ich, schweige aber. Es gibt Momente, da wäre es schön, wenn man sein Leben umschalten könnte wie ein schlechtes Fernsehprogramm. Das gerade ist so einer.
»Über traumatische Erlebnisse zu reden kann uns dabei helfen, sie zu überwinden und die entstandenen Wunden zu heilen.«
Ja. Ungefähr so, wie ein Pflaster auf eine Schusswunde zu kleben.
Ich mustere ihn teilnahmslos. Er seufzt und verschränkt die Finger, als würde er beten, dass ich endlich etwas sage. Aber ich sage nichts. Ich schaue lieber weg. Wieder zu den Bildern. Neben der traurigen Frau hängt ein dunkles Gemälde. Ein Wald, dichte Büsche und hohe Bäume. An der Lichtung steht ein Hirsch mit einem riesigen Geweih. Er sieht mich an. In meiner Fantasie geht er ein paar Schritte auf mich zu. Und einen Augenblick lang ist alles friedlich und still.
»Erzähl mir, was passiert ist.«
Ich blicke auf meine Hände. Was passiert ist.
»Luise.«
Ich schaue auf. Nicht, weil ich es will, sondern weil ich gelernt habe, auf meinen Namen zu reagieren. Es ist ein Reflex. Ich kann gar nicht anders.
»Es geht hier nicht nur darum, deine Zeit abzusitzen.«
»Ach, nein?«
Beim Klang meiner Stimme zuckt er kurz zusammen, fängt sich aber sofort wieder.
»Nein«, antwortet er ruhig.
»Ach ja, richtig«, sage ich, »es geht darum, mich zu heilen.« Pause. »Nicht wahr?«
Er ignoriert den Sarkasmus, fragt stattdessen: »Warum hast du deine Mitschülerin geschlagen?«
»Weil sie es verdient hat«, sage ich ohne Umschweife. Ich klinge kalt. Als wäre es mir egal.
»Und warum hat sie es verdient?«
Weil sie ein widerliches Miststück ist. Ich könnte es laut aussprechen. Ein Teil von mir will es auch. Aber was würde das ändern? Sie wäre noch immer ein Miststück, ich hätte sie noch immer geschlagen und es würde mir noch immer nicht leidtun.
»Was war der Grund?«
Ich denke an das, was Isabelle gesagt hat. An ihre blöde Stimme und ihren Blick. Und die Art, wie sie vor mir stand in ihren Skinny-Jeans und mit diesem selbstgefälligen Grinsen im Gesicht. Danach hat sie nicht mehr gegrinst. Danach lag sie auf dem Boden. Blutiger Rotz ist ihr aus der Nase gequollen. Sie hat geheult. Und ich habe mich so gut gefühlt wie lange nicht mehr.
Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich zugeschlagen habe, nur an das dumpfe Gefühl, wie meine Faust auf ihr Gesicht trifft. Die Knöchel meiner rechten Hand pochen, als wäre dieser Moment in ihnen gespeichert. Ich hatte keine Ahnung, wie weh es tut, jemanden zu schlagen. Und auch nicht, wie gut es tut.
»Luise«, murmelt er und seufzt.
Wenn er noch ein Mal meinen Namen sagt, werde ich schreien. Ich werde aufstehen und schreien. Oder den Dackel gegen die Wand schmeißen.
»Ich will dich verstehen. Das will ich wirklich.« Nicht nur Sie, denke ich. Er wartet, aber er wartet umsonst. Ich bin gut darin, Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Meine Mutter. Meinen Vater. Herrn Weidinger – den Vertrauenslehrer.
»Gib mir wenigstens eine Chance«, sagt er matt, aber ich reagiere nicht.
Dr. Falkstein lehnt sich geschlagen zurück. Dieses Mal war es nicht meine Faust, es war mein Schweigen. Ich halte seinem Blick stand und stelle mir vor, wie sich elektrische Linien zwischen seinen und meinen Augen spannen. Er starrt mich an, und ich starre zurück. Wir spielen ein Spiel, von dem ich nicht weiß, ob er weiß, dass wir es spielen.
»Warum hast du dir die Haare abrasiert?«, fragt er.
»Wieso, finden Sie, es steht mir nicht?«, frage ich zurück.
»War es der Wunsch nach Veränderung?«
Ich hasse diese Psycho-Scheiße.
»Vielleicht«, sage ich. »Vielleicht wollte ich aber auch einfach nur mal den Langhaarrasierer meines Bruders ausprobieren. Der braucht ihn ja jetzt nicht mehr.«
Beim letzten Satz versteift er sich, sieht kurz weg und verliert damit unser Spiel.
»Das war geschmacklos«, sagt er leise.
»Oder passend«, antworte ich.
Sein Blick findet meinen. Es muss frustrierend sein, sich mit jemandem wie mir rumzuärgern. So viele Zertifikate an den Wänden und dann mich auf der Couch. Ich glaube, er mag mich nicht. Jedenfalls ist er gereizt, versucht aber, es sich nicht anmerken zu lassen.
Dr. Falkstein beugt sich wieder zu mir.
»Du kommst um diese Therapie nicht herum«, stellt er nüchtern fest. »Das weißt du, oder?«
»Ja«, erwidere ich knapp.
Ein paar Sekunden sehen wir einander einfach nur an, dann sagt er: »Erzähl mir von Kristopher.«
Luise
Ich habe ihm nichts erzählt. Gar nichts. Nicht nur, weil ich nicht wollte, sondern weil ich nicht wusste, wie. Wo hätte ich anfangen sollen? Bei Kristophers Geburt? Bei seiner Krankheit? Oder doch gleich ganz am Ende: bei seinem Tod.
Ich war nicht dabei, als mein Bruder geboren wurde. Es gab mich noch nicht. Damals war ich Sternenstaub. Das hat er mal gesagt. Lise, früher waren wir Sternenstaub, du und ich. Ich höre seine Stimme. Wie einen akustischen Schnipsel, den er in meinem Kopf zurückgelassen hat. Zusammen mit der Erinnerung an sein Lachen, das jedoch mit jedem Tag immer mehr verblasst. Er hat lange nicht gelacht. Wochenlang. Vielleicht sogar Monate. Ich habe Angst davor, diesen warmen kehligen Klang irgendwann völlig zu vergessen. Und noch mehr Angst habe ich davor, dass es eines Tages so sein wird, als hätte es meinen Bruder nie gegeben. Als wäre er nicht mehr als die Figur einer Geschichte, die ich einmal als Kind gehört habe.
Ich war noch klein, als bei Kristopher die Bipolare Störung diagnostiziert wurde, aber ich erinnere mich daran, wie dunkel er schon damals sein konnte. Mein Bruder war die finsterste Nacht und das hellste Licht. Ein Vakuum und drei Tage später wieder euphorisch und voller Tatendrang. Früher dachte ich, alle Menschen wären so. Aber nur er war so. So laut und so leise.
Mein Bruder glaubte nicht an Gott. Er glaubte an die Naturwissenschaft. An Zellen, die sterben. An Gehirne, die irgendwann tot sind. Ich habe ihm immer wieder gesagt, dass er mehr ist als nur die Zellen, und dann hat er gelächelt und den Kopf geschüttelt. Vor ein paar Monaten habe ich ihn gefragt, wie es sein kann, dass Tabletten nichts bringen, wo sie doch auf den Prinzipien der Naturwissenschaft basieren. Er hat gelächelt und geantwortet: Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du ziemlich klug bist, Lise? Vielleicht hatte er recht, und wir sind nur Zellen. Gehirne, die irgendwann tot sind. Aber noch glaube ich es nicht.
Ich ziehe meine Jacke an, wickle mir den Schal um den Hals und verlasse die Praxis. Meine Schritte hallen durch den Flur, die Stufen knarzen unter meinen Füßen. Meine Beine sind schwer.
Ich würde gerne sagen, dass Kristopher nicht allein gestorben ist, dass ich in seinen letzten Sekunden bei ihm war. Dass ich seine Hand gehalten habe. Aber ich war nicht da. Niemand hat seine Hand gehalten. Niemand war bei ihm. Seinen letzten Schritt hat er allein gemacht.
Kristopher wollte nicht, dass ich ihn so sehe. Und das hätte ich auch nicht, wenn ich nicht früher nach Hause gefahren wäre. Ich wusste, dass etwas nicht stimmt. Es lag über Wochen in der Luft, unbestimmt wie eine Ahnung von Regen. Ich habe gespürt, dass mein Bruder sich immer weiter entfernt, dass ihn nichts hält, wenn ich es nicht tue. Dass er mir entgleitet.
Ich habe ihn nicht lange da liegen sehen. Nur ein paar Sekunden. Dann hat mich jemand weggezogen. Ich weiß nicht, wer es war. Doch ich erinnere mich an das Blut. Es hatte die Farbe von reifen Kirschen.
Was danach passiert ist, ist weg. Ausgelöscht. Eine Leerstelle in meinem Kopf. Ich war niemals zuvor bewusstlos. Ich kannte nur wach sein oder schlafen, jetzt weiß ich, dass es noch einen weiteren Zustand gibt. Mein Körper ist zusammengebrochen, bevor ich wirklich begriffen habe, was passiert ist. Dass das Bild echt war. Das Bild und das Blut. Ich bin zusammengeklappt, bevor ich verstehen konnte, dass es Kristopher nicht mehr gibt. Alles, was geblieben ist, ist die Erinnerung an den Horror, gefolgt von einem blanken Stück Vergangenheit, das auch Monate später noch wie ein unfertiges Puzzle vor mir liegt.
Ich weiß nicht, wie ich in die Wohnung gekommen bin. Und ich erinnere mich nicht daran, wann meine Mutter nach Hause gekommen ist. Plötzlich war sie da. Und ich war da. Und zwei Polizeibeamte und eine Psychologin. Und Kristopher war weg. Irgendwo allein. In der nächsten Dunkelheit.
Mama hat mit den Beamten geredet. Sie klang nicht wie sie. Sie klang anders. Fremd und ferngesteuert. Ich bin in mein Zimmer gegangen. Und sie mit ihnen ins Bad und dann in Kristophers Zimmer. Es kam mir falsch vor, dass sie einfach hineingehen, aber ich habe nichts gesagt. Ich habe auch nicht geweint. Ich bin einfach in mein Zimmer gegangen, habe die Tür hinter mir zugemacht und mich auf mein Bett gesetzt. Leer und betäubt.
Ich habe den Zettel nicht gleich gesehen. Erst nach ein paar Minuten. Er lag neben mir auf dem Kopfkissen. Weiß und quadratisch. Die Art von Zettel, auf den man sonst Einkäufe oder Telefonnummern notiert. Auf so einen Zettel hat mein Bruder seine letzte Nachricht an mich geschrieben. Sie bestand aus vier Wörtern: Es tut mir leid. Es war nicht mal ein Abschiedsbrief. Es war ein Abschiedssatz.
Den Zettel habe ich noch. Und die Albträume. Und die irrationale Hoffnung, dass das alles nicht wahr ist. Dass Kristopher wiederkommt. Dass er noch lebt. Dass das alles ein Irrtum ist, weil es mich ohne ihn einfach nicht geben kann.
Ich umfasse das Geländer und versuche, ruhig weiterzuatmen, aber die Luft ist so dick wie Sirup. Meine Handfläche quietscht auf dem glatten Holz, und meine Knie zittern. Ich bleibe stehen. Der Flur dreht sich, ich schmecke Galle und klammere mich am Handlauf fest. Kristopher hatte schmutzig-blondes Haar und stechend blaue Augen. Meine Beine geben nach. Ich setze mich auf die Treppe und lehne den Kopf an die kühlen Metallsprossen.
»Ist alles okay?«, fragt eine tiefe Stimme, und ich schlage die Augen auf. Es ist der Typ von letzter Woche. Der, der bei den Briefkästen stand und mich angeschaut hat, als wäre ich eine Gewebeprobe unter dem Mikroskop. Er steht in Trainingsklamotten am Treppenabsatz und mustert mich. »Brauchst du ein Glas Wasser?«
»Nein«, sage ich tonlos. »Es geht mir gut.«
Er geht vor mir in die Hocke. Sein Gesicht ist direkt vor meinem. »So siehst du aber nicht aus.«
Sein Atem riecht nach Kaugummi.
»Ist nur der Kreislauf«, murmle ich und versuche aufzustehen. Er streckt mir die Hand entgegen, aber ich winke ab. »Geht schon«, sage ich, aber es geht nicht.
»Warte hier«, sagt er und geht an mir vorbei die Stufen hoch. Dann ist er weg. Nur sein Duft ist noch da. Ein Duft, den ich nur mit Mann beschreiben kann. Ich frage mich, ob er mich erkannt hat. Ob er weiß, dass wir an derselben Schule waren. Und ich frage mich, ob er weiß, dass Kristopher tot ist. Mir ist schlecht.
Es vergehen ein paar Minuten, dann höre ich das Knarzen von Holzstufen. Neben mir erscheint ein kleiner weißer Teller, auf dem zwei Brote liegen. Jeweils mit Käse und Marmelade. Kristopher hat diese Kombination geliebt. Das Beste aus zwei Welten, hat er immer gesagt. Ich nehme eines der Brote und beiße ab. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Ich esse es auf, dann greife ich nach dem zweiten. Er beobachtet mich.
Ich spüre Schweißperlen auf meiner Stirn, auf meinem Kopf, an meinem Bauch. Mein Oberteil klebt an mir fest. Bestimmt riecht er es. Er riecht nach Mann und ich nach Schweiß.
Als ich alles aufgegessen habe, reicht er mir ein Glas Wasser.
»Trink das«, sagt er.
Ich setze es an, und bei jedem Schluck stößt die kleine Kugel meines Piercings sanft gegen die kalte Oberfläche. Kling. Kling. Kling. Ganz leise. Immer wieder. Bis es leer ist. Mir läuft ein Tropfen übers Kinn, ich wische ihn weg.
Er nimmt mir das Glas ab. Seine Augen sind dunkel und seine Wimpern lang.
»Besser?«
Ich nicke.
»Gut.«
Mit diesem Gut greift er nach dem Teller, der neben mir auf der Stufe steht, dreht sich um und verschwindet. Einfach so. Ich weiß noch nicht mal, wie er heißt.
Jacob
Ich lehne am Küchenfenster und schaue durch nackte Äste zur Trambahnhaltestelle. Es schneit. Alles verschwindet unter einer weißen Schicht. Dicke Flocken fallen aus dem Himmel. Sie sitzt auf der Bank, die Kapuze ihrer Jacke tief ins Gesicht gezogen. Ab und zu schaut sie hoch. Dann sieht man die himmelblaue Strickmütze. Sie reibt die Hände aneinander, um sie zu wärmen, dann vergräbt sie sie in ihrem Schal. Ich könnte sie stundenlang ansehen. Und ich habe keine Ahnung warum. Etwas an ihr ist besonders. Sie wirkt, als wäre sie allein in einer Schneekugel. Abgeschnitten vom Rest der Welt. Auf eine Art einsam, die mir bekannt vorkommt. Mein Blick fällt auf das Glas in der Spüle. Auf den Abdruck, den ihre Lippen hinterlassen haben. Als ich wieder zur Haltestelle schaue, ist sie weg.
Und ich muss zur Arbeit.
Luise
Ich sitze in einer menschenleeren Trambahn, die sich wie ein steifer Wurm durch die verschneiten Straßen schiebt, und denke an die seltsame Situation im Flur zurück. Ich frage mich, wie er heißt. Und warum er mir geholfen hat. Ich meine, er hätte mich auch einfach dort sitzen lassen können. Er war nett zu mir. Na ja, vielleicht nicht gerade nett, aber er hat sich um mich gekümmert.
Ich schaue aus dem Fenster. Eine weiße Welt zieht an mir vorbei. Wieso bringt er erst die zwei Brote und verschwindet dann, ohne sich zu verabschieden? Wahrscheinlich, weil du dich nicht mal bei ihm bedankt hast, denke ich.
Ich sehe sein Gesicht vor mir. Dunkle Augen. Nachdenklich und irgendwie zornig. Die Falten zwischen seinen Brauen ergeben zusammen ein Pi: zwei senkrechte Linien und eine ganz dünne, die knapp darüber liegt. Bei diesem Gedanken spüre ich ein Lächeln auf meinen Lippen, das jedoch im selben Moment wieder verschwindet.
Ich frage mich, ob er und mein Bruder sich kannten. Ob sie vielleicht mal miteinander gesprochen haben. Aber vermutlich nicht. Ich habe sie nie zusammen gesehen.
Es wäre nicht schwierig, seinen Nachnamen herauszufinden. Ich müsste nur zu dem Briefkasten gehen, neben dem er vorige Woche stand. Es war der vierte von rechts in der oberen Reihe. Ich könnte nächsten Mittwoch nachsehen. Und dann in den alten Jahresberichten nach seinem Foto suchen.
Da gibt es nur zwei Probleme. Erstens liegen die Jahresberichte in Kristophers Zimmer – das ich, seit er tot ist, nicht mehr betreten habe –, und zweitens könnte der Typ einen totalen Standardnamen haben, von denen es nicht selten gleich mehrere pro Klasse gibt.
Ming würde jetzt sagen: Frag ihn doch einfach das nächste Mal, wie er heißt. Aber das werde ich nicht tun. Mysteriösen, schweigsamen Kerlen mit Denkerfalten und eigenwilligem Modegeschmack liegen die Frauen zu Füßen. Er ist so ein Typ. Und nur, weil er mir Brote gemacht hat, bedeutet das noch lange nicht, dass er mich mag. Es bedeutet gar nichts.
Ich finde trotzdem, dass er sich hätte verabschieden können. Ist mir egal. Er ist eben kein Mann der vielen Worte. Das muss er auch nicht sein – seine genetische Überlegenheit spricht eindeutig für sich selbst.
Ich lehne den Kopf an die beschlagene Scheibe und atme dagegen. Schneeflocken rasen auf mich zu. Ich fröstle. Mir ist auf diese Art kalt, die man nur im heißen Badewasser wieder loswird. Aber wir haben keine Badewanne.
Als ich eine Viertelstunde später die Wohnungstür aufschließe, ist alles dunkel. Die Kälte hat meine Knochen erreicht, und ich habe immer noch Hunger. Am liebsten würde ich einfach schlafen gehen, aber es ist noch nicht einmal 18:00 Uhr. Ich gehe in die Küche, fülle den Wasserkocher auf und schalte ihn ein.
Morgen habe ich Geburtstag. Den ersten ohne meinen Bruder. Den ersten als Einzelkind. Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Meine Welt funktioniert nicht ohne Kristopher. Es ist wie bei einer Gleichung. Wenn er fehlt, komme ich nicht weiter. Man kann nicht einfach auf der einen Seite etwas wegnehmen, ohne es auf der anderen anzupassen. Ich bin unvollständig. Und ich werde niemals herausfinden, was x ist.
Natürlich habe ich nicht nur gute Erinnerungen an meinen Bruder. Es waren auch viele schlechte dabei. Sehr schlechte. Seine Launen, seine Wutausbrüche, seine depressiven Phasen. Unser ganzes Leben drehte sich immer nur um ihn. Um seine kreativen Episoden und die schwarzen Löcher, die darauf folgten. Um seine Medikamente, um seine Therapien, darum, wie man ihm helfen könnte. In unserem Universum war er die Sonne und ich einer der ganz kleinen unbedeutenden Planeten in den äußeren Umlaufbahnen, die nicht mal einen Namen haben.
Mein Bruder wollte sterben. Ich weiß das. Die ersten beiden Male hat er es mit Tabletten versucht, beim dritten Anlauf wollte er sichergehen. Keine Medikamente mehr. Das war kein Hilferuf. Es war ein letzter Ausweg.
Ich greife blind in den Vorratsschrank und nehme die erstbeste Packung heraus. Pitta Tee. Den hat Papas Freundin mir zu Weihnachten geschenkt. Ich wollte ihn nicht mögen, aber er schmeckt leider doch ganz gut. Und der Tee kann schließlich nichts dafür, dass ich sie nicht leiden kann.
Ich starre aus dem Fenster. Die Küche riecht nach Süßholz und Zimt, und ich denke daran, wie Kristopher und ich noch vor ein paar Wochen zusammen im Haus der Kunst waren. An dem Tag ging es ihm gut. Seine dunkelblauen Augen haben geleuchtet, als wäre die ganze Welt schön und als wäre er der Einzige, der das wirklich verstanden hat. Er fehlt mir. Er fehlt mir auf eine Million unterschiedliche Arten.
Ich werfe den Teebeutel in den Müll, schalte das Licht aus und gehe in den Flur. Und wie immer fällt mein Blick auf Kristophers Zimmertür. Und es fühlt sich an, als wäre dahinter das Nichts.
Mein Bruder war mein ganzes Leben lang da. Jeden Tag davon. Jetzt ist er weg. Und in ein paar Stunden werde ich ein Jahr älter. Ohne ihn.
Jacob
Es ist schon spät, als ich nach Hause komme. Und verdammt kalt. Ich gehe durch die Wohnung, aber Arthur ist nicht da. Vermutlich ist er bei Julia. Ich suche nach dem Grund für die Kälte und finde ihn in seinem Zimmer. Mein Bruder hat ein Faible dafür, Fenster zu kippen und sie dann nie wieder zuzumachen. Die eisige Luft hatte stundenlang Zeit, sich auszubreiten. Sie klebt an den Wänden wie eine kühle Krankheit, die jeden, der zu lange bleibt, anstecken wird. Ich schließe das Fenster, drehe die Heizung voll auf und gehe in mein Zimmer. Sogar hier ist es kalt. Und das, obwohl die Tür zu war. Der Jahresbericht liegt noch offen auf meinem Bett. Ich setze mich und greife danach.
Das Mädchen auf dem Foto sieht ihr irgendwie ähnlich und doch auch wieder nicht. Es sind dieselben dunklen Augen, in die ich schaue, aber der Ausdruck ist ein völlig anderer. Kindlicher, unscheinbarer. Das Mädchen auf dem Foto ist keine Kriegerin. Ich frage mich, was sie zu einer gemacht hat. Mein Blick fällt wieder auf ihren Namen. Luise König. Auf dem Bild ist sie vierzehn Jahre alt, aber inzwischen dürfte sie sechzehn sein. Sie sieht aus wie eine dunkle Version ihres Bruders. Was wohl aus ihm geworden ist? Kristopher war ein netter Kerl. Ein bisschen seltsam vielleicht, aber ich mochte ihn, wenn auch nicht genug, um mich mit ihm anzufreunden – was jedoch nichts mit ihm zu tun hat.
Ich öffne Facebook und gebe seinen Namen ein. Nichts. Danach ihren. Vier Treffer, aber keiner davon ist sie. Sie hat kein Profil. Und auch ihr Bruder scheint keins zu haben. Oder sie haben nur eines zum Spionieren. So wie ich.
Mein Handy klingelt. Auf dem Display erscheint der Name: Nicht drangehen. Evelyn. Ich frage mich, wie oft sie noch anrufen wird, bevor sie endlich kapiert, dass ich nichts von ihr will. Warum tut sie sich das an? Vermutlich, weil du immer wieder mit ihr ins Bett gehst, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Ich kann diese Stimme nicht leiden. Sie hat meistens recht.
Evelyn legt auf, aber nur ein paar Sekunden später trifft eine Nachricht von ihr ein.
Ich antworte nicht. Sie tippt.
Ich schüttle den Kopf und verdrehe die Augen. Hör doch einfach auf, mir zu schreiben.
Nein und Nein.
Wieso sind sich die Stimmen in meinem blöden Kopf eigentlich nie einig? Ich will nicht, dass Evelyn vorbeikommt. Ich will nicht mit ihr reden. Und ich will nicht gemein zu ihr sein. Aber allein sein will ich gerade auch nicht. Außerdem habe ich Hunger. Und mit ihr zu schlafen wäre auf jeden Fall besser, als weiter über ein Mädchen mit kahl rasiertem Kopf und schwachem Kreislauf nachzudenken. Zumindest würde ich kurz damit aufhören.
Ich atme tief ein und schließe die Augen. Ich weiß, dass ich ihr antworten sollte. Ich weiß sogar, was ich ihr antworten sollte. Aber ich tue es nicht.
Bald wird es klingeln, und dann werde ich sie hereinbitten. Wir werden eine Weile laut schweigen und dann rummachen. Es ist wie ein perverses Spiel, das wir immer wieder spielen. Ich werde mit ihr schlafen und danach nicht einschlafen können. Sie wird neben mir liegen und den ganzen Platz brauchen, und ich werde wach sein und die Tatsache verfluchen, dass ich es einfach nicht fertigbringe, sie nach dem Sex wieder nach Hause zu schicken. Und obwohl ich das alles weiß, werde ich sie reinlassen. Keine Ahnung warum.
DONNERSTAG, 16. MÄRZ,
00:00:43
Luise
Um Punkt 00:00 Uhr ruft Ming an. Sie will mir bestimmt gratulieren, aber mir ist nicht nach Reden. Und auch nicht nach fröhlichen Worten. Also gehe ich nicht dran. Ich weiß, dass sie das verstehen wird. Sie weiß, wie ich bin.
Wäre Ming nicht umgezogen, wäre sie jetzt vermutlich hier. Sie würde neben mir liegen. Ich frage mich, ob wir uns unterhalten würden, aber ich kann es nicht sagen. Alles, was ich weiß, ist, dass ich in diesem Augenblick froh darüber bin, allein zu sein. Nicht sprechen zu müssen. Mit niemandem. Ich liege einfach nur auf meinem Bett und denke daran, wie Kristopher und ich genau jetzt vor einem Jahr gemeinsam in der Küche saßen und angestoßen haben. Mit heißer Schokolade, weil er wegen seiner Tabletten keinen Alkohol trinken durfte. Es war die beste heiße Schokolade, die ich je hatte. Wobei … eigentlich stimmt das nicht. Sie war gar nicht so gut. Es war der Moment. Das Außenrum. Mein Bruder und ich und eines unserer vielen Gespräche. Wir haben »Free Stuff« von Edward Sharpe & The Magnetic Zeros auf Endlosschleife gehört und bis spät in die Nacht geredet. Über das Leben und die Liebe und unsere Pläne. Kristopher wollte sich verlieben, ausziehen und an die Akademie der Künste gehen. In Wirklichkeit hat er diese Wohnung so gut wie nie verlassen, er hat nicht studiert und sich auch nicht verliebt. Stattdessen hat er sich das Leben genommen, bevor es richtig anfangen konnte.
Damals dachte ich noch, dass alles gut wird. Dass er einen Weg aus seiner Dunkelheit gefunden hat. Jetzt – ein Jahr später – ist er tot. Vielleicht war das der Weg. Vielleicht ging es nicht anders. Für mich bedeutet das keine heiße Schokolade mehr. Und keine Pläne für die Zukunft. Und keine Geschenke. Nie wieder eines von seinen Geschenken.
Kristopher hat nicht einfach nur irgendwas gekauft, er hat sich immer etwas einfallen lassen. Etwas Persönliches. Etwas, das gezeigt hat, wie wichtig man ihm ist.
Ich drehe mich zur Seite und betrachte die Kugelschreiberzeichnung, die er mir vergangenes Jahr zum Geburtstag geschenkt hat. Der Rahmen war in goldenes Papier gewickelt. Mit einer großen roten Schleife drumrum.
Kristopher hat immer mit Kugelschreiber gemalt. Und immer nur blau. Er hat gesagt, jeder Künstler braucht einen Wiedererkennungswert. Das war seiner. Er hatte eine Schublade voll mit PaperMates – seine Lieblingskugelschreiber. Ich weiß nicht, wie viele es waren, aber er konnte nicht genug davon haben. Wenn mein Bruder eine von seinen manischen Episoden hatte, war er tagelang wach. Rastlos. Er hat gemalt. Auch nachts. Das Licht schien dann immer unter seiner Tür in den schwarzen Flur, und ich wusste, dass er da ist.
Ich streiche über das Glas. Es ist staubig. Eine dünne gleichmäßige Schicht. Ich wische mit einem Stück Bettdecke darüber und betrachte das Bild. Die blauen Linien, die Kristopher einmal gezogen hat. Dünn wie Papier. Zwei Hände mit ineinander verschränkten Fingern. Sie sind schematisch und zweidimensional. Genauso wie der riesige Tacker, der sich über ihre Handflächen schiebt und sie zusammenhält. Wie lose Seiten. Als Kristopher mir diese Zeichnung damals gegeben hat, meinte er: Du und ich, wir sind für immer verbunden. Das weißt du, oder? Ich habe genickt. Heute frage ich mich, ob er zu dieser Zeit schon wusste, was er sich antun würde.
Ich setze mich auf und trinke einen Schluck Tee. Er ist kalt geworden, aber das stört mich nicht. Mein Handy vibriert, und das Display leuchtet auf. Drei neue Nachrichten. Die erste ist von Ming. Die zweite von meinem Vater. Und die dritte von Mama, in der sie mir schreibt, dass sie es vor eins nicht nach Hause schafft, weil gerade noch ein Notfall reingekommen ist, aber dass sie einen Kuchen gekauft hat und hofft, dass ich noch wach bin, wenn sie dann da ist.
In dem Moment, als ich das Handy weglege, kommt eine E-Mail an. Ich öffne das Mail-Programm. Absender: Futureme.org. Scheiß Spam. Ich will sie gerade löschen, als ich den Betreff bemerke: Nicht löschen, Lise. Ich bin’s.
Jacob
Es ist halb eins, und Evelyn schläft tief und fest. Als wäre mein verdammtes Bett der Ort auf der Welt, an dem sie sich am wohlsten fühlt. Ich sehe dabei zu, wie sich ihr Brustkorb gleichmäßig hebt und senkt. Sie liegt neben mir und ist doch ganz woanders. Ich wünschte, sie wäre wirklich ganz woanders.
Mein Magen knurrt. Ich rapple mich auf, bücke mich nach meinen Boxershorts und meinem T-Shirt, ziehe beides an und verlasse leise das Zimmer. Im Flur fällt mir auf, dass Arthur nicht nach Hause gekommen ist. Seine Schuhe sind nicht da. Genauso wenig wie sein Schlüssel. Ich gehe in die Küche, setze mich an den Tisch und esse ein Stück kalte Pizza. Mein Handy liegt immer noch neben dem offenen Karton. Der Sperrbildschirm zeigt zwei neue Nachrichten an.
Ich schreibe ihm zurück.
Dann öffne ich die neue WhatsApp-Nachricht. Verena Bormann. Ich kenne keine Verena Bormann.
Warum nur tut er das? Ich habe diesem blöden Idioten bestimmt schon tausendmal gesagt, dass er meine Nummer nicht weitergeben soll. Aber er macht es immer wieder. Manchmal glaube ich, es macht ihm Spaß. Ich lösche Verenas Nachricht, ohne weiter darüber nachzudenken. Sie weiß es nicht, aber ich tue ihr einen Gefallen damit.
Das mit Evelyn und mir hat genauso angefangen. Eine Nachricht und meine Antwort darauf. Ich wünschte, ich hätte ihr nie zurückgeschrieben.
»Jacob?«
Das glaub ich ja jetzt nicht. Ich schließe genervt die Augen, dann schaue ich auf. Evelyn trägt eines meiner T-Shirts, ihre Haare sind offen und zerzaust. Würde sie mir etwas bedeuten, wäre das ein schöner Anblick. Aber das Einzige, was ich sehe, ist, dass sie an meinen Schrank gegangen ist, ohne mich zu fragen.
»Kannst du nicht schlafen?«, fragt sie und kommt auf langen Beinen auf mich zu.
»Ich kann nie schlafen, wenn du da bist.«
Stille.
»Das wusste ich nicht«, sagt sie leise.
»Wie könntest du auch?«, antworte ich tonlos, »du schläfst schließlich.«
Noch mehr Stille.
»Hab ich was falsch gemacht?«
Warum sind Mädchen so? Warum?
»Nein«, sage ich und stehe auf, »ich bin bloß müde.«
»Wäre es dir lieber, wenn ich gehe?«
Mein Blick sagt Ja und ich: »Nein. Schon okay.«
»Du lügst.«
Ich atme tief ein und fahre mir mit der Hand durch die Haare. »Was willst du von mir hören?«
»Keine Ahnung«, murmelt sie, »die Wahrheit?«
»Die Wahrheit«, wiederhole ich abschätzig. Alle wollen sie immer die Wahrheit, aber nur, bis man sie ihnen sagt. Ich schaue ihr direkt in die Augen. »Du hast recht. Es war gelogen.«