Gerade ist Daniel aus der Provinz nach Berlin gezogen. Auch um sich Fil zu nähern, der für ihn bisher mehr ein Gerücht war als ein Vater. Aber ausgerechnet jetzt erkrankt dieser schwer, und wieder ist der Sohn allein: mit allen Fragen – und dem Schlüssel zu Fils Wohnung. Nur widerwillig dringt Daniel in das Leben des Vaters vor, zu Freunden, Leidenschaften und Idealen. Als ihm dann noch die eigensinnig-mysteriöse Dem über den Weg läuft, weiß Daniel bald nicht mehr, was wahr ist und was zählt. Aus der Suche nach dem Vater wird eine Suche nach sich selbst, die Daniel quer durch Europa, von der Facebook-Gegenwart zum Westberliner Untergrund der achtziger Jahre führt. Doch wie kommt man von dort zurück? Als wer? Und wohin?
Raul Zelik erzählt von aufeinanderprallenden Welten, von Konsequenzen und Rücksichtslosigkeit, von Anpassung und Aufbegehren. Inmitten der Krise fragt er nach dem Wagnis eines anderen, besseren Lebens.
Raul Zelik, geboren 1968 in München, lebt in Medellín, wo er an der Nationaluniversität Kolumbiens Politische Theorie lehrt. Zuletzt erschienen von ihm die Romane Der bewaffnete Freund (2007), Berliner Verhältnisse (2005, dbp-Longlist) sowie der Essay Nach dem Kapitalismus. Perspektiven der Emanzipation (2011). Der Eindringling ist sein erster Roman im Suhrkamp Verlag. Weitere Informationen unter www.raulzelik.de
Raul Zelik
Der Eindringling
Roman
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© Suhrkamp Verlag Berlin 2012
Originalausgabe
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von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-79030-4
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Als Daniel das Krankenhauszimmer betritt, fällt sein Blick zuerst auf den Bildschirm, den flimmernden Zeichentrickfilm, eigentlich hat der Vater nie Vormittagsfernsehen geschaut, und dann auf den Bettnachbarn, einen Mann, Mitte vierzig, blond, eine türkische Tageszeitung aufgeschlagen neben sich auf dem Bett, der still, zufrieden lächelt.
Weil er es hinter sich hat.
Hinter sich und überlebt.
Die Hand des Mannes, des Blonden, des Lesers der Hürriyet, gleitet am Saum des Pyjamas hinunter, an der Naht auf dem Brustbein entlang, mit den Fingerkuppen über den schwarzen, unter dem Wundverband hervorschimmernden Schorf. Es heißt, nach Herz- und Lungenoperationen würden die Rippen mit Metallklammern verhakt. Damit das Innerste nicht herausfallen, nicht aus dem Brustkorb stürzen kann.
Das Innerste.
Was ist das? Wo fängt eine Persönlichkeit an, ab welcher Stelle ist sie nicht mehr austauschbar, nicht mehr zu ersetzen?
Unter den Rippen schlägt das Herz.
Der Mann mit der frischen Naht, dem fahlen Gesicht, dem unter dem Wundverband hervorschimmernden Schorf, steht langsam auf, schreitet, das Gestell mit der Infusionsflasche hinter sich herziehend, durch den Raum, nickt Daniel noch einmal zu und verschwindet dann auf den Gang. Triumphierend, er hat es geschafft. Der Vater würde sagen: Man's death's end.
Ein Bypass, erklärt der Vater mit einem demonstrativen Grinsen, sein dritter. Der Mann mit der fahlen Haut, der blonde Türke, ein Türke, der deutscher aussieht als die meisten Deutschen, aber was heißt das schon?, merkt der Vater mit dünner Stimme an, sei als Notfall eingeliefert und sofort operiert worden, vor gar nicht langer Zeit, vor vier oder fünf Tagen, weil er seine Medikamente abgesetzt habe, eigenmächtig, was für ein Leichtsinn. Die Medikamente, fragt Daniel, blickt irritiert auf den Fernseher, Tom und Jerry, hört: Marcumar, als müsse man wissen, was das ist, und dann, als nachgeschobene Erklärung: Blutverdünner, muss man sein Leben lang nehmen.
Marcumar: Was weiß man als 25-Jähriger von lebenslänglich verschriebenen Medikamenten?
Wetten, dass der rauchen gegangen ist, sagt der Vater. Der weiß, was er will, auch wenn es für ihn das Falsche ist.
Und dann versucht der Vater zu klingen, wie er früher klang: No risk, no fun.
Früher. Als Daniel in den Schulferien noch zum Vater nach Berlin fuhr: ein bemaltes Treppenhaus, der strenge Geruch von Hundepisse, die Aufhebung aller Regeln. Während sich die Klassenkameraden mit den Eltern, der Reihenhausbilderbuchfamilie, in Spanien in der Sonne aalten. Nach der Rückkehr erzählten sie stolz vom Süden, einem Strandurlaub, den alle machten, alle außer Daniel.
Er blickt am Krankenbett vorbei in den Park, wo sich Pappeln im Wind biegen, ihre Laubköpfe hin- und herwerfen. Ein herbstlicher Tag – dabei ist Juni.
Und?
Eigentlich keine Frage. Keine, auf die man eine Antwort erwartet. Der Vater atmet flach und zu schnell.
Was haben die Ärzte gesagt?
Daniel ahnt, was der Vater gleich antworten wird. Dass in Krankenhäusern nicht mehr viel geredet wird, seit die Norm-Visite auf 150 Sekunden beschränkt worden ist, die Sparpolitik in Kürze zur Einstellung jedes direkten Kontaktes zwischen Arzt und Patienten führen wird, die Finanzkrise noch dafür sorgen wird, dass zur Rettung des Kapitals Kranke zum kollektiven Exitus bewegt werden.
Was der Vater sagen würde, wenn er nicht so kurzatmig wäre.
Auf dem Rolltisch neben dem Krankenbett liegt ein Buch: Der Eindringling. Jean-Luc Nancy, ein philosophischer Verlag. Auf der Rückseite ist etwas von Fremdheit zu lesen, von Krankheit, einem transplantierten Organ.
Und Daniel denkt, dass auch das zu erwarten war: dass der Vater bei einer Krankheit genau so ein Buch lesen würde.
Immerhin liest er. Als Daniel acht oder neun war, schien es für den Vater nur risk and fun zu geben: Lebe wild und gefährlich.
Daniel blickt hinaus in den Park und hört das Rascheln der Pappeln durchs geschlossene Fenster. Ein Geräusch, das im Kopf entsteht. Das vom Bild sich biegender Pappeln ausgelöst und wie ein Tonband im Gehirn abgespielt wird. Denn tatsächlich ist es totenstill im Raum.
Totenstill.
Auch wenn der Vater in Daniels Leben keine große Rolle gespielt hat, sein Verschwinden gar nicht weiter auffallen dürfte, ist es doch nicht so, als ließe Daniel das unberührt.
Sie gehen gelb gestrichene Krankenhausgänge hinunter, Betten werden vorbeigeschoben. Leere, frisch bezogene Betten, deren letzte Belegung soeben entlassen wurde oder verstarb, Betten, in denen Patienten liegen, die mehr oder weniger zuversichtlich auf Heilung hoffen.
Ein eigenartiger Gedanke, dass Heilung nicht eintreten könnte. Dass es Krankheiten gibt, die mit großer Wahrscheinlichkeit zum Tod führen. Was weiß man als 25-Jähriger vom Tod?
Aber weiß man mehr über ihn, wenn man 48 ist?
Sie fahren mit dem Aufzug ins Erdgeschoss und spazieren durch die ans Krankenhaus grenzenden Grünanlagen. An einem Kinderspielplatz vorbei, einem Piratenschiff mit Kettenseilzug, auf dem man sich selbst über einen Abgrund ziehen kann. Auf dem Daniel sich jetzt gern selbst über den Abgrund zöge.
Er fragt sich, ob der Vater das Krankenhaus überhaupt verlassen darf. Ob ihm nicht strengste Bettruhe verschrieben worden ist.
Der Vater, der Philippe heißt, aber von allen Fil genannt wird, sieht ein wenig aufgeschwemmt aus, durch Medikamente aufgedunsen, doch Daniel erkundigt sich nicht nach der Krankheit, weiß auch so, dass der Vater nur schlecht Luft bekommt, sein Kreislauf schwach ist, die Ärzte wenig Hoffnung auf eine baldige Genesung machen.
Daniel fragt nicht weiter nach und hat doch so viel verstanden, dass die entzündete Lunge sich verhärtet und ihr Volumen allmählich abnimmt, bis man erstickt.
Man.
Sie schreiten still nebeneinander her, das Rascheln der Pappeln ohrenbetäubend, und Daniel denkt: nicht der richtige Augenblick für Sentimentalitäten, große Vater-Sohn-Gefühle, denkt: es wäre Sache des Vaters, zu sprechen. Sich zu erklären, verständlich zu machen, ihm nach all den Jahren zu sagen, was in seinem Leben so wichtig war, dass Daniels Existenz so unwichtig war. Es läge beim Vater, sich zu entschuldigen.
Die Bäume biegen sich scharf im Sturm, werfen Äste hin und her, Laubbüschel, immer wieder knackt es bedenklich im Holz.
Fil exklamiert: Scheißbäume, Pappeln sind Scheißbäume, ein bisschen Wind und die fallen um. Könnte man ins Sparprogramm integrieren, spart man sich teure Operationen mit, man stellt die teuren Patienten einfach im Sturm unter Pappeln ab.
Dann bleibt er stehen, hält sich die Brust. Bekommt mitten in diesem Sturm, dieser Luftwalze, keine Luft mehr. Hört aber trotzdem nicht auf:
Andererseits ein dankbarer Tod … Irgendwie spirituell … Hast du schon mal Bäume umarmt? Ich habe ja gehört, junge Leute machen heute so was: Bäume umarmen, sich in den Baumwipfeln festketten …
Ein herausfordernder Blick.
Ihr seid eine niedliche Generation.
An Bäumen festketten?
Junge Globalisierungskritiker machen so was, behauptet der Vater.
Ich bin kein Globalisierungskritiker.
Stimmt. Fil grinst. Erschöpft, aber übers ganze Gesicht. Daniel weiß, was er denkt, aber nicht ausspricht: Stimmt, für Politik hast du dich noch nie interessiert, du stehst auf Facebook, Trendsportarten, setzt auf etwas Sicheres, studierst auf Lehramt.
Eigentlich hat es die bei uns auch schon gegeben, schiebt er hinterher. Spirituelle Baumfreunde. Sind nur nicht so aufgefallen.
Damals.
Auf der anderen Seite vom Park gebe es einen Biergarten, wechselt er unvermittelt das Thema, und er habe Appetit auf Brezeln. Torkelnd setzt er sich in Bewegung, und Daniel fragt sich, ob der Vater Angst hat, ob das Motto »Lebe wild und gefährlich!« auch dann gilt, wenn man fast nicht mehr lebt.
Sie lassen den Kinderspielplatz hinter sich und stapfen über eine nasse Wiese, der Stoff der Hose saugt sich mit Feuchtigkeit voll. Daniel versucht so wenig wie möglich mit der Natur in Berührung zu kommen, stakst wie ein Storch, Fil dagegen schlurft, zieht die Füße faul hinter sich her, hat innerhalb kürzester Zeit nasse Turnschuhe und Jeans. Der Vater sollte auf dem Weg bleiben, denkt Daniel, Acht geben, dass er sich keine Erkältung einfängt. In seinem Zustand kann jeder harmlose Schnupfen zu einer Lungenentzündung werden, doch offensichtlich genießt Fil das Gefühl, durch das Gras zu laufen, mit den Fingern nach den geschlossenen Blüten zu greifen, Blüten, die nur einen Strich Klatschmohnrot erahnen lassen; genießt den Wind, der durch die Sträucher fährt und Tropfen von den Büschen schleudert.
Er wirkt gar nicht so krank, denkt Daniel, als sie die Kneipe erreichen, und spricht den Gedanken dann auch aus.
Ich bin gar nicht so krank, antwortet Fil.
Ich sterbe nur.
Um dann plötzlich doch wieder niedergeschlagen, ängstlich, verloren auszusehen.
Seit vier Monaten sehen sie sich öfter, seit Daniel nach Berlin gezogen ist. Öfter: einmal in vierzehn Tagen. Gehen ins Kino, reden über einen Film, über Ausflugsziele in der Umgebung, Fahrradtouren, die man dann doch nicht macht, weil man nichts Festes vereinbart, nichts Rechtes miteinander anzufangen weiß, das Wetter zu schlecht ist. Der Vater hat Daniel ein bisschen bei der Renovierung der Wohnung geholfen, die in Friedrichshain liegt und ziemlich heruntergekommen war, und Daniel, der Sohn, hat sich darüber gewundert, dass sich der Vater handwerklich als so geschickt erwies, bei der Renovierung so viele Aufgaben in die Hand nahm, dann aber nicht weiter nach dem Ursprung dieser Kenntnisse gefragt. Vielleicht weil Daniel keine Anekdoten von besetzten Häusern hören wollte, in deren Hinterhöfen Zugbrücken gespannt waren, von zusammengeschraubten Schiffen, mit denen Freunde seit zwanzig Jahren über den Atlantik kreuzen, von als Barrikaden auf Gleisen festgeschweißten Straßenbahnen, von der Schule des Lebens.
Dabei ist sich Daniel nicht einmal sicher, ob Fil tatsächlich Anekdoten erzählt oder eine unbekannte, eher harmlose Seite seiner Biographie preisgegeben hätte: ein paar Monate in einer Baufirma, ein mit öffentlichen Geldern unterstütztes Selbsthilfeprojekt. Daniel weiß nicht einmal genau, wovon Fil all die Jahre eigentlich gelebt hat.
Als Daniel nach Berlin zog, sagte der Vater: Korrekt, dann sehen wir uns regelmäßiger. Als sei das schon lange sein sehnlichster Wunsch, als wäre es Daniels Entscheidung gewesen, in Göttingen, in der sauberen, vierstöckigen Sozialbausiedlung aufzuwachsen, bei Conny, der Mutter, und Gerd, ihrem Freund, in einfachen, aber geordneten Verhältnissen. Und obwohl Fil ihm angeboten hatte, die ersten Wochen nach dem Umzug bei ihm zu wohnen, war Daniel lieber zu einer entfernten Freundin der Mutter gezogen, hatte sich eine Matratze ins berüchtigte Berliner Zimmer gelegt, das täglich neuen Anlass bot, die Immobilien-Webseiten zu durchforsten, war froh gewesen, nicht auf den Vater angewiesen zu sein, nicht wieder in einem vollgekritzelten Haus übernachten zu müssen, in dessen Aufgang es streng nach Hundepisse roch und alles erlaubt war – eine dunkle Erinnerung, eine Erinnerung aus der Kindheit. Wie sich später herausstellen sollte, war auch das Mietshaus, in dem Daniel schließlich einzog, vollgetaggt, nur statt nach Hundepisse stank es dort nach Männerurin, den sich die Betrunkenen jede Nacht im Hauseingang abschlugen. Gegenüber einer Freundin, einer Kommilitonin, auf die Daniel ein Auge geworfen hatte, sie jedoch anscheinend nicht auf ihn, und der er von den lange zurückliegenden Besuchen beim Vater erzählte, brachte er es lachend auf die Formel: Das Schicksal holt einen eben immer wieder ein, worauf auch sie lachte; erst dann fiel ihm auf, dass Hundepisse und Männerurin als Beschreibung seiner Existenz nicht unbedingt das beste Licht auf ihn warfen. Aber vielleicht war das besser so. Die Frau studierte im Hauptfach Jura und hätte wenig Zeit gehabt.
Doch dann, als Daniel richtig in der Stadt angekommen war, sich mit der neuen Wohnung, Friedrichshain, dem nach Männerurin stinkenden Hauseingang angefreundet hatte und überlegte, dass nun wirklich die Zeit gekommen sein könnte, um Fil kennenzulernen, neu kennenzulernen, von ihm ernst genommen zu werden, brach die Krankheit über den Vater herein. Fil, der seit Jahren auffällig hustete, seine Beschwerden aber stets mit einem Hinweis auf die Stadt, den Berliner Feinstaub, eine bewegte Jugend abgetan hatte, wurde eine schwere Lungenkrankheit diagnostiziert, und für den Konflikt, den auszutragen Daniel sich vorgenommen hatte, was war in deinem Leben so wichtig, dass ich nicht wichtig war, warum haben wir uns nicht mehr gesehen, seit ich neun war?, schien wieder nicht der richtige Augenblick zu sein. Mehr noch als Angst oder Trauer spürte Daniel so etwas wie Empörung, dass er wieder nicht die Gelegenheit fand, um Fil mit der gemeinsamen, aber nicht geteilten Vergangenheit zu konfrontieren – mit der Frage, was das sollte, diese unvermittelt abgebrochene Ferienvaterschaft, die Leichtigkeit, mit der Fil ihm all die Jahre entwischt war.
Dem Freund, mit dem Daniel in Friedrichshain zusammenzog und den er noch aus Göttingen kannte, Steffen, wie Daniel hatte er eigentlich Journalist werden wollen, aber irgendwie wussten sie nicht, wie sie es angehen sollten, weswegen sich Daniel schließlich auf Lehramt eingeschrieben hatte, Steffen es mit Sozialwissenschaften und Geschichte versuchte, hatte er einmal zu erklären versucht, worum es ging: dass Fil über eine freundliche Oberflächlichkeit nie hinausgegangen, da und doch nie da gewesen war, ständig tausend andere Sachen im Kopf gehabt hatte, offensichtlich politisch sehr aktiv gewesen war; Daniel hatte erzählt, dass er bis heute nicht einmal wirklich wusste, was der Vater in all den Jahren eigentlich gemacht hatte. Aber Steffen, der aus einer Reihenhausfamilie stammte, Vater Angestellter, Mutter Hausfrau, ein jüngerer Bruder, hatte das Problem nicht nachvollziehen können: Sei froh, dass der nicht da war. Es gibt nichts Schlimmeres, als alles über seine Eltern zu wissen.
Und so kam es, dass Daniel, als er von Fils Krankheit hörte, nicht gleich zum Vater fuhr, sondern weiter seine Uni-Seminare besuchte – Neuere französische Literatur, Didaktik II, Politische Geschichte der Weimarer Republik –, auch sonst am gewohnten Tagesablauf festhielt, Einkauf, eine Runde Joggen, den FarmVille-Bauernhof bei Facebook pflegen, ein paar Stunden mit Steffen in die Lamola-Bar, bis er schließlich beinahe zufällig von Fils Nachbarn erfuhr, von einigen Kahlrasierten, kahlrasiert, aber nicht rechts-, sondern linksradikal, an deren Tür ein Plakat verkündete, dass man anderswo richtig zu streiken wisse, dass vermummte Streikende anderswo Gummireifen in Brand setzten und mit Steinschleudern auf Polizisten schössen, dass der Vater im Krankenhaus liege, vor zwei Tagen eingeliefert worden sei, wegen einer Fibrose. Daniel erschrak, ihm war hinterher allerdings nicht ganz klar, ob wegen der Diagnose oder weil ihn die Nachricht für einen Augenblick unberührt ließ, und ging dann zu Fuß die vier Kilometer von Fils Wohnung zurück in die Eldenaer Straße, in den Norden Friedrichshains, über den Fluss, die backsteinfarbene Oberbaumbrücke, versuchte nicht nachzudenken, ließ den Blick schweifen, Nieselregenwolken und ein rosa leuchtender Industriehimmelstreifen Richtung Alexanderplatz, und dachte, dass das typisch für ihr Verhältnis war, dass auf jede Bewegung aufeinander zu sofort eine Abstoßung folgte.
Sie setzen sich hinein, weil es draußen im Biergarten zu kühl ist, die Tische von Regentropfen überzogen sind, der Wind immer wieder Wasser von den umstehenden Bäumen schüttelt, weil Daniel die Biergartenbänke zu feucht sind, er sich Sorgen um Fil macht, seinen Vater. Kaum haben sie Platz genommen, bestellt der sich ein Bier.
Das ist was Besonderes, behauptet Fil. Das kommt aus einer Dorfbrauerei.
Daniel kann nicht erkennen, was daran besonders sein soll, Dorfbrauerei, vor allem jedoch versteht er nicht, warum jemand, der krank ist, todkrank, gegen Mittag Alkohol trinkt.
Einen Darjeeling, sagt er.
Die Kellnerin blickt Daniel fragend an; Fil grinst still, aber vielsagend.
Einen Tee, einen schwarzen Tee, schiebt Daniel hinterher.
Komm, wir trinken mal zusammen ein Bier, schlägt der Vater vor.
Damit sie locker werden, denkt Daniel, lockerer, so etwas wie Komplizenschaft aufkommt, sie sich kumpelhaft auf die Schulter klopfen können. Und obwohl Daniel keine Lust hat, genau darauf keine Lust hat, hebt er die Hand und bestellt sich auch ein Bier, fränkisches Dorfbier.
Sich zusammen einen ansaufen.
Machen alle Väter mit ihren Söhnen, denkt Daniel genervt.
Die Kellnerin stellt die Biere auf den Tisch, und unvermittelt beginnt Fil, das Glas kurz ans andere getickt, von einer Reise zu erzählen, einer Fahrt durch die Wüste. Er erwähnt Reisestationen, spricht aber nicht, wie Daniel es erwartet hätte, von skurrilen Begegnungen, elegant gelösten Problemen, eigenwilligen Personen, sondern nur von Bildern: der steten, stillen, übermächtigen Bewegung des Sandes; davon, wie sich Dünen kaum merklich und doch unübersehbar vorwärtsschoben, von Rillen, die der Sand bildete, immer wieder neu formte, wenn man eine Handvoll herausgriff und in die Luft warf, vom Pfeifen, das der Wind erzeugte, wenn er über die Dünen strich und Körner über Körner rollten: mahlender Quarz. Fil redet von Farben, den Textilfarben der Kleider oder eines einzigen Kleids, einem Indigoblau, Scharlachrot, Alabasterweiß; dem Auge eines Tieres, einem glasigen Auge, in das man hineinschauen konnte, aus dem jedoch nichts Lebendes herauszublicken schien.
Sie trinken ein zweites Bier, ein drittes, und schließlich, es ist drei Uhr nachmittags, hat es den Anschein, als wäre alles zu hell, ist der graue, wolkenverhangene Tag lichtgeflutet: Der Blick aus dem Fenster schmerzt in den Pupillen. Sie geben ein Zeichen, worauf die Kellnerin mit einem winzigen Block in der Hand auf sie zutritt, unlesbare Ziffern aufs Papier kritzelt und einen Betrag nennt, der auch völlig aus der Luft gegriffen sein könnte. Fil zahlt, lässt es sich nicht nehmen, für Daniel zu zahlen, einmal für Daniel zu zahlen, und dann treten die beiden in den Tag, Vater und Sohn, ins Grelle hinaus, streifen über die nasse Wiese zurück, deren Feuchtigkeit nicht mehr zu spüren ist, weil nur noch Licht zu spüren ist, kommen wieder am Kinderspielplatz vorbei, dem Piratenschiff, und lassen es sich diesmal nicht nehmen, in den Aussichtskorb zu klettern, beginnen ein erstes Mal albern zu lachen, gemeinsam zu lachen, erst vorsichtig, dann erneut, steigen in die Schalen, die man mit einem Kettenseilzug selbst bewegen kann, rufen Leinen los! und stoßen das Spielplatzschiff in die Fluten. Die Hände schützend über die Augen gelegt und den Horizont nach Beute absuchend grölen sie, das heißt, Daniel grölt, Fil schnauft kurzatmig, dass sie es den Pfeffersäcken zeigen, dass sie jetzt ganz andere Saiten aufziehen werden. Der Orkan fegt über die See, knirscht bedrohlich im Pappelgeäst, schiebt das Schiff unaufhaltsam vorwärts, durch die Brandung, durch das tobende Meer, sie segeln hart am Wind, und Fil fällt, der Bug peitscht die Salzgischt, eine Homer-Übersetzung ein. Schließlich kommt Daniel auf Drogen und Sex, Drogen und Fernsehen, Drogen und Drogen zu sprechen, als wolle er Fil etwas beweisen, als wolle er ein verwegenes Leben andeuten, ein Leben, das dem Fils ähnelt, das dem Bild ähnelt, das Daniel von Fils Leben hat, und der Vater lässt sich vom Mast in den Sand fallen, stürzt sich wie ein Sack herunter, so dass ein Passant, den Hut ins Gesicht gezogen, die Krempe mit einer Hand festklammernd, verwundert herüberblickt. Kurz darauf springt auch Daniel hinunter, streckt die Arme theatralisch vom Körper, bohrt das Gesicht, die Nase, den Mund tief in den Sand, bis die Körner, der fein gemahlene Quarz, zwischen den Zähnen knirschten. Sie lachen.
Als sie später am Krankenhauseingang stehen und voneinander Abschied nehmen, fragt Daniel nicht, wie es weitergeht. Obwohl der Vater blass aussieht, fahl, unruhig nach Luft schnappt, erklärt Daniel nur kurz, dass er die Tage wieder kommen werde, sehen müsse, wie viel an der Uni zu tun sei, und dann nehmen sie sich zum Abschied schnell, flüchtig, als seien sie sich ihrer Geste nicht sehr sicher, in den Arm.
Tatsächlich kehrt Daniel, der sonst nie zögert, Hilfe anzubieten oder zumindest Anteilnahme zu signalisieren, der in seinem Tennis-Wear-Look und mit den höflichen Umgangsformen immer ein wenig wie der ideale Schwiegersohn wirkt, in den darauffolgenden Tagen nicht ins Krankenhaus zurück. Er denkt, dass ein Vater, der sein Krankenbett verlässt, um sich zu betrinken, sich auf einem Kinderspielplatz in den Sand zu werfen, nicht wirklich krank sein kann, nicht so, dass man ihn täglich besuchen müsste; denkt daran, dass in drei Fächern Prüfungen anstehen und das Bafög gestrichen wird, wenn man nicht in der vorgesehenen Zeit studiert, denkt, dass er keinen Grund hat, für einen Vater da zu sein, der in seinem Leben nicht für ihn da war. Er besucht also weiter seinen Unterricht, hört Neuere französische Literatur, Didaktik II, Politische Geschichte der Weimarer Republik, lernt diszipliniert für seine Prüfungen, verbringt die Abende mit Steffen zu Hause oder in der Lamola-Bar, die sie in ein verlängertes Wohnzimmer verwandelt haben. Sie hören Musik oder unterhalten sich über Musik, kümmern sich um die virtuellen Felder und Tiere bei FarmVille, bringen ihre Ernte ein, auf einem Bauernhof ist immer etwas zu tun und die Arbeit entspannt, oder gehen in den Park und schließen Freundschaften, denn die beiden sind neu in der Stadt, sind neugierig auf andere, setzen sich mit ein paar Dosen Bier an den Kanal und sprechen mit neuen Bekannten über Reisen, ein Auslandssemester, einen neuen Club, den man sich anschauen sollte, aber nicht über Fil.
Alles geht seinen üblichen Gang. Daniel fährt mit der U-Bahn zur Universität hinaus, reiht sich in die Masse ein, die – Retro-Adidas-Taschen an den Schultern, in Zeitungen, Bücher, Reader vertieft, mit ihren Handys beschäftigt – in die Seminare und wieder nach Hause strömt, checkt E-Mails, die Facebook-Seite, die Feldfrüchte bei FarmVille, einen Chat, sortiert Uni-Unterlagen oder Dateien auf dem Computer, geht mit Steffen Beach-Volleyball spielen und landet wieder in der Bar, ihrem verlängerten Wohnzimmer. Immer ist etwas zu tun, immer etwas Anderes, immer sind sie in Bewegung.
Nur einmal, an einem dieser Tage, auf der wandernden Ellipse, die immer wieder den gleichen Ausgangspunkt durchquert, geht Daniel unvermittelt der Gedanke durch den Kopf – er steht an einem Gleis und wartet auf die S-Bahn, spürt die feuchte, für die Jahreszeit viel zu kühle Zugluft unter den Kleidern die Haut hinaufkriechen, denkt nicht an Fil, die Überlegung hat mit der Krankheit seines Vaters in diesem Augenblick nichts zu tun, nicht unmittelbar zu tun, das glaubt er zumindest –, dass seine Geschäftigkeit bedeutungslos ist, sein Leben einer Mühle gleicht, die sich dreht, ohne dass er von der Stelle käme, die einen zermalmt; denkt Daniel zum ersten Mal kurz, dass in seinem Leben etwas nicht stimmt.
Bevor er noch einmal ins Krankenhaus zurückkehrt, zurückkehren muss, trifft er sich auch noch einmal mit einer Frau. Sie waren sich auf einer Geburtstagsfeier begegnet, standen eine Stunde gemeinsam in einem größeren Kreis, die meiste Zeit wurde über Filme von Ridley Scott, vietnamesisches Essen und das Studium geredet, doch zu zweit kamen die beiden, kamen Daniel und die Frau erst ins Gespräch, als die Runde sich längst aufgelöst hatte, er durch den Türrahmen beobachtete, wie ihr, sie war im Begriff zu gehen, hielt ihren Beutel in der Hand, ein Adressbuch aus der Tasche fiel. Ohne Hintergedanken trug er ihr das Adressbuch hinterher, und sie lächelte ihn an, legte ihm dankbar die Hand auf die Schulter, notierte ihm nach einer kurzen Unterhaltung ihre Nummer auf einen Zettel.
Sie sehen sich unter der Hochbahn am Schlesischen Tor: Nässe glänzt auf dem Asphalt, in Pfützen spiegeln sich Taxi-Zeichen und bunte Imbissreklamen, es riecht nach Holzkohle, geschmolzenem Käse, Autoabgasen, türkischem Gebäck. Die Frau läuft die U-Bahn-Treppe hinunter, ihre Haare federn ein wenig, sie gibt ihm zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. Dann spazieren die beiden die Straße Richtung Ortseingang Treptow, Richtung Bezirksgrenze hinunter, vorbei an Brachen, auf denen sich Baufirmen in Stellung gebracht haben, vorbei an neuen Bars, schlängeln sich durch Horden ausländischer Touristen, die für ein paar Longdrinks aus London oder Mailand eingeflogen sind und jetzt grölend von Kneipe zu Kneipe ziehen, und die Frau, die Charlotte oder Nina oder Sarah heißt, ihren Namen hat Daniel vergessen, und die schon länger Berlinerin oder schon vor Längerem zugezogene Hessin, auf jeden Fall ortskundig ist, nimmt die Unterhaltung in die Hand. Wieder kommen sie auf einen Ridley-Scott-Film zu sprechen, einen, der ihr gefallen habe, der sich von dem Kriegsepos, von dem auf der Party die Rede war, wohltuend absetze, eine Drogenhändlergeschichte, der Titel falle ihr nicht ein, und Daniel erinnert sich, den Film gesehen zu haben, hat dessen Handlung aber schon fast wieder vergessen, und nutzt die Gelegenheit, sich die Story in schnellen, knappen Sätzen von der Frau rekapitulieren zu lassen.
Der Nieselregen hält sie davon ab, die Straße bis zur Bezirksgrenze hinunterzugehen, bis zum Ortseingang Treptow, wie sie es ursprünglich vorhatten, und so landen sie schließlich im Slovenska, einer Kneipe im Siebzigerjahre-Chic mit den dazugehörigen Tapeten, bestellen sich polnischen Wodka, und die Frau – Sarah, Nina, Charlotte: Daniel überlegt, wie er den Namen unauffällig erfragen könnte – trinkt das Glas ansatzlos leer, als Reinsacker. Er macht es ihr nach, und der frostige Eisbrecher wirkt, sie beginnen, gut gelaunt, zunächst gut gelaunt, über persönlichere Dinge zu reden, über Musik, Reiseziele, das Auslandssemester, und kommen plötzlich unversehens auf ihre Familien zu sprechen. Daniels Stimmung wird merklich schlechter, trotzdem erstattet er, stichpunktartig, Bericht: dass er in Niedersachsen aufgewachsen sei, in einer kleinen, in den sechziger Jahren errichteten Siedlung, und die Mutter nach wie vor in Göttingen wohne, einer Kleinstadt, in der für eine Kleinstadt relativ viel los ist, während Fil, Daniel vermeidet die Bezeichnung Vater, immer schon in Berlin gelebt habe, und dass Fil, Ende vierzig, sieht aber jünger aus, sah immer schon jünger aus, vor Kurzem, ein paar Wochen, eine schwere Lungenkrankheit diagnostiziert worden sei, die ihn schlagartig habe altern lassen. Und in diesem Augenblick ist plötzlich der Gedanke an die durch den Wundverband schimmernde Narbe des Bettnachbarn wieder da, an einen sich hebenden und senkenden Brustkorb, ein schlagendes Herz. Die Frau, vor sich das beschlagene Wodka-Glas, schaut erschrocken – vielleicht aus Mitgefühl, vielleicht weil sie vorausschauend die Belastung einer schweren Krankheit von sich fernzuhalten versucht und auf Distanz geht –, und Daniel verstummt, erinnert sich an Fils Zimmernachbarn, den fahlen Mann mit der frischen dunklen Naht, der, die Infusionsflasche triumphierend hinter sich herziehend, den Raum verließ, das heißt, Daniel malt sich zum ersten Mal die Situation konkret aus: ein aufgesägter, aufgebrochener Brustkorb, in dem Chirurgenhände abgeschnittene Gefäße sortieren, in dem Spezialisten, Experten, Feinmotoriker mechanische Mängel zu beheben versuchen. Und obwohl Daniel und die Frau weiter Eisbrecher trinken, verläuft das Gespräch von da an nur noch stockend, kann er sich auf ihre Unterhaltung nicht mehr wirklich konzentrieren.
Es ist gegen eins, als sie von ihren Stühlen aufstehen, um nach Hause zu gehen, die Schlesische Straße zurück zum U-Bahnhof laufen, der Fluss liegt dunkel, schmutzig, träge neben der Kurve, die früher Demarkationslinie zwischen zwei politischen Systemen war, jetzt nur noch lärmende, von Touristen in Besitz genommene Kurve ist, und selbst in diesem Moment sieht es kurz danach aus, als würden die beiden, als würden Daniel und die Frau die Nacht gemeinsam verbringen. Sie laufen die Treppe zur Hochbahn hinauf, hören den einfahrenden Zug schwerfällig über die Gleise rumpeln, steigen in einen der muffig riechenden Waggons, und Daniel, der die Sitze und Griffe schmutzig findet, sich immer noch nicht an den Berliner Nahverkehr gewöhnt hat, fährt ein Stück, einen kleinen Umweg in ihrer Richtung mit. Doch als sie die Haltestelle erreichen, an der sie sich entscheiden müssten, an der sich einer der beiden entscheiden müsste, ergreift keiner, ergreift weder Daniel noch sie die Initiative, und so drückt Sarah-Charlotte-Nina, ihren Namen weiß er immer noch nicht, den Türknopf. Sie fassen sich noch einmal kurz an den Händen, diesmal ohne Kuss, und dann ist sie weg.