Tim Boltz, Jahrgang 1974, arbeitete zunächst als Redakteur. Und nein, »Weichei« ist nicht seine Biografie. Der Autor lebt zwar in Frankfurt am Main, arbeitet allerdings nicht an einer Tankstelle mit einem Kollegen namens Emile. Stattdessen hat er unter dem Namen Zeno Diegelmann diverse Kriminalromane und Thriller sowie ein Musical verfasst. »Weichei« ist sein erster Comedyroman.
Eine Fortsetzung ist bei Goldmann bereits in Planung.
Rot. Ich sitze im Auto. Mir ist warm, und ich drehe die Lüftung voll auf, sodass mir meine Augenlider bereits eine doppelseitige Augenentzündung als Friedensangebot unterbreiten. Egal, denke ich. Immer noch besser, als seine verschwitzten Umrisse in den Stoff des Fahrersitzes einzubrennen wie das Antlitz Jesus in das Turiner Leichentuch. Seit Tagen haben wir bereits diese frühsommerlichen Temperaturen. Und obwohl es gerade erst kurz vor neun Uhr ist, hat das Thermometer bereits die Zwanziggradmarke überschritten. Es ist ein warmer Frühlingsmorgen, und ich bin auf dem Weg zu Janas Wohnung in Bad Homburg. Wir wollen noch ein paar Sachen aussortieren. Der Stauraum in unserer ab nächsten Monat angemieteten Wohnung ist nicht so groß, dafür haben wir einen riesigen Balkon.
Ich trommele den Takt von dem alten Beatlesklassiker Can’t buy me love auf dem Lenkrad mit, der gerade aus dem Autoradio ertönt. Heute ist keine Uni, denn es ist Samstag, und wenn ich weiter so konsequent bleibe, dürfte ich bald meinen Abschluss in der Tasche haben.
Ich habe noch schnell an meiner ehemaligen Arbeitsstelle vorbeigeschaut. Getankt und ein paar Brötchen mitgenommen. An die Tanke komme ich eigentlich nur noch wie jeder andere auch: zum Tanken oder um mal ein Pläuschchen mit Emile oder Henninger zu halten. Emile. Drei Monate nachdem ich ihn bei meinem Nachbarn gesehen hatte, hat er sich geoutet. Er hat sich x-mal bei mir entschuldigt, dass er mir so lange etwas vorgemacht hat. Alle Frauengeschichten waren ausgedacht, um vor mir und seinen Fußballkollegen als besonders männlich zu gelten. Er gestand mir sogar, dass ich für ihn immer ein Vorbild war. So in mir ruhend und immer mit einem coolen Spruch. Wer hätte das gedacht? Den Account auf der Kontaktanzeigenseite nutzte er tatsächlich. Allerdings nur die Rubrik Er sucht Ihn, so hatte er auch Hubsi kennengelernt. Und in dem FKK-Klub war er weder vor noch nach unserem ominösen Abend noch einmal.
An Henninger fiel mir auf, dass er mich komischerweise nie auf den Tag angesprochen hat, an dem er sein fünfminütiges Comeback in der Arbeitswelt feierte und ein Päckchen West Light verkaufte. Grund genug hätte er dazu gehabt.
Gelb. – Später wollen Jana und ich noch an den Badesee nach Langen fahren. Ein wenig schwimmen, sonnen und picknicken. Neben mir auf dem Beifahrersitz liegt die Tüte mit den Brötchen von der Tanke. Ich lasse meinen Blick kurz über die Tüte wandern. Aber auch die Teigwaren machen einen ebenso entspannten Eindruck wie ich. Dennoch muss ich kurz lächeln, als meine Gedanken für einen Moment in die Vergangenheit wandern und ich an eine andere Brötchengeneration denken muss.
Grün. – Ich lege den ersten Gang ein, lasse die Kupplung kommen und gebe Gas. Als ich über die Kreuzung zuckele, blicke ich im Rückspiegel zurück zur Ampel, vor der die ersten Autofahrer nun bereits wieder anhalten müssen, und mir fällt auf, dass das Leben manchmal wie eine Autofahrt ist. Es gibt Warnlichter, an denen man halten muss, und Kreuzungen, an denen man abbiegen kann. Man hat immer die Wahl, ob man weiterfahren oder parken möchte.
Dann geht mein Blick wieder nach vorn, und ich schalte in den nächsten Gang. Vor mir liegen noch fünfzehn Minuten Fahrt, eine Zukunft, die ich weder kenne noch kennen möchte, eine Frau, die ich liebe, und ein Frühstück ohne besondere Vorkommnisse.
Zumindest hoffe ich das.
Zu allererst danke ich allen Exfreundinnen für ihre jahrelange und unermüdliche Mitarbeit an diesem Buch als Inspirationsquellen. Außerdem geht ein spezieller Dank an alle Freunde, Verwandten und Bekannten für ihre Offenheit bei der Schilderung ihrer Erfahrungen. Ach ja, und natürlich der BILD-Zeitung für ihre oftmals abstrusen Geschichten.
Ein großes Dankeschön an alle GOLDMÄNNER und GOLD-FRAUEN des Verlags für die tolle Arbeit, die ihr leistet. Der größte Dank geht dabei an BARBARA ›BH‹ HEINZIUS, die mir die Tür zum Goldmann Verlag öffnete, von Beginn an an das WEICHEI glaubte und mit ihrer einzigartigen Art und ihrem Humor das Buch auf großartige Weise begleitete. Auch wenn sie mit dem falschen Fußballverein vom Main sympathisiert …
Danke, Danke, Danke!
ULRICH FREUDENTHAL, MARTIN BOLENDER, AXEL DIEGELMANN von OIL! für den Mut und die nötige Portion Humor zur Umsetzung einer innovativen Idee.
ANNE BAUN für das Erstlektorat.
JOCHEN THAMM (thinkdesign.de) für den offiziellen WEICHEI-Trailer.
ANGELA KROPP (angelakropp.de) für das Autorenportrait und die fotografische Begleitung.
FRANK KASPER, EDUARD DRAHOMERETSKI von CINESTAR Metropolis FFM.
LUTZ WACKERNAGEL von JOEY’s Pizza.
GEORGIOS YANAKIS, CHRISTIAN STEPPONAT für die besten Dienstagabendgespräche der Welt.
ULLI, PATRICK, RICARDA für ihr Ohr und die konstruktive Kritik beim Testlesen und Zuhören der ersten Zeilen.
An alle im Buch genannten Lokalitäten und Personen: Ich will doch nur spielen …
Danke …
… Hassan Annouri, Tankred Benecke, Doppel Desi, Daniel Fischer, Roy Hammer, Marlon James, Patric Klandt, Charly Körbel, Bäppi la Belle, Fabrizio Levita, Dzenifer Marozsan, Morning Matze, Manuela Mock, Franca Morgano, Manuel Murgas, Mathias Münch, Lars Obendorfer, Conny Pohlers, Mirko Reeh, Heinz Schenk, Christian Schöne, DJ Sonic, Jo van Nelsen, Gref Völsings, und allen anderen Menschen in Frankfurt am Main für ihre Unterstützung.
Mehr Infos unter:
Ich fühle mich wie ein Schoko-Adventskalender am 25. Dezember. Leer und überflüssig. Daher verbringe ich die nächsten Tage damit, wie ein Linienbus zwischen meiner und Steffis Wohnung zu pendeln. Nicht etwa, um noch Sachen abzuholen oder mit ihr zu sprechen. Nein, dafür fehlt mir schlicht und einfach der Mut. Ich fahre ganz einfach aus reiner Gewohnheit dorthin. Meist schaue ich direkt nach meiner Spätschicht an der Tankstelle bei ihr vorbei und parke den Wagen am Straßenrand mit Blick auf ihre Wohnung. Neben mir sitzt Shrek immer angeschnallt auf dem Beifahrersitz. Wir versuchen, uns in dieser schweren Zeit einfach gegenseitig ein wenig Halt zu geben. Doch noch scheint er unter einem posttraumatischen Schock zu stehen. Kein Wort kommt ihm seither über die Lippen, und seine leeren Blicke wandern ins Nichts. Ich hatte ihn Steffi auf dem Schützenfest am Losstand erkämpft. Es war nach einem Streit, und ich wollte sie wieder gnädig stimmen. Sie fand ihn so süß, da er sie an mich erinnerte. Der Oger und ich wären beide so lieb und hätten den gleichen Gesichtsausdruck, wenn wir sauer wären.
Na super!
Wer will schon wie eine fette Comicfigur aus dem Wald aussehen? Und wer will schon mit jemandem verglichen werden, der Trompeten statt Ohren hat?
Außerdem ist lieb auch kein Attribut, mit dem man in der Frauenwelt Bonusmeilen sammelt. Nein, man muss ein Arschloch sein. Oder wenigstens so ein Pseudomacho wie ihr TV-Liebling Til Schweiger. Er war der Auslöser des damaligen Streits. Wenn ich den Namen nur höre, wird mir schon schlecht. Ständig diese Schwärmerei. Til hier, Til da, der Til ist ja sooo süß …
Ich erinnere mich noch genau. Wir hatten zwei seiner Filme auf DVD geschaut. Keinohrhase und Zweiohrkücken. Was sind das denn bitte schön für Titel? Hört sich an wie das Gestammel bei einem Deutschtest auf dem Einbürgerungsamt.
Jedenfalls haben wir uns so gezofft, weil er in einer Szene so süß besoffen in Frauenkleidern rumgefallen ist. Ich nannte ihn eine nuschelnde Machotranse, sie ihn einfach nur mega-sexy. Ich fragte, was denn daran so maskulin sei, und machte den Vorschlag, dass man den Film wegen seiner Unmännlichkeit besser in Keineihase umbenennen sollte. Erst keifte sie zurück, dass ich keine Ahnung von Filmen hätte und selbst ein absolutes Weichei sei. Dann knallte sie die Tür zum Schlafzimmer zu und bestrafte mich mit Rede- und Sexentzug. Somit war ich dann auch ein Schweiger, und zwar ganze vierzehn Tage lang.
Dann kam die Dippemess, das Frankfurter Schützenfest. Und ich? Was habe ich Trottel gemacht? Ich habe damals mein halbes Urlaubsgeld in einen Putzeimer voller Lose investiert, bis ich die scheiß Figurenserie endlich komplett hatte und der schnauzbärtige Typ auf dem Wagen nach einer Stunde seine Glocke läutete und über sein Mikrofon verkündete: »Auf geht’s, dabei sein. Hier lacht das Glück. Gelb, grün, lila, blau, schwarz, weiß und rot. Wer die kompletten sieben Zwerge zusammenhat, gewinnt mit freier Auswahl. DING DING DING DING! Und schon wieder haben wir einen Hauptgewinn.«
Selbst mit meiner Kurzsichtigkeit – 1,9 Dioptrien – hätte ich wahrscheinlich weniger am Schießstand für dieses Stofftier auf den Tisch legen müssen als bei diesem Halsabschneider von Losverkäufer. Jedenfalls vertrugen wir uns wieder, und Shrek saß seit diesem Frühjahrstag auf einem Sonderplatz direkt neben ihrem Bett. Bis zu meinem Gefühls-Pearl-Harbour. Jetzt sitzt Trompetenohr noch stummer als sonst neben mir und schweigt mich an. Steffi hatte recht. Shrek und ich sind uns in der Tat sehr ähnlich. Beides keine Til Schweigers oder Prince Charmings, sondern tatsächlich Weicheier, die von der Gesellschaft in den Wald geschickt wurden, um dort ihr tristes Leben zu fristen. Nur hat man mir nun meine Fiona genommen.
Oben in Steffis Wohnung geht gerade das Licht im Schlafzimmer an und kurz darauf wieder aus. Was will sie nur von diesem Piloten-Til-Schweiger-Ersatz? Denn eins ist doch klar: So leicht gebe ich mich nicht geschlagen. Ich werde ihr schon zeigen, was für ein geiler Typ ich bin. Früher oder später wird sie auf Knien rutschend darum flehen, dass ich wieder zurückkomme. Früher oder später…
Jetzt sitze ich allerdings erst mal mit gebrochenem Herzen in einem Auto am Straßenrand und schaue hinauf zu ihrer Wohnung, in der sie vor exakt dreiundvierzig Minuten und achtunddreißig Sekunden angekommen ist. Gerade überlege ich, ob ich nicht doch einfach klingeln soll, um sie vor weiteren Fehlern zu bewahren, als ein anthrazitfarbener Geländewagen vor der Tür hält und ein bekannter Typ aussteigt: braun gebranntes Gesicht inklusive 1a-Gebiss.
Es ist Claus, Claus mit C.
Mit seinem breiten Elfenbeinlächeln und seiner schmierigen Gelfrisur sieht er so schwul aus, dass es mich nicht wundern würde, wenn er zu Hause weiße Tiger für eine Las-Vegas-Zaubershow züchten würde. Zu seinem Eine-Million-Dollar-Grinsen hat er noch Pizza und eine Flasche Wein mitgebracht. Entweder hat er also neben seinem Pilotenjob noch eine Vierhunderteurostelle als Pizzaservicefahrer angenommen oder er verbringt mit Steffi einen Abend voller Lust und Leidenschaft. Weiß ich doch nur allzu gut, wie sie schon auf wenige Schlucke Alkohol reagiert.
Na klasse.
Ich spüre ein gewisses Gewaltpotenzial in mir aufkommen und würde am liebsten über die Straße rennen, um Claus die Flasche anal entkorken zu lassen.
Ich lasse es und frage mich, ob ich wirklich so ein eierloses Wesen bin. Wütend schlage ich auf das Lenkrad und feuere mich an, jetzt zu klingeln und Claus per Faust-OP die eine oder andere Taste aus der Klaviatur zu extrahieren.
Stattdessen schalte ich das Radio ein, wo gerade ein altes Lied der Ärzte läuft. Wenigstens die verstehen mich. Ich drehe die Lautstärke voll auf und singe unter salzigen Tränen und Oger-Umarmungen laut mit: »He du, bleib stehn, ich weiß, wohin du gehst! Du brauchst nicht so zu tun, als ob du nicht verstehst. Du bist auf dem Weg zu ihr, sie gehörte mal zu mir …«
Durch mein passives Besuchsrecht, das ich mir selbst eingeräumt habe, besteht mein Lebensrhythmus momentan aus Stalken, Trinken und Nichtrasieren. Meine Antriebslosigkeit könnte man nicht mal mit einer Europalette Sanostol auf ein brauchbares Level dopen. Ich sitze zu Hause in meiner Wohnung und perfektioniere mein neues Hobby: das Starren.
Ich starre, wo ich stehe und liege. In der Küche, dem Bad, dem Wohnzimmer. Alles wird stumm von mir angestarrt. Meine Wohnung eignet sich bestens dazu. Sie ist nicht sehr stilvoll eingerichtet, sondern eher zweckmäßig, und bietet somit genug Freiraum zum Starren. Es ist eine klassisch geschnittene Dreizimmerwohnung in Bockenheim. Ursprünglich wohnte ich hier mit zwei Kommilitonen in einer WG zusammen, die aber nach dem erfolgreichen Studienabschluss ausgezogen sind und nun mit ihren Ehefrauen deutlich größere, bessere und vor allen Dingen eigene Wohnungen bezogen haben. Ich blieb zurück und finanziere mir seither das Studium und die Miete mit meinem Job an der Tankstelle. Durch das Stalken und Starren taktet sich dazu meine innere, biologische Uhr neu, und ich schaue zusammen mit Shrek oftmals bis wenigstens vier Uhr morgens fern. Obwohl die Flimmerkiste meist ohne große Beachtung meinerseits nebenbei läuft, beruhigt es mich. Die Stimmen vermitteln mir ein Gefühl von Normalität und Alltag. Gerade so, als sei ich nicht allein in meiner Wohnung. Überhaupt muss ich feststellen, dass mir mein neuer Singlealltag noch etwas gewöhnungsbedürftig erscheint. So muss ich zum Beispiel erkennen, gar keine eigenen Termine zu haben. Bisher war alles fein säuberlich auf Pärchenkompatibilität ausgerichtet.
Montags auf VOX CSI und Boston Legal schauen und im Anschluss soliden Sex mit Steffi haben.
Dienstags mit Steffi zoffen, da sie behauptet, dass die Montage immer gleich verlaufen und wir Sex nach Terminplan haben.
Mittwochs zugeben, dass es tatsächlich so ist, um darauf tollen Versöhnungssex mit ihr zu haben.
Donnerstags ist Steffis Mädelsabend, und ich hole sie gegen Viertel nach zwölf angetrunken aus einer Bar an der Bergerstraße ab.
Freitags ausmachen, dass man doch auch mal wieder zusammen ausgehen könnte, um dann doch wieder auf Pro7 das Eventmovie oder eine Til-Schweiger-DVD zu schauen.
Samstags Fußball schauen in der Marriott-Sportsbar an der Messe, danach Sportschau gucken, um schließlich das Gesehene noch mal abends im Sportstudio zu verfestigen.
Sonntags wahlweise zu meinen oder Steffis Eltern fahren und sich darauf freuen, am nächsten Tag einfach mal zu Hause bleiben zu können, um auf VOX CSI oder Boston Legal zu schauen.
Heute Morgen nach dem Aufstehen gegen vierzehn Uhr war es mir sogar so langweilig, dass ich unbedingt unter Menschen wollte. Einen festen Termin haben. Irgendwas, an dem ich mich orientieren kann. Also habe ich bei meinem Hausarzt angerufen und gefragt, ob denn nicht mal wieder eine Impfung anstünde. Ganz egal was. Grippepandemie, Tetanusimpfung oder sei es auch nur eine handelsübliche Kinderprophylaxe gegen Mumps. Nach Durchsicht der Akten wurde mir aber mitgeteilt, dass ich noch sieben Jahre Schutz gegen alles hätte. Außerdem bekäme man nur einmal im Leben Mumps, und das wäre schon im Alter von neun Jahren bei mir über die Bühne gegangen. Selbst auf Nachfrage, was ich mir sonst noch so spritzen lassen könnte, bekam ich als ernüchternde Antwort, dass ich bestens versorgt sei und mir keine Gedanken machen solle. Alles sei prima.
Leicht gesagt. Ihr habt ja auch keinen Piloten auf eurem Partner landen sehen.
Dank meiner weinerlichen Penetranz wurde mir dann aber doch noch von der Arzthelferin angeboten, zum Blutabnehmen vorbeikommen zu können. Das könne schließlich nie schaden. Dankbar für diese Unterbrechung meines Jammer-Zyklus’ habe ich mir daraufhin am Nachmittag gleich mal zwei Ampullen abnehmen lassen. So entleert und noch auf Jahre präventiv geschützt vor Zecken, Hundebissen und Hepatitis liege ich nun also wieder im Bett, starre vor mich hin und höre diese kleine, fiese Stimme in meinem Kopf, die mich unaufhörlich beschimpft: Idiot, bist selbst dran schuld. Du elendes Weichei. Du kannst es Steffi noch nicht einmal wirklich verdenken. Jahrelang hat sie darauf gewartet, dass du ihr einen Antrag machst.
Stimmt.
Wobei das Ticken ihrer biologischen Uhr in den letzten Monaten eher dem stündlichen Glockenschlag des Big Ben glich. Sie sei nun in dem Alter, in dem sie gerne ein Kind und eine gesicherte Zukunft hätte. Beides Dinge, die ich grundsätzlich nicht ablehne, die sich aber bisher eher im Mittelfeld meiner Prioritätenliste wiederfanden. Aber musste sie zu diesem Zweck gleich den gegelten C-Claus zum Vater ihrer Kinder auserwählen? Und was für Kinder sollen das werden? Sizilianische Mafiosokopien im Miniformat, die im Kindergarten Schutzgeld für Förmchen und Schaufeln am Sandkastenrand erpressen und dabei lächelnd ihre perfekten Milchzähne präsentieren?
Als ich bei diesem Gedanken eine von zahllosen Dosen Bier neben dem Bett abstelle, mache ich im Fernsehen den wahren Anstifter für meine Trennung aus: Johannes B. Kerner.
Gerade wuchtet sich Herr Kerner nach dem morgendlichen Frühstückswursteinkauf beschwingt über den Gartenzaun, um seiner Familie beste Geflügelwurst aufs Brot zu legen. War es vor einigen Tausend Jahren noch ein Mammut, das man erlegte, um die Sippe in der Höhle ernähren zu können, ist es nun fettarme Geflügelmortadella, die die Familie gnädig und glücklich stimmt. Und da ich weder Familie noch einen Gartenzaun besitze, bin ich demzufolge auch kein vollwertiges Mitglied unserer Gesellschaft.
Ich zappe weiter.
Fernsehtechnisch gesehen sind Shrek und ich momentan nicht sehr wählerisch, und so konsumieren wir zu jeder Tages- und Nachtzeit schlichtweg alles. Von den Golden Girls über Night Rider mit David Hasselhoff, als der noch nicht besoffen Burger aus der Pappschachtel fraß, hangele ich mich weiter zu Dokumentationen über geheime Raketenprojekte der Nazis am Bodensee bis zu den beliebtesten Bahnstrecken Vorderasiens. Schließlich kann ich nun endlich mal ohne Steffis Gezicke: Ich kann bei dem Licht nicht schlafen, die Glotze stur durchlaufen lassen. Das ist ein Vorteil. Muss ich mir merken. Ist also nicht alles schlecht am Singleleben. Vielleicht sollte ich eine Pro- und Contra-Liste anfertigen. Das wird mich beruhigen. Was mich hingegen wirklich nervt, sind diese unglaublich dämlichen Quizshows, bei denen man einen cholerischen Moderator anrufen muss, der wie von Sinnen in die Röhre schreit, dass gleich der Hotbutton zuschlagen werde und es sich nur noch um Sekunden handeln könne. Nach geschlagenen zwanzig Minuten schickt sich der erste durchgestellte Anrufer an, das knallharte Rätsel zu lösen. Das diffizile Fragenkonstrukt besteht aus der Aufgabe, einen weiblichen Vornamen mit vier Buchstaben zu finden, bei dem am Anfang und am Ende ein A stehen muss. Dieser erste, leicht alkoholisiert wirkende Anrufer fragt erst mal, ob er denn nun durchgekommen sei, um dann als Lösungsvorschlag AUDI über den Äther zu lallen. Entweder der Typ hängt noch vom Vorgängerspiel über Automarken in der Leitung oder seine zukünftige Tochter kann sich über viele fragende Augen im Kindergarten freuen.
Wenn solch dämliche Fragen von Sendern mit einer Zuschauerzielgruppe angeboten werden, die einen IQ unter dem eines gerösteten Knäckebrots hat, verstehe ich das ja noch, aber mittlerweile haben selbst die Gewinnspiele in Werbepausen von Länderspielen im Ersten und Zweiten dieses Niveau. Und wer präsentiert dann das Ganze? Richtig!
Johannes B. Kerner. Der Mann, der Gartentüren überspringt anstatt hindurchzugehen.
Die sportliche Allzweckwaffe deutscher Fernsehsender.
Der Aufschnittfetischist.
Das Wiesenhofwiesel.
Der Gutfriedgott.
Ich habe genug und schalte die Glotze aus. Heute Abend werde ich früher schlafen gehen, denn morgen muss ich wieder an die Tankstelle, an der ich seit Jahr und Tag neben dem Studium jobbe. Lust habe ich darauf wie auf Fußpilz, aber was will ich machen. Das Leben schert sich schließlich einen Scheiß um Leute wie mich und meinen Biorhythmus. Und erst recht nicht um mein Seelenheil. Jedenfalls so lange nicht, wie bei mir noch kein Hotbutton zuschlägt oder ich Geflügelaufschnitt über Gartenzäune wuchte.
Kollege, was soll’s?«, tönt mir holprig ein albanisch-deutscher Akzent entgegen. »Du musst jetzt Ablenkung machen. Rumheulen bringt nix, musst Gas geben. Auch wenn dein Trainer dich gegen einen anderen ausgewechselt hat. Aber du kommst wieder. Du musst ihr beweisen, dass du Capitano und nicht nur Auswechselspieler bist.«
Emile, einer meiner Kollegen, ist der Erste, dem ich von dem Schreckensszenario um Steffi und Claus berichtet habe. Und genau das bereue ich bereits wieder. Aber ich sehe echt scheiße aus, was selbst Emile nicht verborgen bleibt, und er war ganz einfach als Erster greifbar. Und wenn ich ganz ehrlich bin, bin ich sogar dankbar für diese Form der Ablenkung. Ich bin dankbar für jede Form der Ablenkung – und sei es sogar meine Arbeit an der Tanke. Es ist kein Marken-Mega-Rasthof mit integriertem Fast-Food-Anbieter und Lkw-Stellplätzen bis zur polnischen Grenze. Auch kein moderner Tank- und Einkaufstempel mit fluoreszierendem Backshop und einem Warensortiment wie bei Alice im Wunderland. Nein. Es ist eine unscheinbare OIL!-Tankstelle in einem Industriegebiet von Frankfurt. Ehrlich und erdig. Bei uns geht eher Ramazotti als Red Bull. Chips statt Ciabattabrötchen. Und die einzigen Grünpflanzen, die wir verkaufen, sind gepresste Ex-Tabakstauden in genormten EU-Packungen, die vor Impotenz und Krebs warnen. Laut der Aussage des Pächters soll unser Tanktempel ja auch den Familien der Nachbarschaft als sozialer Treffpunkt, Einkaufslädchen, Grill und Kneipe dienen. Da wir aber in einem Industriegebiet liegen, gibt es in der Nachbarschaft gar keine Familien, die hier einkaufen könnten, womit uns einzig das Grill- und Kneipenmonopol bliebe. Und genau aus dieser Zielgruppe rekrutieren wir auch fleißig unsere promilleaffine Kundschaft.
Emile verfällt derweil in einen Monolog und meint, dass man einer Frau von Anfang an in etwa so souverän gegenübertreten muss, wie Bayern München einen klassentieferen Pokalgegner beherrscht und ihn durch individuelle Klasse problemlos an die Wand spielt. Er vergleicht alles gerne mit Fußball, da es die einzige Sache ist, die er wohl wirklich gut kann. Er ist davon überzeugt, dass ich so schnell wie möglich wieder zurück aufs Feld muss, und er erklärt mir weiter, dass das Internet so etwas wie ein Trainingslager für mich sein könnte und ich dort sicherlich ein paar dankbare Gegner finden würde.
Ich weiß, Emile meint es gut. Er spielte zu Hause im Kosovo angeblich sogar in einer Landesauswahl, bevor er vor zwölf Jahren nach Deutschland auswanderte. Mittlerweile kickt er bei Teutonia Oberursel in der sechsten Liga, und seine einstmals spielerische Klasse hat sich dem Dorfniveau erstaunlich schnell angepasst. Dafür verfügt er aber mittlerweile über ein beachtliches Repertoire an deutschen Trinkliedern und entwickelt besonders beim Thema Frauen trotz scheinbar unüberwindlicher sprachlicher Hürden eine geradezu philosophisch-bunte Rhetorik. Und tatsächlich war ich in den letzten Jahren immer neidisch auf Emiles erfolgreich wechselnde Frauengeschichten, von denen er stets zu berichten wusste. Ich würde jede Wette halten, dass Emiles Kopf in mehr Betten gelegen hat als ein Schokominzblättchen auf einem Hotelkissen. Sein Sexleben kann man nur mit dem Bewegungsdrang eines Hais vergleichen. Aufgrund fehlender Schwimmblase muss er sich ganz einfach ständig bewegen, ansonsten säuft er ab und stirbt.
Nach besonders erfolgreichen Wochenenden spricht er gerne von Freistößen und hautenger Manndeckung. Dazu zwinkert er, damit man auch ja nicht den witzigen Vergleich überhören kann. Emile ist sicherlich nicht gerade die männliche Krone der Schöpfung und würde in einem Mister-Soundso-Wettbewerb auf jeder Dorfdisco zielsicher den letzten Platz belegen. Besonders seine schief stehenden Zähne und die zu große Nase würden ihm allein schon genetisch bedingt vordere Plätze verwehren.
Aber er verfügt über ein ebenso unerschütterliches wie für mich nicht nachvollziehbares Selbstvertrauen, das ihm bei diesem Wettbewerb dennoch eine nicht unattraktive Frau aus dem Publikum verschaffen würde, während sich die anderen Brad-Pitt-Waschbrettbäuche auf der Bühne in Pose werfen würden. Ich beneide ihn darum.
Und er hat ja recht. Ich muss zurück ins Leben. Verlorene Jahre aufholen und es mal richtig krachen lassen. Mich endlich etwas trauen und an mich glauben. Die letzten Tage und Nächte pendelte ich ohnehin ständig nur zwischen Hasselhoff auf RTL und Hass auf Claus. Und wenn Steffi erkennt, was sie an mir hatte, und sieht, wie maskulin ich mich verhalte und sich eine Frau nach der anderen durch mein Bett stöhnt, wird sie schneller wieder an meiner Seite sein, als Claus ein SOS aus dem Cockpit funken kann.
Nach der Zusage, einen Wochenenddienst zu tauschen, bin ich nur Minuten später im Besitz von Emiles Zugangsdaten für eine ganz spezielle Internetseite. In der Pause setze ich mich an den Computer und tippe die Adresse in die Suchmaske. Nur eingetragene und zahlende Mitglieder haben hier Zutritt, wobei ich nach zehn Minuten bemerke, dass dies nur auf männliche Mitglieder zutrifft. Den interessierten Damen steht die Welt der freien Liebe selbstverständlich kostenfrei zur Verfügung. Es gibt die Rubriken Sie sucht Ihn, Er sucht Ihn, Paar sucht Sie, Paar sucht Ihn, Paar sucht Paar sowie Party. Nach einigen skurrilen Anzeigen unter der Rubrik Sie sucht Ihn, stoße ich schließlich auf einen Text, der mir zusagt und meinem neu gewonnenen Testosteronspiegel gerecht erscheint:
Hallo,
ich bin Natascha, eine 19-jährige Lolita, die mal wieder das Besondere erleben möchte.
Ich bin naturgeil, und meine Vorlieben neben normalem Sex sind: FO, SM, NS, ZA passiv & aktiv sowie SpZk. Aber dieses Wochenende möchte ich wieder mal eine geile GB erleben.
Wenn du Lust und Interesse hast, mail mich ein fach an.
Deine geile Natascha
Okay, ich habe zwar keine Ahnung, was diese Abkürzungen genau bedeuten, denke aber, dass sich die meisten mit ein wenig klarem Verstand recht einfach übersetzen lassen sollten. Emile will ich da nicht befragen. Schließlich muss ich nun mein eigenes Spiel spielen. Meine eigenen Zweikämpfe bestreiten. Und außerdem will ich mir von meinem Kosovo-Kollegen nicht auch noch deutsche Abkürzungen erklären lassen. Demnächst will er dann womöglich auch noch das gleiche Gehalt wie ich verdienen.
Später am Abend sitze ich zu Hause vor dem PC, lese mir noch einmal die Anzeige durch und versuche, mir die Abkürzungen selbst zu deuten, was gerade schwerfällt, da ein hämmernder Stakkatorhythmus aus der Wohnung nebenan durch die Wand dringt. Mein Nachbar, Herr Hubert Scholl, ist Mitte fünfzig, Frührentner und stockschwul. Er ist Österreicher und hat früher große Orchester geleitet. Allerdings hat er mir etwas voraus. Er hat bereits ein erfülltes Sexualleben, denn alle paar Tage schleicht sich ein anderer Mann aus seiner Wohnung. Und das, obwohl Hubert Scholl, den alle im Haus nur Hubsi nennen, zwar ein netter Typ, aber auch nicht gerade die Optikkanone ist. Bauchansatz, mittelgroß, breiter Wiener Akzent, absoluter Durchschnitt. Wie macht er das nur?
Ich widme mich wieder den Abkürzungen der Anzeige und gebe zu, dass dies absolutes Neuland für mich ist, aber immerhin macht sich Trapper Süßemilch auf den Weg in das fremde Land, um es zu erforschen. Hubsi wüsste bestimmt, was die ganzen Sachen bedeuten. Meine spontanen Gedankenergüsse scheinen mir zumindest aber auch schlüssig.
FO: Ein kurzes Lächeln umspielt meine Mundwinkel, da ich an einen Urlaub mit Stefanie zurückdenken muss, den wir vor zwei Jahren in die Schweiz unternahmen. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an die FO, die Furka-Oberalpbahn, die uns eine tolle Urlaubserinnerung und einen schmerzenden Rücken bescherte. Obwohl die Erinnerung schön ist, weiß ich natürlich, dass dies hier nicht gemeint ist. Allerdings habe ich mal ein Buch über Kamasutra geschenkt bekommen, und ich weiß daher, dass es sich bei den meisten Abkürzungen um die jeweilige Position der beiden Geschlechtspartner während des Akts handelt. In diesem Fall wohl: Frau Oben.
SM: Steht das nicht auf den Winterreifen immer drauf? Schnee und Matsch? Hmm, vielleicht deutet es auf etwas gewagte Spiele hin, könnte aber auch einfach nur Sanfte Massage heißen. Du kannst dich wirklich freuen, Natascha, Stefanie war immer ganz angetan von meinen sanften Massagegriffen.
NS: Der Romantiker in mir schreit sofort die Wörter Nächtelanges Schmusen heraus, es könnte aber auch Nacktspiele bedeuten. Beides wäre kein Problem und eine nähere Deutung daher unerheblich.
ZA aktiv & passiv: Ich gebe zu, dass ich mir hierbei nicht sicher bin. Ich kenne ZA sowohl als Landescode sowie Kfz-Kennzeichen für Südafrika. Da jedoch die Attribute aktiv und passiv hinzugefügt wurden, gehe ich davon aus, dass es sich um irgendeine zärtliche Interaktion zwischen mir und Natascha handeln muss. Die größten Chancen räume ich Zärtlichem Anlehnen ein.
SpZk: Ich denke, dabei handelt es sich aufgrund der besonderen Grafologie des großen Z um zwei eigenständige Wörter, die wiederum eine Form der Zärtlichkeit darlegen. Natascha, du kleine Schmusekatze. Ich erkläre es mir mit Speziellen Zärtlichkeiten.
GB: Das ist ganz einfach, und ich glaube mich sogar daran erinnern zu können, dies schon einmal als Abkürzung gelesen zu haben. Ja, jetzt erinnere ich mich wieder ganz genau. Es war in einem Liebesbrief von Daniela Gland aus der Berufsschulklasse von 1994, die stets mit einem HDL für Hab dich lieb und GB für Gefühlvolle Berührungen ihre Liebesbekundung schloss. Also: Gefühlvolle Berührung.
Schön, Natascha, wir sind uns über unsere Vorlieben also einig. Diese Informationen genügen und verleihen mir genug Mut, um ihr direkt eine Antwortmail zu schreiben. Dazu höre ich leicht euphorisiert seit Tagen wieder mal Radio und ertappe mich sogar dabei, wie ich die Melodie von Britney Spears »Womanizer« beschwingt mitpfeife.
Von nun an wird alles anders. Ich werde anders. Adios, lieber Robert. Buenos Dias, Senior Süßemilch.