INHALT

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Brief an Kostchei, leitender Bibliothekar
  7. Erstes Kapitel
  8. Zweites Kapitel
  9. Drittes Kapitel
  10. Viertes Kapitel
  11. Fünftes Kapitel
  12. Sechstes Kapitel
  13. Siebtes Kapitel
  14. Achtes Kapitel
  15. Neuntes Kapitel
  16. Zehntes Kapitel
  17. Elftes Kapitel
  18. Zwölftes Kapitel
  19. Dreizehntes Kapitel
  20. Vierzehntes Kapitel
  21. Fünfzehntes Kapitel
  22. Sechzehntes Kapitel
  23. Siebzehntes Kapitel
  24. Achtzehntes Kapitel
  25. Neunzehntes Kapitel
  26. Zwanzigstes Kapitel
  27. Einundzwanzigstes Kapitel
  28. Zweiundzwanzigstes Kapitel
  29. Dreiundzwanzigstes Kapitel
  30. Vieundzwanzigstes Kapitel
  31. Fünfundzwanzigstes Kapitel
  32. Sechsundzwanzigstes Kapitel
  33. Siebenundzwanzigstes Kapitel
  34. Achtundzwanzigstes Kapitel
  35. Neunundzwanzigstes Kapitel
  36. Dreißigstes Kapitel
  37. Einunddreißigstes Kapitel

ÜBER DIESES BUCH

Irene Winters hat die unsichtbare Bibliothek gerettet. Dummerweise hat sie dabei auch eine Reihe unersetzlicher Bücher verbrannt, weswegen ihre Bibliothekarskollegen und ihre Vorgesetzten sie nun mit Misstrauen beäugen. Daher zögert Irene nicht lange, als sie von einem Drachen gebeten wird, ein äußerst seltenes Buch zu suchen. Mit einem solchen Fund könnte sie ihren Ruf wiederherstellen. Nur leider nützt ihr das nichts, wenn sie tot ist. Und das verborgene Buch birgt ein tödliches Geheimnis … Für Büchernarren, Bücherwürmer, Büchermenschen – Der vierte Band der SPIEGEL-Bestseller-Serie

ÜBER DIE AUTORIN

Genevieve Cogman hat sich schon in früher Jugend für Tolkien und Sherlock Holmes begeistert. Sie absolvierte ihren Master of Science (Statistik) und arbeitete bereits in diversen Berufen, die primär mit Datenverarbeitung zu tun hatten. Mit ihrem Debüt Die unsichtbare Bibliothek sorgte sie in der englischen Buchbranche für großes Aufsehen. Genevieve lebt im Norden Englands.

GENEVIEVE COGMAN

Aus dem Englischen
von André Taggeselle

BASTEI ENTERTAINMENT

An: Kostchei, leitender Bibliothekar

Von: Catherine, leitende Bibliothekarin

Cc: Gervase, Coppelia, Melusine, Ntikuma

Kostchei,

Wir haben ein Problem. Ich weiß, wir haben ständig Probleme. Aber das hier könnte die Friedensverhandlungen zum Stillstand bringen, ehe beide Seiten einem Treffen überhaupt zugestimmt haben.

Ich wurde soeben darüber informiert (eine ›freundliche Mitteilung‹, bei der man zwischen den Zeilen lesen konnte), dass Minister Zhao tot ist. Der Minister war einer der Kandidaten, den die Drachen zum anstehenden Gipfel nach Paris entsenden wollten. Es fällt mir schwer zu glauben, dass dies rein zufällig gerade jetzt passiert ist. Und nein, mir wurde nicht mitgeteilt, was genau geschah. Nur das Übliche. ›Ein tragischer Verlust für uns alle‹ und so weiter. In Wahrheit stehen die Drachen jetzt vor einer ernsthaften Krise.

Die Königin der Südlichen Ebenen muss einen anderen Drachen zu den Verhandlungen schicken. Ganz zu schweigen davon, dass es schwer genug für sie sein wird, Minister Zhao an ihrem eigenen Hof zu ersetzen. Er war mehr als erfahren. Bevor nicht ein paar Wochen um sind, werden die sich nicht auf einen endgültigen Kandidaten geeinigt haben. Aber seien wir ehrlich – für die herrschenden Drachen wäre selbst das überhastet und insgesamt eher unwahrscheinlich.

Die Elfen halten sich bislang noch heraus. Wenn sie erst Blut wittern, werden sie sich auf die Situation stürzen wie ein Rudel Haie auf frische Beute. Noch die kleinste Schwäche der Drachen bietet ihnen eine günstige Gelegenheit. Die Strategie der Bibliothek sollte sein, sich aus der Sache herauszuhalten. Wir müssen uns darauf konzentrieren, unseren Teil der Abmachung zu erfüllen, und die Wahrung der Neutralität sollte unser oberstes Gebot bleiben. Besteht auch nur der geringste Verdacht der Voreingenommenheit gegen uns oder die Vermutung, dass wir die beiden Parteien gegeneinander ausspielen wollen, geht der ganze Plan den Bach runter. Ich muss Ihnen nicht extra sagen, was das für die Bibliothekare bedeutet, die vor Ort eingesetzt sind. Außerdem sind wir unterbesetzt. Wir brauchen dringend ein Nachwuchsprogramm (und das sage ich nicht zum ersten Mal). Aber sofort. Alberichs Vorgehen in der aktuellen Krise hat die Dinge lediglich schlimmer gemacht; das Problem an sich gab es vorher schon.

Man kann nur hoffen, dass niemand von unseren Leuten in Mitleidenschaft gezogen wird. Die politische Situation ist ab sofort als potenziell gefährlich einzustufen. Unsere Pflicht ist es, die Elfen wie die Drachen daran zu hindern, eine Meinungsverschiedenheit in einen Krieg münden zu lassen, der ganze Welten zerstören kann. Alles wie gehabt also. Wir müssen das Gleichgewicht bewahren, wo immer es geht.

Catherine, leitende Bibliothekarin

PS: Kann mir bitte jemand sagen, wie ich die automatische Signatur dieses E-Mail-Programms abschalte? Es wissen alle, wer ich bin.

PPS: Kostchei, das Buch Merlin von T. H. White ist immer noch auf Ihren Namen entliehen. Wären Sie so freundlich, es bald zurückzugeben? Ein paar von uns würden gerne mal einen Blick hineinwerfen.

ERSTES KAPITEL

»Aber mein liebes Mädchen«, ereiferte sich die Frau neben Irene, «wenn Sie Ihre Adern noch nie selbst geöffnet haben, lassen Sie es Mr Harper tun. Er ist sehr erfahren im Umgang mit solch zappeligen jungen Dingern, wie Sie es sind.«

Irene blickte auf das Skalpell, das auf dem Untersetzer neben ihrer Teetasse lag. Sie versuchte, sich darüber klar zu werden, wie sie aus dieser Situation wieder herauskommen könnte – und zwar, ohne Hals über Kopf aus dem Anwesen zu flüchten und die Tür hinter sich zuzuschlagen. Sie hatte schon oft alternative Welten aufgesucht, um Bücher zu ergattern, und war geübt im Umgang mit den verschiedensten Bräuchen, kannte alle möglichen Gepflogenheiten und Höflichkeitsformen. Aber sich selbst als Tagesgericht zu servieren, verstieß eindeutig gegen ihr Selbstbild.

»Um ehrlich zu sein, mir hat niemand etwas davon gesagt, dass Vampire anwesend sein werden«, erklärte sie. »Es kommt ein bisschen unerwartet.«

»Bah!«, schnaubte eine der anderen Frauen.

Irene war die jüngste Person in dem überfüllten Raum und in einem Wirrwarr aus Stühlen und kleinen Tischchen gefangen; Möbel, die mit Ornamenten geradezu überkrustet waren. Dicke, sorgfältig geschlossene Vorhänge sperrten die Nacht aus. Der Tee war kalt, der Kuchen matschig und die Luft schal und abgestanden. Ohne den Geruch des Kaminfeuers hätte es sicherlich regelrecht gestunken, vermutete Irene.

»Ich möchte nicht zu streng erscheinen«, fuhr die erste Frau fort, »aber zu meiner Zeit kannte eine junge Dame ihre Pflichten! Wenn diese Miss … Miss …« Sie brach zögernd den Versuch ab, sich an Irenes Namen zu erinnern.

»Miss Winters«, sprang Mr Harper ein, dessen ergrautes Haar sich eindeutig auf dem Rückzug befand. Die kohlschwarzen Augen lagen hinter halb geschlossenen Lidern versunken. Er beugte sich in seinem Stuhl nach vorn wie ein Aasgeier, der auf Beute lauert. Jedes Wort wurde von einem Zähneblecken begleitet.

Der bislang einzige Lichtblick des Abends bestand darin, dass er nicht direkt neben Irene saß. Offenbar nahm er in seinem Geschlecht eine eher untergeordnete Rolle ein. Die mächtigeren Verwandten hatten sich noch nicht aus ihren Särgen erhoben. Immerhin ein Vorteil, wenn auch nur ein geringer. »Wie erfreulich, etwas junges Blut bei unserer kleinen Soiree begrüßen zu dürfen.«

Hätte Irene vorher gewusst, dass es sich um eine Soiree handelte, noch dazu um eine, bei der Vampire anwesend waren, hätte sie sich längst rar gemacht. Weshalb man es ihr wohl auch verschwiegen hatte.

Die Verhandlungen waren reibungslos verlaufen. Sie hatte sich darauf gefreut, der Bibliothek ein neues Buch hinzuzufügen – zur Abwechslung einmal ohne das übliche vorhergehende Geschrei, die Verfolgungsjagden und das Adrenalin. Anscheinend hatte sie sich zu früh gefreut …

»Als ich anrief, hatte ich ja keine Ahnung, dass ich mich unter solch illustren Gäste wiederfinden würde.« Sie begleitete ihre Worte mit einer Unschuldsmiene. »Es ging mir lediglich um den vereinbarten Büchertausch.«

»Ach ja, die Bücher. Unsere Abmachung.« Es war das erste Mal, dass sich die Frau auf der anderen Seite des Raums zu Wort meldete. Beim Klang ihrer Stimme verstummte das Gemurmel im Hintergrund. Sie berührte ein in rotes Leder gebundenes Buch auf ihrem Schoß; im Feuerschein des Kamins sahen ihre Finger dünn und runzlig aus. »Ich denke, diese Angelegenheit sollte unter vier Augen besprochen werden. Wenn Sie uns alle für einen Moment entschuldigen würden.« Sie wartete keinen Widerspruch ab. »Miss Winters, lassen Sie uns einen kleinen Spaziergang unternehmen.«

Irene stellte ihr Teegeschirr ab und blickte ein letztes Mal auf das Skalpell auf der Untertasse. Dann nahm sie eilig ihre Dokumententasche an sich und stand mit knisternden Röcken auf. Sie war der Einladung in angemessener Kleidung gefolgt: taubengraues Jackett, dazu ein Rock mit dunkelgrünem Saum. Ebenso adäquat wie vernünftig. Unter den gegebenen Umständen wäre sie jetzt allerdings froh gewesen, noch ein paar Accessoires mitzuführen – Knoblauch, Silber, ein paar gute Laufschuhe vielleicht. »Mit dem größten Vergnügen«, murmelte sie und folgte der Frau hinaus.

Flur und Treppenaufgang wurden von altmodischen Gaslaternen erhellt. Moderne Ätherlampen suchte man hier vergebens. Aus goldenen Zierrahmen blickten düstere Gemälde auf sie herunter. Es waren Porträts, auf denen die familientypische Nase und die charakteristischen Augenbrauen deutlich zu erkennen waren. Irene meinte eine gewisse Ähnlichkeit mit der Frau herauszulesen, die vor ihr einherschritt.

Sie wünschte, nie hergekommen zu sein. Sie wollte nur zu gern endlich mal ein Buch lediglich tauschen, anstatt es zu stehlen. Diese tugendhafte Einstellung wurde einfach nicht belohnt. Im Gegenteil.

Mrs Walker – von den übrigen Familienmitgliedern als Lady Walker bezeichnet, auch wenn Irene bei ihren Nachforschungen über dieses Geschlecht nirgendwo einen Hinweis auf einen rechtmäßig verliehenen Adelstitel hatte entdecken können – blieb vor einem besonders dramatisch wirkenden Gemälde stehen. Sie wandte sich um und blickte Irene an. Das rechte Auge lag unter einer Augenklappe verborgen, aber ihr linkes musterte Irene forschend und wach. Da sie lieber unterschätzt oder ganz ignoriert wurde, hielt sie das für kein gutes Signal.

»Sie sind also die berüchtigte Miss Winters«, sagte Mrs Walker. »Wie angenehm, dass Sie zu mir kamen. Das erspart mir, Sie aufsuchen zu müssen.«

»Ah ja?« Irene beschloss, sich das Theater zu schenken. Offenbar eilte ihr ein gewisser Ruf voraus, da konnte sie die Heuchelei auch gleich zum Fenster hinauswerfen – durch das sie selbst gerade gern flüchten würde. »Darf ich fragen, wie Sie von mir erfahren haben?«

»Familienbande.« Mrs Walker zuckte die Achseln. Die Ornamente aus Gagat, die ihr Kleid verzierten, schimmerten im Licht der Gaslaternen. »Nur weil ich meine Zeit hier oben verbringe, statt sie in liederlichen Londoner Amüsierlokalen zu vergeuden, heißt das noch lange nicht, dass ich ahnungslos bin. Aber ich schweife ab. Ich versichere Ihnen, Miss Winters, dass ich mehr über Sie weiß, als Sie vermuten.«

»Tatsächlich?« Sie hatte schon so oft Gelegenheit gehabt, den von ihr jetzt angeschlagenen versöhnlichen Ton zu üben, dass er ihr leicht über die Lippen ging. Erzählen Sie mehr, schien sie damit zu sagen. Oh bitte, wie raffiniert Sie doch sind.

»Ach, wie fein«, schützte Mrs Walker Liebenswürdigkeit vor. »Genau die Art von Reaktion, die ich an Ihrer Stelle gewählt hätte.«

Verdammt. »Vielleicht sollten wir uns dieses ganze Vorgeplänkel schenken und zur Sache kommen«, sagte Irene.

Mrs Walker nickte. »Sehr gern. Ich weiß, dass eine der anderen Familien Sie als ein Instrument in diesem Machtkampf einsetzt. Und ich will wissen, was dahintersteckt, will wissen, wem Sie dienen. Und wenn Sie dieses Haus lebend verlassen wollen, sollten Sie meine Fragen lieber beantworten.«

Irene blinzelte. Sie hatte sich auf verschiedene Szenarien gefasst gemacht: Ich weiß, dass Sie für eine im geheimen agierende Bibliothek zwischen den Dimensionen unterwegs sind. Oder: Ich habe Beweise für die Straftaten, die Sie begangen haben, und werde Sie erpressen. Aber das kam nun unerwartet. »Sie sind sehr direkt«, entfuhr es ihr.

»Die Geschichte, die Sie sich da ausgedacht haben, ist sehr eindrucksvoll«, räumte Mrs Walker ein. »Übersetzerin und Büchersammlerin, die einen simplen Tausch vorschlägt. Marlowes verlorenes Massaker zu Paris gegen John Websters verlorene Tragödie Guise. Wir beide hätten von dem Tausch profitiert. Die Idee hört sich so glaubwürdig an, dass man sie glatt für echt halten könnte. Und doch ist das Angebot zu verführerisch. Am Ende ist es ein Märchen, nicht wahr, Miss Winters? Und wir alle wissen, dass Märchen niemals wahr werden.«

»Sie werden öfter wahr, als man denkt«, entgegnete Irene. Alternative Welten wie diese, die weit auf der chaotischen Seite des Gleichgewichts angesiedelt waren, hatten geradezu die Angewohnheit, Erzählmuster aus Legenden und Geschichten wahr werden zu lassen – und zwar auf recht unangenehme Weise. Leider ging das Muster Heldin-in-einem-Herrenhaus-voller-Vampire selten gut aus. Jedenfalls nicht für die Heldin … »Ich habe keine Ahnung, wie Sie darauf kommen, dass ich eine … Wofür halten Sie mich noch gleich?«

»Eine Spionin«, sagte Mrs Walker.

»Eine Spionin«, wiederholte Irene mit einem Anflug von Grauen in der Stimme. Was wusste Mrs Walker? Irene war eine Agentin der Bibliothek. Ihre Aufgabe bestand darin, Bücher in den Parallelwelten ausfindig zu machen und von dort in den interdimensionalen Bereich der Bibliothek zu schaffen. Die Bibliothek schuf auf diese Weise mit jedem Buch eine Verbindung zu der entsprechenden Welt und half dadurch, das Gleichgewicht zwischen Ordnung und Chaos aufrechtzuerhalten. Und dieses Gleichgewicht betraf alle Welten. Es war eine ehrenvolle Aufgabe, die ein lebenslanges Engagement erforderte. Irene durfte dafür die besondere Sprache der Bibliothek anwenden, mit welcher man die Realität direkt beeinflussen konnte, verstrickte sich aber auch laufend in komplizierte Operationen und halsbrecherische Fluchten. Theoretisch war ›Spionin‹ also gar nicht so verkehrt. Glücklicherweise schien das wahre Geheimnis ihrer Identität aber noch intakt zu sein. Mrs Walker wusste nichts. Die Chance, Websters Guise in die Finger zu bekommen, schwand dafür von Sekunde zu Sekunde.

»Sie müssen eine Spionin im Auftrag einer der anderen Familien sein«, fuhr Mrs Walker fort. Das Flackern der Gaslaternen verstärkte noch den Eindruck, dass es sich bei ihr um einen schlecht erhaltenen Leichnam handelte. Sie war so dürr unter ihrem schweren schwarzen Kleid, dass sie einer Marionette aus dem Puppentheater ähnlich sah. »Haben Sie nicht zugehört? Ich persönlich glaube ja, dass Sie für die Familie Vale in Leeds arbeiten. Man hat Sie gesehen, wie Sie mit Peregrine Vale in London unterwegs waren. Angeblich ist er mit seiner Verwandtschaft zerstritten, aber das kann genauso gut eine weitere Lügengeschichte sein. Oder sollte ich eher auf die Reads in Rotherham achtgeben? Sie beschäftigen mich schon eine ganze Weile. Wahrscheinlich wären die froh, einen Spitzel in meinen vier Wänden zu wissen.«

Theoretisch wusste Irene, dass im Norden Englands viele Vampire lebten. Dieses Großbritannien stellte den Vampirismus offiziell nicht unter Strafe, auch wenn es natürlich als Mord galt, jemanden zu töten, um sein Blut zu trinken. Ihr war auch bewusst gewesen, dass sie auf diesem Landsitz hausten. Aber eine solche Ansammlung von Intrigen, ein Netzwerk von Familien, die sich gegenseitig bekämpften, das hatte sie nicht erwartet.

»Mrs Walker«, hob sie an, »Sie irren sich. Ich bin weder eine Spionin noch ein Handlanger Ihrer Feinde. Ich bin auch nicht in irgendwelche interfamiliären Angelegenheiten verwickelt. Es geht mir einzig und allein um den Büchertausch.« Sie hob ihre Dokumententasche. »Und ich habe meinen Anteil des verabredeten Geschäfts bei mir.«

»Sie verschwenden Ihre Zeit«, versetzte Mrs Walker. »So oder so, der Webster ist nicht hier.«

»In dem Fall werde ich dieses Haus nun verlassen«, beschied Irene. Insgeheim nahm sie sich vor herauszufinden, wo sie den Webster stattdessen versteckt hatten – um ihn zu stehlen. Sie ließ sich nicht gern an der Nase herumführen; auch dann nicht, wenn das, was man ihr vor die Nase hielt, ein Buch war.

Mrs Walker ging nicht auf die Ankündigung ein. Sie taxierte Irene von oben bis unten. »Es gibt Möglichkeiten, Sie in die Familie einzugliedern, sollten Sie mehr wissen, als gut für Sie ist. Vielleicht wäre es das Beste.«

Irene gab auf. Wenn man es mit Verschwörungstheoretikern zu tun hatte, war es manchmal einfacher, ihr Spiel mitzuspielen, statt zu versuchen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. »Angenommen, ich schlage diese Ehre aus?«

»Sie sind kilometerweit von der nächsten Stadt entfernt, dies ist ein Haus voller Vampire, ringsum gibt es nichts als Wildnis, und wir haben bald Mitternacht.« Mrs Walker verzog ihren Mund zu einem feinen Lächeln. »Der Regen nimmt zu. Es wird nicht einmal Spuren geben. Bis jemand Ihr Verschwinden bemerkt, werden Tage vergehen.«

»Tja, man wird wohl annehmen, ich hätte mir ein gutes Buch geschnappt und eine kleine Auszeit genommen«, erwiderte Irene. »Darf ich mich erkundigen, wieso ausgerechnet ich als Mitglied Ihrer Familie in Frage kommen sollte? Ich kann mir das nur schwer vorstellen.«

Es wäre aufrichtiger gewesen zu sagen: Nicht in einer Million Jahren! Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muss nur fix die Tür eintreten, um mich aus dem Staub zu machen. Aber neugierig war sie schon.

»Sie verfügen über einen scharfen Verstand«, gab Mrs Walker zu. »Das haben Sie deutlich unter Beweis gestellt. Darüber hinaus könnten wir Sie ohnehin nicht mehr gehen lassen. Doch machen Sie sich keine Sorgen über Ihre berufliche Laufbahn.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Irene.

»Sobald Sie meiner Familie Ihre uneingeschränkte Loyalität geschworen haben, haben Sie nicht länger das nötige Ansehen für Ihre jetzige Stellung. Sie können die Geschäfte ruhigen Gewissens Ihrem Mitstreiter in London überlassen. Wo wir gerade von ihm sprechen, ist er zufällig in der Stadt?«

»Zufällig nicht«, sagte Irene. Es stimmte auf eine Weise, die sich Mrs Walker wohl kaum vorstellen konnte. Kai war auf eine Familienfeier eingeladen. Da er ein Drache war, fand diese Feier in einer anderen Parallelwelt statt. Seinen Dienst als Irenes Assistent leistete er jedoch in menschlicher Gestalt. Es war erleichternd, ihn in Sicherheit zu wissen. Mrs Walker hätte sicher gern eine Geisel als Druckmittel gegen Irene in der Hand gehabt.

»Was für eine Ehre, in den Kreis der Familie eingeladen zu werden«, heuchelte Irene. »Aber leider warten andere Aufgaben auf mich. Ich muss mich dringend mit meinem Kollegen …«

»Selbstverständlich«, fiel ihr Mrs Walker ins Wort. »Wenn Sie mir nur rasch in unsere Kellerkapelle folgen würden, um den Eid auf die Familie abzulegen. Und den üblichen kleinen Blutschwur natürlich auch. Wir wollen doch nicht, dass Sie es sich auf dem Weg nach London wieder anders überlegen, nicht wahr?«

Nicht gut. Gar nicht gut. Irene war selbst eine geschickte Lügnerin, und der ›übliche kleine Blutschwur‹ klang für sie alles andere als vertrauenerweckend. Sie war auch nicht scharf darauf zu erfahren, wie eine Kapelle aussehen mochte, die von einer Familie von Vampiren unterhalten wurde. »Lassen Sie mich einen Moment nachdenken«, sagte sie. »Immerhin ist das eine ziemlich wichtige Entscheidung für eine junge Frau wie mich.«

Mrs Walker nickte wenig überzeugt. »Wie Sie wollen, Mrs Winters. Ich gebe Ihnen nur den Rat, das Haus nicht auf eigene Faust zu durchstreifen. Die Bewohner erhalten von der Blutbank des örtlichen Krankenhauses ihr täglich Brot, aber wir wollen sie ja nicht unnötig provozieren, richtig? Ihre Handgelenke …« Sie blickte auf die spitzenverzierten Ärmel von Irenes Bluse. »Sie sind, wenn ich das so sagen darf, auf geradezu unschickliche Weise entblößt.«

Irene beschloss, es ein letztes Mal mit Vernunft zu versuchen. »Ich muss Sie bitten, die Angelegenheit noch einmal zu überdenken. Sie könnten uns beide in eine … unangenehme Lage bringen.«

»Es wird Ihnen nichts nutzen zu betteln«, sagte Mrs Walker in schneidendem Ton. »Ich erwarte Sie in wenigen Minuten unten. Falls Sie nicht auftauchen, werden wir kommen und Sie holen.«

Mrs Walker glitt zum Treppenabsatz. Der Saum ihres Moiré-Seidenkleides strich über den altehrwürdigen Teppich. An der Treppe drehte sie sich noch einmal um. Sie musterte Irene, und ihr Blick schien noch das kleinste Quäntchen Blut in ihren Adern abzuwiegen. »Mit ›wir‹ meine ich auch meinen Herrn Gemahl.«

Irene sah ihr nach, wie sie die Stufen hinunterschwebte. Sie versuchte sich klar zu werden, was von ihren verschwindend geringen Chancen noch übrig war.

Der Webster war der aktuelle Auftrag, den sie für die Bibliothek übernommen hatte. Der Walker-Tausch hatte sich als die einfachste Möglichkeit dargestellt, ihn zu bekommen. Zerschlug er sich, war das bedauerlich, aber keine Tragödie. Ihr Hauptziel war soeben geworden, mit dem Leben davonzukommen. Sie stellte die Dokumententasche ab. Der Marlowe darin würde sie bei ihrer Flucht nur behindern. Irene hatte ihn aus einer Parallelwelt mitgebracht, in der dieses Buch an jeder Ecke zu finden war. Kein allzu großer Verlust.

Das Porträt über ihr spähte drohend auf sie herunter, als sie vorüberging. Der vermeintlich lebendige Blick ließ sie frösteln. Sie wandte sich dem Gemälde zu und starrte zurück. Im schummrigen Licht ließ sich nur schwer bestimmen, aus was für einer Epoche das Kunstwerk stammte, welche Kleidung die Gestalt trug oder wie ihre genauen Gesichtszüge beschaffen waren. Irene erahnte nur eine herabgezogene Augenbraue und eine Adlernase, dazu eine dunkle Kutte und furchteinflößende Augen. Wie alles andere in dem großen Herrenhaus wirkte das Bild uralt. Sie ging zum Fenster und zog die dicken Brokatvorhänge zur Seite.

Die Fenster waren mit Eisenstangen vergittert.

Zum ersten Mal lächelte Irene. Kaltes Eisen war ein Hindernis für Menschen. Für Elfen war es sogar ein gewaltiges Problem. Aber für eine Angestellte der Bibliothek? Ein Kinderspiel …

Regen trommelte gegen die Scheiben. Draußen herrschte Nacht, es stürmte, und sie war wirklich mehrere Kilometer von der nächsten Stadt entfernt. Sie musste sich höchstwahrscheinlich darauf gefasst machen, von Vampiren durch die Wildnis gejagt zu werden. Außerdem führte der Fluss, die Ouse, wieder Hochwasser. In dieser Gegend schien das ständig zu passieren. Unter diesen Umständen war auf den Landstraßen mit Sicherheit kein Mensch unterwegs.

In Zukunft war es vielleicht besser, Bücher nur noch zu klauen, anstatt es auf riskante Tauschgeschäfte ankommen zu lassen. Das ging nicht nur schneller, es war auch unauffälliger. Und man bekam weniger Ärger mit Vampiren.

Sie beugte sich zu den Eisenstangen und sagte gedämpft in der Sprache: »Eisenstäbe, krümmt euch geräuschlos so weit auseinander, dass ich hindurchpasse.«

Die Eisenstäbe zitterten, dann bogen sie sich wie Wachs. Die Farbschicht blätterte ab.

Das Fenster war abgeschlossen, aber das stellte ebenfalls kein Problem für die Sprache dar. »Fenster, entriegele dich und öffne dich – so leise wie möglich«, flüsterte Irene.

Das Schloss sprang knirschend auf, die Hebel zum Öffnen des Fensters kippten knarrend nach oben. Dann schwang der Fensterladen auf.

Regenrinne und Fallrohr suchte Irene vergebens, aber dichter Efeu wuchs die Hauswand entlang. Das würde reichen müssen.

Irene raffte ihre Röcke, fasste den Stoff an der Hüfte zusammen und kletterte – mehr als unschicklich für die Gewohnheiten dieser Zeit – aus dem Fenster im ersten Stock. Der Efeu war nass und rutschig. Als sie an der Außenwand des Hauses hing, stoppte sie. »Eisenstäbe, nehmt eure ursprüngliche Form wieder an. Fenster, schließe und verriegele dich.« Sie kletterte hinab. Je mehr Vorsprung sie herausholen konnte, bevor ihre Flucht bemerkt wurde, desto besser.

Nachdem sie eine halbe Minute geklettert war, rutschte sie auf etwas Schleimigem aus, verlor den Halt und stürzte den Rest des Weges nach unten. Im Schlamm blieb sie liegen. Der Regen prasselte heftig auf sie herab, und es war stockdunkel.

Während sie sich durch wuchernde Lavendelsträucher schlug – so viel verriet ihr ihre Nase –, begriff sie, worin das eigentliche Problem bestand. Sie hatte sich zu sehr daran gewöhnt, Hilfe zu bekommen. Für eine Bibliothekarin war das riskant – wenn es in dieser Situation nur nicht so verdammt praktisch gewesen wäre …

Ein Blitz zuckte über den Himmel, zwei Sekunden später folgte der Donner. Irene lauschte. Das Unwetter würde ihre Spuren hoffentlich verwischen.

Da ertönte aus der Dunkelheit hinter ihr ein Schrei. Er klang atemlos, gierig und irgendwie … durstig. Aus der Ferne antwortete ein zweiter Schrei. Die Jagd begann, und sie war die Beute.

Der Regen hatte Irenes hochgesteckte Frisur mittlerweile völlig durchnässt. Das Wasser rann über ihr Gesicht ins Jackett und das Kleid darunter. Es wollte auch noch in ihre Stiefel vordringen. Wohin sollte sie fliehen? Nach Norden, auf die Straße zu, die wahrscheinlich verlassen war? Oder nach Süden zur über die Ufer getretenen Ouse, die kilometerweit von Feldern umgeben war?

Der Fluss, beschloss sie, war das schnellste Transportmittel. Bei ihren Recherchen zu dieser Reise hatte sie etwas von einem Bootshaus gelesen …

Ein weiterer Blitz erhellte die Nacht. Er offenbarte die Umrisse eines Gebäudes am diesseitigen Flussufer, das wie ein Schuppen aussah. Es lag bereits einen halben Meter unter Wasser.

Dann sah Irene die geduckte Gestalt, die zwischen ihr und dem Bootshaus lauerte.

»Sie laufen nirgendwohin«, stieß Mr Harper hervor. Er richtete sich zu voller Größe auf.

»Gehen Sie mir aus dem Weg«, forderte Irene. Sie war so wütend, dass ihre Stimme das Tosen des Windes übertönte. »Ich lehne Mrs Walkers Angebot ab.«

»Das glaube ich kaum«, sagte der Vampir. Von knochendürren, mit klauenartigen Nägeln bewehrten Fingern tropfte das Wasser. Er starrte Irene mit schwelendem Blick an.

»Erde, öffne dich«, sagte Irene. »Umschließe seine Füße und die Knöchel und halte ihn fest. Bootshaustür, entriegele und öffne dich!«

Unter Mr Harpers Füßen tat sich der schlammige Grund auf, als öffnete sich ein fletschendes Maul in der Erde. Irene spürte, wie die Sprache ihr die Kraft aus dem Körper sog, während die Welt ihren Worten gehorchte. Mr Harper sank bis zu den Kniekehlen in den Boden. Irene rannte an ihm vorbei, knapp außerhalb seiner Reichweite und der wütenden Versuche, sie zu packen.

Das Bootshaus lag offen zum Fluss, das Licht im Innern reichte gerade aus, um zu erkennen, was sich darin befand. Ruderboote, die einst hoch über dem Wasserspiegel in ihren Aufhängungen gehangen hatten, schaukelten nun wenige Zentimeter über der kraftvollen Flut. Irene watete zu dem Boot, das ihr am nächsten lag.

Von draußen schrie Mr Harper: »Hier! Sie ist hier!«

Mit einem kräftigen Stoß beförderte Irene das Boot ins Wasser. Sie griff sich eines der Ruder und kletterte hinein. In diesem Moment schwankte auch schon Mr Harper durch die Tür.

Er kam auf sie zu, die Hände ausgestreckt. Irene holte mit dem Ruder aus. Sie schlug ihn gegen die Brust und sandte ihn taumelnd nach hinten. Vom Schwung des eigenen Schlages mitgerissen, fiel Irene beinahe selbst über Bord. Dann glitt das Boot auf den rettenden Fluss hinaus, wo die Strömung es erfasste und mit sich davonführte.

Irene hörte Schreie vom Ufer herüberdringen. Mrs Walker stand dort, nur undeutlich wahrnehmbar im Regen und der Finsternis. Schatten reihten sich hinter ihr auf, und Blitze tauchten die Gestalten abwechselnd in gleißendes Licht und wieder in Dunkelheit.

»Sie werden das noch bereuen!«, schrie Mrs Walker in die Nacht hinaus.

Irene atmete auf. »Viel Spaß mit Ihrer Lektüre!«, rief sie zurück, als der Fluss ihr Boot auch schon forttrug in Richtung York.