Analysen und Dokumente
Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten
Band 17
Analysen und Dokumente
Wissenschaftliche Reihe
des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik
Die Meinungen, die in dieser Publikationsreihe geäußert werden, geben ausschließlich die Auffassungen der Autoren wieder.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage als E-Book, Juli 2016
entspricht der 6. Druckauflage vom Dezember 2012
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
Internet: www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Cover: KahaneDesign, Berlin, unter Verwendung eines Fotos aus dem Aufklärungsbericht eines IM für einen Anschlag auf die Rheinüberspannung einer 300 kV-Leitung bei Koblenz-Wallersheim.
ISBN 978-3-86284-342-8
Vorwort
Einleitung
1. |
Vom kalten zum verdeckten Krieg. Die Partisanen von der Spree |
2. |
Die Mörder vom Dienst. Strategie und Taktik des konspirativen Klassenkampfes |
3. |
Die Maschinenpistole im Geigenkasten. Der operativ-technische Bereich in der AGM/S |
4. |
Konspirativer Hinterhalt und tödlicher Nahkampf. Die Ausbildung der Einsatzgruppen |
5. |
Zielobjekt aufgeklärt. Stasi-Agenten an der unsichtbaren Front zwischen Kiel und Kempten |
6. |
Tschekistische Entwicklungshilfe. Internationale Verbindungen der AGM/S |
Exkurs: Die Harmonie im Kollektiv – Tschekisten nach Feierabend
Dokumente
Editorische Vorbemerkung
Verzeichnis der Dokumente
Dokumente 1–12
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Über den Autor
Dieses Buch informiert über ein bisher kaum bekanntes Aktionsfeld des konspirativen Instrumentes der SED, den vom Ministerium für Staatssicherheit vorbereiteten revolutionären Terror in der Bundesrepublik. Die wichtigste Diensteinheit für diese aktiven Vorbereitungen war die „Arbeitsgruppe des Ministers/Sonderfragen“ (AGM/S), der die Ausbildung von „tschekistischen“ Untergrundkämpfern oblag.
Der Autor und Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung, Thomas Auerbach, ist mit einer vielbeachteten Arbeit über die geplanten Isolierungslager für Oppositionelle und Kritiker in der DDR hervorgetreten. Er zeigt in ihr die enorme Gewaltbereitschaft der SED zum Zwecke ihres Machterhaltes. Seine neuerliche Arbeit schildert einen weiteren Teil des aggressiven Potentials, das deutsche Kommunisten bereithielten, um auch die Bundesrepublik beherrschen zu können. Das Buch veröffentlicht Dokumente, die teilweise bisher unbekannt sind. Sie lassen ein Bild vom SED-Staat erkennen, das diesen als Erfüllungsgehilfen der sowjetischen Expansionspolitik ausweist und der zugleich diese Aufgabe eigenständig mit krimineller Phantasie auszufüllen bereit war.
Honecker drohte im Februar 1981 in Berlin, daß der Sozialismus eines Tages an die Tür der Bundesrepublik klopfen würde, wenn die westdeutschen Werktätigen an die Umgestaltung ihrer Gesellschaft gingen. Jetzt haben wir eine Vorstellung, wie dieses Klopfen auch hätte aussehen können. Mit Mordanschlägen auf einzelne Menschen, mit jeder Art Terror bis hin zur Beschädigung von Kernkraftwerken wäre die Bundesrepublik überzogen worden.
Überblickbar sind bisher nur einige tatsächlich durchgeführte Attentate und Anschläge des MfS. Das Buch zeigt vor allem entsprechend dem Forschungsstand die Planungen und Vorbereitungen der AGM/S. Schon dieses Gewaltpotential spricht eigentlich für sich. In der politischen Bewertung der Pläne für die Isolierungslager waren Stimmen zu hören, die die Vorbereitung exzessiver Gewaltanwendung als bloße Planungen abtaten, die schließlich nicht umgesetzt wurden. So leicht lassen sich aber kommunistische Planungen nicht herunterspielen. Es handelt sich schließlich nicht nur um Vorbereitungen für den Kriegsfall, sondern auch um Vorhaben, die mitten im Frieden zum Zuge kommen sollten. Ungute Analogien zum totalitären Sprachgebrauch des Dritten Reiches weckt beim Leser auch die entlarvende Wortwahl der Stasi-Strategen in ihren Geheimdokumenten. Es zeugt von Geschichtsvergessenheit, wenn das MfS seine Terrorkommandos „Einsatzgruppen“ nannte. Dieser Begriff ist besetzt durch die SS-Einsatzgruppen, die in der Sowjetunion mit Terror und Massenmord wüteten!
Den Leser mag das Gefühl überkommen, daß die Deutschen in West und Ost „Glück“ gehabt haben. Der Zusammenbruch des SED-Staates 1989 hat eine große organisierte Terrormaschinerie stillgelegt. Die Aufhellung dieses Instrumentariums kommunistischer Politik ist nicht nur eine Frage der Inventarisierung vergangener Vorgänge und Absichten.
Diejenigen, die im Namen eines „besseren Deutschlands“ Gewalt anwenden wollten, sind unter uns. Die Akteure verstanden sich nicht als Berufskiller, die aus niederen Beweggründen den Mord trainierten, sondern als Menschen, die von einer politischen Sendung motiviert waren. Diese Sendung im Namen der sozialistischen Gerechtigkeit zur „Beseitigung der Ausbeutung“ rechtfertigte ihr Handeln. Im Interesse der Entwicklung einer politischen Kultur der Demokratie muß eine solche Gewaltbereitschaft reflektiert werden. Die Dokumente der AGM/S lassen die Ignoranz gegenüber den Menschenrechten erkennen, wenn das Gewissen der Weisheit der Partei geopfert war. Der kleine satirische Exkurs von Auerbach über den tschekistischen „Feierabend“ im letzten Kapitel zeigt die ganze Banalität dieser Ignoranz.
Die Arbeit von Auerbach deckt nicht nur den physischen Apparat und die Ziele von Zerstörung und Liquidation der Terroreinheiten auf. Sie hat auch die politische Dimension des Sozialismus im Blick. Ziel sollte die „Errichtung der Diktatur des Proletariats und der Aufbau des Sozialismus“ sein, heißt es in einem der Dokumente. Im vorliegenden Fall ist an den gewählten Mitteln zu erkennen, wie die Ziele gemeint sind. Außenstehende können es nur als Zynismus verstehen, wenn aus dem ideologisch definierten „Grundwiderspruch“ des Kapitalismus „Krisensituationen“ abgeleitet werden, in denen durch den Terror der Einsatzgruppen beschleunigt eine „revolutionäre Situation“ herbeigeführt werden sollte. Wenn es politisch opportun erschien, durfte jedes Mittel und jeder willige Verbündete unter den antikapitalistischen gewaltbereiten linken Kräften im Westen genutzt werden.
Die Kommunisten haben die Entspannungspolitik auf ihre Weise durchaus ernst genommen. Gerade deshalb hielten sie sich im geheimen jede mögliche Option offen. Wie hätten sie sonst die Machtübernahme mitten im Entspannungsprozeß so detailliert mit soviel Gewalt und ausgeklügeltem Terror planen können? Der ehemalige Chef der HV A und Stellvertreter Mielkes, Markus Wolf, der beharrlich die Legende verbreitet, daß die HV A im Westen nur gewirkt hätte, um den Frieden zu erhalten, verfolgte in Wirklichkeit die gegenteiligen Ziele. Er selbst kannte die streng geheimen Absichten des „Friedensstaates“ sehr genau. Er wußte auch, daß diese Staats- und Parteiterroristen selbst gegen innere Feinde in der DDR eingesetzt werden sollten.
Dieses Buch zeigt einmal mehr, daß die DDR nie der „Friedensstaat“ war, als der sie sich deklarierte. Und sie war auch keine „weiche“ Diktatur. Die DDR war totalitär, auch wenn das terroristische Element für die Machtträger weltanschaulich legitimiert und für die Öffentlichkeit streng konspiriert war.
Berlin, im März 1999 |
Ehrhart Neubert |
Am 5. Juli 1972 gab der ehemalige General der tschechoslowakischen Armee, Jan Sejna, dem ZDF ein Exklusivinterview. Sejna, vormals Kandidat des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, Mitglied des Präsidiums der ČSSR-Nationalversammlung, Chef des Sekretariats des Verteidigungsministeriums und gleichzeitig erster Sekretär der Parteiorganisation des Verteidigungsministeriums, war bereits Ende Februar 1968 in den Westen übergelaufen. Vier Jahre lang hatte er geschwiegen und trat jetzt erstmals vor die westliche Öffentlichkeit. Die US-Regierung hatte den Ex-General kurz nach seiner Flucht als den ranghöchsten und wertvollsten Überläufer der letzten 20 Jahre bezeichnet. Vor den ZDF-Kameras äußerte er sich zu den militärischen Plänen und der Strategie des Warschauer Paktes gegenüber der NATO. Sejna wies warnend darauf hin, daß es weiter Ziel der sowjetischen Militär- und Blockpolitik sei, in ganz Europa dem Kommunismus zum Sieg zu verhelfen. Diese Behauptung muß damals für die westliche Öffentlichkeit aus folgenden Gründen wenig überzeugend geklungen haben: Sejnas Insiderkenntnis der Pläne des Warschauer Paktes war vier Jahre alt und datierte noch aus der Zeit des kalten Krieges. Inzwischen bemühte sich die Sowjetunion um die Einberufung einer internationalen Konferenz für europäische Sicherheit. Die Lage im geteilten Deutschland hatte sich durch die Gespräche von Vertretern beider deutscher Staaten in Erfurt und Kassel, das Viermächteabkommen über Berlin (September 1971), das Transitabkommen (Dezember 1971) und den Verkehrsvertrag (Mai 1972) entspannt. Der friedlichen Koexistenz zwischen den Blocksystemen schien die Zukunft zu gehören. Da paßten Sejnas Ausführungen schlecht ins Bild. Er behauptete, die Sowjetunion plane, mit Hilfe von Desinformation, Sabotage und militärischem Druck in westeuropäischen Ländern krisenartige Situationen zu provozieren, um prosowjetischen Elementen die Machtergreifung zu ermöglichen. Die Geheimdienste der Staaten des Warschauer Paktes, führte Sejna in dem Interview weiter aus, hätten in den letzten Jahren Diversionseinheiten aufgestellt, die in Krisensituationen im feindlichen Hinterland für die Erzwingung der genannten sowjetischen Ziele eingesetzt werden sollten. Beispielsweise hätten 1968 in der DDR Übungen solcher Einheiten stattgefunden, bei denen die Luftlandung in der Bundesrepublik geprobt wurde. Ähnliches sei auch bei der Truppenübung „Moldau“ 1965 in der CSSR der Fall gewesen. Dort habe man solche Diversionseinheiten für einen sogenannten Eingriff zur Sicherung der Neutralität Österreichs trainiert. Damit sei die Besetzung Österreichs im Falle einer bestimmten militärisch-politischen Situation gemeint gewesen.1 Was Sejna da sagte, war wohl vielen Menschen im Westen in seiner ganzen Tragweite ebenso unklar wie der von ihm verwendete Begriff Diversion, welcher im westlichen Sprachgebrauch kaum bekannt war. Hilfreich für das Verständnis des Begriffs wäre ein Blick in das DDR-Strafgesetzbuch oder in einschlägige DDR-Lexika gewesen:
„Als Verbrechen gegen die DDR beinhaltet die Diversion nach § 103 StGB der DDR das Zerstören, Unbrauchbarmachen, Beschädigen oder Beiseiteschaffen von Maschinen, technischen oder militärischen Anlagen und Ausrüstungen, Gebäuden, Transport- oder Verkehrseinrichtungen, wirtschaftlichen Rohstoffen oder Erzeugnissen, Unterlagen der Forschung und Wissenschaft oder anderen für den sozialistischen Aufbau oder für die Verteidigung wichtigen Gegenständen und Materialien mit dem Ziel, die Volkswirtschaft oder die Verteidigungskraft der DDR zu schädigen.“2
Sejna unterstellte also den östlichen Geheimdiensten, daß sie derartige Aktivitäten gegen die Staaten Westeuropas forcierten. Dies erschien 1972 angesichts der Entspannungspolitik unglaubwürdig, entsprach aber den Tatsachen. Zumindest was den sowjetischen KGB und das MfS betrifft, können derartige Vorhaben, die weit über bloße Planungen hinausgingen, heute anhand überlieferter MfS-Dokumente belegt werden. Der KGB hatte in den sechziger Jahren einen sogenannten spezifischen Dienst aufgestellt, der besonders in Spannungssituationen und im Verteidigungszustand, aber auch in Friedenszeiten gegen Zielobjekte und -personen der wirtschaftlichen, militärischen und politischen Infrastruktur westlicher Länder mit Terrorhandlungen mannigfacher Art vorgehen sollte (siehe Dokument 3).3 Dazu zählten beispielsweise Sabotage, Entführungen, Geiselnahme und Mord. Auch das MfS trainierte zu diesem Zweck ab Anfang der sechziger Jahre in geheimen Ausbildungsbasen „spezifische Einsatzgruppen“ für die „Spezialkampfführung im Operationsgebiet“. Mit „Operationsgebiet“ war im MfS-Jargon die Bundesrepublik Deutschland gemeint. Verantwortlich für diese Aktivitäten zeichnete eine MfS-Diensteinheit, die unter wechselnden Namen zwischen 1964 und 1988 im Anleitungsbereich der Arbeitsgruppe des Ministers (AGM) existierte: 1964 bis 1974 Abteilung IV/2, 1974 bis 1978 Abteilung IV/S, 1978 bis 1988 AGM/S, 1988 bis 1989 Abteilung XXIII.4
Derweil die Vertreter beider deutscher Staaten die Abkommen aushandelten, die in den Grundlagenvertrag von 1972 mündeten, intensivierte das MfS seine Aktivitäten zur verdeckten Kriegsführung gegen die Bundesrepublik.5 Die friedliche Koexistenz war für verantwortliche Vertreter der MfS-Generalität lediglich eine besondere Form des Klassenkampfes. In dieser Situation gelte es, so stellte beispielsweise der für die Diversionsplanungen verantwortliche Chef der AGM Alfred Scholz 1972 fest, die Einsatzgruppen auf Handlungen in der Anfangsperiode eines Krieges gegen die Bundesrepublik vorzubereiten. Derartige „Handlungen“ sollten nach seinen Worten unter anderem Zerstörung von Zielobjekten der Infrastruktur und individueller Terror sein.6 Eine mögliche Deutung für diese Haltung wäre, daß offensichtlich für die MfS-Strategen von der äußeren Entspannung eine besondere Bedrohung für das SED-Regime ausging. Nicht anders läßt sich auch die Verschärfung der Stasi-Repressionen im Inneren der DDR während der siebziger Jahre erklären. Hinzu kommt, daß Partei- und MfS-Kader wie Scholz auf Grund ihrer Biographie einer genuin stalinistischen Denkart anhingen. In deren Machtlogik war es nach dem Motto „wer wen“ trotz öffentlicher Friedensbeteuerungen selbstverständlich, im geheimen aggressive Planungen zum letztendlichen Sieg über den „Gegner“ fortzuführen.7
Das MfS bildete nicht nur Einsatzgruppen für den Untergrundkampf gegen die Bundesrepublik aus, sondern es unterhielt zu diesem Zweck auch ein spezielles Netz von inoffiziellen Mitarbeitern (IM), die neben den Spionen der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) und anderer Diensteinheiten im Bundesgebiet agierten. Geführt wurden diese häufig auch als Sprengspezialisten und Einzelkämpfer ausgebildeten Agenten von der Abteilung IV im Anleitungsbereich der AGM. Ihre Hauptaufgabe war die Aufklärung der vorgesehenen Zielobjekte und -personen.8 Schon ab 1953 hatte sich die Abteilung zur besonderen Verwendung (Abt. z.b.V.) des MfS mit Sabotagevorbereitungen im Bundesgebiet befaßt. 1955 wurde sie dem stellvertretenden Minister Markus Wolf unterstellt, ab 1956 als Abteilung III der HV A weitergeführt und schließlich 1959 als selbständige Abteilung IV dem Anleitungsbereich der AGM zugeordnet.9 Ähnliche Aufgaben wie die Abteilung IV nahm bis 1962 die 15. Verwaltung des Ministeriums für Nationale Verteidigung der DDR wahr. Deren Bestand an Offizieren, IM, Waffen, finanziellen Mitteln und Material übernahm 1962 das MfS. Dadurch erfuhr die Abteilung IV eine erhebliche personelle Aufstockung.10
Wie im folgenden geschildert werden soll, betrieb das MfS die genannten konspirativen Aktivitäten gegen die Bundesrepublik mit beträchtlicher Energie bis 1989 weiter. Die dazu bisher vorliegenden Erkenntnisse beziehen sich jedoch nur auf das MfS und bilden lediglich die Spitze eines Eisberges. Wie aus einem AGM/S-Dokument (AGM/S: Arbeitsgruppe des Ministers/Sonderfragen) zur „Spezialkampfführung des MfS“ von 1985 hervorgeht, waren in die Diversionsvorbereitungen gegen die Bundesrepublik weitere östliche Geheimdienste involviert. Mit diesen wurden die entsprechenden Planungen koordiniert. Auch der „spezifische Dienst“ des sowjetischen KGB unterhielt ein eigenes Agentennetz im Bundesgebiet und bildete Einsatzgruppen zum Angriff auf dortige „Zielobjekte“ aus. Gleiches tat auch die Hauptverwaltung Aufklärung der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR. Dies war ein kleiner, aber effektiver Dienst, dessen Unterlagen 1989/90 vernichtet wurden. Auf die nachgelassenen KGB-Akten des „spezifischen Dienstes“ besteht bis heute kein Zugriff. Als weiterer „Partner des Zusammenwirkens“ wurde in dem AGM/S-Dokument von 1985 eine Organisation benannt, deren Tätigkeit bis jetzt ebenfalls im dunkeln liegt und die unter dem Decknamen „Linie Forster“ firmierte.11 Die Angehörigen der Untergrundorganisation rekrutierten sich aus sogenannten patriotischen Kräften12 und waren an den Parteiapparat der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) angebunden. Ihre Diversantenausbildung hatten sie in der DDR erhalten. Vom Landgericht Frankfurt am Main wurden im November 1995 14 Angehörige der DKP-Partisanentruppe wegen „Vorbereitung von Sabotagehandlungen“ und „Agententätigkeit zu Sabotagezwecken“ zu Geldbußen verurteilt. Über die Mitgliederzahl der Organisation und den tatsächlichen Umfang etwaiger Aktivitäten liegen bislang nur bruchstückhafte Erkenntnisse vor.13
Die vorliegende Studie wird zunächst schildern, wie das MfS auf Grund entsprechender Geheimbefehle Mielkes ab Anfang der sechziger Jahre die materiellen und inhaltlichen Grundlagen für die Ausbildung von Diversionsspezialisten für den Untergrundkampf gegen die Bundesrepublik schuf. Bisher unveröffentlichte Geheimdokumente über Verhandlungen des KGB mit dem MfS belegen, daß sich diese Bemühungen in ein globales Konzept zur gewaltsamen Durchsetzung sowjetischer Interessen gegenüber dem Westen einordneten (siehe Dokument 3). Um Strategie und Taktik der geheimen „Spezialkampfführung“ des MfS wird es im zweiten Kapitel gehen. Die geplanten Methoden reichten unter anderem von Sprengstoffanschlägen über Mord bis hin zur Vergiftung von Trinkwasser im Bundesgebiet und zeugen von der geradezu kriminellen Energie, mit der das MfS den „konspirativen Klassenkampf“ zu führen gedachte. Mit Hilfe „patriotischer Kräfte“ sollte durch Sabotage und Terror Panik und Schrecken verbreitet werden, um eine Krisensituation herbeizuführen. Das Endziel war die Errichtung einer kommunistischen Diktatur nach dem Vorbild des SED-Regimes in ganz Deutschland. Im dritten Kapitel wird dargestellt, welches Arsenal an „operativ-technischen“ Mitteln den Einsatzgruppen für den Untergrundkampf zur Verfügung stand. Fast 30 Jahre lang arbeiteten Spezialisten der AGM/S in geheimen Labors und Werkstätten an der Entwicklung, Modifikation und Herstellung von Diversions- und Terrorkampfmitteln. Die Produktpalette reichte von Sprengstoffen, Zündern und Brandsätzen über Gifte und Narkotika bis hin zu funkferngesteuerten Sprengfahrzeugen und Reizgasen. Die AGM/S-Spezialisten befaßten sich mit dem Einsatz von radioaktiven Isotopen und der Anwendung von Kernminen. Für den Gebrauch der Einsatzgruppen verfügte die Diensteinheit über Waffen, Ausrüstung und Uniformen westlicher Armeen. Die Übungen der Einsatzgruppen, ihre zahlenmäßige Stärke und die Inhalte ihrer Ausbildung werden anschließend im vierten Kapitel dokumentiert und beschrieben. Anhand konkreter bundesdeutscher „Zielobjekte“ lernten die „tschekistischen Kämpfer“ deren „neuralgische Punkte“ kennen und wurden in der Anwendung von Spreng- und Brandkampfmitteln geschult. Sie trainierten den „konspirativen Hinterhalt“, die „Herstellung von Sprengstoff mit den einfachsten Mitteln unter konspirativen Bedingungen“ und die „Liquidierung von Personen mit speziellen Mitteln und Methoden“. Auch ein Teil der IM der Abteilung IV erhielt in geheimen Ausbildungsbasen eine solche Schulung. Die im fünften Kapitel zitierten Unterlagen vermitteln ein realistisches Bild vom konspirativen Wirken der MfS-Agenten an „der unsichtbaren Front im Operationsgebiet“. Ihre wichtigste Funktion bestand in der Aufklärung der Zielobjekte und -personen. Im Rahmen der „Solidaritätsaufgaben des MfS“ bildete die AGM/S auch Kader sogenannter Befreiungsorganisationen aus und unterstützte die „Sicherheitsorgane“ solcher Länder wie Nicaragua und Vietnam. Über diese und andere internationale Verbindungen der Diensteinheit wird im sechsten Kapitel berichtet. Ein abschließender satirischer Exkurs geht der Frage nach, wie die AGM/S-Mitarbeiter nach Feierabend ihre Arbeitskraft für die weitere „Spezialkampfführung“ reproduzierten. Im Anhang findet sich ein ausführlicher Dokumententeil.
Gedankt sei den Kollegen unseres Zentralarchivs sowie Gudrun Weber und Dr. Roger Engelmann für ihre freundliche Unterstützung dieser Publikation.
1Mitschrift eines Interviews des ZDF mit dem ehemaligen tschechoslowakischen General Jan Sejna vom 5.7.1972; BStU, ZA, MfS GH 18/84, Bl. 34.
2Meyers Neues Lexikon, Leipzig 1972, Bd. 3, S. 625.
3Dokumentenanhang, S. 114–131 und Kapitel 1.
4Da die Diensteinheit ab 1974 zusätzlich auch Aufgaben der militärisch-operativen Terrorabwehr erfüllte, wurde sie 1989 mit der Abteilung XXII (politisch-operative Terrorabwehr) zur HA XXII zusammengeschlossen. Vgl. dazu auch Tobias Wunschik: Hauptabteilung XXII (MfS-Handbuch, Teil III/16), BStU, Berlin 1995.
5Siehe Kapitel 2.
6Siegfried Zieger: Gedankenbeiträge zur Chronik der Arbeitsgruppe des Ministers/Sonderfragen (künftig: AGM/S) von 1982, 5 S., hier 2 ff.; BStU, ZA, HA XXII 658/2, Bl. 67 f.
7Siehe Kapitel 1 und 2.
8Siehe Kapitel 5.
9Stephan Fingerle und Jens Gieseke: Partisanen des Kalten Krieges. Die Untergrundtruppe der Nationalen Volksarmee 1957 bis 1962 und ihre Übernahme durch die Staatssicherheit, BStU, Berlin 1996, S. 15. Siehe auch Kapitel 5.
10Ebenda, S. 13 ff. Siehe auch Kapitel 1.
11AGM/S: Arbeitsmaterial zur weiteren Entwicklung und Qualifizierung der Spezialkampfführung des MfS, Teil Avom Februar 1985; BStU, ZA, HA XXII 521/16, Bl. 8.
12Siehe Kapitel 2.
13Vgl. Fingerle/Gieseke: Partisanen des Kalten Krieges, S. 3 f.
Anfang Februar 1963 traf sich eine Gruppe von Stasi-Offizieren zu einer geheimen Arbeitstagung an der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam/Eiche. Zugegen waren nicht nur altgediente Kader der Abteilung IV, sondern auch eine Reihe von „Neulingen“ im MfS-Dienst. Dabei handelte es sich um ehemalige Ausbilder und Fachlehrer an den Diversantenschulen der aufgelösten 15. Verwaltung der Nationalen Volksarmee, die das MfS 1962 übernommen hatte. Wenn auch neu im MfS, waren sie doch, was das Thema der Arbeitstagung betraf, ebenso versierte Spezialisten wie ihre jetzigen Kollegen der Abteilung IV. Gleich diesen hatten sie in der vordersten Linie der „unsichtbaren Front“ des kalten Krieges gestanden. Nun tauschten die frischgebackenen und die altgedienten Tschekisten auf der geheimen Arbeitstagung ihre „Kampferfahrungen“ aus. In den Beratungen ging es zunächst um das gemeinsame Feindbild. Thematisiert wurden: „Die Rolle der imperialistischen Geheimdienste im System des staatsmonopolistischen Kapitalismus“ und die „westdeutschen Abwehrorgane“.14 Weitere Gesprächsthemen waren: „Hauptaufgaben des MfS für die operative Arbeit, Verbindungswesen der Geheimdienste, die Legende und die konspirative Arbeit, Arbeit mit IM, das Verhalten von IM vor feindlichen Sicherheitsorganen, Spurenkunde“.15 Nicht wenige der Neueingestellten bekleideten später hohe Funktionen in der AGM/S. Einer von ihnen, Siegfried Zieger, nachmaliger Leiter der Auswertungs- und Kontrollgruppe der AGM/S, erinnerte sich 1982 an die Ergebnisse der Arbeitstagung von 1963. In einem handschriftlichen Manuskript, angefertigt als Zuarbeit für eine Chronik der Diensteinheit, berichtete er, was 20 Jahre zuvor besprochen worden war: Die Teilnehmer der Arbeitstagung einigten sich damals darauf, daß im MfS eine wirklichkeitsnahe Ausbildung für Spezialisten geschaffen werden müsse. Diese sollten im Operationsgebiet auf Befehl des „Genossen Ministers“ als Einzelkämpfer oder in kleinen Gruppen gegen bedeutsame „Feindobjekte“ vorgehen. Es wurde beschlossen, „eine entsprechende Ausbildungsrichtlinie zu erarbeiten, die eine differenzierte Ausbildung für Einzelkämpfer und Führungskräfte beinhaltet“.16 Im Ergebnis der Arbeitstagung hatte die AGM bis April 1963 eine von Mielke persönlich abgezeichnete „Geheime Kommandosache“ erstellt. Sie trug den unverfänglichen Titel: „Grundsätze zur Durchführung besonderer Qualifizierungsmaßnahmen für Teilkräfte des Ministeriums für Staatssicherheit“ (siehe Dokument 1).17 In dem Dokument heißt es eingangs etwas holprig:
„Die weitere allseitige Erhöhung der Schlagkraft und Einsatzbereitschaft der Organe des Ministeriums für Staatssicherheit erfordert die Durchführung von Maßnahmen – Vorbereitung und Schaffung von Bedingungen –, die erforderlich sind, um unter normalen Bedingungen, wie auch im Falle bewaffneter Auseinandersetzungen, bereit zu sein, zum Schutze der Deutschen Demokratischen Republik aktive Aktionen gegen den Feind und sein Hinterland erfolgreich durchführen zu können. Zur Verwirklichung dieser Forderungen sind besondere Qualifizierungsmaßnahmen für bestimmte operative Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit notwendig und durchzuführen.“18
Die Aktionen sollten sich gegen politische Zentren, militärische Einrichtungen, Anlagen der Rüstungsindustrie, das Fernmeldewesen, die Elektroenergieversorgung, das Transportwesen und gegen die Gas- und Wasserversorgung richten.19 Derartige Zielobjekte, heißt es in der Geheimen Kommandosache weiter, seien aufzuklären und im Ernstfall durch aktive Kampfführung zu zerstören oder zu beschädigen beziehungsweise in Besitz zu nehmen. Für diese Aufgaben sollten Führungskader und Einzelkämpfer als Aufklärer (Kundschafter), Diversionsspezialisten (Spreng- und Brandwesen), Spezialfunker, Fallschirmspringer, Kampfschwimmer und Fremdsprachenkundige (englisch und französisch) ausgebildet werden.20 Die notwendigen Qualifizierungslehrgänge seien „ausschließlich sicherzustellen im Dienstbereich der Linie IV des MfS unter direkter Anleitung der Arbeitsgruppe des Ministers“.21 Als „nächste Maßnahmen“ wurden folgende Schritte festgelegt:
„Nach Bestätigung der vorliegenden Grundsätze sind auszuarbeiten: differenzierte Ausbildungsprogramme unter Beachtung der Spezialrichtungen, Pläne der materiellen Sicherstellung und Schaffung einer breiten Ausbildungsbasis, Grundsätze für die Kaderarbeit im Rahmen der besonderen Qualifizierungsmaßnahmen, alle erforderlichen Lehr- und Ausbildungsunterlagen, Grundsätze für einen Org[anisations-] Nachweis über die ausgebildeten Kader und ihre Spezialkenntnisse. Die zur Durchführung von Lehrgängen an konspirativen Objekten eingesetzten Lehrkräfte sind entsprechend vorzubereiten und zu qualifizieren.“22
Als Anlage waren der Geheimen Kommandosache „Thesen für die Ausarbeitung von Rahmenprogrammen zur Durchführung von Lehrgängen an konspirativen Objekten“ beigefügt.23 Diese „Thesen“ treffen bereits sehr genaue Festlegungen über Inhalt, Form und Ziel der Diversantenausbildung im MfS (siehe Dokument 1).24
Um die genannten Vorgaben in die Praxis umzusetzen, bedurfte es noch eines knappen Jahres angestrengter Arbeit. In dieser Zeit wurden die geforderten „konspirativen Objekte“ als Ausbildungsbasen aus- und umgebaut. Von der 15. Verwaltung der NVA hatte das MfS mehrere solcher Objekte übernommen. Drei davon sollten auch künftig als geheime Ausbildungsstützpunkte für Diversanten vom MfS genutzt werden. Es waren dies die Objekte „Wally“ in Wartin, Kreis Angermünde, „Else“ in Biesenthal und „Maria“ in Struvenberg bei Görtzke.25 Sie wurden nun mit neuen Schießständen, Hinderniskampfbahnen, „Lehrgärten für die Sprengausbildung“, Unterrichtskabinetten, Munitions- und Waffenkammern ausgestattet.26 Im Objekt „Else“ in Biesenthal entstand im „Weißen Haus“ ein Kampfmittellabor.27
Am 21. Januar 1964 ordnete Erich Mielke durch den Geheimbefehl 107/64 an (siehe Dokument 2), daß nunmehr mit der Ausbildung von MfS-Kadern zu beginnen sei, um „unter allen Bedingungen der Lage bereit zu sein […], aktive Maßnahmen gegen den Feind und sein Hinterland erfolgreich durchführen zu können“.28 An der gleichen Stelle bestimmte er weiter:
„Die Organisation und Durchführung der gesamten Ausbildung hat streng nach den im Grundsatzdokument vom 20.4.1963 festgelegten und von mir bestätigten Maßnahmen zu erfolgen. […] Für die Auswahl, Bestimmung und Nominierung der Kader zur Teilnahme am Lehrgang sind die Leiter der Diensteinheiten persönlich verantwortlich. Sie haben nur unbedingt zuverlässige Mitarbeiter mit Perspektive vorzuschlagen, die die Voraussetzungen und Eignung zur Lösung derartiger Aufgaben mitbringen. Bei der Auswahl ist streng, konsequent und sehr gewissenhaft vorzugehen. Durch die Leiter der Diensteinheiten ist über jeden ausgewählten Kader eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.“29
Der erste Halbjahreslehrgang für 20 Mitarbeiter aus sieben verschiedenen Diensteinheiten begann am 1. Februar 1964. Zeitgleich fand ein ebensolcher Lehrgang für 26 IM der Hauptabteilung I aus dem Bereich der Grenztruppen der NVA statt. In bezug auf die IM legte Mielke in seinem Befehl fest: „Das Ausbildungsprogramm für diesen Lehrgang ist so abzustimmen, daß keinerlei Beziehungen zum Ministerium für Staatssicherheit erkennbar werden.“30 Sämtliche Kursanten wurden anschließend zu ihren jeweiligen Diensteinheiten entlassen, von wo sie im Bedarfsfall für besondere Einsätze im Operationsgebiet wieder abkommandiert werden sollten. Abschließend verfügte der Minister, daß die Leiter der beteiligten Diensteinheiten aus Geheimhaltungsgründen nur mündlich in die betreffenden Abschnitte des vorliegenden Befehls einzuweisen seien. Als Verantwortlichen für die Umsetzung seiner Anordnungen bestimmte Mielke den AGM-Chef Alfred Scholz.
Mielkes Befehl wurde lediglich in zwei Exemplaren ausgefertigt. Eines davon erhielt ein MfS-Offizier namens Heinz Stöcker.31 Der 1929 geborene Stöcker diente bis 1957 als Hauptfachlehrer für Infanterietaktik in der NVA. Seit seiner Einstellung beim MfS 1957 war er als Referatsleiter für die militärische Ausbildung zunächst in der Hauptabteilung Kader und Schulung (HA KuSch) und dann in der AGM zuständig.32 Von seinen Vorgesetzten wurde ihm bereits 1962 bescheinigt, daß er viele neue Formen der Kampfausbildung entwickelt und somit zur Anerziehung von Härte, Mut und Einsatzbereitschaft beigetragen habe.33 Stöcker schien der geeignete Mann, den Mielke-Befehl 107/64 in die Praxis umzusetzen. Deshalb wurde er im Februar 1964 zum Leiter des Arbeitsgebietes für „Sonderfragen“ (AG S) innerhalb der AGM ernannt.34 Zu seinen Aufgaben gehörte auch die Anleitung und Kontrolle der künftig für die Diversantenausbildung zuständigen Abteilung IV/2.35
Einem Plan von 1963 zufolge sollten ab 1964 jährlich etwa hundert MfS-Mitarbeiter für den Einsatz im Operationsgebiet ausgebildet werden.36 Für die sechziger Jahre wurden genauere Angaben dazu bisher nicht aufgefunden. Auch die Anzahl der ausgebildeten IM der HA I bei den Grenztruppen ist bis heute nicht bekannt. Auf Grund der forcierten Erweiterung und des Ausbaus der geheimen Ausbildungsbasen ist jedoch schon für das letzte Drittel der sechziger Jahre von einer erheblichen Steigerung der jährlichen Kursantenzahlen auszugehen. So verpflichtete sich die Abteilung IV/2 beispielsweise 1967, die Ausbildungskapazität um 70 Prozent zu steigern.37
Im Mai 1967 sah AGM-Chef Scholz den Zeitpunkt gekommen, seinem „Genossen Minister“ den erfolgreichen Vollzug des Befehls 107/64 zu demonstrieren. Willkommenen Anlaß dazu lieferten der 50. Jahrestag der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ und der 50. Jahrestag der Bildung der bolschewistischen Tscheka, des großen Vorbildes aller kommunistischen Staatssicherheitsdienste. In Vorbereitung dieser Jahrestage verfaßte Scholz einen „Plan der politisch-operativen Maßnahmen“ unter dem poetischen Motto „Auf den Spuren des Roten Oktober“.38 Vor leitenden Genossen des MfS sollte in einer Lehrvorführung der erreichte Ausbildungsstand der Linie IV/2 gezeigt werden. Geplant war unter anderem eine Leistungsschau der sogenannten Spezialkräfte des MfS mit „Elementen des Kampfschießens, des Nahkampfes, Kampfbahnvorführungen, praktischen Sprengübungen“ und Fallschirmspringen.39 In einem Bericht vom Januar 1968 stellte Scholz mit Genugtuung fest, daß die Übung „eines der hervorragenden Ergebnisse im Kampf zur Erfüllung der Verpflichtungen zum 50. Jahrestag war“.40 Derartige Übungen sollten von nun an häufiger veranstaltet werden.
Welchen Aufwand man dabei betrieb, zeigt der Bericht eines Mitarbeiters der Abteilung über eine Lehrvorführung im Jahr 1969 anläßlich des 20. Jahrestages der DDR. Bereits Monate vorher wurden die beteiligten Genossen beauftragt, eine technische Lösung für folgendes Problem zu finden: „Ein PKW Typ Wartburg soll selbständig starten, auf ca. 20 km/h beschleunigen und durch elektrischen Kontakt gesprengt werden.“41 Nun wurden Vorschläge erarbeitet, geprüft, verworfen und weiterentwickelt, bis die beste Lösung gefunden war. Nach zahlreichen Versuchen und umfangreichen technischen Veränderungen am Fahrzeug stand fest, daß die Sprengung durch eine Napalm-Ladung imitiert werden sollte. Kein Geringerer als Mielke persönlich sollte am Tag der Lehrvorführung das Produkt monatelanger Tüftelei auf seine Tauglichkeit prüfen. In dem Bericht heißt es weiter:
„Für die Vorführung wurde eine Tribüne gebaut, von wo aus der Genosse Minister den Wartburg starten sollte. Hierzu wurde auf der Tribüne eine Zündanlage analog eines Armaturenbrettes installiert. Die Startbatterien standen unter der Tribüne. Es sei noch vermerkt, daß zur Sicherheit, falls der Motor auf seiner letzten Fahrt nicht anspringt, der Anlasser beim Startvorgang automatisch kurzschloß. Dadurch hätte der Anlasser den PKW bis zur Sprengstelle gezogen, allerdings nicht mit der gewünschten Geschwindigkeit. Am Tage der Vorführung konnten wir eine gewisse Nervosität nicht abstreifen. Alle beteiligten Genossen stellten sich die Frage: ‚Wird’s klappen?‘ Aber als der Genosse Minister startete, der Wartburg sich in Bewegung setzte, nach Sekunden in Flammen aufging, hatten wir Freudentränen in den Augen, weil sich die Mühe gelohnt hatte.“42
Daß die Abteilung IV sich bis 1969 zu einer einsatzfähigen Diensteinheit entwickelt hatte, war neben dem eifrig wirkenden Stöcker besonders AGM-Chef Scholz zu verdanken. Dessen besonderes Interesse an dieser Arbeit lag zum Teil wohl in seiner Biographie begründet. Scholz geriet als deutscher Soldat 1942 in sowjetische Gefangenschaft. Dort wandelte er sich in kurzer Zeit zum Marxisten-Leninisten. Zwischen 1943 und 1945 kämpfte er auf sowjetischer Seite im Hinterland der deutschen Front als Partisan.43 Neben der obligatorischen Zusammenarbeit zwischen KGB und MfS mag Scholz diese Erfahrung in besonderer Weise bewogen haben, den Rat der sowjetischen Genossen zu suchen. Schon im April 1967 hatte er in Moskau mit Vertretern des KGB konsultative Gespräche geführt. Dabei ging es um „Grundsatzfragen über die Perspektive, die Vorbereitung, Ausbildung, Ausrüstung und Einsatzplanung von Spezialkräften in einer besonderen Situation“.44 Als „besondere Situation“ definierten die sowjetischen Genossen damals sowohl die Anfangsphase eines Raketen-Kernwaffenkrieges als auch lokal begrenzte Auseinandersetzungen unter Einsatz herkömmlicher Kampfmittel. In jedem Fall hielten es die Vertreter des KGB jedoch für zweckmäßig, schon vorher „politische Arbeit im Hinterland des Gegners zu organisieren und die Entfaltung von Partisanenbewegungen auf dem Territorium des Gegners durchzuführen bzw. zu unterstützen [und] bewaffnete Kundschaftertätigkeit auszuüben“.45 Resümierend vermerkte Scholz in seinem Bericht über die Konsultation in Moskau: „Am Schluß der Aussprache erklärte sich der Vertreter des Komitees für Staatssicherheit der UdSSR bereit, in einer weiteren Zusammenkunft auch Detailfragen zu den aufgeworfenen Grundsatzproblemen zu behandeln.“46
Dazu kam es im Dezember 1969. In einer von Mielke bestätigten Konzeption bereitete sich Scholz gründlich auf die Gespräche mit den sowjetischen Tschekisten vor:
„Mit dem Komitee für Staatssicherheit der UdSSR sollen Konsultationen geführt werden mit dem Ziel, neueste Erkenntnisse und Anregungen zu gewinnen über: 1. grundsätzliche Probleme der spezifischen inoffiziellen Arbeit im voraussichtlichen Operationsgebiet – Westdeutschland und Westberlin –, um qualifizierte personelle und materielle Voraussetzungen und Bedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, in einer besonderen Situation erfolgreiche Aktionen gegen politische, militärische und wirtschaftliche Schwerpunktobjekte des Feindes durch Einzelkämpfer und Einsatzgruppen durchzuführen (Linie IV/1); 2. Grundsätze und Bedingungen der Auswahl und der Ausbildung von Einsatzkräften im eigenen Lande und ihrer allseitigen Vorbereitung, um mit ihnen und im Zusammenwirken mit den im Operationsgebiet vorhandenen inoffiziellen Kräften spezifische Aufgaben in einer besonderen Situation im Hinterland des Gegners erfolgreich lösen zu können (Linie IV/2)“.47
Daneben erhoffte sich Scholz neue wissenschaftliche Erkenntnisse über spezielle Kampf- und Einsatzmittel.48
Zu diesen drei Themenkomplexen hatte er einen umfangreichen „Fragespiegel“ vorbereitet, der den sowjetischen Genossen vorgelegt werden sollte.49 Die Gespräche fanden vom 9. bis 12. Dezember im KGB-Hauptquartier in Moskau statt. Neben Scholz nahmen auf sowjetischer Seite der stellvertretende Leiter der Hauptverwaltung I des KGB, der Leiter der dieser nachgeordneten Verwaltung – W –50 und zwei weitere Obristen teil. Bereits am 16. Dezember 1969 verfaßte Scholz für Mielke einen Bericht über die Ergebnisse der Konsultation in Moskau (siehe Dokument 3).51 Dessen Inhalt war so brisant, daß wichtige Passagen handschriftlich in den maschinengeschriebenen Text eingefügt wurden, um die ganze Wahrheit selbst vor den MfS-Schreibkräften geheimzuhalten. Von seinen sowjetischen Gesprächspartnern war Scholz folgendes mitgeteilt worden: Mit der Verwaltung – W – besaß das KGB einen sogenannten spezifischen Dienst mit der Aufgabe, „im Kriegsfall [im feindlichen Hinterland] Widerstandsbewegungen (auch Partisanenkampf) zu entfachen oder zu unterstützen bzw. physische Aktionen durchzuführen“.52 Eine weitere Aufgabe war die Anwendung „aktiver Maßnahmen“ auch in Friedenszeiten:
„Dann jedoch unter der jeweiligen nationalen Flagge oder aus dritter Hand, bei konsequenter Verschleierung der eigenen Beteiligung. In diesem Falle werden grundsätzlich nur materielle Mittel und Ausrüstungen des Gegners angewandt, die jeder Überprüfung nach ihrer Herkunft standhalten. […] Als aktive Maßnahmen werden im wesentlichen angesehen: Diversion, Entführungen, Liquidierungen, Beschaffung technischer Exponate besonderer Art des Gegners auf spezifische Weise, Unterstützung nationaler Erhebungen und Partisanenbewegungen, Hilfe und Unterstützung bei entsprechenden Aufständen (bei konsequenter Verschleierung der Beteiligung oder wenn, wie bei Aufständen auf nationaler Ebene, die ‚Hand‘ nicht bekannt werden soll), die Bereitstellung von ‚Freiwilligen‘ zur Unterstützung des antiimperialistischen Kampfes.“53
Mit Hilfe und unter Anleitung der Hauptverwaltung I hatte die VerwaltungWdie „Regimeverhältnisse“ in den voraussichtlichen Operationsgebieten zu studieren und Angriffsobjekte wie auch -territorien aufzuklären sowie zu dokumentieren. Ihr oblag die Führung und Ausbildung von IM in den Operationsgebieten ebenso wie die Ausbildung von Einsatzkräften auf dem eigenen Territorium. Dazu hatte die Verwaltung – W – die nötigen Waffen, Geräte und Mittel bereitzustellen. Schließlich zählte zu den Aufgaben ein „ständiges Studium entsprechender Konfliktgebiete in anderen Ländern, um zu helfen, dort die Interessen der eigenen Partei- und Staatsführung durchzusetzen“.54 Die „Zielobjekte“ des spezifischen Dienstes im Konfliktfall waren unter anderem neuralgische Punkte des Verkehrswesens, der Kommunikationssysteme, der wirtschaftlichen und militärischen Infrastruktur im gegnerischen Hinterland. Als Schwerpunkt galt jedoch ein anderes Problem:
„Auf Grund des bestehenden Kräfteverhältnisses, vor allem auf militärischem Gebiet, werden im Unterschied zur Lage vor, während und unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg jetzt große militärische und wirtschaftliche Objekte des Gegners nicht primär in die Planung des spezifischen Dienstes einbezogen, sondern vorrangig ‚politisch-moralische‘ Objekte des Gegners. Die sowjetischen Genossen verstehen unter ‚politisch-moralischen‘ Objekten vorrangig Objekte der Staatsführung, der politischen Organisationen und der Geheimorganisationen des Gegners (politisch-ideologische Zentren).“55
Die Vorgehensweise des spezifischen Dienstes war folgende:
„Erfassung, Bearbeitung und lückenlose Aufklärung von Einzelpersonen aus den genannten Objektbereichen, die in einer besonderen Situation durch aktive Maßnahmen beizubringen sind, weil von ihnen angenommen wird, daß sie über umfangreiches Wissen verfügen, das für die eigene Planung von hervorragender Bedeutung ist. […] Grundsätzlich wurde darauf hingewiesen, daß die Objektbearbeitung streng auf neuralgische Punkte gerichtet sein sollte, um physische Aktionen mit geringem Aufwand und hohem Nutzeffekt durchführen zu können, Desorganisation und Panik zu erreichen und Führungseinrichtungen und Einzelpersonen der Führung rechtzeitig auszuschalten.“56
Im weiteren Verlauf der Gespräche in Moskau erfuhr Scholz Einzelheiten über Organisation und Tätigkeit des IM-Netzes der Verwaltung – W – im Ausland, Ausbildung von Einsatzkräften im eigenen Land, Strategie und Taktik der geplanten Einsätze, Kampfmittel und Bewaffnung (siehe Dokument 3). An dem abschließenden Bericht des AGM-Chefs wird deutlich, daß Arbeitsweise und Aufbau der Abteilung IV des MfS und der Verwaltung – W – in wesentlichen Punkten übereinstimmen. Dies betraf nicht zuletzt auch die strikte Konspiration: „Die Zielsetzung und Maßnahmeplanung der Verwaltung – W – ist gegenüber anderen Bereichen der Staatssicherheit weitgehendst [sic!] geheimzuhalten.“57 Demzufolge erfuhr auch Scholz nicht alles. Beispielsweise wurden ihm in Moskau keine Angaben zur zahlenmäßigen Stärke und den Einsatzländern des IM-Netzes sowie der Einsatzgruppen der Verwaltung – W – gemacht. Trotzdem konnte Scholz am Ende seines Berichtes mit einem gewissen Stolz notieren: „Abschließend bemerkte Genosse Generaloberst Sacharowski, daß das MfS der DDR das bisher einzige Ministerium der sozialistischen Länder ist, mit dem Konsultationen auf diesem spezifischen Gebiet geführt wurden.“58 Die Erfahrungen aus den Gesprächen in Moskau prägten in den folgenden Jahren die Arbeit der Abteilung IV.