Widmung
Für Leonie und Alina
Ulrike Winkler
Impressum
Kein Wetter für Rote Schuhe
von Ulrike Winkler
© 2019 Butze Verlag.
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Fotomodell: Merle Lois Schneider
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ISBN 978-3-940611-66-6 (ePub)
1. korrigierte Auflage 2020
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Inhaltsverzeichnis
Widmung
Impressum
Der leise Schmerz ist der schlimmste von allen.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Als ich das Fenster aufreiße, merke ich erstaunt, dass selbst der Regen heute Nacht anders klingt. Entrückt und surreal trommelt er unaufhörlich auf die Holzplanken meiner Dachterrasse. Ich fühle mich nicht sicher hier, doch der kühle Nachtwind durchströmt meine Lungen und lässt mich seit langem wieder das Gefühl haben, etwas zu empfinden: Kälte. Wärmende Kälte. Unentschlossen nehme ich eines meiner zerfledderten alten Notizbüchlein aus der Schublade in der Küche und greife nach dem stumpfen Bleistift vor mir. Ich schreibe grundsätzlich nur mit Bleistiften, weil man mit ihnen etwas schreiben und anschließend mit einem Radiergummi wieder auslöschen kann. Wenn man sich bemüht und nie allzu fest mit der Miene auf das Papier drückt, sieht man nach dem Ausradieren nichts mehr. Keine Spur mehr von dem, was dort einmal stand. Es sieht aus wie vorher. Blank, selbst wenn man es gegen das Licht hält, erahnt man lediglich Spuren des Geschriebenen.
Die Texte aus Wörtern über dich und mich sind so mit einem Ruck eliminiert. Was nichts daran ändert, dass mich alles stets an dich erinnert.
Das Knarren der alten Dielen, der Duft von Rhabarber und das Knistern von weißer Bettwäsche. Eine wohlige Wärme breitet sich in mir aus, und ich merke, dass ich langsam dort ankomme, wo ich längst hätte sein sollen. In meinem Kopf reihen sich farblose Steine aneinander. Ich hatte nie vorgehabt, je wieder an diesen Ort zurückzukehren. Ich weiß, dass ich nun nicht mehr umkehren kann und unsere Geschichte erzählen muss.
Nach einem kurzen, unentschlossenen Blick in die Dunkelheit hinaus gebe ich mir einen Ruck und beginne zu schreiben:
„Ich bin wieder da ...“
Rückblickend kann ich nicht sagen, weshalb ich mich gerade an diesem Morgen so intensiv und schmerzlich an dich erinnerte. Vielleicht war es diese ganz besondere und so spezielle Atmosphäre der ersten Atemzüge eines neuen Tages, welche mir dich an jenem Morgen so greifbar nahebrachte. Vielleicht war es aber auch einfach nur so, dass ich mir eingestehen musste, dass ich mich immer und unaufhörlich an dich erinnere – manchmal und besonders in solchen Momenten wie an diesem anbrechenden Morgen. Oder es war die warme Farbe der ersten Sonnenstrahlen, welche gerade die über die Hügel Sienas kriechende Dämmerung der frühen Morgenstunden durchdrang und mir mit messerscharfer Klarheit die Erinnerung an dich ins Herz rief. Mit einem Schlag spürte ich einen intensiven Schmerz, den ich eigentlich längst nicht mehr bereit war auszuhalten.
Eine Farbnuance des Rhodonits-Rosés mischte sich unter die ersten Sonnenstrahlen, und wahrscheinlich war es dieser optische Eindruck, der mich derart haltlos werden ließ. Das ganz spezielle Rhodonit-Rosé dieses Edelsteins hatte ich zu deiner Farbe auserkoren. Es verbindet die Reinheit von Weiß mit der Kraft von Rot und bedeutet so viel wie Rosenduft.
Entschlossen, die Erinnerungen nicht weiter aufkommen zu lassen, kroch ich wieder unter die Bettdecke und versuchte, noch einmal in den Schlaf zu finden. Es war einer der wenigen Tage, an denen ich ausschlafen konnte, und wie immer an solchen Tagen war ich viel zu früh wach.
Ich absolvierte gerade mein letztes Assistenzarztjahr in meiner Ausbildung zur Chirurgin an der Azienda Ospedaliera Universitaria Senese in Siena und befand mich in einem dauerhaften Zustand von Schlafmangel – durch die unzähligen Nacht- und Wochenenddienste sowie mein ansonsten sehr ausschweifendes Leben. In wenigen Wochen würde ich meine Abschlussprüfungen machen und hatte bereits ein lukratives Angebot der Klinik erhalten, die mich als Chirurgin unbedingt fest einstellen wollte. Eigentlich, so sollte man meinen, wären meine Aussichten durchaus glänzend gewesen.
Ich fand nicht mehr in den Schlaf zurück und blinzelte in die ersten warmen Sonnenstrahlen des Morgens – erbarmungslos traf mich wieder einen Schimmer des durchdringenden Rhodonit-Rosés, und einmal mehr war mein Herz bleischwer. Nie hatte ich diese Farbe in der aufgehenden Morgensonne wahrgenommen, sie sogar äußerst selten überhaupt in der Natur entdeckt. Und nur zweimal hatte ich diese Farbe an einem Menschen registriert. An meiner so sehr geliebten Großmutter und an dir.
Ich teile, so lange ich denken kann, Menschen in Farben ein. Ich erinnere mich nicht genau, wann ich damit begonnen habe, aber von jeher existiert in mir ein riesiges Register an Menschenfarben. Ein unermesslich großes Repertoire an Farbnuancen liegt zwischen all meinen Herz- und Hirnwindungen und ist daraus nicht mehr zu verdrängen.
Sehe ich einen Menschen – dazu muss ich präzisierend sagen: Sehe ich ihn öfter, baue ich also einen Bezug zu ihm auf – erscheint an seinem Hals irgendwann eine bestimmte Farbe. Diese nehme ich mehr links als rechts wahr. Auf der rechten Halsseite ist sie eher blasser und oft sehe ich dort nur ein leichtes, kaum wahrnehmbares Flackern der Farbe. Aber links am Hals erscheinen bei den meisten Menschen in meinem Leben deutliche Farben, und das ist auch der Grund, warum ich oft nicht in die Augen sehe, sondern nahezu ausschließlich an den Hals. Eine Eigenschaft, die andere seltsam finden, aber für mich ist nun mal nicht der Augenkontakt das essentiell Wichtige an einem anderen Menschen – es ist immer der Kontakt zu seiner Halsfarbe.
Soweit also mein Erinnerungsvermögen zurückreicht, waren es stets Farben, die mir geholfen haben, die Menschen in meinem Leben zu sortieren, was für mich meist mehr Fluch als Segen gewesen war. Lange Zeit wusste ich nichts mit dieser unerwünschten Gabe anzufangen, habe verzweifelt alles versucht, um sie wieder loszuwerden. Es gab sogar eine Zeit in meiner Kindheit, in der ich mir ein „Halsverbot“ auferlegte – ich wollte mich zwingen, keinen Hals mehr an einem anderen Menschen zu taxieren. Ein Versuch, den ich keine zwei Tage durchhielt …
Mittlerweile habe ich in mir ein schier unerschöpfliches Repertoire an Farben angelegt. Es reicht mir nicht, einen Menschen der Kategorie grün, blau, rot oder gelb zuzuordnen. Im Grunde habe ich noch keinem Menschen eine dieser eindeutigen Farben zugeordnet, sondern eher extravagante Namen von Unterfarbtönen dafür verwendet. Lapislazuli-Blau – das ist eine Mischung aus Azur- und Hellblau, die man nur schwer beschreiben kann. Aber es gibt einen Menschen in meinem Leben, der ist lapislazuli-blau. Mosaikrot – das ist jemand, der hellgelb bis dunkelkarminrot, in gewisser Weise auch weiß oder etwas beige ist. Jemand, der sehr schwer zu fassen ist, den ich schwer einordnen kann.
Die Sache mit den Halsfarben erschwert meinen Alltag immens. Ich will keinem Menschen in meinem Leben dieselbe Farbe geben, die ich schon einem anderen zugeordnet habe. Immer sind es kleine Nuancen, die sich unterscheiden. Also suche ich ständig nach neuen Namen, wenn mir wieder ein anderer Farbton aufgefallen ist – ein anstrengendes und aufreibendes Unterfangen. Inzwischen sind all die Menschen um mich herum in Hunderte, vielleicht Tausende von Farben eingeteilt. Als Kind versuchte ich oft, den Halsfarben durch etwas Ablenkung wie beispielsweise dem Betrachten des Himmels zu entkommen. Doch die vielen fluoreszierenden Nuancen des Himmels ließen mich nicht ruhiger werden. Im Gegenteil – jeder Schlag meines Herzens tanzte als veilchenblaue Explosion vor meinen Augen.
Selbst völlig farblose Objekte können mich wie Diamanten oder Kristalle anstrahlen. Manchmal erscheinen mir auch Farben, wenn ich schlafe. Wenn es regnet, werde ich von Farbformationen umgeben, die im Takt des Prasselns pulsieren.
Keiner kann ahnen, wie viel Energie und Zeit mir diese Sinneseindrücke oft rauben. Ich denke wirklich, ich werde über diese Sache noch irgendwann verrückt ...
Abrupt unterbrach ich meine Gedanken und beschloss, den Tag früher als geplant zu beginnen, und schälte mich aus meinem Bett. Als ich unter der eiskalten Dusche stand und mir davon erhoffte, dass mich das in die Realität zurückbringen würde, bemerkte ich, wie erschöpft ich war. Nach den vergangenen stressigen Wochen verspürte ich mehr denn je das Bedürfnis, zur Ruhe zu kommen. Ich wollte meinen ureigenen Rhythmus wiederfinden und entschleunigen – das war es, wonach ich mich sehnte.
Wie sehr ich jedoch gerade an diesem Tag von der Erfüllung dieses Wunsches entfernt war, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen. Ich setzte mich mit einer Tasse Kaffee und nur in mein Handtuch gehüllt auf meine kleine Terrasse, wo ich mit viel Liebe eine kleine Oase habe entstehen lassen. Hierhin zog ich mich zurück, holte Atem, wenn ich nach den vielen Eindrücken und Erlebnissen des Tages einen Ort der Erholung und des Rückzugs brauchte. Von dieser kleinen Holzterrasse hatte ich einen einzigartigen Ausblick auf die Hinterhöfe in einem Teil der Altstadt von Siena. Ineinander verschachtelte und auf skurrile Weise verflochtene Balkone stützten sich auf verwitterte Mauervorsprünge, aus denen unzählige bunte Fernsehantennen und Satellitenschüsseln in den Himmel ragten. Kleine Dachterrassen aus Holz und scheinbar achtlos errichtete Altane bildeten unzählige schattige Innenhöfe, in deren wenigen Sonnenwinkel man Vogelpärchen nisten sah. Einige verwitterte Säulen schienen den Himmel regelrecht abzustützen.
Eine sich in der heißen Mittagssonne räkelnde Katze, die sich in eine der zahlreichen Nischen zwischen den Mauervorsprüngen verzogen hatte, verkörperte die vollkommene Beschaulichkeit. Es gab nur wenige Katzen in dieser Stadt. Verglichen mit der Ewigen Stadt Rom, in der es ganze Scharen von ihnen gab, fand man hier in Siena nur ab und an eine, die sich scheinbar zufällig in eine der Gassen verirrt hatte. Ob es daran lag, dass es im gesamten Stadtzentrum von Siena angeblich nur einen einzigen Baum gab?
In jedem Fall hatte ich das Glück, eine Katze in der Nachbarschaft zu haben, die sich gerne in unmittelbarer Nähe meiner Terrasse aufhielt und mit Leichtigkeit zu mir heraufkletterte. Noch dazu war es ein ganz besonders schönes Tier – eine sehr seltene und edle Samtpfote, wie ich in einem Gespräch mit meinem Nachbarn erfuhr, eine Savannah. Sie war sehr groß für eine Katze und hatte lange Beine. Das Fell war mit zarten schwarzen Tupfen übersät und hatte eine beige, golden schimmernde Grundfarbe. Die dunklen Tränenlinien unterstrichen anmutig ihre sanften Augen. Sie liebte es, sich im Schatten meiner kleinen Oliven- und Zitronenbäumchen auszuruhen – nur zu nahe kommen durfte ich ihr nicht, dann fauchte sie mich an und verzog sich rasch wieder. Eine Eigenschaft, die mir selbst sehr vertraut ist, daher ließ ich die Katze meist unbeachtet bei mir ausruhen.
In einer dieser Gassen hatte ich vor knapp zwei Jahren eine Unterkunft gefunden. Nachdem ich die Jahre zuvor in lauten und unruhigen Wohngemeinschaften untergekommen war, in denen ich durchaus Ablenkung fand, aber nie die so sehr ersehnte Ruhe, hatte mir der Zufall irgendwann diese Wohnung zugespielt. Ich hatte sie zu einem kleinen Juwel werden lassen, das selten jemand betreten durfte.
Ich war lange in Gedanken versunken, ohne wirklich gedacht zu haben. Eine Ambivalenz, die mich seit jeher verwunderte. Ich konnte stundenlang denken, ohne hinterher zu wissen, was mich eigentlich gedanklich beschäftigt hatte.
Während ich die Reste meines inzwischen kalten Kaffees trank und über meine flüchtigen Gedanken grübelte, sah ich auf einer Loggia gegenüber im piano due der Piazza eine ältere Dame – die mir inzwischen sehr vertraut war – sah ich sie doch fast jeden Tag in eben jener Haltung an derselben Stelle stehen. Ihre Haare waren komplett weiß und sorgfältig zu einem Zopf gebunden. Ihre Hände umfassten fest das eiserne Gitter der Loggia und sie bemühte sich redlich um eine stolze und erhabene Haltung. Dabei beugte sie sich vorneüber, geradeso als wollte sie den Geruch der Piazza, dem Herzstück, das sie zu ihrem kleinen Universum ernannt hatte, für immer in sich aufnehmen. Sie hob die Hand zum Gruß und neigte ihren Kopf kaum merklich in meine Richtung. Ein leises Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Unser kleines Morgenritual, das mir das Herz stets mit Wärme füllte. Nie hatten wir jemals auch nur ein Wort gewechselt, ich wusste gar nichts über sie, und doch fühlte ich mich seltsamerweise eng mit ihr verbunden. Ich spürte, dass sie ähnlich empfand.
Was ich an diesem Morgen noch nicht wusste, war, dass dies für lange Zeit mein letzter Morgen in dieser ausschweifenden, pulsierenden und nach Leben gierenden Stadt sein sollte. Siena war nie richtig zur Heimat geworden, obwohl ich mir nach meiner Flucht vor langer Zeit nichts sehnlicher als das gewünscht hatte.
Wie sehr hatte ich mir all die Jahre eingeredet, sie sei inzwischen mein Zuhause geworden. Sicher, ich kannte Siena mittlerweile gut genug, um in der Nacht meinen Weg nach Hause zu finden. Ich schaffte es spielend, im Dunkeln den Lichtschalter in meiner kleinen Wohnung zu ertasten, in der die hohen Wände mit glitzerndem Papier beklebt waren und das Geschirr bunt und wahllos zusammengewürfelt schien, aber eben doch mit sehr viel Sorgfalt ausgesucht worden war.
Wie fremd mir diese morbide Stadt im Grunde immer geblieben war, konnte ich erst ermessen, als ich sie an diesem Tag Hals über Kopf wieder verließ. Diese stolze, prächtige Stadt war die flüchtig bekannte Studentin, die man beim Hineinstürmen in den Hörsaal abwesend grüßte. Sie war die einsame Greisin, die in gebückter Haltung zur immer gleichen Tageszeit mit ihrem Hund spazieren ging, eine Zeitung in der einen Hand und einen Stock in der anderen, dabei seltsam murmelnde Gespräche mit ihm führend, die ich nie einer Sprache zuordnen konnte. Und sie war die unfreundliche Angestellte im Supermarkt die calle runter, die einem mürrisch den Käse in eine Papiertüte knallte. Flüchtig bekannt und nicht vertraut.
Siena ist eine komplizierte Stadt. Die unzähligen Touristen, die jahrein, jahraus die Stadt belagern, tragen ihren Teil dazu bei.
Auf fast unheimliche Weise ist Siena derart zurückgeblieben, dass man meinen könnte, dem Pompeji des Mittelalters gegenüberzustehen. Es mag sein, dass es viele andere Städte gibt, in denen die Menschen, die dort leben, von einem vergleichbar berauschenden Duft von Morbidität umgeben sind. Aber es wird kaum eine andere Stadt geben, die sich ihr historisches Aussehen fast vollständig bewahrt hat. Umgeben von uralten bröckelnden Mauern, die auf unzähligen aneinandergedrängten Hügeln errichtet wurden, zeigt Siena noch immer das vielschichtige und bunte Bild eines Ortes, in dem das Leben einst erhaben und schillernd gewesen sein muss. Heute ahnt man allenfalls noch einen Hauch ihres erloschenen Glanzes. In manch verwunschenem und verborgenem Winkel der Stadt ist der Atem dieser prächtigen Zeit bis heute noch so allgegenwärtig, dass einem schwindlig wird. In all den Jahren habe ich ihn eingeatmet und in den ganz besonders dunklen Stunden tief in mir konserviert. So gelang es mir, mich irgendwie am Leben zu halten.
Ich dachte bis zu diesem Zeitpunkt, es würde mir nicht schwerfallen, hier für immer zu bleiben, und ich redete mir ein, dies sei nun mein Zuhause. Bis an diesem Tag die Zeit stillstand. Alles, was die letzten Monate – inzwischen Jahre – in sichere Entfernung gerückt war, kam an diesem Tag mit einem Mal und mit unglaublicher Wucht zu mir zurück. Durch deinen Telefonanruf – maximiert, multipliziert mit Sehnsucht, Fluchtgedanken und dem gescheiterten Versuch, zu vergessen.
Drei Wörter nur waren es, die mich umgehend aus meiner Bahn rissen: „Ich brauche dich.“
Keine Fluggesellschaft dieser Stadt, die noch immer nicht zu meiner Stadt geworden war, bot an jenem Tag eine direkte Verbindung nach München an, sodass mir nichts übrigblieb, als über Florenz zu reisen. Seit Jahren fror der regionale Flugverkehr mehr und mehr ein, und obwohl stets die Rede vom Flughafenausbau ist, geschieht von Jahr zu Jahr das Gegenteil – es gibt immer weniger Verbindungen. Ich buchte also den nächstbesten Flug von Florenz, den die Dame des Reisebüros mir am Telefon anbot, ohne nach dem Preis zu fragen. Ich würde nur mit Handgepäck reisen, alles andere war unnötiger Ballast. Meine Handtasche, mein Notebook und ein kleiner Rollkoffer, der das Nötigste für ein paar Tage enthielt. Länger, so hatte ich mir ausgerechnet, würde meine Reise sowieso nicht dauern.
Nachdem ich das Fenster des Browsers geschlossen, mein Notebook zugeklappt und hastig in der Wohnung die nötigsten Vorkehrungen für eine längere Abwesenheit getroffen hatte, trat ich vor die Tür und hatte prompt meine Jacke vergessen. Ich bat den Taxifahrer, der mich zum Bahnhof bringen sollte, einen Moment zu warten, und hastete nochmal zurück in die Wohnung. Es war ein glühend heißer Sommertag hier in Siena. Dies musste aber nicht bedeuten, dass mich auch nur annähernd das gleiche Wetter in München erwartete – also wenigstens eine Jacke mitnehmen, dachte ich mir.
Ich hatte mir unzählige Male das Rauchen abgewöhnt – zuletzt vor einem halben Jahr. Doch am Flughafen hatte ich keinen sehnlicheren Wunsch, als eine Zigarette zu rauchen. Ein sinnloser Wunsch, denn in Italien wird das Rauchverbot inzwischen noch vehementer durchgesetzt als in anderen europäischen Ländern. In Zügen und auf Bahnhöfen herrscht absolutes Rauchverbot. Selbst in den Raucherabteilen grenzüberfahrender Züge muss inzwischen das Rauchen eingestellt werden, sobald die Reisenden sich auf italienischem Boden befinden und italienische Bahnhöfe anfahren.
Mich beschlich der Gedanke, dass ich nicht fliegen sollte. Mich hielt hier zu viel – meine Reise würde ein ziemliches Chaos hinterlassen. Verpasste Deadlines, versäumte Nachtdienste, wütende und aufgebrachte Kollegen. Termine, an denen Menschen auf mich warteten, während ich nicht kommen und nicht einmal die Zeit oder die Energie finden würde, ihnen abzusagen. Dieser völlig unerwartete Anruf, den ich niemals hätte entgegennehmen sollen, hatte mich aus der Bahn geworfen. Die Münchner Vorwahl hatte ich erkannt, während ich abhob. Die eigentliche Nummer schien mir unbekannt, sodass ich plötzlich und ohne Vorahnung deine Stimme an meinem Ohr hatte.
*
Rückblickend betrachtet bin ich unschlüssig, ob mein Weggehen vor sieben Jahren eine gute Idee gewesen war. Ich war mir damals weder beim überstürzten Auflösen der Münchner Wohnung, noch beim chaotischen Packen meiner vielen Koffer und Kisten, sicher. Nichts, rein gar nichts sollte dort von mir zurückbleiben. Ich war mir auch nicht sicher auf der Taxifahrt zum Flughafen – ich hatte niemanden von meinem Entschluss erzählt – alles, ausnahmslos alles hinter mir zu lassen.
Ich saß mutterseelenallein im überfüllten Wartebereich und war mir nicht sicher. Als das Flugzeug schließlich abhob und in dieser glühend heißen Stadt wieder landete, war ich mir alles andere als sicher. Ich wusste nur, dass ich keine Wahl hatte. Ich musste dich rigoros zurücklassen. Ich kam mit nicht viel mehr als einem randvollen Koffer, der nicht annähernd so schwer war wie mein Herz, in Siena an. All mein Hab und Gut hatte ich verschenkt. Würde man mich fragen, warum ich dich verlassen habe, könnte ich es auch nach Jahren nicht in Worte fassen. Ich habe dich über Wasser gehalten, so lange Zeit. Doch du wolltest lieber untergehen. Immer wieder habe ich versucht, unsere Beziehung zu retten. Doch du wolltest zerbrechen. „Für immer“ war nicht lang genug. Ich verlor ständig den Boden unter den Füßen und irgendwann war nichts mehr da, worauf ich noch hätte aufbauen können.
Heute setze ich hinter alles drei Punkte statt eines finalen Punkts, weil ich hoffe, dass es kein wirkliches Ende gibt …
Du warst meine perfekte Illusion, mein fehlendes Puzzlestück. Alles, was uns als Ganzes ausgemacht hatte, zerbrach. Es zerbarst wie in Zeitlupe und schien in winzigen farbigen Glassplittern zu Boden zu regnen. Ich habe es geschafft, wieder aufzustehen, doch du konntest mir nicht mehr folgen.
Habe ich aufgehört zu sprechen oder du? Wieso war es so still geworden? Grün, gelb, orange – gerade davor hatte ich doch Angst! Beklemmender Stillstand. Kein Vor, kein Zurück. Klebrige, zähe Starre, die uns lähmte und uns schwer atmen ließ, bis ich von einer Sekunde auf die andere wusste: Ich muss gehen. Um weiterzuleben. Mein Leben, mit all seinen Farben, mit all meinen Gefühlen und Gedanken. Zu spüren, dass ich noch lebe. Trotz allem und jetzt erst recht.
Durch die vergangenen sieben Jahre hindurch habe ich mich ständig wie in Trance bewegt und mich selbst dabei hilflos von außen beobachtet. Denn mit mir selbst war ich immer streng, bewertete, wie ich agierte, und versuchte zu leben.
Ich stand dauernd neben mir, jeden verfluchten Tag. Sah mir selbst zu – beim Anziehen, beim Frühstücken, beim Trinken, beim Küssen, beim Schlafen, beim Vermissen, beim Liebemachen und auch dann, wenn ich mich in dieser fremden Stadt, in ihren verwinkelten und verwunschenen Gassen verlor. So sehr ich mich auch bemühte, es gelang mir nie, mich mit dieser mir fremd gewordenen Person wieder in Einklang zu bringen. Die vielen Bilder übereinanderzulegen, sodass sie endlich wieder zusammenpassten. Nichts ersehnte ich schließlich mehr, als wieder eins mit mir selbst zu werden. Es war, als hätte sich diese Fremde in mir von allem gelöst, was mich jemals ausgemacht hatte. Und das war – mit Verlaub – ein wirklich scheußliches Gefühl.
„Man weint beim Abschied und man weint, wenn man vermisst, das gehört sich so“, hatte meine Großmutter mir einmal gesagt, als ich noch ziemlich klein gewesen sein musste. Ich habe mir diesen Satz gemerkt, und ich habe pflichtbewusst oft geweint, aber immer nur heimlich und immer nur hinter verschlossener Tür. Oft habe ich nach einem langen Tag an der Uni die Haustür hinter mir geschlossen und in dem Moment begonnen zu weinen, wenn ich das Schloss hinter mir krachen hörte. Man steht urplötzlich ganz allein in seinem kleinen Zimmer und sieht sich zwischen den Dingen um, die sich sporadisch Mühe geben, wenigstens ein bisschen nach Leben auszusehen. Da sind zahllose Bücher, dort finden sich lose Teebeutel in einer kleinen Holzkiste, auf dem Regal über dem Bett liegen in einem bunten Durcheinander Haarspangen, Parfüm und Cremedosen und Nagellack in allen Rotschattierungen. Wie zufällig sah das aus, und doch war jeder Gegenstand sorgfältig ausgewählt und arrangiert worden. Es sollte nach einem Zuhause aussehen. Und an Momente erinnern, in denen man auf dem Sprung ist, um Freunde wiederzusehen, aber keine Zeit mehr hat, den Dingen ihre Ordnung wiederzugeben.
Aber es war wie eine schlechte Maskerade: Die Gegenstände im Zimmer bemühten sich zwar sehr, den Eindruck von buntem Leben, von Normalität und Zuhause zu erwecken, doch ganz gelingen wollte es ihnen nie. Und genau an diesem Scheitern – da setzt die Sehnsucht an. Dann kommen die Tränen, fast aus dem Nichts heraus überkommt einen das Gefühl, sie nicht mehr zurückhalten zu können, keine einzige Millisekunde. Tausendmal durchlebt.
Wenn man selbst klein ist und die neue Stadt, in der man alleine noch mal ganz von vorne beginnt, groß ist, dann holt einen das Vermissen spätestens ein, wenn man die Tür fest hinter sich geschlossen hat. Man lässt gegen das Vermissen laute Musik aus den Lautsprechern tönen, um die ohrenbetäubende Stille nicht ertragen zu müssen. Man liegt einsam im Bett und versucht, sich wenigstens bruchstückhaft daran zu erinnern, wie es sich viele Kilometer entfernt angefühlt hatte, wirklich nach Hause zu kommen. Aber den Kopf freizubekommen, das will um nichts in der Welt mehr gelingen. Sauber gezogene Schlussstriche sind eine Illusion, die Gedanken wandern doch unaufgefordert zurück und im Kreis wie in einem Hamsterrad. Sie gehen auf Reisen, ohne dass man sie davon abhalten könnte. Sie ziehen ihre Kreise kilometerweit und kehren immer wieder an den Punkt zurück, an dem man eigentlich nicht weinen wollte und es dennoch tut.
Mit der Zeit habe ich gemerkt, dass es mir immer schwerer fiel, überhaupt zu weinen. Ich war überzeugt, es wäre alles viel leichter, wenn ich nur endlich wieder ordentlich heulen könnte. Ich spürte in mir den beständigen Drang, doch ich wusste nicht mehr, wie es wirklich ging. Das Weinen hatte ich einfach irgendwann verlernt.
Bis zu deinem Anruf heute Morgen habe ich exakt so gelebt, jahrein, jahraus.
Schon wieder in ein Flugzeug steigen, schon wieder alles zurücklassen und nicht wissen, was mich erwarten wird – es schien mir plötzlich ganz und gar unmöglich. Diesmal war es anders als vor sieben Jahren. Nun hatte ich keine Angst davor, zu gehen. Niemand, der bei meiner Ankunft auf mich wartete. Ich würde ein Busticket lösen oder einen Mietwagen nehmen und auf der Fahrt die Minuten zählen, die mir blieben, um mich zu entscheiden. Im Wissen darum, dass diese Zeit im Grunde längst verstrichen war.
Ich wünschte, ich hätte das Telefon nicht gehört.
Schlagartig blieben keine tausend Kilometer Sicherheit mehr zwischen uns. Ich wäre niemals nach München zurückgekommen, wenn nicht dein Satz „Ich brauche dich“ gewesen wäre. Und der Satz, den du wie beiläufig hinzufügtest: „Ich habe Brustkrebs – ich werde noch heute operiert.“
Doch ob ich will oder nicht – ich komme nach Hause. Ich komme endlich wieder zu dir.
Ich habe rückblickend keinerlei Erinnerung daran, wie ich vor sieben Jahren auf meiner Flucht nach Siena in das Flugzeug stieg. Ich muss dem Aufruf wie in Trance gefolgt sein. Seit jeher leide ich unter massiver Flugangst – so massiv, dass ich eigentlich nur mit Beruhigungsmitteln in ein Flugzeug steigen kann. Heute war dazu keine Zeit gewesen – weder um mir Gedanken über meine Ängste zu machen, noch um mich rechtzeitig pharmazeutisch zu präparieren. Ich merkte, dass die altbekannte Angst in mir hochstieg, als wir starteten und ich keinen Boden mehr unter den Füssen hatte.
Angst ist der Begriff, mit dem ich seit jener Nacht vor so vielen Jahren mein Leben beschreiben muss. Es besteht aus Angst. Keiner spezifischen Angst. Angst vielmehr in jeder nur erdenklichen nicht beherrschbaren Situation.
Angst ist ein Gefühl, das nur jemand beschreiben kann, der von ihr besetzt ist. Sie kriecht aus den verborgenen Winkeln deiner Seele, fährt dir aus dem Nichts und völlig ohne Vorbereitung in die Knochen und lässt dir die Knie weich werden, umklammert dein Herz mit eisigem Griff und besetzt deinen sonst klaren Verstand. Alle rationalen Argumente helfen nicht, wenn die Angst dich einmal gepackt hat.
Das Verrückte an der Angst ist, dass selbst das Schlimmste, die größte Bedrohung und Gefahr, die wir uns vorstellen können, in dem Moment, in dem sie tatsächlich eintritt, eine völlig andere Qualität hat als in unserer Phantasie. Denn in dem Moment, in dem „es“ geschieht, können wir darauf reagieren. Wir können schreien, weinen, toben, wehklagen – und uns schließlich daranmachen, die Scherben aufzusammeln. Aber die Angst vor der Angst ist das eigentlich Perfide.
So zumindest dachte ich lange Zeit. Bis ich erfuhr, dass Angst so lähmend sein kann, dass nichts, aber auch gar nichts mehr möglich ist. Viele Stunden lang. Viele Tage, viele Wochen, viele Jahre. Die Angst war seit etlichen Jahren meine enge und unumstößliche Begleiterin, allerdings war ich inzwischen Meisterin darin geworden, sie mir nicht anmerken zu lassen. Aber in mir – in meinem tiefsten Inneren steckte sie wie ein Bleiklumpen, unlösbar mit mir verschmolzen und verbunden.
Wie es wohl inzwischen um deine Angst stand? Ich hatte keine Ahnung, wer mich erwarten würde – welche Frau nach all den Jahren aus dir geworden war. Ich wusste nichts mehr, nur dass mein Platz jetzt, in dieser Situation an deiner Seite war. Zurückgelassen hatte ich damals jedenfalls ein einziges Konglomerat aus Angst.
Manchmal ließ ich den unerträglichen Gedanken zu, dass du wieder jemanden an deiner Seite haben könntest. Ich fragte mich, ob deine merkwürdige Gewohnheit, beim Nebeneinandergehen immer und unbedingt im Gleichschritt laufen zu müssen, sie dann störte? Tut man es nämlich nicht, hopst du immer so lange, bis sich der Gleichschritt eingestellt hat.
Ich fragte mich in solchen Augenblicken oft Dinge, die ich besser nicht in meine Gedankenwelt hätte eindringen lassen sollen. Ob sich der warme Sommerregen in deinen Augen für sie auch so warm anfühlt wie für mich damals. Ob ihre Hand auch so perfekt in deine passt, wie meine. Ob du ihre Hände auch so eingehend betrachtest, als müsstest du sie dir für immer einprägen.
In der Tat – manchmal lasse ich den unerhörten Gedanken in mir aufkommen, ob du es wohl je wieder zugelassen hast, dein Bett mit einer wärmenden Frau zu teilen. Ob sie dir auch beim Einschlafen zusieht und am nächsten Morgen neben deinem wunderschönen, schutzlosen Gesicht aufwacht und wie ich im siebten Himmel ist? Ich frage mich, ob sie dich auch ab und zu im Schlaf ganz leicht auf die Stirn küsst und ob du dich bei ihr auch reflexartig wegdrehst oder den Arm über das Gesicht legst. Es erschien mir früher immer so, als nahmst du selbst im Schlaf wahr, wie schutzlos und verwundbar du bist.
*
Ich weiß nicht, wie ich ausgerechnet in dieser Situation, in der Enge des Flugzeugs auf die Idee kam, den einzigen Brief, den du mir in den letzten sieben Jahren geschickt hattest, zu lesen. Ich trug ihn immer bei mir. Selbst in Situationen, in denen es nahezu unmöglich war, wie beispielsweise während einer Operation, hatte ich das kleine, inzwischen völlig zerschlissene Blatt Papier unauffällig unter meiner Kleidung bei mir. Ich behandelte es stets mit der größten Sorgfalt, und doch war der Verfall nicht aufzuhalten, so oft habe ich es aufgeblättert, in mir aufgesogen, zerlesen. Ich habe sogar mit dem Gedanken gespielt, es laminieren zu lassen, um es für immer zu erhalten, doch es erschien mir unerträglich, dann nicht mehr daran riechen zu können. So bildete ich mir nach all den Jahren noch ein, ich könnte dich riechen, wenn ich nur nahe genug mit der Nase an das Geschriebene ging.
Auch hier im Flugzeug, umgeben von Motorengeräuschen und den Ausdünstungen meiner Nachbarn, meinte meine Nase einen klitzekleinen Hauch deines Duftes wahrzunehmen.
Würde man mich fragen, wie du duftest – es wäre schwer, ihn jemandem nahezubringen, der ihn nie selbst wahrgenommen hat. In jedem Fall ist er überaus betörend, das habe ich bereits an unserem ersten Abend wahrgenommen. Nie mehr in meinem Leben habe ich einen derart eigenwilligen Duft an einer anderen Frau wahrgenommen, obwohl ich es bei unzähligen versucht habe, auch nur annähernd Ähnliches zu erhaschen. Vergebens.
Die Kopfnoten deines betörenden Duftes sind Hesperide und vermischen Zitronen mit würzigeren Noten, die an Kardamom erinnern. Kardamom ist in der Tat das am ehesten treffende Duftmerkmal, wollte man dich beschreiben. Drumherum erspürt man grünen Tee oder Hedione. Das Ambivalente an deinem Geruch ist, dass er zugleich holzig und unendlich zärtlich ist und weiße Hölzer mit Moschus verbindet. Dein Duft ist so ruhig und zurückgezogen wie die Stille nach einem Sturm, in einem Farbspektrum wäre er von Wasserblau bis leuchtend Rosé in transparenten Aquarellfarben gemalt.
Nun war es passiert – ich meinte, in der gesamten Flugkabine deinen Duft wahrzunehmen, drehte mich sogar ein paarmal um, um sicherzugehen, dass du nicht völlig real hinter mir saßest. Mit zittrigen Fingern blätterte ich das zerschlissene Blatt Papier auf und las.
„Cielita – es ist natürlich nicht so, dass ich Dich vermisse, es ist da nur dieser Stich in meiner Brust.
Es ist natürlich nicht so, dass ich Dich vermisse, nur sind meine Beine plötzlich so schwer wie Blei.
Es ist natürlich nicht so, dass ich Dich vermisse, ich kann nur seit Deiner Flucht nicht mehr klar denken.
Denn die Welt dreht sich einfach weiter und mein Leben gleich mit.
Nicht jedes Lachen ist falsch, denn natürlich kann ich noch lachen. Es ist ja auch nicht so, dass ich Dich vermisse, es sind nur die Gedanken, die immer wieder bei Dir landen, ganz egal an was ich eigentlich denken wollte. Ganz egal was ich zu tun habe, ein Gedanke findet immer den Weg zu Dir. Und selbst wenn ich nachts aufwache und Du nicht neben mir liegst, nein dann vermisse ich Dich nicht, dann habe ich nur kurz vergessen, dass Du nie wirklich bei mir warst, dann ist da nur kurz dieser Stich. Denn es ist ja nicht so, dass ich Dich vermisse, die Tage kommen und sie gehen, daran hat sich nichts geändert.
Mein Leben geht weiter, auch ohne dich. Es ist ja nicht so, dass ich Dich vermisse, nur versperren meine Tränen mir manchmal die Sicht.
Ach, Cielita, mein Herz.“
Ich merkte, wie die Tränen in mir hochstiegen. Heiß und brennend quälten sie sich unter meinen Augenlidern hervor – nicht hier, nicht hier, nicht hier!
Ich drehte mich ruckartig zum Fenster und registrierte, wie hoch das Flugzeug mittlerweile gestiegen war. Ich war dankbar, dass das flaue Gefühl in meinen Magen zurückkehrte und mich von meinem Kummer ablenkte.
Die Flugbegleiterin bot mir Getränke an. Ohne nachzudenken, bestellte ich Wein, und als sie mir mit ihrem strahlenden Lächeln den Plastikbecher reichte, bat ich bereits um einen weiteren. Mitleidig sah sie mich an. Eine mit Flugangst, wird sie gedacht haben. Doch ich wich ihrem Blick aus und nahm den zweiten Becher so hastig entgegen, dass einige Tropfen über den Rand spritzten und sich auf meiner Jeans verewigten. Langsam machte sich das Gefühl von Schwerelosigkeit in mir breit, und ich wagte einen kurzen Blick aus dem Fenster. Die Welt lag unter mir, und vor mir nichts außer weiße Weite. Wie Büttenpapier sah die Wolkendecke aus – bereit, mit den gefährlichsten und mutigsten Gedanken beschrieben zu werden. Mit jeder Flugmeile wurde mein Puls weniger flatternd, meine Gedanken reduzierten nach und nach ihre Drehzahl. Für ein paar Minuten – oder waren es nur Sekunden? – gelang es mir, die Gedanken an dich auszulöschen. Ich versuchte, mir alltägliche Dinge ins Gedächtnis zu rufen. So überlegte ich beispielsweise, wen ich über meine vorübergehende Abwesenheit informieren sollte, und machte mir einige Notizen in mein Smartphone.
Kurz kam mir der Gedanke, ob ich Marina Bescheid geben sollte, doch ich verwarf ihn sofort wieder. Erst vor zwei Tagen hatte ich mir geschworen, den endgültigen Schlussstrich unter unsere seit drei Jahren bestehende, unerträgliche Beziehung zu ziehen. Marinas letzter, abwesender, kalter Kuss lag mir noch lange auf den Lippen, nachdem sie gegangen war. Gleichgültig, wie immer, hatte sie mich kurz angeschaut, wahrscheinlich waren ihre Sinne wieder durch zu viel Prosecco vernebelt. Dann hatte sie sich ruckartig umgedreht und verschwand. Die Tür fiel hart ins Schloss, und ich hörte ihre Schritte im Treppenhaus. Sie waren sicher, fest und bestimmt. Principessalike, wie sie sagen würde. Ich blieb wie immer zerrissen zurück, während sie sich in ihre kaputte Welt bei Mann und Kindern flüchtete.