Die Macht, die uns steuert
F.A.Z.-eBook 24
Frankfurter Allgemeine Archiv
Projektleitung: Franz-Josef Gasterich
Produktionssteuerung: Christine Pfeiffer-Piechotta
Redaktion und Gestaltung: Birgitta Fella
eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg
Titelbild: © trauner/photocase.com
Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb: Content@faz.de
© 2013 F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main.
ISBN: 978-3-89843-258-0
Von Birgitta Fella
Furcht, Zorn, Ekel, Scham und Freude steuern uns durch die Welt realer und psychischer Bedrohungen. Das Erkennen einer Gefahr zum Beispiel bewirkt Herzklopfen, Muskelanspannung und feuchte Hände. Dadurch spüren wir, dass wir uns fürchten, und sind auf die richtige Reaktion vorbereitet: Abwehr. Der Anblick einer gut gedeckten Tafel wiederum lässt uns Wohligkeit und Glück empfinden.
Lange Zeit war die Gefühlswelt vor allem das Terrain von Philosophen und Dichtern, die uns Emotionen als Widerfahrnisse oder eine Art von Handlungen erklärten. Heute beschäftigt unser Seelenleben Neurobiologen und Psychologen. Nachdem die Hirnforschung in ihren Labors und mit modernster Technik den Verstand durchleuchtet hat, ist sie zu dem Schluss gekommen, dass Geist und Körper, Verstand und Gefühl, miteinander agieren. Emotionen sind nicht die Gegner der Vernunft, sondern ihr wichtigster Bestandteil.
Von Ulrich Mees
Die Autoren verwendeten sechs »Stimmungswortlisten«. Diese bestehen aus 146 Begriffen für Ärger (anger), 92 Ausdrücken für Angst (fear), 30 für Ekel (disgust), 224 für Freude (joy), 115 für Traurigkeit/Trauer (sadness) und 41 für Überraschung (surprise). Allerdings sind diese Ausdrücke häufig nur lexikalische Variationen desselben Wortes (z.B. depression, depressive, depressing). Es wurden alle Buchsorten durchkämmt, also neben fiktionalen Werken auch Sachbücher wie Reparaturanleitungen oder Kochbücher. Für jeden Begriff aus den sechs Stimmungswortlisten wurde seine Auftrittshäufigkeit pro Jahr zwischen den Jahren 1900 und 2000 (jeweils einschließlich) ermittelt. Da die Anzahl der gescannten Bücher in diesen Jahren schwankte, wurde der jährliche Umfang an Wörtern standardisiert.
Über das Jahrhundert hinweg lassen sich emotionale Gipfel und Täler finden, wobei das Muster offensichtlich bestimmte große historische und soziale Trends spiegelt: So gibt es drei »Glücksgipfel«, nämlich die zwanziger Jahre (»Roaring Twenties«) sowie in abgeschwächter Form die sechziger Jahre (Baby-Boom) und die Jahre gegen Ende des Jahrhunderts; dagegen bilden die vierziger und in milderer Form die achtziger Jahre ein »Traurigkeitstal«, da die Mittelung von »Trauer/Traurigkeit« die von »Freude« überwog (es wurde die Differenz zwischen »Freudewörtern« und »Traurigkeitswörtern« aus den Stimmungswortlisten als Maß verwendet). Allerdings fehlt ein entsprechendes Traurigkeitstal gegen Ende des Ersten Weltkrieges.
Aber was besagen die Ergebnisse? Verwenden wir wirklich mehr emotionsbezogene Wörter als die Menschen vor hundert Jahren? Das überraschende Ergebnis der Analyse lautet: Nein, im Gegenteil. Der Gebrauch von Emotionswörtern ist im zwanzigsten Jahrhundert stetig zurückgegangen. Es gibt nur eine Abweichung: Angstbezogene Wörter nahmen in ihrer Häufigkeit bis in die sechziger Jahre ab und seit den siebziger Jahren wieder zu. Sie erreichten gegen Ende des Jahrhunderts ungefähr wieder ihr Niveau der Jahrhundertmitte. Übrigens wurde diese Analyse anhand eines Datensatzes wiederholt, der nur fiktionale englische Bücher enthielt. Auch dort fanden die Autoren der Studie eine ähnliche Abnahme im Gesamtgebrauch stimmungsbezogener Wörter.
Sind wir wirklich weniger emotional in unserer veröffentlichten Sprache? Wir leben doch in einer Welt des Fernsehens – das Internet und die neuen sozialen Medien hatten im zwanzigsten Jahrhundert noch nicht die heutige Bedeutung –, und Gefühle scheinen allgegenwärtig. Aber nach diesen Forschungsergebnissen irren wir uns. Sind wir also entgegen unserer eigenen Einschätzung doch eher coole Asketen, die nur selten ihre Gefühle mitteilen, sie beschreiben oder über sie schreiben? Feiert die Theorie des Soziologen Norbert Elias hier ihre empirische Bestätigung, wonach die Menschen sich im Prozess der Zivilisation aufgrund zunehmender wechselseitiger Abhängigkeiten gezwungen sehen, ihre Affekte immer mehr zu disziplinieren und zu kontrollieren? Allerdings bezieht sich die dort postulierte Zunahme an Affektkontrolle primär auf negative Emotionen wie Scham und Peinlichkeit, nicht auf positive Emotionen wie Freude.
Aber wie vertrauenswürdig sind die Ergebnisse dieser Studie eigentlich? So kann als Erstes bemängelt werden, dass nur die Häufigkeit von Stimmungswörtern analysiert wurde, nicht aber ihre jeweilige Intensität. Es ist vorstellbar, dass im Laufe des vergangenen Jahrhunderts emotionsrelevante Wörter zwar seltener verwendet wurden, dann aber durch intensivere Wörter ersetzt wurden, dass etwa statt von »like« mehr von »love« die Rede ist. In diesem Fall ließe sich die These der zunehmenden Emotionskontrolle nicht mehr halten.
So zeigt ein Blick auf die sechs Stimmungswortlisten, dass dort auch Begriffe aufgenommen wurden wie Freundlichkeit, Schüchternheit, Aggressivität oder Brüderlichkeit. Dies sind jedoch keine Bezeichnungen für aktuelle Emotionen, sondern für überdauernde Persönlichkeitsmerkmale. Damit sollen latente, stetige Verhaltensbereitschaften beschrieben werden. »Schüchternheit« bezeichnet das häufige Vorkommen einer sozialen Angst als aktueller Emotion, »Aggressivität« ein häufiges Manifestieren ärgeraffiner Aggressionen. Wenn jemand als »schüchtern« beschrieben wird, ist dies also viel gravierender, als wenn er einmal »Angst hat«. Auch hier wäre zu prüfen, ob der schriftliche Gebrauch solcher emotionsaffiner Persönlichkeitsmerkmale zugenommen hat, was dann die Häufigkeitsabnahme reiner Stimmungs- und Emotionswörter kompensieren würde.
Und schließlich ist zu kritisieren, dass Emotionen auch anders schriftlich kommuniziert werden können als durch ausdrückliche Nennung von Stimmungs- und Emotionswörtern, nämlich durch Metaphern und Metonymien. Wenn mir jemand auf die Pelle rückt oder auf den Schlips tritt, gehe ich manchmal in die Luft und explodiere schließlich. Dies sind geläufige sprachliche Bilder zur Beschreibung unserer Wut, ohne dass dieses Wort verwendet wird. Und so ist es auch bei der Metonymie, bei der ein Ausdruck einen anderen ersetzt, wobei häufig eine Teil-Ganzes-Beziehung zwischen den beiden Begriffen besteht (»Stahl« für Dolch, »Washington« für die Vereinigten Staaten). Eine Emotion kann metonymisch durch ihre (vermeintlichen) physiologischen Effekte ersetzt werden; so steht eine Wahrnehmungsstörung wie »rotsehen« als unterstellter Effekt von Wut für diese Emotion. Auch ein aggressiver tierischer Ausdruck (»knurren«, »brüllen« oder »anschnauzen«) kann metonymisch für die Emotion Wut stehen.
Vortrefflich bringt Wilhelm Buch hier die Teil-Ganzes-Beziehung im Konflikt um die gut geschützte und materiell abgesicherte Privatsphäre zum Ausdruck: »Der Privatier ganz zornentbrannt, Haut mit dem Säbel umeinand.« Wilhelm Busch: Die Diebe, Kapitel 2
Wenn man nun liest, dass ein Chef »rotsieht« und einen Untergebenen »anschnauzt«, so ist klar, dass er wütend auf den Untergebenen ist, ohne dass dieses Wort erwähnt wird. Emotionale Metaphern und Metonymien veranschaulichen insbesondere intensive Gefühle (also etwa Wut statt Ärger). Es ist daher unabdingbar, in einer Untersuchung eines möglichen Emotionswandels solche konventionalisierten Ausdruckstypen mit zu erfassen. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Rückgang der Nennung von Stimmungs- und Emotionswörtern in fiktionalen Werken kompensiert wird durch eine parallele Zunahme emotionaler Metaphern und Metonymien. Das Fazit fällt ernüchternd aus: So interessant diese große Studie auch ist, so verbesserungswürdig erscheint sie. Dies aber könnte sich durchaus lohnen. Für uns wären dabei natürlich auch interkulturelle Vergleichsstudien mit anders-, etwa deutschsprachigem Textmaterial von besonderem Interesse.
Der Autor lehrte und forschte bis zu seiner Pensionierung Emotionspsychologie an der Universität Oldenburg.
Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14.8.2013
Von Tina Klopp
Der Wandel ist unübersehbar: Ein Konrad Adenauer, der um ein 16 Jahre altes Mädchen weinte, schiene uns heute unvorstellbar. Tarzan, der beleidigt aufstampfte, nur weil ihm eine Liane gerissen ist? Klingt nicht sehr wahrscheinlich. Und ein Mafiaboss, der zur Therapeutin geht? Den gibt es auch erst seit den »Sopranos«. »Der Pate« war noch aus völlig anderem Draht gestrickt.
Dabei springt der Befund, nur mit dem Mann sei etwas nicht in Ordnung, nur er sei zu gefühlsduselig, zu kurz. Der Imperativ ist breiter, allgemeiner: Dass man Gefühle haben soll und sie vorzeigt, gilt heute als ausgemacht. Wer Gefühle »verdrängt« oder »in sich hineinfrisst«, muss zur Therapie. Die Emotion ist zur Währung geworden, besonders die »authentische«, und das nicht nur im Zirkus der Aufmerksamkeitsökonomie. Wir sprechen ständig davon, dass wir uns einander mehr öffnen müssten, und reden selbst mit Zugbekanntschaften über die Schmerzen in unseren Herzen.
Das war nicht immer so. Gefühle im modernen Sinne sind wie die romantische Liebe eher ein Krümel auf dem Zeitstrahl der Menschheitsgeschichte. Die Gefühle verdanken ihren Aufstieg vor allem der bürgerlichen Selbsterfindung. Mit Hilfe von echten Gefühlen wollten sich die Bürger absetzen von der Maskenhaftigkeit und falschen Höflichkeit des Adels. Der kalten Vernunft der Aufklärung sollte etwas entgegentreten und der Glaube an die Allmacht Gottes durch die Suche nach der mystischen Tiefe im eigenen Selbst ersetzt werden.
Der Begriff »Gefühl«, ursprünglich auf das mechanische Befassen und Begreifen rein äußerlicher Gegenstände bezogen, wurde erst im 19. Jahrhundert zu einem Ausloten von Bewusstseinszuständen – eine Tugend, die eigens trainiert werden sollte, durch Tagebuchschreiben und Brieffreundschaften. Überhaupt, der Innenraum des Kopfes und die Vorstellung, dort könnte sich Interessantes abspielen – beides ist eine relativ junge Erfindung. Erst mit dem Kampf des Bürgers gegen die adelige Ständegesellschaft wurde auch die Empfindsamkeit zum höchsten Ausdruck von Individualität und Authentizität, einer Disziplin, in der es einander bald auch zu übertreffen galt.
Anders gesagt: Liebe und Gefühle waren für die, die sonst nichts besaßen, sich aber auch einmal besser fühlen wollten. Gefühlsarbeit wurde traditionell eher den Frauen übertragen. In der Regel verfügten sie über keinen Besitz – sie bedienten schließlich den Schnellkochtopf und ihre Emotionen.
Die »Seuche der Empfindsamkeit« lässt die Witwe Bolte hier – wenn auch nur kurz – die Chancen auf ein opulentes Mittagsmahl im Sinne von Colonel Harland D. Sanders vergessen: »Fließet aus dem Aug’, ihr Tränen! All mein Hoffen, all mein Sehnen, Meines Lebens schönster Traum – Hängt an diesem Apfelbaum!« Wilhelm Busch: Max und Moritz, Erster Streich
Zu Beginn wurde der Gefühlsaufstieg auch keineswegs kritiklos hingenommen. Im 18. Jahrhundert gab es vehemente Einwände gegen die »alberne Empfindeley« und »die Seuche der Empfindsamkeit«; davon zeugen Lexika aus dieser Zeit. Und Gustave Flaubert bewies immerhin noch Selbstironie genug, seine Madame Bovary erst durch die Lektüre von Romanen dazu anzuregen, ihrerseits ein aufregendes Liebesleben führen zu wollen.
Heute lässt man aus Liebeskummer ganze Semester fahren und betrinkt sich wochenlang mit saurer Miene in Neuköllner Wohnzimmerkneipen – und zwar völlig ironiefrei. Niemand wird abraten, wenn einer loszöge, schon mit 28 eine Paartherapie zu besuchen, um endlich zu lernen, wie man sich von seiner Freundin trennt. Lady Gaga weint, weil sie sich »immer noch als Verliererin fühlt«; die Fans reißen ihr die Platten aus den Händen.
Es ist riskant, noch von Generationen zu reden. Trotzdem: Vor allem meine Alterskohorte, die der um die 35 Jahre Alten, trägt schwer am Erbe der Romantik. Das hat mit der postmaterialistischen Wertepyramide zu tun. Wer sich als Bildungsbürger heute von der Masse abheben will, tut das eben nicht mehr mit Hilfe von Markenklamotten, Klunkern oder dicken Autos. Der Angeber von heute benötigt immaterielle Werte: Kunst, Geschmack, Doktortitel, kreative Arbeit, einen Lifestyle of Health and Sustainability und eben ein Gefühlsleben von erlesenem Tiefgang. Der Gefühlsconnaisseur mag zwar Narzissmus mit Kultiviertheit verwechseln; heute steigt er als Sieger aus dem Ring.
Das lässt sich nicht so ohne weiteres aus dem Ärmel schütteln. Die inneren Leeren, das Gefühl, um etwas Eigentliches betrogen worden zu sein, die Bandbreite echter Schuldgefühle – all diese modischen Einstellungen verdanken wir den Zulieferungen der Kulturindustrie. Sie versorgt uns mit permanenten Tiefenbohrungen in Gefühlssümpfen und Feuchtgebieten. Es gehört zur emotionalen Intelligenz, je nach Geschmack ein paar Formulierungen von Paulo Coelho, Charlotte Roche oder Durs Grünbein anzubringen, sobald uns ein Gefühl anweht. Unsere Gehirne sind besetzt von vorgeprägten Gefühlsmetaphern.
Treibende Kraft im Universum der Gefühle ist die Eitelkeit der Konsumenten. Davon versucht sogar die Industrie zu profitieren. Ob Möbel von Manufactum, ökologisch abbaubare Brause oder Lifestyle-Handys – sie alle finden Käufer, indem sie eben auch Authentizität verkaufen.
Dabei hätte die Generation 30 plus eigentlich Besseres zu tun. Wir werden nie die Sicherheiten unserer Eltern erlangen. Wir müssten dringend unsere Mitbestimmung erstreiten, statt uns von Papa und Mama mit einer Eigentumswohnung ruhigstellen zu lassen. Stattdessen greifen wir wie kleine Kinder ständig in die Steckdose, wollen uns vollladen mit Sensationen, Nähe, Geilheit. Wir leiden – und das mit Hingabe. Und eine Kehrtwende ist nicht abzusehen, im Gegenteil.
Nur in den fünfziger Jahren ereignete sich für kurze Zeit etwas Beachtliches: Da kam in den Lexika mit den Begriffen um die Liebe, die Königsdisziplin aller Ausdruckswilligen, auf einmal auch der »Takt« ins Spiel. Das gipfelte gar in der Behauptung, dass sich der Gemütsreichtum eines Menschen in seinem Takt zeige, gelobt wurde ein »freundliches Interesse am anderen bei Wahrung einer gewissen Distanz als Verhaltensnorm«. Gleichzeitig verschwand die Metapher der Verschmelzung aus dem Lexikoneintrag zur Liebe – Autonomie trat in den Vordergrund. Es war ein Bruch mit den Nähevorstellungen der dreißiger und vierziger Jahre, die ja auch sonst wenig Gutes gebracht hatten.