Eugen Drewermann
Spuren des Heils
topos taschenbücher, Band 1033
Eine Produktion des Matthias Grünewald Verlags
Meditationen
topos taschenbücher
Verlagsgemeinschaft topos plus
Butzon & Bercker, Kevelaer
Don Bosco, München
Echter, Würzburg
Lahn-Verlag, Kevelaer
Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern
Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg
Tyrolia, Innsbruck
Eine Initiative der
Verlagsgruppe engagement
www.topos-taschenbuecher.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8367-1033-6
Ebook (PDF): 978-3-8367-5031-8
ePub: 978-3-8367-6031-7
2016 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer
Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen beim
Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern
Umschlagabbildung: © schiffner/photocase.de
Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg
Im Museum für Alte Kunst zu Brüssel findet sich das Holzgemälde Christus und die Ehebrecherin von Peter Paul Rubens (siehe Abbildung folgende Seiten). Die Szene stammt aus dem 8. Kapitel des Johannesevangeliums. Frühmorgens, erzählt die kleine Novelle, kamen Schriftgelehrte und Pharisäer zu Jesus in den Tempel und brachten eine Frau zu ihm, die sie beim Ehebruch ertappt hatten. Nach dem Gesetz des Moses war es geboten, „solche Frauen zu steinigen“ (Lev 20,10). Jesus aber wird ihnen sagen: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ Und sie alle gehen fort! Der Frau aber wird Jesus die Freiheit schenken, nicht länger zu „sündigen“.
Das Bild von Rubens gibt in einer einzigen Szene alles wieder, was die Botschaft Jesu heilend und heilbringend in sich enthält. Da sieht man eine Frau vor sich, deren Gesicht unter einem schwarzen Schleier, der ihre Haare verbirgt, noch rot ist vor Scham, ihr Kleid gibt die Schulter, die Brust noch den Blicken frei, während sie selber, die Hand vor dem Gesicht, in niemandes Antlitz zu blicken wagt. Ganz rechts außen am Bildrand ein Schriftgelehrter in golden schimmerndem Quastengewand, auf seiner Stirn, wie ein Brett vor dem Kopf, in Hebräisch das 6. Gebot: du sollst nicht ehebrechen; vorgebeugt, die beiden Hände zur Anklage und schon wie zur Festnahme vorgestreckt, mit stechend fanatischem Blick, seiner Sache ganz sicher, fixiert er sein Gegenüber und seinen Gegner: Jesus von Nazareth. Neben ihm steht, mit feistem Gesicht, den runden Schädel mit einer roten Kapuze bedeckt, die derbe „pharisäische“ Selbstsicherheit, die Hände beschlussfertig ineinandergelegt, – für diesen Mann ist alles ganz klar und ganz rund, eine einfache Sache. Zur Rechten der Frau aber starrt ein anderer Mann Jesus an, der die Frau mehr wie schützend am Arme berührt; sein Gesicht wirkt wie erstaunt, seine Augen unter der haarlosen Stirn blicken wie fragend. Alle anderen Personen neben und zwischen diesen Hauptakteuren bilden nichts weiter als eine neugierige Kulisse; doch was sie jetzt zu sehen und zu hören bekommen, ist die Verwandlung einer ganzen Welt: Jesus steht da, ganz in sich gekehrt, im Grunde schaut er niemanden an, und doch, er öffnet nach vorn beide Arme, zur Frau hin und zu dem Mann des Gesetzes hin; alles, was er zu sagen hat, gewinnt seine Gestalt in dem überlangen rechten Arm mit den geöffneten feingliedrigen Fingern. Man sieht: Diese Hände legen etwas dar, das nicht verurteilt, sondern versteht.
Peter Paul Rubens (1577–1640): Christus und die Ehebrecherin
Wie aber ist es möglich, die Botschaft Jesu zu verstehen, solange diese Welt noch so ist, wie sie ist? Diese Frage erhält seit den Tagen von Kain und Abel ihre Dringlichkeit in dem Problem des Krieges. Er ist die Zusammenfassung, die Folge und die Ursache von allem, was Menschen an Unheil übereinander zu bringen vermögen. Solange der Krieg in der Welt ist, ist diese Welt nicht in Ordnung, ist sie der Heilung bedürftig. Nur wie? Die Texte in diesem Buch versuchen zu verdeutlichen: Nicht möglich ist es, dem Menschen mit den Mitteln der Moral zu helfen. Kein wirkliches Problem des menschlichen Lebens löst sich mit „Du sollst“ und „Du sollst nicht“. Für jeden Menschen müsste so etwas spürbar werden wie diese ausgestreckte Hand des Christus auf dem Rubens’schen Bilde. „Allein aus Gnade, nicht durch des Gesetzes Werke.“ Dieser Kernsatz Martin Luthers aus dem Römerbrief (3,28) bildet den ganzen Inhalt der kirchlichen Gnaden- und Rechtfertigungslehre. Doch was die Menschen brauchen, heißt in ihrer Sprache nicht „Gnade“, weit eher Güte und Begleitung, weit eher eine offene Hand statt des erhobenen oder ausgestreckten Zeigefingers, weit eher vorurteilsfreie Akzeptation und offene Zugewandtheit statt Dogmatismus und Konformismus. Es geht darum, den Punkt im Menschen zu finden, von dem aus die bestehende Welt sich im Namen des Mannes aus Nazareth aus den Angeln heben und mit dem Blick auf ihn in eine neue, bessere überführen lässt.
An Jesus zu glauben, das heißt: da ist eine Macht, die uns trägt, während wir glauben, im Meer zu versinken; da ist eine Stimme, die uns fragt, wer wir sind, während wir uns selber schon nicht mehr verstehen; da umhüllt uns ein Schutz, der es uns ermöglicht, auf Gewalt nicht länger mit Gegengewalt und auf Angst nicht länger mit dem Antiterror noch größerer Angstverbreitung zu reagieren; da schauen uns Augen an, so gütig, verstehend und traurig und froh, dass wir es unter ihnen wagen können, egal, was passiert ist, uns selbst wieder in die Augen zu schauen; da ist ein Vertrauen in uns gesetzt, das uns die Kraft gibt, an uns selber wieder zu glauben und „hinzugehen und nicht mehr zu ‚sündigen‘“.
Im Jahre 1895 war der libanesische Dichter Khalil Gibran zwölf Jahre alt, als er auf Englisch ein Versgedicht verfasste, das den Titel trägt: Jesus klopft an das Himmelstor. Mit der Sehnsucht und der Sensibilität eines zutiefst religiösen Knaben stellt Gibran sich darin vor, wie Jesus am Ende seines Lebens vor Gott hintritt, um ihm all die Menschen anzuvertrauen, die inmitten der Gnadenlosigkeit der Welt nicht haben leben können ohne ihn und die er gerade deshalb mit sich nahm auf seinen Weg in eine andere, „väterlichere“, das heißt, im Grunde „mütterlichere“ Welt. Das Gedicht des jungen Gibran lautet:
Vater, mein Vater, öffne dein Tor!
Ich bringe eine glänzende Gesellschaft mit.
Öffne das Tor, dass wir eintreten können.
Jeder und alle sind wir die Kinder deines Herzens.
Öffne, mein Vater, öffne dein Tor.
Vater, mein Vater, ich klopfe an dein Tor.
Ich bringe einen Dieb, der heute mit mir gekreuzigt wurde.
Denn auch er ist eine sanfte Seele,
und er möchte dein Gast sein.
Er stahl einen Laib für den Hunger seiner Kinder.
Aber ich weiß, das Leuchten seiner Augen würde dir gefallen.
Vater, mein Vater, öffne dein Tor.
Ich bringe eine Frau, die sich der Liebe schenkte,
und sie hoben Steine auf gegen sie, aber
ich kenne dein liebendes Herz und hielt sie zurück.
Die Veilchen sind nicht verwelkt in ihren Augen,
und dein April ist noch auf ihren Lippen.
Ihre Hände halten noch die Ernte deiner Tage,
und jetzt möchte sie mit mir eingehen in dein Haus.
Vater, mein Vater, öffne das Tor.
Ich bringe dir einen Mörder,
einen Mann mit Zwielicht auf dem Gesicht.
Er jagte für seine Jungen,
aber unklug jagte er.
Die Wärme der Sonne war auf seinen Armen,
der Saft deiner Erde war in seinen Adern;
und er verlangte Fleisch für seine Leute,
da Fleisch verwehrt war,
aber sein Bogen und Pfeil waren zu schnell,
und er beging einen Mord.
Darum ist er jetzt bei mir.
Vater, mein Vater, öffne dein Tor.
Ich bringe einen Trunkenbold mit,
einen Mann, den nach anderm dürstete als dieser Welt.
Er wollte sitzen an deiner Tafel, mit einem Becher,
Einsamkeit zu seiner Rechten
und Verzweiflung zur Linken.
Er starrte tief in den Becher
und sah deine Sterne gespiegelt im Wein.
Und er trank in vollen Zügen, denn er wollte deinen Himmel
erreichen.
Er wollte sein größeres Selbst erreichen,
aber er verirrte sich auf dem Wege und strauchelte.
Außen vor der Schenke, Vater, hob ich ihn auf,
und er kam mit mir, lachte den halben Weg.
Nun ist er in meiner Gesellschaft,
doch er weint, denn Freundlichkeit tut ihm weh.
Und darum bringe ich ihn zu deinem Tor.
Vater, mein Vater, öffne das Tor.
Ich bringe einen Spieler mit, einen Mann,
der seinen Silberlöffel in eine goldene Sonne tauschte;
und wie eine deiner Spinnen
webte er sein Netz und wartete
auf die Fliege, die ebenfalls jagt, nach kleineren Mücken.
Aber er verlor, wie alle Spieler,
und als ich ihn fand, wanderte er auf den Straßen der Stadt.
Ich blickte in seine Augen,
und wusste, dass sein Silber sich nicht in Gold verwandelt hatte,
und der Faden seiner Träume war zerrissen.
Ich bot ihm meine Gesellschaft an
und sagte zu ihm: „Siehe die Gesichter deiner Brüder,
und mein Gesicht.
Komm mit uns, wir gehen zu dem fruchtbaren Land
jenseits der Hügel des Lebens.
Komm mit uns.“
Und er kam.
Vater, mein Vater, du hast geöffnet das Tor!
Siehe: meine Freunde,
ich habe sie gesucht weit und nah;
aber sie waren in Furcht und wollten nicht mit mir kommen,
bis ich ihnen deine Verheißung und deine Gnade offenbarte.
Nun, da du dein Tor geöffnet hast,
und empfangen und willkommen geheißen meine Gefährten,
gibt es auf der Erde keine Sünder mehr,
getrennt von dir und deinem Empfangen.
Es gibt weder Hölle noch Fegefeuer;
nur du und der Himmel existieren,
und auf der Erde der Mensch,
das Kind deines ehrwürdigen Herzens.
Alle Menschlichkeit und alle Religiosität, die der Mann aus Nazareth in diese Welt zu bringen kam, gründet in dem Gefühl eines solchen unverfälschten Kindseins, das selbst den „kriminell“ Gewordenen nicht ausschließt. Wer war denn jener andere als Kind, ehe er auf seine Art „erwachsen“ werden musste?
Das ganze Leben Jesu war wie ein niemals gehörtes, wie ein ganz wörtlich unerhörtes kindliches Gebet, gerichtet an die Macht, die er so gerne unseren und seinen „Vater“ nannte (Joh 20,17). Ihr ganz allein traute er zu, sie lasse niemanden aus ihren Händen fallen, sondern sie lasse die Sonne aufgehen unterschiedslos über Gute und Böse und lasse es regnen über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,45). Drum ging er denen nach, die von sich selbst her keine Chance mehr besaßen, im Leben je zurechtzukommen; – „kein Räuberhauptmann hätte eine wüstere Gesellschaft um sich scharen können“, spottete bereits um 170 nach Christus der wohl brillanteste Christentumskritiker aller Zeiten, der griechische Philosoph Celsus; in gewissem Sinne zu Recht, denn gerade diese Sammlung der Verlorenen wurde das wesentliche Kennzeichen, der eigentliche Ehrentitel des Nazareners: Er sei ein Freund der „Huren“ und der „Zöllner“, warfen ihm manche seiner Zeitgenossen vor. Doch wer, wenn nicht sie, die vermeintlichen „Sünder“, würde begreifen, dass einzig die Liebe, das Verstehen und die Güte den Abgrund unter unsren Füßen zu schließen vermag?
Für den Mann aus Nazareth, wenn er, nach jüdischer Weise den Gottesnamen umschreibend, von „der Macht“, von dem „Himmel“ oder von den „Engeln“ sprach, lag in diesen Worten ein Verweis auf einen Arm, der sich ganz sanft um eines jeden Menschen Leben legt; nie, unter keinem Umstand, so glaubte er und machte er die Menschen glauben, würde dieser Arm sich uns entziehen.
Und warum auch? – Wenn wir nur einmal diese Welt mit Gottes Augen sehen könnten! Rasch würden wir dann erkennen, wie unsinnig die Grenzen sind, die Menschen, zumeist sogar mit Berufung auf „Gott“, im Namen ihrer vermeintlich überlegenen Moral oder ihrer vermeintlich einzigartigen Religion oder ihrer alleinseligmachenden Konfession oder ihrer angeblich zu Erstrangigkeit berufenen Nation um andere Menschen zu ziehen pflegen. In Wirklichkeit, meinte der Nazarener, sind wir zu arm und zu armselig, als dass wir uns die Hybris solcher Unterschiede und Unterscheidungen leisten könnten. Wir brauchten nur einmal den Menschen ins Herz zu schauen, statt auf ihre Hände zu starren, wir müssten nur einmal ihre Motive und Gefühle betrachten, statt ihre „Taten“ als äußere „Tatsachen“ zu isolieren und dann nach festen Maßstäben zu „richten“, dann würde sehr bald vor unseren Augen sich das Bild einer unermesslichen Not und einer ungemessenen Verzweiflung erheben; Hilfe, nicht Verurteilung, Befreiung, nicht Kerker, Begleitung, nicht Aussperrung, die „Himmelstüre“, nicht die „Hölle“, stellten seiner Ansicht nach die einzig verantwortliche Antwort auf die Herausforderung der menschlichen Tragödie dar.
Gewiss, es gibt die Gebote. Gleichgültig, ob die Gesetzesstele des Hammurabi oder die Zehn Gebote, die man mit Moses verbindet, ob das Gesetzbuch des Justinum oder das bürgerliche Gesetzbuch eines modernen Staates – an jeder Stelle zeigt sich, wie wenig damit gewonnen ist, klare „Weisungen“, „Anordnungen“, „Verfügungen“ und „Richtlinien“ zu „erlassen“. Es gibt keine Ordnung im menschlichen Leben, außer sie wüchse von innen her auf, und eben darin, das Innere eines Menschen zu stärken, bis dass es zur Einheit und zum Einverständnis mit sich selber gelangt, liegt die Größe der menschlichen Aufgabe. Gesetze im besten Falle sind richtige Wegweiser. Doch die Wege zu wissen lehrt schon die Tiere der Instinkt; die Kraft, sie zu gehen, kommt anderswo her. Die sogenannten „Verbrechen“, umgekehrt, sind sie je etwas anderes als die Suchwege und Umwege eines versperrten Lebens, das trotz allem doch noch ans Ziel zu gelangen trachtet?
Gehen wir Gibrans Beispiele einmal durch. Siebentes Gebot etwa: „Du sollst nicht stehlen.“ Schon auf den untersten Lebensformen respektieren Tiere den Territorialanspruch ihrer Artgenossen, richten sie sich nach den Reviergrenzen eines Mitglieds ihrer Gruppe, anerkennen sie die Paarbindungen und Paarungsrechte eines überlegenen Konkurrenten. Was aber ist es mit den einsam Jagenden, was mit den ewig Zukurzgekommenen, was mit den im Schatten des „Rechtes“ chronisch Entrechteten? In den Augen Salomos zum Beispiel war der Benjaminit Jerobeam nichts als ein Aufrührer, den er nach Ägypten in die Fremde vertrieb; doch war man in den Tagen des Moses wirklich aus Ägypten, dem „Glutofen“ der Knechtschaft, geflohen, nur um mitzuerleben, wie 250 Jahre danach ein hebräischer König die eigene Bevölkerung nach Pharaonenart zur Fronarbeit bei den königlichen Prunkbauten nötigte (1 Kön 2,15–23; 11,26–40)? Und war der „Diebstahl“ des Mannes, der an der Seite Jesu gekreuzigt wurde (Mk 15,27), vielleicht nicht ebenfalls nur ein solcher Aufruhr aus Liebe zur Freiheit, – Vorbild und Nachbild so vieler, die in der Geschichte mit Gewalt revoltierten gegen das Unrecht der Gewaltherrscher und dabei alles auf eine Karte setzten, ihr ganzes Leben, zu Sieg oder Untergang? War jener gekreuzigte namenlose Schächer am Karfreitag, wie Khalil Gibran meint, nicht womöglich nur ein treusorgender Familienvater, den die Not seiner hungernden Kinder dahin trieb, sich unrechtmäßig anzueignen, was rechtmäßig sich zu verschaffen unter dem Diktat der zum Recht geronnenen Gewalt ihm verweigert wurde? Wer aber erkennt schon Hunger und Pflichtgefühl in einer Tat, die nach der Ordnung der Paragraphen des geltenden Gesetzes als Einbruch und Diebstahl verurteilt gehört? – Wie anders erschiene das Verhalten von Menschen, sähe man nur erst, in welchen Verhältnissen sie ihr Leben verbringen müssen und was man mit ihnen getan hat, ehe sie ihre Tat begingen? Es war die feste Zuversicht Jesu, dass Gott das Herz der Menschen sieht (Ps 26,2), auch wenn die Äußerlichkeit des vorschnellen Urteils sie immer wieder zu erdrücken und zu ersticken droht.
Oder: „Du sollst nicht ehebrechen!“ Was ist mit jener Frau auf dem Rubens’schen Bild und von der das Johannesevangelium erzählt? Der Text wurde erst sehr spät – offenbar gegen den Widerstand der frühen Kirche – in das vierte Evangelium eingeschoben, und man versteht auch, warum: handelt es sich doch hier um den Bericht von einem zwölfjährigen Mädchen, das, eben erst verheiratet, bereits zu einer Ehebrecherin wurde. Mit keinem Wort verrät uns die Geschichte, was diese Jungverheiratete fühlte. Wer weiß, was sie wirklich dazu bestimmte, Liebe zu schenken, wo sie nach dem Gesetz nicht sein durfte? Und wer schon wäre bereit, sich hineinzuversetzen in den Taumel der Gefühle einer einzigen Nacht, in den Rausch der Angst und der Sehnsucht des so offensichtlich Verbotenen? Wer auch wollte schon wissen, wie hilflos ein Mensch den Regungen seines eigenen Herzens ausgeliefert sein kann? „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“, hatte Jesus damals gesagt. Er hatte damit riskiert, dass diese Frau unter den Steinen ihrer Ankläger wäre begraben worden, hätte auch nur ein Einziger von ihnen sich im Stande der „Unschuld“ gewähnt. Doch ein solches Wunder, womöglich sein größtes, vollbrachte der Mann aus Nazareth in diesem Augenblick, da er eine zur Lynchjustiz schon entschlossene Meute zur Einsicht befähigte. Und indem er den Schergen die Augen öffnete für den Zustand ihrer eigenen Seele, schenkte er einer unglücklich Liebenden das Leben zurück, ja, er öffnete ihr, stellvertretend für alle in ähnlicher Lage, die Pforte des Himmels, meinte Gibran.
Oder fünftes Gebot: „Du sollst nicht töten!“ Nichts unter Menschen ist schlimmer als Mord; nichts erscheint derart verwerflich, als einem Menschen das Leben zu rauben. Wer aber, eben deshalb, will etwas derart Entsetzliches wirklich begehen? Wie viel an Angst oder Zorn, wie viel an Hass oder Hilflosigkeit müssen im Herzen eines Menschen aufgestaut sein, ehe es sich wie im Anfall in einer Mordtat entlädt? Kann es nicht sein, dass der „Täter“ dabei vor allem ein Opfer der Umstände wird – einer Verkettung unglücklicher Zusammenhänge, einer Schicksalslaune eher denn eines eigenen Entschlusses! Wer nimmt sich dieser Unglückseligen an, denen etwas geschah, das sie so niemals zu tun beabsichtigten? Wer tröstet diese Verbrecher wider Willen, diese von fiebrigen Nerven Getriebenen, diese zu spät sich Besinnenden? Wie weit muss man gehen, um ein so grässliches Vergehen eines Menschen wie einen Mord zu verstehen und ihm einen Ort des Innehaltens inmitten der Flucht zu schenken? Und genauer betrachtet: ist nicht jede Gewalttat so etwas wie eine Art Mundraub für ein nach Liebe oft noch weit mehr als nach Nahrung hungerndes Kind – um in dem Bilde Khalil Gibrans zu verbleiben?
Dabei sind Diebstahl, Ehebruch und Mord „nur“ die „Straftatbestände“, die anderen