Marcel Reich-Ranicki
Über Literaturkritik
Deutsche Verlags-Anstalt
Stuttgart München
Marcel Reich-Ranicki
Über Literaturkritik
Deutsche Verlags-Anstalt
Stuttgart München
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei
Der Deutschen Bibliothek erhältlich.
2. Auflage 2002
© 2002 Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin
ISBN 978-3-641-13576-8
EDITORISCHE NOTIZ
Welche Aufgabe hat die Literaturkritik? Welche Funktion übt sie aus? Welche Rolle kommt ihr zu? An wen wendet sie sich? Was will sie erreichen?
Seit mindestens zweihundertfünfzig Jahren werden diese Fragen in Deutschland gestellt und immer wieder mehr oder weniger erregt debattiert. Denn sie treffen ins Zentrum des literarischen Lebens – gestern wie heute. Daher büßen sie, sooft sie auch erörtert und beantwortet wurden, nichts von ihrer Aktualität ein.
Jene, die über diese Fragen diskutieren und diesmal besonders leidenschaftlich und bisweilen sogar unerbittlich, die vielen Schriftsteller, Leser und natürlich auch Kritiker, möchten wir an eine Arbeit von Marcel Reich-Ranicki erinnern. Vor vielen Jahren entstanden, ist sie gerade jetzt von besonderem Interesse und bestens geeignet, der Orientierung in den aktuellen Auseinandersetzungen zu dienen.
Der vorliegende Essay wurde 1970 als Einführung zu Reich-Ranickis Buch »Lauter Verrisse« geschrieben; der Band faßt Aufsätze über Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Peter Härtling, Günter Kunert, Anna Seghers, Martin Walser, Peter Weiss und andere zusammen. Der ursprüngliche Titel dieses Essays lautet: »Nicht nur in eigener Sache. Bemerkungen über Literaturkritik in Deutschland«. Die ersten beiden Absätze, die Auswahl und Gegenstand des Bandes »Lauter Verrisse« betreffen, wurden hier weggelassen. Davon abgesehen, wird der Text von 1970 unverändert nachgedruckt.
Deutsche Verlags-Anstalt, Juni 2002
Über Literaturkritik
I
Wann darf oder soll der Kritiker einen Autor verreißen? Fortwährend erscheinen miserable literarische Arbeiten. Wann lohnt es sich, in aller Öffentlichkeit zu erklären, warum man glaubt, daß ein bestimmtes Buch, das man für schlecht hält, schlecht sei? Was immer ein Kritiker gegen ein solches Buch sagt, er hat es doch wohl nicht zufällig aus einer Fülle ähnlicher ausgewählt; die anderen ignoriert er, auf dieses lenkt er, ob er es will oder nicht, die Aufmerksamkeit des Publikums. In welchen Fällen ist er dazu berechtigt oder sogar verpflichtet? Verrisse – wozu eigentlich und für wen?
Die Beantwortung derartiger Fragen hängt vor allem von den Ansprüchen ab, die man an die Kritik überhaupt stellt. Und diese Ansprüche wiederum haben fast immer mit den Erwartungen zu tun, die man an die Literatur knüpft. Was auf den ersten Blick ein eher praktisches Problem im Alltag der Redakteure und Rezensenten scheint, rührt bei näherer Betrachtung unversehens an Fundamentales – an die Möglichkeiten und Aufgaben der Literatur und an die Funktion der Kritik.