Roman
AutorenEdition Egli
ISBN 978-3-03864-202-2
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einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien,
der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung
und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten.
Lektorat: Horst Eibl (A)
Umschlaggestaltung: Agentur flin, unter Verwendung
einer Illustration von Bert Silberstein (A)
Copyright © 2015 by ARAVAIPA–Verlag,
Egg bei Zürich, Freudenstadt, Tucson
7 6 5 4 3 2 1
ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch
Zu diesem Buch gibt es Unterrichtsmaterial
als Download auf www.aravaipa.ch
Werner J. Egli,
wurde 1943 in Luzern, Schweiz, geboren und lebt heute als freier Schriftsteller in Tucson, USA; in Freudenstadt (D) und in Egg bei Zürich. Seine erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzten Jugendbücher wurden unter anderem mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, mit dem Preis der Leseratten (ZDF) und mit dem Jugendbuchpreis der Ausländerbeauftragten des Senats Berlin ausgezeichnet. 2002 wurde er für den Hans-Christian-Andersen-Preis nominiert, die international höchste Auszeichnung für Jugendliteratur.
Unter www.egli-online.com ist der Autor auch im Internet zu finden.
Von Werner J. Egli bei ARAVAIPA:
Der letzte Kampf des Tigers
Black Shark
Aus den Augen, voll im Sinn
Andere:
Heul doch den Mond an
Martin und Lara
Tage im Leben eines Feiglings
Bis in die letzte Faser seiner Muskeln angespannt kauerte Omar bei einer Mauer im Staub.
Die Sonne war hinter einer Steinhütte untergegangen.
Ein Jeep mit Regierungssoldaten stand mit laufendem Motor in einer Häuserlücke, durch die ein letzter Sonnenstrahl rotgolden über den Dorfplatz fiel.
Der Jeep war ohne Verdeck. Der Mann, der am Steuer saß, hatte eine Zigarette im Mundwinkel und trug eine Mütze. Neben ihm stand ein Unteroffizier in gebeugter Haltung, die Unterarme auf dem Rahmen der Windschutzscheibe aufgestützt, ein Fernglas vor den Augen, mit dem er Zelte des Flüchtlingslagers absuchte.
Wie ein hungriges wildes Tier erschien Omar dieser Jeep mit dem Fahrer und dem Unteroffizier und den drei Scharfschützen, die hinten im Jeep standen, ihre Schnellfeuerkarabiner schussbereit, und auf ein Kommando des Unteroffiziers wartend. Ein wildes Tier, das dort drüben in der Lücke zwischen den halb zerfallenen Lehmhäusern auf der Lauer lag, bereit, sich im richtigen Moment auf ein wehrloses Opfer zu stürzen.
Der Himmel im Westen hatte sich blutrot verfärbt.
Sanft legten sich die ersten Nachtschatten über das Dorf. Unten, am Ufer des ausgetrockneten Flusses, dort wo es noch einige wenige Dattelpalmen gab, die nicht verdorrt waren, meckerte eine von Alis Ziegen.
Vor einer der Hütten am Dorfplatz saß ein alter Mann, der einmal der Bürgermeister des Dorfes gewesen war. Er war blind. Er konnte den Jeep nicht sehen, aber er wusste, dass die Soldaten da waren. Er hörte das leise Grollen des Motors in einer Stille, die nichts Gutes verhieß.
Die Stummelpfeife, die der alte Mann im Mund hatte, brannte nicht mehr. Er nahm sie aus dem Mund und klopfte sie am Fensterbrett aus.
Das Fenster neben der Tür war das einzige in seinem Haus. Die anderen hatte der alte Mann längst mit Brettern und Blechstücken dicht gemacht. Er brauchte keine Fenster mehr. Was er sehen wollte, sah er. Manchmal sah er aber auch, was er nicht sehen wollte.
»Die Blindheit schützt mich nicht davor, jene Dinge zu sehen, die ich nicht sehen will«, hatte er Omar am Nachmittag erklärt. »Ich vermute, dass man mir die Seele nehmen müsste, damit ich nicht mehr sehen kann.«
Jetzt war der Tag vorbei. Bald würde es ganz dunkel sein.
Omar schaute zu seinem Freund Tarek hinüber. Dieser kniete auf einem Knie nur wenige Schritte von Omar entfernt hinter derselben Mauer. Wie Omar trug auch Tarek eine schwarze Gesichtsmaske. Wie Omar hielt auch er ein Schnellfeuergewehr in den Händen. Und wie Omar war auch er bereit, Soldaten zu töten, um die Leute dieses Dorfes und eine Gruppe von Flüchtlingen zu schützen.
Die Soldaten hatten keine Ahnung.
Da sich nichts rührte, und da die Dorfbewohner sich vor Angst in ihren Häusern versteckt hatten, galt ihre ganze Aufmerksamkeit den Zelten am Dorfrand, die von den Flüchtlingen errichtet worden waren.
Einige im Dorf hatten das nicht gern gesehen. Flüchtlinge. Flüchtlinge sollten weiterziehen, zur Grenze und dann noch weiter. Es gab im Dorf wenig zu essen. Wenig zu trinken. Ali musste seine Ziegen einsperren, wenn Flüchtlinge in der Nähe waren. Und die Leute fürchteten die Krankheiten dieser Menschen, die so schwach waren, dass sie sich gegen nichts mehr zur Wehr setzen konnten, schon gar nicht gegen die bösen Geister, die ihnen auf Schritt und Tritt folgten.
Sechs Familien waren es. Männer, Frauen und Kinder. Eines der Kinder hatten sie am Nachmittag irgendwo begraben. Ein Mädchen, wahrscheinlich die Schwester des Kindes, hatte es zu einem Platz getragen, wo es genug Steine gab, mit denen es das Grab bedecken und vor wilden Tieren und streunenden Hunden schützen konnte.
Die Dorfbewohner hatten den Flüchtlingen ein bisschen Hirse gegeben. Und ein bisschen Wasser. Den Kindern Milch von Alis Ziegen.
Die Flüchtlinge hatten sich bedankt. Sie besaßen nichts, was sie den Dorfbewohnern hätten geben können. Alles, was sie einmal besessen hatten, war dort zurückgeblieben, wo sie hergekommen waren. Nur das Notwendigste hatten sie mitgenommen. Decken, Kleidungsstücke, Taschen und Körbe. Plastikflaschen mit Wasser, das inzwischen bis auf einige wenige Reste getrunken war.
Sie hatten die Hirse im Wasser aufgeweicht und einen Brei daraus gemacht, von dem jeder der Flüchtlinge eine Handvoll bekam.
Dann, als der Jeep mit den verhassten Soldaten aufgetaucht war, krochen sie in ihre notdürftigen Unterkünfte, kauerten dicht beieinander nieder, versuchten die Kinder still zu halten und ihre eigene Angst zu bekämpfen, versuchten daran zu denken, dass ihr Leid endlich ein Ende haben würde, wenn die Soldaten nur kämen und sie alle töteten.
Aber dort drüben, zwischen ihren Zelten und dem Dorfplatz, befand sich die Mauer, hinter der Omar und Tarek kauerten, mit ihren Gewehren, mit brennenden Augen und mit der Angst im Herzen, dass sie den Kampf gegen die Soldaten vielleicht verlieren würden.
Sie waren nur zwei, die Soldaten fünf, einer von ihnen noch ein Junge, nicht älter als sie selbst.
Der Unteroffizier nahm das Fernglas von den Augen und richtete sich auf. Er sah zum alten Mann hinüber, dann zu den Häusern auf der anderen Seite des Platzes und ein letztes Mal auf die Zelte der Flüchtlinge. Dann gab er dem Fahrer den Befehl, weiterzufahren und zwar genau auf die Lücke in der kleinen Mauer zu, die nicht höher war als einen Meter und die einmal Teil eines Gebäudes gewesen war. Irgendwann in diesem Krieg, der schon so lange dauerte, dass niemand sich mehr an Tage des Friedens erinnern konnte, war das Gebäude von einer Granate getroffen worden und eingestürzt. Zehn Dorfleute waren bei diesem Überfall ums Leben gekommen, davon sieben Kinder.
Der Jeep fuhr auf den Platz hinaus, Staub wirbelte von seinen Stollenreifen und strich wie Nebel an den Häusern entlang und am alten Mann vorbei, der dabei war, mit dem Nagel seines Zeigefingers einen kleinen Rest Tabak aus der Pfeife zu kratzen.
Der alte Mann hielt inne.
Es ist soweit, dachte er.
Und kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, fielen die Schüsse. Schnellfeuergewehre. Ein Stakkato von Schüssen. Ein berstendes Krachen, in dem der Jeep aufheulte, als wäre er es, der von den Kugeln tödlich getroffen worden war. Männer schrien, die Luft war jetzt voll mit Staub, und der Staub roch nach Benzin und nach verbranntem Pulver. Und dann nach Blut.
Der Motor des Jeeps verstummte plötzlich.
Ein letzter Schuss fiel.
Danach herrschte wieder die Stille, nur war sie jetzt eine andere.
In dieser Stille starb der Fahrer des Jeeps, der hinter dem Steuer zusammengesackt war.
In dieser Stille verblutete der Unteroffizier.
In dieser Stille erhoben sich hinter der kleinen Mauer Omar und Tarek, beide mit ihren Gewehren im Anschlag.
In dieser Stille begann ein kleines Kind zu weinen.
In dieser Stille, dachte der alte Mann, versinkt die Welt.
Omar und Tarek verschwendeten keine Zeit.
Als die Dorfleute aus ihren Häusern traten und zum Platz kamen, um mit ihnen zu reden, sagte sie ihnen nur, dass sie nun nichts mehr zu befürchten hätten.
»Niemand wird je erfahren, wo diese fünf Soldaten geblieben sind«, versicherte ihnen Omar. »Wir werden mit dem Jeep in die Berge fahren bis uns das Benzin ausgeht. Dann gehen wir zu Fuß weiter bis zum Grossen Fluss, wo wir uns Black Shark anschließen werden.«
Tarek war dabei, einem der toten Soldaten die blutverschmierten Stiefel auszuziehen. Die Dorfleute schauten ihm dabei argwöhnisch zu.
»Ach so, ihr wollt zu diesem Banditen, dessen Name allein schon überall Angst und Schrecken verbreitet?«, wunderte sich Ali, der stolze Besitzer der Ziegen.
»Black Shark ist ein Mann, der seine Beute an die Armen im Land verteilt.«
»Wenn dem so wäre, warum hat er sich denn bei uns noch nie blicken lassen?«, rief eine Frau mit rauer Stimme. »Wir sind alle arm hier. Bettelarm.«
»Er kann nicht überall gleichzeitig sein«, erklärte Tarek, während er in seinen neuen Soldatenstiefeln auf dem Platz herumstolzierte. »Er ist sicher kein Magier.«
»Ein Bandit ohne Seele ist er! Einen unserer Jungen hat es auch zu ihm gezogen. Nach einigen Monaten kehrte er zurück. Ihn könnt ihr fragen, wer dieser Black Shark wirklich ist.«
»Ein Verbrecher ist er«, rief ein anderer Mann. »Er und alle die anderen, die so viel Blut vergießen, versprechen uns immer, dass sie uns befreien werden. Aber von wem denn? Wir wissen, dass wir niemandem mehr vertrauen können, nicht unserer Regierung, nicht unseren Soldaten und auch nicht jenen, die im Namen Allahs kämpfen. Was sie tun, würde Allah nicht gefallen, und es hat auch meinem Sohn nicht gefallen. Mein Sohn hat sich gegen sie gestellt, als sie ein Flüchtlingslager an der Grenze überfielen und mehr als zwei Dutzend Kinder verschleppten. Sie haben ihn ausgepeitscht, bis ihm die Haut in Fetzen vom Rücken hing. Mein Sohn hatte viel Glück, dass sie ihm nicht den Kopf abschlugen.«
»Was hat das mit Black Shark zu tun?«
»Dieser Bandit war auch dabei. Sie gehören alle in den gleichen Topf, diese Banditen!«
»Black Shark ist nichts als ein Verbrecher. Ihr seid beide jung und voller Tatendrang. Wie jeder von uns habt ihr die Not unseres Landes am eigenen Leib erfahren. Soldaten, die nichts anderes sind als Mörderbanden. Gotteskrieger, die mit ihrem blutigen Terror das ganze Land in die Knie zwingen wollen. Gottlose Banditen und Wegelagerer, die im Hinterhalt lauern und sogar die Ärmsten von uns heimsuchen. Lasst euch von Black Shark nicht in die Irre führen. Er wird zuerst euren Traum töten und danach auch euch!«
»Es gibt viele dumme Gerüchte über ihn«, widersprach Tarek den Dorfleuten, während er einem der Toten das Tarnfarbenhemd auszog. Dass es voller Blutflecken war, störte ihn nicht. »Wir werden selbst sehen, ob wir uns seinen Banden anschließen, wenn wir mit ihm gesprochen haben.«
»Da werdet ihr aber unverhältnismäßig viel Glück brauchen«, gab ein Mann zu bedenken, der einen kleinen Jungen auf dem Arm hatte. »Auf euren Wegen wird es nur so von Soldaten und Banditen wimmeln. Sichere Pfade gibt es in unserem Land nicht mehr.«
»Schlagt unsere Warnungen nicht in den Wind, ihr beiden! Soldaten werden euch gefangen nehmen und foltern, bis ihr ihnen sagt, wo ihr den Jeep überfallen habt. Und das bedeutet wiederum, dass wir mit Vergeltung rechnen müssen«, warnte Ali.
»Wir lassen uns schon nicht erwischen!«, lachte Tarek. »Dazu sind wir zu schlau.«
»Und wir haben gelernt zu kämpfen«, unterstützte Omar seinen Freund. »Ihr habt es gesehen. Diese Soldaten hatten gegen uns nicht den Hauch einer Chance.«
»Die beiden Jungen haben recht!«, rief ein alter Mann, der sich krumm auf einen knorrigen Stock stützte. »Wenn ich jung wäre wie sie, würde ich mich ihnen anschließen und an ihrer Seite kämpfen! Jemand muss doch für uns Schwache kämpfen. Sind es nicht Soldaten, die uns Tod und Elend bringen, dann sind es Banditen! Was haben wir noch zu verlieren? An den Küsten fischen Fremde. Niemand kümmert sich darum, obwohl es illegal geschieht. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Gewaltige Fischerboote mit riesigen Schleppnetzen. Hunderte von ihnen. Fische für die Leute in Europa und in Asien, während wir hier hungern und tausende von uns gezwungen sind wegzuziehen.«
»Unser Dorf zieht die Soldaten und die Banditen an wie Ziegenmist die Fliegen«, sagte ein junger Mann und zeigte in die Wüste hinaus. »Bald werde ich auch von hier weggehen. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht um unser Leben und das Leben unserer Frauen und Kinder bangen müssen.«
»Unser geliebtes Land ist nicht mehr, was es einmal war«, pflichtete ihm eine junge Frau mit fester Stimme bei. »Es gibt keinen Frieden mehr. Keiner kann dem anderen mehr vertrauen. Die Regierung ist korrupt. Wer weiß noch, wer die wirklichen Banditen sind, die Politiker in der Hauptstadt oder die herumstreunenden Mörderbanden? Schaut uns an, wir müssen in ständiger Angst leben.«
»Und die Flüchtlinge machen uns noch mehr Probleme. Sie haben hier nichts verloren. Wir geben ihnen etwas zu essen und zu trinken, aber das geschieht nicht aus Nächstenliebe. Wir können sie nur nicht krepieren lassen, hier in der Nähe unseres Dorfes, weil die bösen Geister, von denen sie begleitet werden, dann für immer und ewig hier bleiben würden«, brummte ein Mann, der nur noch wenige Zähne im Mund hatte.
»Diese Flüchtlinge sind Menschen in großer Not«, entgegnete ihm Tarek, während er versuchte, den Leichnam des toten Offiziers unter dem Jeep hervorzuziehen, obwohl dessen Arm unter dem rechten Vorderrad eingeklemmt war.
Omar zerrte indes den toten Fahrer über die Rücklehne des Fahrersitzes und legte ihn neben den Leichen der drei Soldaten auf den Boden. Ohne die Dorfleute anzusehen, setzte er sich hin und zog den Soldaten die Sachen aus, die er selbst tragen konnte. Wichtig waren ihm vor allem die Stiefel, aber auch die tarnfarbenen Hosen mit dem breiten Gürtel und den vielen Taschen gefielen ihm. Da die Hemden alle mit Blut befleckt waren, verzichtete er darauf, eines davon gegen sein eigenes auszutauschen, aber in einer Brusttasche fand er mehrere Geldscheine, die er dem jungen Mann gab. »Dieses Geld wirst du gut gebrauchen können, wenn du von hier weggehst«, sagte er und wandte sich an die andern. »Schaut, das sind die Sachen, die wir mitnehmen werden. Gewehre und Munition, Hosen und Soldatenstiefel. Jetzt haben wir etwas vorzuzeigen, wenn wir zu Black Shark kommen. Kämpfer für die Freiheit unseres Volkes sind wir, und das wird auch Allah gefallen. Aber ihr, was seid ihr? Wo ist euer Stolz geblieben, euer Mut?«
»Was sollen wir tun?« wollte Ali wissen. »Wir sind zu schwach …«
»Ihr sollt nicht jammern«, fiel ihm Omar ins Wort. Dabei starrte er die Dorfleute wild an. »Mit Jammern lindert ihr eure Not nicht. Wenn ihr etwas tun wollt gegen die Soldaten und die Banditen, müsst ihr kämpfen.«
»Kämpfen. Womit denn, wenn ich mal fragen darf? Wir besitzen keine Waffen. Alles was wir haben, sind unsere Buschmesser und die Werkzeuge und die Geräte, die wir auf dem Feld brauchen.«
»Wer nicht kämpfen will, stirbt einen langsamen Tod«, sagte Omar. »Ich habe weniger Mitleid mit euch als mit diesen Flüchtlingen.« Er zeigte zum kleinen Lager hinüber. Der aufkommende Wind zerrte an den Stofffetzen, die an Ästen aufgehängt den Frauen und Kindern und den alten Männern Schutz geben sollten. Zwischen diesen armseligen Zelten erschien jetzt das Mädchen, das Omar und Tarek schon am Nachmittag beobachtet hatten, als es mit dem toten Kind das sandige Flussbett durchquert hatte und am anderen Ufer hinter einem Hügelrücken verschwunden war. Das Mädchen ging bis zu der kleinen Mauer, hinter der sich Omar und Tarek zuvor versteckt hatten. Dort blieb es stehen.
»Ihr habt alle noch zu essen, aber vielleicht seid ihr selbst auch bald auf der Flucht und auf die Hilfe anderer angewiesen. Wir verlassen das Dorf, sobald wir hier aufgeräumt haben. Euch bleibt nur noch, die Spuren zu verwischen. Dann könnt ihr in Ruhe schlafen und auf einen neuen Tag warten. Es gibt fünf Soldaten weniger, die ihr fürchten müsst.« Damit setzte sich Omar hinter das Steuer, drehte den Zündschlüssel und fuhr den Jeep ein Stück vorwärts, sodass der darunterliegende Unteroffizier frei kam und Tarek den Leichnam zwischen den Rädern hervorziehen konnte.
Omar machte den Motor aus, lehnte sich über das Steuerrad und blickte zu dem Mädchen hinüber. Es war sehr dünn und sein Haar war so kurz geschnitten, dass man es auf den ersten Blick leicht für einen Jungen hätte halten können.
Im Gegensatz zu den anderen Frauen und Mädchen trug es kein Kopftuch.
»Hilfst du mir oder lässt du es zu, dass dir dieses Mädchen den Kopf verdreht, Omar?«, fragte Tarek, der mit dem schlaffen Leichnam des Unteroffiziers seine liebe Mühe hatte.
Omar stieg aus und half seinem Freund, den Leichnam hochzuhieven und zu den anderen Toten zu legen. Währenddessen blickten sie beide immer wieder zu dem Mädchen hinüber, aber das Mädchen stand nur da, die schmalen Schultern leicht hochgezogen, sodass es fast aussah, als würde es frieren. Aber der Wind, der von der Wüste her kam, war warm wie immer und brachte kaum Linderung von der Tageshitze.
»Ich brauche eine Schnur und vielleicht ein Stück von einem Betttuch, damit wir unsere Ladung festmachen und vor neugierigen Blicken schützen können«, forderte Tarek von den Dorfleuten.
»Wer seid ihr überhaupt?«, fragte der Mann mit dem Stock. »Wo kommt ihr her? Wir haben euch noch nie in dieser Gegend gesehen.«
»Wir kommen aus einem der Flüchtlingslager«, erklärte ihm Omar. »Unsere Väter sind weggegangen. Wir wissen nicht wohin und wem sie sich angeschlossen haben. Wir sollten bei unseren Familien bleiben, aber das geht nicht. Wir sind alt genug um zu kämpfen. Wir helfen unseren Familien mehr, wenn wir uns Black Shark anschließen.«
»Black Shark ist ein Gejagter. Die Regierung hat auf seinen Kopf einen Preis ausgesetzt. Tot oder lebendig.«
»Black Shark hilft den Flüchtlingen in den Lagern«, sagte Omar grimmig. »Deshalb macht die Regierung Jagd auf ihn.«
»Man wird ihn nie erwischen«, lachte Tarek. »Zu viele Menschen in Somalia stehen hinter ihm, denn er ist ihre letzte Hoffnung.«
»Das haben wir auch gehört«, sagte die junge Frau, die sich das Kopftuch vor den Mund hielt, sodass nur ihre Augen zu sehen waren. »Wenn das die Wahrheit wäre, würde ich gerne mit euch gehen.«
»Das ist keine Frauensache. Bleib lieber hier. Hilf den Alten und den Schwachen. Sieh zu, dass die Flüchtlinge, die hier durchkommen, auf dem Weg zur Grenze nicht verhungern. Wir werden euch nicht vergessen, wenn wir mit unserer Beute hierher zurückkehren.«
Eine andere Frau ging zu einem der Häuser und kam mit einer Schnur und einem Laken zurück, das aus mehreren zusammengenähten Teilen bestand. Ein Mann brachte ihnen einen Ziegenbalg voll Wasser. Mehr könne er nicht entbehren, sagte er entschuldigend. Omar und Tarek bedankten sich für alles, was sie von den Dorfleuten erhielten, Brotstücke, Trockenfleisch und eine Plastikflasche voll Tee. Einen kleinen Sack mit Hirse und einen mit Reis. Das Angebot, eines der Soldatengewehre im Dorf zu verstecken, lehnten die Dorfleute ab. »Von uns weiß keiner mit einer solchen Waffe richtig umzugehen. Und außerdem, wenn Soldaten kommen, dann sind es deren viele, und wenn Banditen oder die Gotteskrieger kommen, auch.«
»Ihr seid auch willkommen, hier im Dorf zu bleiben, bis es Tag wird«, schlug einer der Männer vor.
»Es ist sicherer, in der Nacht zu fahren und sich am Tag zu verstecken«, sagte Omar.
»Kennt ihr denn den Weg zum Fluss?«
»Wir werden ihn schon finden«, versicherte ihm Tarek. »Der Mond wird hell genug sein. Und wir können uns nach den Sternen orientieren.« Er zeigte zum Himmel, wo der Mond zu erkennen war und die ersten Sterne glitzerten.
Sie verabschiedeten sich von den Dorfleuten, ohne ihnen ihre Namen zu sagen oder sie ihre Gesichter sehen zu lassen.
Omar steuert den Jeep über den Dorfplatz auf das Mädchen zu, das sich auch dann nicht vom Fleck rührte, als er so dicht an es heranfuhr, dass er es mit dem ausgestreckten Arm hätte berühren können.
Vor dem Mädchen hielt er den Jeep an. Staub hüllte es ein. Regungslos stand es vor ihnen, den Kopf tief gesenkt.
»Warum scheust du dich, uns anzusehen?«, fragte Omar.
Das Mädchen hob den Kopf. Vergeblich warteten Omar und Tarek auf eine Antwort.
Tarek lachte auf und bevor ihn Omar daran hindern konnte, zog er sich die schwarze Maske mit den Augen und Mundlöchern vom Gesicht. Er grinste das Mädchen an.
»Wenn du mir sagst, wie du heißt, werde ich nach meiner Rückkehr nach dir fragen.«
Auch Omar zog jetzt die Maske vom Kopf und wischte sich mit ihr den Schweiß vom Gesicht. »Sein Name ist Tarek«, sagte er. »Ich bin Omar.«
»Dann seid ihr hier bei diesen Leuten auch nur Gäste. Wir kommen aus einem Dorf in den Bergen. Jemand sagte uns, es werde hier ein Lastwagen auf uns warten, aber es ist keiner hier.«
»Was wollte ihr jetzt tun?«
»Wir werden hier warten, und wenn kein Lastwagen kommt, gehen wir zu Fuß weiter, und vielleicht sind irgendwo Leute, die Kamele besitzen, und irgendwann werden wir zum Meer kommen.«
»Ihr wollt tatsächlich nach Europa?«, staunte Tarek. »Mit all diesen Frauen und Kindern? Ohne Männer, die euch beschützen könnten. Ich war zwar nicht oft in unserer Dorfschule, aber ich weiß dennoch, welch ein weiter und gefährlicher Weg vor euch liegt.«
»Wir vertrauen dem Herrn«, antwortete das Mädchen ruhig. »Er erfüllt uns mit Hoffnung. Wir hören niemals auf, ihm zu vertrauen, bis wir in Europa sind, wo die Menschen in Freiheit und ohne Angst leben.«
»Dem Herrn«, lachte Tarek und blickte kurz zum Himmel auf, an dem nun immer mehr Sterne glitzerten. »Welchem denn? Etwa dem der Europäer?«
»Allah ist Gott«, sagte das Mädchen bestimmt.
»Und warum trägst du dann kein Kopftuch, wie es bei uns üblich ist?«
»Ich habe heute meine kleine Schwester darin begraben.«
Jetzt schauten sie beide für einen Moment betreten zu Boden.
»Lange können wir nicht bleiben, sonst sterben wir alle«, sagte das Mädchen. »Es sind schon so viele von uns an Hunger und Krankheiten gestorben, dass ich bald keine Familie mehr habe.«
»Es sollen nicht sehr viele sein, welche die Küste erreichen, und noch viel weniger, die nach Europa kommen«, zweifelte Tarek. »Außerdem glaube ich sowieso nicht, dass es irgendwo auf dieser Welt einen Platz gibt, wo man euch in Frieden leben lässt.«
»Wenn du mit deinen Flüchtlingen nach Norden gehst, und wir, Tarek und ich nach Süden um uns Black Shark anzuschließen, werden wir uns wahrscheinlich nie mehr wiedersehen,« versuchte Omar dem Mädchen klar zu machen.
»Nur wenn Gott will, werden wir uns wiedersehen.«
»Dein Vertrauen in deinen Gott ist unerschütterlich.«
»Er ist unser aller Gott. Auch eurer!«
»Nein, für uns gibt es keinen mehr,« widersprach Tarek dem Mädchen hart. »Wenn es einen gäbe, hätten wir diese Soldaten nicht töten müssen.«
»Er hat es gesehen. Es geschieht nichts, was er nicht sieht. Das Gute uns das Böse, das wir tun. Ich muss jetzt gehen. Meine Leute warten auf mich.«
Das Mädchen bückte sich, hob einen kleinen Stein vom Boden auf und hielt ihn Omar auf der ausgestreckten Hand entgegen.
»Omar, wenn du diesen Stein immer bei dir trägst, werden wir uns auch eines Tages wiedersehen,« sagte sie mit fester Stimme und ohne Scheu, ihm in die Augen zu blicken. »Ich habe ihn auf dem Weg hierher aufgehoben. Er wird dich beschützen.«
Omar nahm den Stein aus ihrer Hand, betrachtete ihn und lachte geringschätzig.
»Warum sagst du das? Es ist kein Zauberstein. Hier liegen hunderte solcher Steine herum. Tausende. Ganz Somalia ist voll von solchen Steinen.«
»Omar, hast du denn jemals in deinem Leben irgendwo zwei gleiche Steine gesehen?«
Omar schaute um sich, suchte mit deinen Augen den Boden ab, der von vielen Steinen übersät war.
»Sie hat recht, Omar«, lachte Tarek. »Kein Stein ist wie der andere.«
Omar betrachtete den Stein noch einmal. Dann steckte er ihn in eine der Taschen seiner Soldatenhose. Ganz tief unten vergrub er ihn, unter all dem anderen Kram, der sich sonst noch darin befand, so dass er ihn nie, nie verlieren konnte. Einige Sekunden lang überlegte er fieberhaft, was er dem Mädchen geben könnte, aber ihm fiel nichts Passendes ein.
»Du brauchst mir nichts zu geben«, sagte das Mädchen.
»Dann gebe ich dir meine Hand«, sagte Omar. Er streckte die Hand aus, mit der er vorhin den Stein aus der ihren genommen hatte. Sie ergriff sie, für einen Augenblick nur, dann ließ sie los und trat einen Schritt zurück.
»Sag uns deinen Namen«, forderte Omar sie noch einmal auf. »Wenn ich einmal deinen Namen in den Wind rufe, wirst du mich vielleicht hören, auch wenn du dann in Europa bist.«
»Nuria«, sagte sie. »Nuria, das ist mein Name.« Und damit drehte sie sich um und ging davon.
Sie sahen ihr nach, sahen, wie sie sich bückte und in einem der kleinen Zelte verschwand.
Auf dem Dorfplatz, dort wo die Soldaten gestorben waren, brannte jetzt ein Feuer. In den Flammen sollten die bösen Geister verglühen.
Funken flogen im Wind.
Omar legte den ersten Gang ein und fuhr den Jeep langsam in Richtung Süden aus dem Dorf. Es war beinahe dunkel, als sie in einer flachen Senke das Flussbett durchquerten. Auf der anderen Seite war die Straße zu Ende, nur noch ein alter Karrenweg führte weiter den Hügeln entgegen, hinter denen sich nach ihren Berechnungen der Fluss befinden musste.
Omar und Tarek redeten lange Zeit nicht.
Dann fragte Tarek seinen Freund, ob er glaube, Nuria eines Tages wiederzusehen.
»Was denkst du?«, gab Omar zurück.
»Sag du es, Omar. Sie hat den Stein dir gegeben.«
»Vielleicht sehen wir uns wieder«, sagte Omar. »Vielleicht ist es doch ein besonderer Stein.«
»Du glaubst das«, antwortete ihm Tarek spöttisch. »Ich nicht.«
Danach schwiegen sie wieder. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Aber sie kannten sich lange genug um zu wissen, an wen sie beide dachten.
Einige Wochen, nachdem in einem kleinen Dorf in Somalia fünf Soldaten ihr Leben lassen mussten, damit sie nicht über ein Flüchtlingslager herfallen konnten, verließ der kleine englische Frachter »Emma Lou« den Hafen von Portsmouth in Richtung Gibraltar und das Mittelmeer.
Ihr Ziel war der Hafen von Mombasa in Kenia, an der Ostküste Afrikas.
Die Besatzung der »Emma Lou« bestand aus neunzehn Seeleuten verschiedenster Nationalitäten.
Einer von ihnen war der junge Kombüsengehilfe Tommy McCoy, der aus dem Donegal County in Irland stammte.
Tommy war sechzehn Jahre alt, und die Fahrt auf der »Emma Lou« sollte für ihn zu einem Abenteuer werden, wie er es sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen konnte.
Nichts, aber auch gar nichts deutete darauf hin, dass sie sich einmal begegnen würden, Tommy, der Junge aus Irland, Omar und Tarek aus Somalia und das Mädchen Nuria, das aus einer Bergregion im Grenzgebiet vom Äthiopien und Somalia kam.
Erst später, als alles vorbei war und Tommy zurück in Irland seine Wunden leckte, begriff er, dass sein Weg genauso vorgezeichnet gewesen war wie der von Omar und von Tarek und von Nuria.
Nichts, so schien es ihm, war Zufall gewesen. Das Schicksal wollte es so und Tommy war sich danach sicher, dass es die Bestimmung tatsächlich gab und somit auch einen Gott, der seine Schritte lenkte und ihn beschützte, als er selbst sich und sein Leben längst aufgegeben hatte.
Nichts geschah aus Zufall, davon war Tommy überzeugt. Du wirst durch dein Leben geführt, vom Tag, an dem du geboren wurdest, bis zum Tag an dem du stirbst.
Du stirbst nicht an irgendeinem Tag, du stirbst an deinem Tag.
Die »Emma Lou«, die unter griechischer Flagge fuhr, war ein sogenannter »Minibulker«, ein Massen- oder Stückgutfrachter von siebenundneunzig Metern Länge und sechzehn Metern Breite.
Der Großteil ihrer Ladung, einige hundert Tonnen Soja, Weizen, Reis und Milchpulver, war für den Kongo bestimmt und wurde im Auftrag der privaten Hilfsorganisation »HelpAfrica« verschifft. Ein kleinerer Teil der Ladung bestand aus Medikamenten und Impfstoffen für einige Ärzteteams, die in verschiedenen Staaten Afrikas sogar in den entlegensten Gebieten einen heroischen Kampf gegen eine Reihe tödlicher Krankheiten führten.
Als Kombüsengehilfe oder Hilfskoch gehörte Tommy McCoy nicht zur Decksmannschaft. Dass er sich überhaupt auf der »Emma Lou« befand, hatte mit einem Unglück zu tun, das seinen Vater das Leben gekostet hatte.
Tommys Vater, James McCoy, ein Hochseefischer, der mit seinem Boot die Gewässer des Nordatlantiks durchstreift hatte, war vor drei Jahren in einem gewaltigen Sturm vor der Küste Schottlands ums Leben gekommen.
Oft hatte Tommy seinen Vater auf den Fischfang begleitet. Auch bei dessen letzter Fahrt hätte er dabei sein sollen, aber bei einem Fußballspiel verstauchte er sich nur wenige Tage, bevor der alte Seitentrawler »Josephine« auslief, den linken Knöchel. Und zwar so schlimm, dass er einige Tage lang nur noch auf Krücken und auf einem Bein herumhumpeln konnte.
Der Verlust seines Vaters war für Tommy das größte Unglück seines Lebens.
Seine Mutter versuchte zwar ihn zu trösten, indem sie ihm immer wieder versicherte, der große Schmerz würde nach und nach vergehen, aber Tommys Trauer wurzelte so tief in ihm, dass er sich das Herz herausreißen hätte müssen, um sie auszulöschen.
Zum Glück war da Kapitän Rooney, ein alter Freund seines Vaters, der nicht mit ansehen konnte, wie aus dem lebenslustigen Tommy McCoy ein in sich gekehrter Grübler wurde. Tommy gab das Fußballspiel genauso auf wie seine Freundschaft mit einigen Jungs, mit denen er die Rockband »Culpepper Four« gegründet hatte. Als deren Schlagzeuger hatte Tommy schon überall in den Jugendtreffs und in den Pubs gespielt, manchmal sogar außerhalb des Countys.
Wenn Tommy McCoy sein Zuhause, ein schmales Backsteinhaus, eingeklemmt zwischen anderen Backsteinhäusern an der Arthur Lane, freiwillig verließ, dann nur noch, um den alten Feldweg zum Aikins Rock hinauf zu wandern. Dort saß er manchmal stundenlang, hin und wieder sogar den ganzen Tag und starrte auf das Meer hinaus, als wäre die Sehnsucht nach seinem Vater stark genug, die »Josephine« vom Grund zu holen und zum kleinen Fischerhafen zurückzubringen.