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Achim Koch

Fluchtland

Eine Satire

 
 

Schruf und Stipetic

Achim Koch: Fluchtland

© Schruf & Stipetic GbR, Berlin 2016
www.schruf-stipetic.de

Cover: Schruf & Stipetic

ISBN: 978-3-944359-14-4

 

 

Vervielfältigung und gewerbliche Nutzung nur nach ausdrücklicher Genehmigung der Schruf und Stipetic GbR.

Inhalt

Epigraph

1. Ich weiß gar nicht mehr …

2. Morgens ein Anruf von Mareike …

3. An sich hasste ich Hausversammlungen …

4. Es lag gar nicht daran, dass Kai …

5. Seit vielen Jahren feierten wir …

6. Das Telefon klingelte …

7. Jeder unserer fünf Genossenschaftsblöcke …

8. Mit meinem Notebook auf den Knien …

9. Wir wohnten in einem sehr …

10. Es war sehr leicht …

11. Wir saßen zusammen …

12. Unser Gemeinschaftsgarten …

13. Missverstßndnisse habe ich schon immer …

14. Es war unangenehm …

15. Er war in einer Eisenbahnersiedlung …

16. Wenn man in einer großen …

17. Soweit ich zurückdenken kann …

Anhang

 

Wir leben gern – hat es auch keinen Sinn ⁄
bei uns stirbt keiner, denn wir sind nur Schein ⁄
geträumtes Spiegelbild von einem Sein.

Werner Warsinsky, Ein Sack voll Fallobst, Komödie, 1947

1.

Ich weiß gar nicht mehr, an welchem Wochentag es war. Dienstag oder Mittwoch. Ein Werktag auf jeden Fall. Abends. Bestimmt nach zehn Uhr. Unsere Robinien[1]-Terrasse vor der großen Schiebetür lag schon im Dunkeln. Hinter den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser brannte Licht. Ich hatte mir ein Glas Rotwein eingeschenkt, saß mit lang ausgestreckten Beinen auf der Couch und sah in unsere offene Küche. Eingehüllt in einen meiner dicken Wollpullis und eine Decke, mit einem Glas heißem Tee in der Hand, hockte Ida[2] mir gegenüber. Der Tagesbericht. Fast jeden Abend erzählten wir uns, wie der Tag verlaufen war.

Es war am letzten Dienstag kurz nach neun. Und es war sein zweites Glas.

Ein Dienstag, ja, der Tag der wöchentlichen Redaktionskonferenz, und ich war immer noch etwas irritiert. Deshalb erzählte ich zunächst von der Mail[3], die ich morgens erhalten hatte. Eine Mail der IDW-Stiftung. Ich hatte noch nie von ihr gehört. Ob ich interessiert sei, Recherchen zu einem unbekannten Schriftsteller anzustellen. Johannes Eisenbach. Auch von ihm hatte ich nie zuvor gehört. Eine kurze Vita im Anhang. 1889 in unserer Stadt geboren, Abitur, Buchhalter. Ein ganz gewöhnliches Leben. Keine Veröffentlichung bis 1945. Dann plötzlich und unerwartet eine Kurzgeschichte nach der anderen. Hörspiele. Romane. Eine Flut. 1955 war Eisenbach gestorben. So jung noch. Danach vergessen.
Ich hatte diese IDW-Stiftung sofort gegoogelt. Ilse-und-Dietrich-Winkelmann-Stiftung mit dem Ziel, das Andenken von Schriftstellern, die in der Stadt geboren und hier tätig waren, für künftige Generationen zu bewahren. Warum machte man sich so etwas zur Aufgabe? Warum wollte man unbedingt an alle möglichen Unsterblichkeiten erinnern, immer wieder ewige Denkmäler aufstellen, andauernd Einfluss nehmen auf das Denken nachfolgender Generationen? Das hatte ich noch nie verstanden. Man veranstaltete Lesungen, gab Neuveröffentlichungen heraus, verlieh Literaturpreise mit dem Namen der Verstorbenen. Straßen wurden nach toten Schriftstellern umbenannt. Man erfand Lesezirkel, druckte Bildbände, drehte Dokumentarfilme über sie, machte aus ihren ehemaligen Wohnhäusern Museen, brachte Schilder an allen Gebäuden an, in denen sie auch nur kurz gewohnt hatten, stiftete Ehrengräber. Eine eher fragwürdige Würdigung von Schriftstellern. Oder hatten sie während des Schreibens genau darauf gehofft?
Schon vorher hatte ich weitgehend vergessene Schriftsteller entdeckt und kleine Artikel über sie verfasst. Diese Stiftung hatte sich aber vor allem an mich gewandt, weil ich vor Jahren ein Buch über den Blut-und-Boden-Schriftsteller Karl-Josef von Lassen verfasst hatte[4], der nach 45 verschwunden war. In den Sechzigerjahren erschienen in Südamerika die gefeierten Romane von Carlos Laslo, die schnell zu Bestsellern und auch ins Deutsche übersetzt wurden. Allein durch die Analyse des Schreibstils hatte ich entdeckt, dass es sich bei Laslo um von Lassen handelte. Eine Sensation damals. Viele öffentliche Auftritte, Geld, neue Aufträge und ein unbefristeter Exklusivvertrag als freier Mitarbeiter bei der größten Wochenzeitung. Gesellschaftsrubrik.
Mit einem Mal war ich all meine beruflichen Sorgen los. Man hatte meine sprachliche Sicherheit erkannt. Ich wurde zum Experten für semantische und rhetorische Figuren erklärt. Ich wurde Stilistiker. Der Sprachpapst. Natürlich alles Unsinn. Aber mit einem Mal wurde ich angefragt, beauftragt, um Hilfe gebeten, eingeladen, denn zu allen möglichen Sprachthemen wollte man meine Meinung hören: Rechtschreibreform der Rechtschreibreform, aktuelle Metaphorik in der Jugendsprache, Rhetorik des Fanatismus, Deutsch als Fremdsprache und so weiter. Ich verwaltete sogar online den offiziellen Anglizismenindex der deutschen Sprache. Ich wurde zum wissenschaftlichen Beirat von Literaturgremien ernannt, hielt Reden, überreichte Preise. Eine Gastprofessur in den USA lehnte ich aus privaten Gründen ab.

Es lag bestimmt daran, dass er diesen Nazischriftsteller enttarnt hatte. Dadurch war er wirklich bekannt geworden. Die Gastprofessur hat er abgelehnt, weil ich damals noch zur Schule ging.

Jetzt sollte ich also herausfinden, wer dieser Johannes Eisenbach gewesen war. Bei Wikipedia, Amazon oder in den Online-Antiquariaten war er unbekannt. Insgesamt also eine interessante Aufgabe. Und sehr gut bezahlt, denn der Mail war auch ein Vertragsentwurf angehängt. Ziel: Eine fünfzigseitige Abhandlung mit einer Auflistung aller Veröffentlichungen, einer Biografie von Eisenbach sowie einer literarischen und historischen Einordnung des Gesamtwerkes. Abgabe in genau vier Wochen. Das war knapp. Aber fünfzehntausend Euro. Das konnte man nicht einfach ablehnen. Hätte man mir einen Zeitraum von drei oder gar sechs Monaten angeboten, hätte ich nicht gezögert. Doch vier Wochen? Ida riet mir an diesem Abend, den Zeitraum zu verhandeln.
»Du könntest andeuten, dass du mit einer leichten Reduktion des Honorars einverstanden wärst, wenn man dir mehr Zeit geben würde.«
Ich starrte zu den Fenstern des gegenüberliegenden Wohnhauses und erhob mich ein wenig.
Etwas störte mich da draußen. Nicht die kalten, LED-erleuchteten Küchenfenster. Daran hatte ich mich gewöhnt. Auch nicht die dunklen Schlafzimmerfenster. Wie immer sah ich einzelne Bewohner beim Abwasch oder Aufräumen. Viele von ihnen kannte ich, denn wir lebten in einem Wohnprojekt[5] um einen Gemeinschaftsgarten herum, den Mitmachgarten, ein urbanes Biotop, umgeben von unseren Genossenschaftshäusern und einem hohen Zaun hin zu einer Straße.
Der Garten schien verändert. Ich wandte mich wieder an Ida:
»Der Auftrag bedeutet Arbeit, Ida, viel Arbeit. Brauchen wir das Geld denn unbedingt?« Ich würde jeden Tag früh aufstehen, viel herumfahren, Bibliotheken besuchen, Archive durchforsten, mailen und herumtelefonieren. Und nebenbei musste ich ja auch noch meinen Exklusivvertrag für die Zeitung erfüllen. Drei Beiträge mit je tausend Wörtern[6] bis zum Freitagabend jeder Woche. Freie Themenwahl.
Ida schüttelte den Kopf.
»Meinst du das jetzt ernst?«
Ich nickte nachdenklich vor mich hin. Sie lachte laut auf.
»Aber fischst[7] dir deine Themen immer irgendwie zusammen. Meist beeilst du dich, mit deinen Texten schon nach ein, zwei Tagen fertig zu sein. Und das nur, damit du dir freinehmen und weiter deine vielen anderen Geschichten ausdenken kannst, die du dann nie aufschreibst. All das immerhin für ein stattliches Honorar. Niemand arbeitet so wie du. Wir nicht an der Uni und auch sonst niemand. Mama sowieso nicht.«
Ein heikles Thema, dieses Mamathema. Mit ihr konnte ich mich ohnehin nicht vergleichen. Also blieb eigentlich nur wieder das Haushaltsargument: Wer kauft denn hier ein, wer kocht jeden Tag, wer putzt ständig, wer geht auf die Hausversammlungen, wer, wer, wer? Ich wollte gar nicht erst damit beginnen. Altersweisheit verbot es mir. Ich wusste ja, wie das Gespräch verlaufen würde. Lebenserfahrung.

Eigentlich führte mein Vater das Leben eines Frührentners mit kleinem Nebenverdienst. Und das mit gerade mal fünfzig. Er frühstückte nie vor zehn. Und er frühstückte lange. Manchmal bis zwölf und länger, denn er las dabei alte Zeitungen und dachte sich ständig neue ausufernde Geschichten aus, die er mir manchmal erzählte, aber nie aufschrieb.

Einige schrieb ich schon auf. Wenige allerdings. Es waren einfach zu viele. Wenn ich nach dem Frühstück eine dieser Geschichten aufschreiben wollte, zwängte sich fast immer eine andere dazwischen. Ich konnte beide nicht miteinander verbinden, konzentrierte mich mühevoll auf eine. Doch sie bauschte sich dann auf wie eine Wolke, weitete sich nach allen Seiten aus, quoll unbeeinflussbar vor sich hin. Meine Geschichten entwickelten sich ohne mich. Ich verlor den Überblick, war ihnen machtlos ausgeliefert. Oft lösten sie sich dann in Luft auf, verschwanden, wie sie gekommen waren. Nur selten gelang es mir, sie festzuhalten. Den einen oder anderen Text verkaufte ich manchmal.
»Du meinst also, ich sollte das Angebot annehmen?«
»Es ist doch spannend«, antwortete Ida. »Wer war dieser Eisenbach? Was hat er geschrieben? Warum kennt ihn niemand? Und vor allem, warum schießt er nach Kriegsende plötzlich all diese Sachen raus? Ein … Wie war das? Ein literarisch aktiver Buchhalter. Fast schon wie Kafka.«
Ich stellte mir Kafka nicht in Prag nach dem ersten, sondern in meiner Stadt nach dem zweiten Weltkrieg vor. Verliebt. Einsam. Schmallippig. In sich gekehrt. Kaum Freunde. Korrekt gekleidet träumte er die Straßen entlang. Guten Morgen, Herr Kafka. Keine Antwort. Ein Bürokrat im öffentlichen Leben. Ein Pedant, dem man die in ihm schlummernde Fantasie nicht ansah. Nachts dann explodierte es in ihm.
Ich zwang mich, nicht weiter daran zu denken.
»Aber Kafka war als Jurist bei einer Versicherung, Ida, und hat sich mit Arbeitsunfällen beschäftigt.«
»Hallo! Fast wie Kafka, habe ich gesagt.«
Wir schwiegen, blickten beide zu den Fenstern hinter unserem Garten hinauf. Ein Licht nach dem anderen wurde gelöscht[8]. Mein Blick wanderte wieder in den dunklen Garten.
Etwas dort draußen beunruhigte mich immer noch.
»Und bei dir, Schatz?«
Ida stellte ihr Teeglas ab und rekelte sich.
»Wir haben die Hausarbeit fertig. Morgen machen wir uns an die Powerpoint, und in drei Tagen werden wir alles präsentieren. Wenn es gut läuft, dann warte ich mal auf die Reaktionen im Netz. Vielleicht kann ich meine Thesis darauf aufbauen.«
Wirtschaftsmathematik. Ich hatte nie auch nur den Ansatz einer Ahnung gehabt, was das eigentlich war, obwohl es mir mehrfach erklärt worden war. Was konnte eine Thesis darüber beinhalten? Es klang bestimmt fürchterlich.
Ida in einem großen Hörsaal vor ihren Kommilitonen. Klein, zart, Dreivierteljeans, weiter Pullover, kurze, stoppelige, blonde Haare. Ein Kind, das an einem Bahnsteig vergessen wurde. In der Fremde. Wie verloren. Aber sie projiziert Zahlen und Formeln an eine Wand, wirft mit komplizierten Begriffen um sich, brabbelt endlose Formeln vor sich hin, die dann plötzlich und überraschend in einer Zahl, in einem Buchstaben oder noch schlimmer in einer Kombination aus beidem enden. Heureka! Ypsilon hoch zehn minus drei. Große Überraschung. Einige in dem großen Saal haben nicht folgen können. Andere schon. Sie sitzen angespannt und hochkonzentriert da. Gerötete Wangen. Aufgerissene Augen. Sie sind baff. So ein komplizierter Zahlengedanke und so eine überraschend einfache Lösung. Das hat nun wirklich niemand erwartet. Zaghaft beginnen die ersten auf ihr Pult zu klopfen, dann folgen die anderen. Ein Crescendo im Pultgeklopfe (Pultperkussion?)[9], bis ihnen die Fingerknochen schmerzen. Und Ida steht vor ihnen. Ganz allein. Meine kleine, zarte Ida. Mit einem rötlichen Kopf bis in die weichen Haarstoppeln hinein, so blickt sie unsicher lächelnd in die Runde. Kann ihren Erfolg selbst noch nicht verstehen. Wird dann lieber geschäftig, räumt ihren Rechner zur Seite. Die Projektion erlischt[10]. Das Klopfen will nicht aufhören.

Ich projizierte nichts an die Wände, sondern schickte den gesamten Rechenvorgang parallel auf die Rechner der anderen Studenten.

Gut, wahrscheinlich hat dann auch niemand auf das Pult geklopft. Schade. An der Uni gibt es vielleicht gar keine Pulte mehr. Auf Pulten ist die Tischplatte schräg angebracht, um besser lesen und schreiben zu können. Heute verstellt man nur den Bildschirm des Laptops, um besser sehen zu können. Vermutlich klopft niemand mehr auf Pulte, sondern reagiert im Netz durch Likes. Ich hasste Likes.
»Aber dann bist du doch gut vorangekommen mit deiner Arbeit. Hattest du es dir nicht viel schwieriger vorgestellt?«
Ida reagierte nicht, sondern starrte durch die Scheibe der großen Schiebetür in den Gemeinschaftsgarten.
»Hattest du doch, oder?«
Immer noch keine Reaktion. Dann aber: »Kann es sein, dass da noch jemand im Garten herumläuft?«
Ich wälzte mich von der Couch und blickte durch die Scheibe in die Dunkelheit. Da bewegte sich nichts. Aber ich war mir nicht ganz sicher und kehrte etwas zögerlich zu meinem Weinglas zurück.
»Vielleicht hat jemand was liegen lassen. Heute waren einige im Garten. Bald die letzten Sonnenstrahlen, bevor die große Traurigkeit hereinbricht.«
»Du magst den Herbst immer noch nicht, oder?«
Ida war zu jung, um das zu verstehen. Der Herbst markierte den Beginn des Todes. Ida liebte alle Jahreszeiten. Wie ihre Mutter. Sie hatte so viel von Mareike[11]. Fast alles. Das Aussehen. Das Interesse für Naturwissenschaften, für Fakten, Formeln, Logik und Beweise. Für mich eine entzauberte Welt ohne Interpretation, ohne Anmut, starr, unzweideutig und absichtsvoll, sinnig aber nicht sinnlich.
Mareike flog einen großen Airbus, lud Ida manchmal ein nach Dubai oder Bahia oder so ähnlich. Orte, die ich nicht kannte und nicht kennen wollte. Auch Mareike kannte ich nicht mehr so gut wie früher. Ich hatte vergessen, was, außer Ida, uns damals so stark verbunden hatte. Und unsere Verbundenheit war stark gewesen. Sehr stark. Mehr als stark. Wir waren gegensätzlich und deshalb maßlos, radikal und später verletzend. Vielleicht telefonierten wir deshalb manchmal. Wir hatten es wohl nie ganz verstanden. Wir hatten uns, jeder hatte sich und jeder hatte den anderen nicht so ganz verstanden. Wir taten uns, jeder tat sich und jeder tat dem anderen ein wenig leid.
»Ich schon.«
»Was?«
»Ich mag diese Jahreszeit.«
Was konnte man am Herbst mögen? Ich hörte im Herbst überall nur Jammern. Laut und deutlich. Die Äste schmückten sich noch, als gäbe es etwas zu feiern. Aber was denn noch? Dieser Schmuck war nichts als ein Verstecken, ein letztes Aufbäumen gegen den Verfall. Denn sehr schnell schon rissen die Blätter schmerzhaft ab, segelten vergessen ins Ungewisse (Blätter segeln ins Ungewisse!). Blumen knickten schluchzend (!) zur Seite. Früchte krachten zu Boden, verfaulten, zermatschten sinnlos. Kleine Tiere froren, verkrochen sich wimmernd (!), bis sie kümmerlich starben. Vögel sammelten sich, um uns zu verlassen. Sie flogen weg. Klar. Doch einige blieben, hockten zitternd auf Ästen, klagten leise und trauerten (!) den anderen nach. Der Regen weichte alles ein, gab allem den Rest, ertränkte und tötete, was noch leben wollte. Alles ersoff darin. Und dann kam der Sturm, fegte das restliche Leben sorglos davon, jagte alles weg, ohne Achtung für das, was sich zuvor so mühsam entwickelt hatte. Schließlich legte sich der weiße Tod über alles, tat, als wollte er es schützen. Doch er verdeckte nur die Trauer und das Elend. Die große Stille begann. Das konnte man nicht lieben.
»Und was gab es sonst noch?«
Ich blickte etwas irritiert zu Ida hinüber.
»Bei mir?«
»Ja, in der Redaktion heute.«
Ein Desaster.
»Ein Desaster. Irgendwie.«
Ida reagierte nicht, denn jede Redaktionskonferenz war ein Desaster. Sie kannte das schon. Eine ständige Wiederholung. Keine Neuigkeit. Keine Einmaligkeit. Gleichgültig, schal, langweilig und sofort dem Vergessen geopfert. Verschwendung von Lebenszeit.
Auf dem Weg zur Konferenz war ich dem Literaturpapst in die Arme gelaufen. Große Gesten. Langes Ausschreiten. Kordgewand. Ein Konzil[12].
»Sag mal, kennst du einen Schriftsteller, der Johannes Eisenbach heißt?«
»Eisenbahn?«, näselte er.
»Nein, Eisenbach.«
»Eisenbach, Eisenbach …« Ich sah ihm eine Zeit lang fasziniert zu. »Eisenbach, Eisenbach, Eisenbach …« Er hörte nicht auf.
»Nee, lass mal. War ja nur ′ne Frage.«
»Eisenbach, Eisenbach …« Er schüttelte bedächtig den Kopf.
»Komm, die Konferenz beginnt gleich.« Unwillig ließ er sich mitziehen, muldete sich dann gedankenverloren in einen der Sessel und verblieb gähnend in teilnehmender Abwesenheit.
Meine Artikel wurden fast widerstandslos durchgewunken, obwohl ich wieder einmal in andere Rubriken eingedrungen war. Der Artikel über den letzten Zigarrendreher in der Stadt gehörte wahrscheinlich zu Arbeit und Familie. Ein anderer über Fettleibigkeit bei jungen Lehrern war eher dem Bereich Medizin und Naturwissenschaften oder Hochschule und Pädagogik zuzuordnen. Mein Beitrag über Schwarzfahrer[13] löste eine leicht erregte Konkurrenzdiskussion zwischen Wirtschaft und Finanzen auf der einen und Reise und Verkehr auf der anderen Seite aus. Wie immer hatte der Redaktionsleiter alle Kontrahenten zu beschwichtigen, fand Argumente für die eine oder andere Position, wägte ab, stellte hintenan, betonte aber, sah berechtigtes Interesse und zerredete so jedes Argument. Deswegen leitete er ja die Redaktion. Ein Genie.
Und jeder wusste von meinem Vertrag. Ich durfte in fast jede Rubrik einmarschieren[14] und mir fast immer die Themen selbst wählen. Ich war sakrosankt. Manche meiner Kollegen verhielten sich schon deshalb friedlich, weil ich ja als Spezialist für Semantik galt und sie ihr Geld mit Schriftsprache verdienten.

Das war wirklich nicht fair. Kai konnte sich manchmal so unfair verhalten. Er nutzte seine Sonderrolle in der Redaktion schamlos aus.

Nein, ist nicht so richtig fair, Ida. Aber ich bin bisher auch nie darauf angesprochen worden. Viele Kollegen hatten offensichtlich Angst, ich könnte ihren Stil kritisieren, ihre Art zu schreiben. Darin bestand immerhin die Grundlage ihres Berufs. Und allen schien klar zu sein, dass niemand einer solchen Kritik standhalten würde, denn ich besaß ja so etwas wie ein uneingeschränkte Recht auf die Bewertung von Schreibstil. Unangefochten. Niemand sprach aus, was jeder wusste. Es war so etwas wie antizipierter Respekt, wenn es so etwas überhaupt gibt. Niemand schien aber wissen zu wollen, dass dieser Respekt eigentlich unbegründet war, denn man hätte sich nur einmal die Mühe machen müssen, den Stil meiner Artikel zu analysieren. Mein Schreibstil unterschied sich nicht von dem der anderen. Wenn ich ihn nüchtern betrachtete, stellte ich fest, dass er meist nur durchschnittlich war, oft sogar schlecht. Darauf hätte mich mal jemand ansprechen sollen.
Ich finde, dein Schreibstil ist wirklich Mittelmaß, ein langweiliger SPO-Stil. Subjekt-Prädikat-Objekt und dann wieder SPO. Keine Fantasie bei den Verben. Sehen, gehen, sehen, gehen. Sich ständig wiederholende Adverbien und Adjektive. Du jonglierst nicht kunstvoll mit der Sprache, sondern reihst wahllos aneinander. Du zeichnest keine eingängigen Bilder. Ich habe keine Assoziation. Ich fühle gar nichts. Der Rhythmus bleibt holprig, mal abgesehen von der Armseligkeit deines Wortschatzes verfügst du über eine eher peinliche Wortfrequenz. Und immer schreibst du so, als sei der Leser dein bester Freund, der aber stets ein wenig unterbelichtet ist und deshalb deine Hilfe benötigt. Du richtest dich immer an dankbare Idioten, die dir auch noch glauben, was du da zusammenschreibst und nicht merken, dass du dir das meiste nur ausgedacht hast. Denn du weist deine Behauptungen nicht nach, und wenn du mal Fakten anführst, dann sind auch die nur erfunden. Im Grunde genommen belügst du deine Leser. Ja, du verletzt mit deinem schlechten Schreibstil auch noch die Grundprinzipien unserer Arbeit. Das ist nicht Recherche. Das ist Fiktion.
»Also mal wieder ein Desaster«, wiederholte Ida und blickte wieder suchend in den Garten.
»Ja, aber das eigentliche Desaster kam erst nach der Konferenz.«
Jetzt sah Ida mich aufmerksam an, doch ich stellte mein leeres Weinglas zur Seite, erhob mich und ging nochmals an die Schiebetür. Ich war mir nicht sicher, doch nun meinte auch ich, eine Bewegung im dunklen Garten gesehen zu haben.
»Ist da doch was?«, fragte Ida. »Ich dachte, ja. Aber ich seh′ nichts.«
Vorsichtig schob ich die Tür auf und horchte in den Garten hinaus. Nichts.
Halblaut: »Hallo, ist da noch jemand im Garten?« Nichts.
Einen Augenblick zögerte ich. Dann schob ich die Tür zu, füllte mein Weinglas und setzte mich wieder zu Ida.
»Was war denn nun das eigentliche Desaster?«
»Nach der Konferenz bat mich der Redaktionsleiter in sein Büro.«
Als ich es betrat, saß der Nerd[15] in einem der schicken Ledersessel. Dick, in einer zu großen schwarzen Lederjacke, dünne, ungepflegte, fusselige, fettige, viel zu lange Haare in einer Nichtfarbe, vom Körper immer leicht abstehende Arme wie schlaffe Entenflügel. Er starrte bewegungslos vor sich hin und roch nach kaltem Rauch. Seinen wirklichen Namen kannte ich nicht, kannte kaum jemand. Er war für die Kommunikationsmedien verantwortlich.
Mein Computer ist abgestürzt – dann ruf doch den Nerd an.
Er fand immer eine Lösung. Nur, er sprach nie darüber. Er sprach eigentlich gar nicht. Vielleicht konnte er gar nicht sprechen, nur tippen. Er konnte superschnell tippen. Ohne hinzusehen.
»Kai, setz dich doch«, begann der Redaktionsleiter mit seiner eigenartigen Fistelstimme das Gespräch und zeigte auf einen der Designersessel, die nicht mit Büchern, Zeitungen und Papieren belegt waren.
»Ich wollte mit dir mal über deinen Vertrag reden.«
»Wollt Ihr da etwa was ändern?«
Der Blick des Redaktionsleiters huschte kurz zum Nerd. In diesem Augenblick ahnte ich, dass etwas Unangenehmes folgen würde.
»Wir eigentlich nicht, Kai. Aber vielleicht du?« Ich runzelte die Stirn und hob die Augenbrauen.
»Ich bin zufrieden mit meinem Vertrag.« Der Redaktionsleiter sah nachdenklich über mich hinweg.
»Und das mit der Exklusivität, ich meine, was das eigentlich bedeutet, das ist dir doch auch klar, Kai, oder?«
Mein »Ja« klang viel zu zögerlich.
»Exklusivität bedeutet, dass du alles, was du schreibst, erst mal uns anbietest. Wenn wir uns dagegen entscheiden, dann kannst du das auch woanders verkaufen. Das ist Exklusivität, Kai.«
»Ja, und?«
»Ja, und?« Seine Fistelstimme erreichte höhere schmerzhafte Frequenzen. »Du hast im letzten halben Jahr vier Artikel an andere Zeitungen, Journale und online-Portale verkauft, ohne sie zuvor uns anzubieten. Einen im April über Crystal Meth an den Spiegel.« Er blickte auf seine Unterlagen. »Im Juni einen über den Zusammenhang zwischen Burn-out und Fettsucht bei Lehrern[16] und einen über Selbstzahlerkassen im Supermarkt an Currency, und einen im September über Gender-Bending an dieses Online-Lifestyle …« Er suchte wieder in seinen Papieren herum. »Na, an dieses Lifestyle-Portal.« Und dann sehr explosiv: »Verdienst du nicht genug bei uns, Kai? Hast du Schulden? Drogen? Oder verspielst du alles? Was ist los mit dir?«
Sofort jagte mir ein einziger Gedanke durch den Kopf: Woher wussten sie es überhaupt?
»Nein, gar nichts. Wirklich. Ich bin zufrieden. Ich dachte nur, euch würde das nicht interessieren.«
»Nochmals: Du hast hier einen Exklusivvertrag, Kai. Was uns interessiert, entscheiden wir. Du schreibst und lieferst.« Von »schreibst« auf »lieferst« senkte sich die Stimme von schmerzhaft und gefährlich zu erträglich und versöhnlich. Ein Signal.
»Verstehe ich jetzt nicht«, unterbrach Ida mich. »Wie hörte sich das an?«
Ich setzte mich etwas auf und versuchte den Redaktionsleiter zu imitieren: »Das entscheiden wir. Du schreibst und lieferst.« Es gelang noch nicht gut, deshalb: »Das entscheiden wir. Du schreibst und lieferst.« Ida versuchte es nun auch, musste es aber vor Lachen abbrechen.
»Warte ab, das Wichtige kommt ja erst noch.«
Ich entschuldigte mich beim Redaktionsleiter, versicherte, den Fehler nicht zu wiederholen und bat ihn, der Sache keinen zu großen Stellenwert beizumessen. Ich würde mich zukünftig an meinen Vertrag halten. Dann sah ich zum Nerd, fragte mich, warum er überhaupt an dem Gespräch teilgenommen hatte, zeigte auf ihn und blickte den Redaktionsleiter erwartungsvoll an.
»Ach«, fistelte er, »falls du es hättest abstreiten wollen, hätten wir es dir nachweisen können.«
»Wie meinst du das?«
Der Redaktionsleiter streckte den Arm zum Nerd hin, als wollte er ihn ernsthaft auffordern, die Sache aufzuklären. Und tatsächlich begann er zu sprechen. Langsam zwar. Aber klar und verständlich. Der Nerd konnte sprechen!
»Wir scannen alles ein, was so geschrieben auf den Markt kommt.«
»Wirklich alles?«, fragte ich argwöhnisch nach.
»Ja.« Er runzelte dabei ein wenig die hohe und nach vorn ausgebeulte Stirn (Homo naledi)[17] und blickte mich an, als hätte ich eine besonders abwegige Frage gestellt.
»Sie meinen jetzt Artikel, Reportagen, Meldungen und all das?« Wieder sah er mich mit dem gleichen Blick an.
»Nein, ich meine alles, was geschrieben auf den Markt kommt.«
»Romane, Werbeblätter, Beipackzettel, Artikel im LandJuwel der Fleischerinnung oder in der Kundenzeitung der Stadtsparkasse?« Mit spöttischem Blick streifte ich den Redaktionsleiter, der aber ernsthaft und gefasst zurückblickte. Der Nerd nickte entschieden.
»Und warum? Das kann doch sowieso niemand lesen. Das ist doch viel zu viel.«
»Es wird auch nicht gelesen«, antwortete er ruhig. »Wir lassen automatische Stilanalysen ablaufen. Wörter, Satzstellungen, Sprachbilder, sogar die Interpunktion. Sprache läuft nicht immer bewusst ab. Wir wiederholen uns in unseren Eigenarten und hinterlassen einen sprachlichen Fingerabdruck, der oft sehr viel über unsere Psyche aussagt. Sie, Kai, haben jedenfalls viermal einen Fingerabdruck hinterlassen.«
Quantitative Stilistik. Ich fand keine Worte, blickte den Nerd nur fassungslos an und wollte anschließend demonstrativ das Büro verlassen. Doch dann wandte ich mich noch einmal an ihn:
»Und was ist Ihnen bei mir aufgefallen?« Er überlegte einen Moment.
»Die Kriterien sind vielfältig.« Was sollte das denn heißen?
»Mag sein, aber was ist Ihnen speziell bei mir aufgefallen?« Hatte er es vergessen?
»Sie benutzen eigentlich …. Also Sie verwenden sehr häufig das Wort ›eigentlich‹.«
Ich war sprachlos. Erstens weil es sich ja nur um eine banale Wortwiederholung handelte und um keine komplizierte Stilanalyse. Und zweitens, weil Stilanalyse doch eigentlich mein ureigener Bereich war. Er gehörte zu mir. Konnte nun jeder Frühmensch ein Stilist sein?
»Du fürchtest jetzt, deinen Einfluss zu verlieren, falls sich diese digitale Stilanalyse durchsetzt, stimmt′s?«, fragte Ida.
»Ach, ich bin vielleicht ein wenig enttäuscht darüber, dass die digitale Technologie nun auch uns Germanisten einholt. Ich dachte immer, es gäbe Bereiche, in die sie nicht eindringen kann.«
Gut, Statistiker in der Linguistik waren vielleicht darauf vorbereitet gewesen, nichtliterarische Texte auf diese Weise zu analysieren. Linguisten hatten sich ohnehin als Vorreiter der Computersprachen hervorgetan. Aber worauf würde es denn hinauslaufen, wenn die digitale Analyse und Kontrolle jetzt auch journalistische und gar literarische Texte traf? Würde man mit Computern versuchen, den subjektiven Kontext hinter allen Texten zu erfassen? Der Erlkönig. In welcher psychischen Verfassung befand sich Goethe, als er ihn schrieb? Was bedeutete das zukünftig für die Literaturwissenschaft? Ein Heer von Doktoranden würde sich bis in den letzten Winkel des Problems vorkämpfen.
Möglicherweise hatte Ida recht. Ich war nicht nur enttäuscht. Ich hatte auch Angst davor, meine Reputation zu verlieren, denn ich wusste ja, dass ich nicht wirklich ein guter Stilanalytiker war. Diesen Nazi in Lateinamerika, von Lassen, hatte ich nur durch Zufall entlarven können. Die Übersetzung ins Deutsche war sehr gelungen gewesen. Ich konnte den Satzbau wiedererkennen und identifizierte zusätzlich alle selbstgefälligen Adjektive, die typisch für die verachtende Nazisprache dieses Schriftstellers gewesen waren. Ich hatte Glück gehabt und wurde deshalb später von allen hofiert. Und, um das mal auf den Punkt zu bringen, wenig Arbeit und ausreichend Geld. Normalerweise hätte ich wohl nie in einem Beruf arbeiten können, zu dem mich mein Studium qualifizierte. Wozu sollte man schon einen Germanisten beschäftigen? Und dazu noch einen ohne Promotion. Ich konnte einen Jambus von einem Daktylus von einem Choriambus unterscheiden, kannte mich bei Lessing aus und sprach ein wenig Althochdeutsch[18]. Aber zu welchem Beruf hätte mich das qualifiziert? Zum Dichter? Die existentiellen Sorgen von Dichtern sind doch jedem bekannt.

Kais Buch über von Lassen oder Laslo hatte ich gelesen. Es war spannend geschrieben und stellte sich wirklich als sensationelle Enthüllung heraus. Sie gelang allein durch die Analyse der Stilmittel des Mannes, nicht durch irgendwelche anderen detektivischen Recherchen. Wann war es schon einmal einem Germanisten gelungen, die gesamte Öffentlichkeit für ein fachliches Thema zu interessieren – außer vielleicht für den Genitiv. Sein Buch enthielt alle Marker eines Wissenschaftsthrillers. Und dies immerhin im Rahmen einer der weichen Wissenschaften. Einmalig. Ich habe es ihm nie so eindeutig gesagt, doch ich war wirklich einmal stolz auf meinen Vater.

Solche spektakulären Enthüllungen waren auch schon in anderen Wissenschaftsdisziplinen gelungen. Aber wenn ich genau darüber nachdachte, dann musste ich nicht um meine berufliche Position bangen. Ich hatte einen Vertrag. Wahrscheinlich würde man zukünftig eher auf mich zukommen, um automatisch generierte Stilanalysen einzuschätzen oder sie gar weiterzuentwickeln.
»Ich gehe nicht davon aus, dass mein Einfluss abnehmen wird, obwohl ich glaube, dass diese Computeranalysen bessere Ergebnisse hervorbringen werden, als ich es je leisten könnte. Und vielleicht hängt an dieser Eisenbach-Sache mehr dran, als es scheint. Vielleicht könnte ich sogar meinen damaligen Erfolg noch einmal wiederholen.«
Als ich mein Weinglas an den Mund führte, fiel mein Blick auf die Schiebetür zum Garten. Zunächst nahm ich nur einen Schatten wahr. Doch dann meinte ich, eine Hand oder einen Arm zu erkennen, die sich auf der Scheibe hin- und her bewegte. Ida schaute offensichtlich auch zur Terrassentür, denn ich hörte ihren leisen Schrei.
Langsam stellte ich mein Weinglas ab und ging auf die Tür zu. Die Hand strich immer noch hin und her. Vielleicht dreißig Zentimeter vor mir sah ich in das Gesicht eines Mannes. Er war nicht von hier. Er stammte von weit her. Seine Hand bewegte sich auf dem Glas wie ein Scheibenwischer. Doch sie wischte nicht Regenwasser weg. Sie verteilte Blut auf der Scheibe.

***

2.

der trügerische Zustand der Schwebe

Morgens ein Anruf von Mareike. Aus Mali oder Manila. Oder irgendetwas anderes mit M.
»Wieso lässt du diese zwei Leute bei euch schlafen? Ihr kennt die doch gar nicht.« Vorwurfsvoll.
Ida hatte noch in der Nacht mit ihr geskypt.
Ich versuchte sie zu beruhigen, obwohl es sie eigentlich nichts anging. Die beiden seien sehr erschöpft gewesen. Ich konnte sie doch nicht draußen lassen. Herbst, dunkel, kalt.
»Aber du kennst die doch gar nicht, Kai. Weißt du, was die bei euch alles anstellen können?«

Das Hotel war in Malé. Malé auf den Malediven. Bei ihr war es fünfzehn Uhr. Kai frühstückte noch und surfte nebenher im Internet. Ich hatte Mama nicht nachts, sondern morgens um sieben angeskypt. Meine erste Vorlesung begann um acht Uhr. Mathematische Modellierungen versicherter Risiken. Die beiden von letzter Nacht schliefen noch.

Malé eben. Es war eines der Hotels für die Crews. Im Kleinbus vom Airport herübergefahren standen sie immer gemeinsam und noch in Uniformen an der Rezeption herum. Mareike mit den meisten Goldstreifen am Ärmel. Vier, glaube ich. Kapitän, Schiff, Flughafen.
Jeder mit einem teuren Rollkoffer. Alle übermüdet. Niemand wusste mehr die genaue Uhrzeit. Hier oder zu Hause. Sie fuhren zu ihren Zimmern hinauf, öffneten die Türen mit ihren Schlüsselkarten. Ein dunkler Raum, obwohl draußen die Sonne schien und die Menschen in Malé, also wahrscheinlich die Malediver, wach den Tag erlebten. Die Vorhänge waren zugezogen. Die Klimaanlage surrte leise. Zu kalt. Ein breites Bett. Aufgeschlagene Decke. Schrank, Schreibtisch, Stuhl, Kofferablage. Das Bad frisch geputzt, Handtücher, Tuben mit Shampoo, Seife, Conditioner. Das Toilettenpapier an den Enden eingefaltet. Überall auf der Welt die gleichen Zimmer, praktisch, sauber, unpersönlich. Sie dienten nur dem Schlaf. Schlafen, nicht wenn man wollte, sondern wenn geschlafen werden musste. Die Vergeltung für die Vergütung, der Preis, den sie für den Beruf zahlen mussten. Lebensrhythmus, Lebenszeit als Gegenwert. Ein extrem hoher Preis. Und wenn der Schlaf eingelöst worden war, falls noch Zeit blieb, bis der Kleinbus wieder vorfuhr, waren viele ratlos. Wie verbringt man Zeit? Aber vor allem, wie verbringt man Zeit sinnvoll? Mareike skypte. Sie wollte uns in wenigen, nein, schon in zwei Tagen besuchen kommen. Am nächsten Tag würde sie nach Deutschland zurückfliegen. Sie hatte einige Tage frei. Ein Neustart.
»Ich habe online bei euch um die Ecke ein tolles Appartement gemietet. Bei dir ist ja alles belegt, Kai.«
Pause.
»Hör mal, Mareike, ich hab die beiden heute Nacht reingelassen, weil sie keine Unterkunft hatten. Aber das ist natürlich kein Dauerzustand. Wir haben hier Platz. Du kannst doch bei uns wohnen.«
Ich hatte »uns« zu sehr betont. Ironisches Lachen in Malé.
»Warum lachst du jetzt so?«
»Was meinst du?«
»Du lachst immer so … so…«
Pause.
»Lass mal, Kai. Ist ein schönes Appartement. Ich habe die Fotos hier auf dem Rechner. Alles sauber und aufgeräumt. Ganz ruhig und sogar eine Dachterrasse. Du hast doch eh wenig Zeit. Hast du nicht gerade einen neuen Auftrag erhalten? Ida hat sowas erwähnt.«
Ach, die Eisenbach-Sache.
Nie wieder hatte Mareike bei uns übernachtet, seitdem sie damals ausgezogen war. Eigentlich war sie nie ausgezogen. Sie war nur einfach nicht mehr zurückgekommen, nie wieder bei uns gelandet[19]. So sah es wirklich aus. Ein Abbruch, keine Unterbrechung. Ohne Erklärung eigentlich. Ich hatte mich immer schon um Ida gekümmert (Masern, Ernährung, Kleidung, Kopfläuse, Reiten, Elternabend, Abitur, Bewerbung, Jobs), soweit ich das als alleinerziehender Vater konnte. Zu einigen der Mädchenthemen hatte ich keinen Zugang. Einige allerdings hätte ich niemals allein entdeckt, und ich schrieb darüber (Beispiele: »Warum es heute wieder Tanzstunden gibt«, »Achtung! Bügelperlenfieber!«, »Die allerbeste Freundin«) Ich kümmerte mich um Ida und die Wohnung. Ich war Idas Vater. Ich war verantwortlich. Ich war dageblieben.

Es war schwer, mit einem Vater wie Kai zu leben. Da war immer so eine Unklarheit in unserer Vater-Tochter-Beziehung, und wohl deswegen hatte ich auch den Wunsch gehabt, sehr schnell erwachsen zu werden. Wie jeder andere Jugendliche.

Ich begleitete Ida beim Erwachsenwerden, kümmerte mich um alles, kaufte ein, räumte auf. Alles hatte seinen Platz, den ich kannte, aber Ida nie. Dabei war es so einfach. Man stellte und legte alles wieder dort hin, wo man es vorgefunden hatte. Eine sehr einfache Regel. Wie konnte es daran Zweifel geben? Und es war sauber bei uns. Ich putzte regelmäßig. Auch die große Scheibe zum Garten. Auch noch in der Nacht, nachdem das Blut darüber verteilt worden war.
Der Mann sah mir in die Augen. Aber in seinen konnte ich nichts entdecken. Keine Gefahr, keine Wut, keinen Schmerz, kein Bitten oder Flehen, keine Freude, nicht einmal Angst. Es verwirrte mich. Er stand einfach nur dicht vor mir und sah mir durch die verschmierte Scheibe unbeirrt in die Augen.
Er ist anders, dachte ich. Er ist so anders, dass wir uns nicht einmal mit Blicken verständigen können.
Ich kannte das. Vor Jahren war ich mit Mareike und Ida nach Bali geflogen. Nach Denpasar. Ein Freiflug natürlich. Star Alliance. Unerträglich lang. Dann, mit einem Mal, waren wir in einer anderen Welt gelandet. Nusa Dua Beach. Doch nicht das Klima, die Natur, der Luxus faszinierten mich. Es waren die Menschen, denen ich nicht mehr ansehen konnte, was in ihnen vorging. Angst, Überraschung, Ärger, Ekel, Verachtung, Freude, Scham, Schuld, Interesse oder Liebe unterschieden sich nicht mehr. Die Menschen sahen immer unverändert freundlich aus. Bedeutungslose Nettigkeit. Die Grenzen zwischen den Gefühlsausdrücken war unkenntlich. Bei Männern wie Frauen. Ich wusste nicht, wie ich ihnen begegnen sollte. Und Mareike war amüsiert, war welterfahren, erklärte mich zum Provinz-Ei[20], zum Opfer eines tief verwurzelten und selbst verantworteten Kulturschocks.
Ich starrte den Mann hinter der Scheibe eine Zeit lang an, bis Ida mich unterbrach: »Lass ihn doch rein.«
Ich blickte an ihm hinunter. Seine Hose war an den Knien aufgerissen, die Schuhe sauber. Er trug einen offenen Parka mit Deutschlandfahnen auf dem oberen Ärmel, fast neu, doch mit Blutflecken. Blut von der Stirn. Dort sah ich eine Wunde in der dunklen Haut.
Eigenartig, in dunkler Haut sieht eine offene Wunde viel weniger gefährlich aus.

»Lass ihn doch rein«, wiederholte Ida.
Aber er schmiert mir hier alles voll, war mein nächster Gedanke. Warum hat er sich gerade unsere Terrassentür ausgesucht? So spät noch. Warum geht er nicht weg? Er vermasselt uns den schönen Abend.
Plötzlich stand Ida neben mir und schob die Tür auf. Jetzt trennte uns nichts Materielles mehr, unsere Gesichter waren viel zu dicht beieinander.
»Was ist mit Ihnen passiert?«, fragte Ida, doch der Mann reagierte nicht, stierte mich weiter an, begaffte mich.
»Wie heißen Sie?«, brach ich unseren wortlosen Nahkontakt ab. Keine Antwort. Der gleiche beharrliche Blick. Nicht erschrocken, nicht ängstlich, nicht irgendwas.
»Fott is jooor neem?«, fragte der Verwalter des Anglizismenindexes.
Ohne eine Antwort abzuwarten, zog Ida den Mann herein, schob die Tür zu, streifte ihm den Parka ab und legte ihn auf einen Stuhl, drehte den Körper des Mannes, drückte ihn auf einen anderen Stuhl und betrachtete seine Wunde. Er wehrte sich nicht. Ich vergewisserte mich, dass der Parka keine Blutflecken auf dem Stuhl hinterließ und hockte mich neben den Mann. Im Licht sah die Wunde doch bedenklicher aus als zuvor. Ein tiefer Riss mit weißem Grund, ein Spalt im Fleisch, aufgeplatzte Haut, die sich an den Rändern nach außen wölbte. Eine Anklage, ein Protest, später der immerwährende Beweis für Gewalt, die ihm angetan worden war. So ist es mir damals ergangen. So hat man mich zugerichtet. So sind sie. Nehmt euch in Acht.
»Das muss genäht werden«, sagte Ida zu dem Mann. Sehr fachmännisch[21]. Immer noch keine Reaktion. Er sah nur mich an. Warum eigentlich? Mit den Händen machte ich die Bewegung des Nähens und wies auf seine Stirn. Langsam schüttelte er den Kopf. Ida ging ins Bad und kehrte mit einem Desinfektionsmittel, Watte, Mull und Tape zurück. Sie begann vorsichtig, zunächst das Gesicht und dann die Haut um die klaffende Wunde von Blut zu reinigen, doch ich zog ihre Hand behutsam zurück.
»Was soll das?« Sie sah mich erstaunt an.
»Ida, wenn der Mann nun vielleicht krank ist …«
Sie schüttelte langsam und etwas entgeistert den Kopf.
»Du glaubst, er hat vielleicht AIDS, weil er aus Afrika kommt? Was ist denn das für′n Blödsinn?«
»Ida, in jedem Verbandskasten liegen Handschuhe. Warum wohl? Weil wir immer Afrikaner verarzten? Ich hol dir schnell welche aus dem Medizinschrank.«
Sie schob ihre Finger in die engen, widerspenstigen Plastikhandschuhe, reinigte und desinfizierte die Wunde, bis die Blutung nachließ, legte dann eine kleine Mullpackung darauf und tapte den Mull fest. Eine weiße Insel, die wie etwas Fremdes auf der dunklen Stirn lag. Unübersehbar. Schon jetzt ein eindeutiges Indiz.
Erste Hilfe. Ich hätte das nicht gekonnt. Wo hatte Ida das nur gelernt?
»Was ist mit Ihnen passiert?«, wiederholte Ida ihre Frage, doch sie erhielt wieder keine Antwort.
»Fott häppent tuu juu?« Ich versuchte zu helfen. Der Mann machte mit den Händen eine Schreibbewegung und Ida holte ein Blatt Papier und einen Stift, und der Mann begann umständlich etwas zu kritzeln, so als würde er zeichnen.
Er konnte nicht sprechen und vielleicht nicht mal schreiben. Vielleicht war er nie zur Schule gegangen, wusste nicht einmal, wo er sich hier befand. Europa, ja klar. Aber wo in Europa?
Er schob uns das Blatt Papier zu.
»Überfall auf der Straße«, stand mit sauberen, gleichmäßigen, ja, fast schon kunstvollen Buchstaben auf dem Papier.
»Er spricht Deutsch, Kai.«
»Nee, er spricht gar nicht. Wahrscheinlich kann er gar nicht sprechen.«
»Was ist mit Ihrer Stimme?«, fragte Ida ihn nun, und wieder begann er zu schreiben.
»Zu Hause Kehlkopf kaputt gemacht«, lasen wir. Doch dann nahm er uns das Blatt wieder ab, strich das Wort »gemacht« durch und schrieb »zerdrückt« daneben.
Von wem? Wer würgte jemanden so stark, dass der Kehlkopf und die Stimmbänder zerstört wurden? Was waren das für Menschen? Wie konnte man so brutal sein? So viele bestialische Dinge hatte man schon von Afrika gehört. Die Grausamkeit war dort zu Hause, und dieser Mann war eindeutig ein Afrikaner.
Er erhob sich und zog den Parka wieder an, um zu gehen.
»Wo wollen Sie hin?«, frage Ida.
Er nahm sich wieder das Blatt Papier und den Stift: »Nicht allein. Muss sie suchen.« Ida blickte mich fragend an, als wüsste ich, wie man dem Mann helfen könnte.
Wie viele von denen waren wohl da draußen? Blutend. Fünf, zehn, dreißig? Männer, Frauen, Kinder? Zusammengeschlagen wie er. Leise stöhnend kauerten sie nebeneinander an einer schmutzigen Hauswand. Blutverschmierte Gesichter. Einige bewegten sich nicht, hatten die Augen geschlossen. Sie schliefen, waren bewusstlos oder tot. Andere schüttelten die Reglosen, brüllten sie an. Doch die Körper blieben leblos wie zuvor, rutschten zur Seite weg. Die Arme verdreht. Klagerufe. Lautes Weinen. Es gab keinen Grund mehr, sich leise und unauffällig zu verhalten. Was könnte schlimmer sein? Was könnte einem noch zustoßen, das schlimmer wäre als das gerade Erlebte?
»Wir kommen mit«, sagte Ida.
Halt!
»Du bleibst hier. Ich gehe mit.«
Ich holte mein Handy und eine kleine LED-Taschenlampe, die in einer Küchenschublade lag.
»Ruf mich bitte von draußen gleich an«, sagte Ida. »Dann kann ich die ganze Zeit mithören und Hilfe organisieren, wenn es nötig ist.«
Es war schon nach Mitternacht. Was für ein Abenteuer. Der nächste Artikel. Eine wahre Geschichte. Der Verantwortliche für die Rubrik Politik würde sich ärgern. Doch der Redaktionsleiter müsste nicht lang zwischen uns vermitteln. Es war eindeutig meine Geschichte. Und niemand würde mir nachsagen können, ich hätte mich nicht an Fakten gehalten. Das hier war keine Fiktion. Kein bisschen. Die nackte Wirklichkeit. Und ich war Teil der Geschichte. Haupt- oder Nebenfigur. Das war egal. Nein, der andere war die Hauptperson. Der Mann vor der Terrassentür. Draußen vor der Tür. Ja, ich würde den Artikel Draußen vor der Tür nennen. Dieser fremde Mann war mein Beckmann. Aber ich war ihm nicht gleichgültig. Und er mir auch nicht. So sollte es zumindest sein. Und er sollte auch nicht verzweifelt sein, sondern mutig, hoffnungsvoll. Ein moderner Beckmann, einer von heute.

Er schlüpfte in seine Schuhe und warf sich eine seiner teuren Lederjacken über. Warum eine dieser Jacken? Er wusste doch gar nicht, was ihn da draußen erwartete. Er verließ mit dem Mann die Wohnung und plötzlich hatte ich Angst um ihn. Das war nicht neu. Wenn ich mir gegenüber ehrlich war, musste ich zugeben, dass ich schon als Kind immer Angst um Kai gehabt hatte.

Die Jacke mit dem Stoffbund passte immer gut zu meiner Breitcordhose. Deswegen trug ich sie so oft. Aber in dieser Nacht hatte ich nicht darüber nachgedacht, denn ich hatte tatsächlich auch ein wenig Angst. Dieser Beckmann war ja wahrscheinlich irgendwo vor meiner Tür überfallen und geschlagen worden. Ich wusste nicht, was mich draußen erwartete.
Vor unserer Haustür befand sich eine kurze Treppe mit einer Rampe für Rollstuhlfahrer. Am Ende des Geländers war ein Fahrrad angeschlossen. Obwohl in unserem Haus kein Rollstuhlfahrer wohnte, ärgerte ich mich sofort über diese Unachtsamkeit und rüttelte an dem Rad. Wie konnte man nur so intolerant sein? Ich versuchte, das Rad von der Rampe wegzudrehen, doch es gelang mir nicht.
Der Mann hatte nicht auf mich gewartet, sondern lief hastig von mir fort, und ich sah, dass er humpelte. Sein rechtes Bein knickte beim Laufen weg. Doch er ignorierte es. Er hatte ein Ziel, und ich versuchte mühsam, Anschluss zu halten und rief gleichzeitig Ida an.
»Wir sind jetzt am Zaun zu unserem Gemeinschaftsgarten angekommen.«
Zunächst hatten wir nur einen niedrigen Zaun aus rostfreiem, verzinkten Draht aufstellen lassen, damit keine Hunde in den Garten konnten (Katzen waren zugelassen – doch zum Schutz der Vögel nur mit wohlklingenden Glöckchen um den Hals). Als aber immer wieder Müll über den Zaun geworfen wurde, ließen wir ihn um zwei Meter erhöhen. Jetzt war er fast drei Meter hoch. Dicker, fester Zinkdraht mit einer breiten verschlossenen Tür. Der Mann musste über den Zaun gestiegen sein, um in unseren Garten zu gelangen.
Er streifte um die nächste Ecke, hielt plötzlich vor einigen Flaschencontainern an. Braun, weiß, grün. Schon wieder hatte jemand dort einen Einkaufswagen abgestellt. Auch das war inakzeptabel. Der Schaden durch entwendete Einkaufswagen stieg für Supermärkte jährlich in die Millionen. Ein Verlust, der natürlich auf uns Kunden umgelegt wurde. Ich drehte den Einkaufswagen kurz zu mir, um herauszufinden, von welchem Supermarkt er stammte. Der Mann zeigte auf einen dunklen, schmutzigen und engen Raum zwischen den Containern und einer Litfaßsäule. Dann sah er mich an und hob ratlos die Hände. Hier hatte er wahrscheinlich die anderen, die er suchte, zum letzten Mal lebend gesehen.
Unverdrossen suchte er hinter den Containern weiter, humpelte ein Stück des Weges zurück, blickte in Hauseingänge. Ich folgte ihm. Ein Papierkorb war an einem Laternenmast aus seiner Halterung gerissen worden. Der Müll verteilte sich auf dem Gehweg. Ich sah es mir fassungslos an. Warum riss jemand einen Papierkorb aus seiner Halterung? Als mein Blick wieder den Mann streifte, konnte ich endlich etwas in seinem Gesicht lesen: Verzweiflung. Der alte Beckmann. Oder Wut?
Bei einem von uns, also, bei einem, der hier geboren worden war, also, bei einem mit weißer Haut und so und dann auch noch von hier hätte ich den Unterschied herauslesen können. Aber bei ihm gelang es mir nicht.
Er schlug mit den Fäusten gegen seine Oberschenkel und zuckte mit dem Kopf, als wollte er einen Schrei herauspressen. Aber er konnte ja nicht schreien. Nur ein unnützes kehliges Geräusch war zu hören. Zugegeben, etwas komisch. Das ließ ihn wahrscheinlich verzweifeln. Aber ich konnte schreien.
»Nennen Sie mir einen Namen. Ich kann ja rufen.«
Er suchte einen Stift, fand aber nichts in seinem Parka. Dann ging er an eine große Schaufensterscheibe und schrieb mit seiner Spucke den Namen »Rana«[22] auf das Glas.
»Was für ein Name?«, hörte ich plötzlich Ida am Telefon.
»Rana. Er hat ›Rana‹geschrieben.«
War das ein Name?
»Rana!«, schrie ich in die Nacht hinein, während wir in eine Seitenstraße einbogen. »Rana!«
Was wäre, wenn die Lichter in den Fenstern um uns herum nun angingen, die Menschen ihre Fenster öffneten und mich fragen würden, warum ich so schreie, wen ich denn suche. Ich hatte sie geweckt, doch ihr Tonfall hörte sich nicht aggressiv an, eher besorgt.
»Ich suche Rana. Hat sich hier irgendwo versteckt.«
»Warum?«

[23]