Hermine Villinger: Aus dem Badener Land. Erzählungen
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.
ISBN 978-3-7437-0673-6
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-7437-0649-1 (Broschiert)
ISBN 978-3-7437-0650-7 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Erstdruck: Stuttgart, Verlag von Adolf Bonz und Comp., 1898 mit der Widmung: »Der geliebtesten Landesmutter, Ihrer königlichen Hoheit der Großherzogin Luise von Baden in Ehrfurcht gewidmet.«
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Der pensionierte Hauptlehrer Streicher saß im Schlafrock hinter einer hübschen Anzahl Schulhefte, die er für seinen Sohn, den Lehrer, durchsah. Der Stoß war so hoch, daß der alte Herr von seiner ihm gegenübersitzenden Gemahlin nur gerade noch den grauen Scheitel und ein paar runde, lebhafte Augen zu sehen bekam. Sie strickte und hatte stets ein Wort auf den Lippen, das sie jedoch immer wieder durch des Gestrengen »Pscht« hinunterschlucken mußte. Sie hatten in den beinah vierzig Jahren, die sie miteinander zugebracht, einen ehrlichen, hartnäckigen, aber erfolgreichen Kampf miteinander geführt, indem jedes das andere anders haben wollte, als es war; da sie jedoch absolut in ihrer Eigenart verharrten, bewies am besten, daß sie sich weder durch Ärger noch Kränkung in ihrem Wesen geschädigt hatten.
»Ich bitt' dich, Streicher«, fuhr die kleine Frau endlich in heller Ungeduld auf, »so guck' doch nicht so unverwandt in die stupiden Hefte hinein, als hinge das Wohl des Landes von den paar Fehlern in diesen Aufsätzen ab –«
»Tut's auch«, sagte er, »ordentliche Kinder geben ordentliche Leute, denn Ordnung ist –«
»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach sie ihn, »nur keine Reden jetzt, in mir fiebert alles – bist du denn gar nicht stolz, nicht außer dir, daß unser Heinerle an die Bürgerschul' nach Konstanz kommt, in so eine große Stadt, von unserem kleinen Thiengen weg, und nur wegen seiner musikalischen Anlagen, über die du von jeher nichts als geschimpft hast –«
»Über seine Richtung, ja, schimpf' ich noch heut'«, unterbrach sie der Alte und streckte den Zeigefinger aus, was er immer tat, wenn er eine längere Rede im Sinn hatte, »diese Wagnermusik ist für einen vernünftig organisierten Menschen einfach nicht zum aushalten; das ist ein Lärm, ein Getöse, um aus der Haut zu fahren; ja, in die Kirche bringt er mir sogar dies Unentwirrbare, nicht zu Begreifende –«
»Aber die Leut' sagen, 's wär' 's Schönste von der ganzen Kirch'«, warf Frau Streicher ein.
»Weil sie nichts verstehen, was wissen denn die, was Musik ist, wer weiß das überhaupt noch heutzutag?«
»Ja, aber gerad wegen seiner Musik kommt er ja nach Konstanz –«
»Wird ihm übel genug bekommen, wenn ich nimmer hinter ihm steh'; wie sieht denn der Bub die Hefte durch? Ganz dein Leichtsinn; deine Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit; denn hast du in den langen Jahren unseres Zusammenseins auch nur das geringste von mir gelernt? Du weißt heute noch nicht, wo der Wind herkommt, obwohl ich dich schon einige hundertmal über die Windrichtungen belehrt habe.«
»Bist du jetzt fertig?« Die kleine Frau stützte das Kinn auf den Heftenstoß und sah den wieder darauf los korrigierenden Gatten mit einem durchdringenden Blick ihrer runden Augen an, »o Streicher, Streicher, was sind meine Splitterle neben den ungeheuern Balken in deinem eignen Auge; bist außer dir und machst ein Gesicht drei Tage lang, wenn man sein altes Kanapee überziehen lassen möcht', und hat unser Bubele einen Kittel gebraucht, nix war schlecht genug; bist aber gleich im nächsten Augenblick über die Gass' gerannt, um irgend einem schmutzigen Peterle oder einem Mariele ein Paar Stiefel oder einen Rock anmessen zu lassen; für die anderen war nie nix gut genug, für die eignen ist alles zu viel; schaust bei Gott heut' noch dem Heinrich auf die Finger, wenn er sich ein zweites Gläsle Wein einschenkt, und all' seine guten Eigenschaften existieren nicht für dich, obwohl 's deine eignen sind –«
»Da wär' ich froh, denn dann wär' er anders, allein ich habe meine Gründe –«
»Ich weiß, ich weiß«, rief sie, »und kann nur sagen, Gott sei Lob und Dank, daß unser Heinerle fortkommt, denn die altväterliche Bescheidenheit, in der du ihn hältst, ist längst aus der Mode; heutzutag traut sich jeder was zu, wagt was und gewinnt deshalb auch was; unser Bub aber hat seiner Lebtag hören müssen – du bist nichts und kannst nichts – und wenn ihn der Karlsruher Professor nicht hätt' in der Kirch' spielen hören und nicht ganz entzückt –«
»Ach was«, unterbrach er sie.
»Ja wohl, ja wohl, da ist er hereingekommen, der Herr Professor, und hat gesagt: Ihr Sohn ist ja ein sehr musikalischer Mensch – gottlob, ich bin dabei gestanden und hab's mit meinen eigenen Ohren gehört, sonst tätst du wieder die ganze Geschicht' verkleinern –«
»Wie du sie vergrößerst –«
Sie wollte schon auffahren, lachte aber plötzlich übers ganze Gesicht und eilte nach der Türe: »Der Bub, der Bub – da kommt unser Heinerle!«
Der hereintrat, war ein langer, hagerer Mensch von ungefähr dreißig Jahren; er hatte ganz das Gesicht des Vaters, denselben rührend bescheidenen Ausdruck mit dem gleichsam nach innen gerichteten Blick.
»Nun, was sagte der Herr Pfarrer zu deiner so plötzlichen Versetzung?« fragte der alte Streicher, »er hat dir gewiß eine Menge guter Lehren mit auf den Weg gegeben?«
Der Sohn lächelte: »Nicht eine, Vater, er sagte nur immer: ist's denn auch möglich, einen größeren Nagel zum Sarg hättst mir nicht schmieden können, als daß du gehst –«
Die Mutter nahm ihren Einzigen beim Schopf: »Das hab' ich mir gleich denkt –«
»Gedacht, gedacht«, korrigierte sie der Gatte.
»Denn wer soll ihm wieder so gute Musik machen wie unser Bubele! Die werden horchen, die Konstanzer!«
»Ei«, fuhr der Alte ärgerlich auf, »immer dieses sanguinische ›das Beste hoffen‹; man muß stets im Leben auf das Schlimmste gefaßt sein, und ich gestehe dir, Heinrich, daß ich sehr besorgt um deine Zukunft bin, denn du ließest wieder in einem Heft den Akkusativ für den Dativ stehen –«
»Herrgott«, rief die Mutter aus, »und die Welt ist nicht aus ihrer Achsel gegangen –«
»Aber um Gottes willen, eine Schullehrersfrau«, ereiferte sich der Alte, »Achse! die Welt dreht sich um ihre Achse –«
»Ich bitt' dich«, unterbrach sie ihn, »das ist ja doch so einerlei –«
»Nein, liebe Mutter, das solltest du dir wirklich merken«, sagte der Sohn; aber sie gab ihm einen leichten Schlag auf die Wange: »Bist halt dein ganzer Vater!«
»Wieso, inwiefern?« begehrte Herr Streicher auf, »das möchte ich doch wissen!«
»Besinn' dich einmal, Alter, hat es nicht eine Zeit gegeben, in der sich für dich die Welt auch um ganz andre Dinge drehte, als um eine Atzel?«
Heinrich lachte laut auf, während der Alte plötzlich verlegen wurde und ein ängstliches: »Aber, meine Liebe, du wirst doch nicht«, stotterte.
Sie lachte ihn unbarmherzig aus, sich offenbar an seiner Verlegenheit weidend, denn der alte Herr sah aus wie einer, der in Todesangst schwebt, irgend ein von ihm schamhaft gehütetes Geheimnis preisgegeben zu sehen. Das Pochen an der Türe, das in diesem Augenblick ertönte, war ihm daher sehr willkommen, und er rief mit großer Beflissenheit: »Herein!«
Ein Bäuerlein trat über die Schwelle, etwas zaghaft, nicht recht imstande, den Blick zu dem Hausherrn zu erheben, der ihm freundlich die Hand bot.
»Ah, ah, mein lieber Aberle, Ihr bringt mir gewiß die Zinsen, das freut mich, das ist schön; hast nicht noch ein Schüssele Kaffee, Frau?«
»Ja«, sagte sie, »er soll eins haben, aber daß er uns die Zinsen bringt, das glaub' ich nicht, denn es steht ihm auf dem Gesicht geschrieben, daß er sie nicht bringt.«
»Will nicht hoffen, will nicht hoffen!« meinte der alte Herr, während das Bäuerlein um einen halben Kopf kleiner wurde.
»Ach Gott, Herr Streicher, ich kann gewiß nix dafür, 's Weib ist halt wieder krank – 's ist schrecklich mit dem Weib!«
»So, was fehlt ihr denn?« fragte Frau Streicher.
»Hm, wir haben halt wieder ein Kleines kriegt.«
»Daß doch das Weibervolk das Kinderkriegen nicht lassen kann«, sagte Frau Streicher, indem sie sich mit untergeschlagenen Armen vor den Bauer hinstellte, »ihr Mannsleut' seid recht übel dran –«
»Die Frau Streicher ist alleweil lustig«, stotterte das Bäuerlein, »ja, ja, wer halt 's Auskommen hat, der kann lachen; ich wollt' ja gern zahlen, aber ich hab' nur noch eine Kuh – eine Kuh und fünf Kinder, drei davon sind tot, Gott hab' sie selig, sie sind wohl aufgehoben; meine Frau hat mir aufgetragen, einen schönen Gruß, und ob's der Herr Streicher verlangt, daß wir auch noch die letzt' Kuh verkaufen?«
»Nein, nein«, sagte er und kratzte sich das Kinn, »fatal, fatal, aber davon kann keine Rede sein –«
»Gelt aber, ich hab's gewußt, ich hab's gewußt, der Herr Streicher drängt die armen Leut' nicht, Gott vergelt's, Gott vergelt's Ihnen tausendmal!« rief der Bauer, stellte die Kaffeetasse auf den Tisch und wollte sich mit vielen Bücklingen entfernen, allein Frau Streicher stellte sich ihm in den Weg:
»Noch eins, Mann Gottes, Ihr geht doch hoffentlich auch manchmal ins Wirtshaus?«
»He, allemal am Sonntag, so ein Stündle, Frau Streicher, wenn's Gott's Wille ist.«
»Freilich«, sagte sie, »wer vergunnt's Euch denn, das Mannsvolk muß sich erholen, das ist von jeher in der Ordnung gewesen; langt's nicht, dann spart man an Weib und Kind, wenn nur die drei Märkle für Wein und Bier rauskommen –«
»Eh, was denken Sie auch«, ereiferte sich der Bauer, »so werd' ich doch nicht hausen, Frau Streicher, drei Mark versaufen, ich bitt' Ihnen!«
»Nun, da werden's zwei machen!« meinte sie.
»Das könnt ehnder stimmen«, gab er zu.
»Seht«, frohlockte sie, »da hätten wir's gleich, Ihr begnügt Euch in Zukunft mit einer Mark, und ich komm' jeden Sonntag bei Euch vor und hol' mir die andre Mark – macht im Jahr 52 Mark und 60 betragen Eure Zinsen; denkt Euch, wie bequem, auf die Art behaltet Ihr Eure Kuh, braucht nicht an Weib und Kind zu sparen und kommt noch außerdem nicht jeden Sonntag mit einem Rausch heim.«
Das Bäuerlein schielte zum Herrn Streicher hinüber: »Ein ganz nett's G'späßle; Frau Streicher ist immer lustig, wohl, wohl, ich empfehl' mich –«
»Aberle«, rief ihm der alte Herr nach, »seid nicht so pressiert, der Gedanke meiner Frau wäre des Überlegens wert; wenn Ihr wirklich zwei Mark alle Sonntagabend vertrinkt, das ist entschieden zu viel, das habe ich mir in meinem ganzen Leben nicht erlaubt. Begnügt Euch also in Zukunft mit einer Mark, mein Lieber, denn was ein braver Mann ist, der schränkt sich ein, wenn er Schulden hat; habt Ihr mich verstanden, Aberle?«
Der erhob den Zeigefinger: »O, Herr Streicher, man muß die Weibsleut' nicht so ins Kraut schießen lassen, sonst ist's bald aus mit dem Frieden in der Welt; denken Sie an mich, denken Sie an mich!«
Der Mann verschwand, und Frau Streicher brach in ein herzliches Gelächter aus: »Siehst du, Alter, daß ich auch zu etwas gut bin? Ich verwalt' das Amt der auswärtigen Angelegenheiten, denn ließ ich dich machen, ging all unser Erspartes für die anderen Leut' drauf. So und jetzt solls ein wahres Sonntagsabendessen geben, Schinken und Pfannenkuchen –«
»Warum nicht gar«, fuhr Herr Streicher auf, »am hellen Werktag –«
»Ich nenn's einen Festtag, an dem unser Bubele die Ehr' erlebt hat, nach Konstanz versetzt zu werden.«
Der Alte schüttelte das Haupt: »Weib, Weib, was würde erst aus uns, wenn ich die inneren Angelegenheiten nicht –«
»Weiß, weiß«, unterbrach sie ihn, »nichts blieb übrig, als der Abfall der Niederlande – damit ihr seht, daß ich auch was aufgeschnappt hab', ihr gelehrten Prinziper!«
Sie schoß in die Küche, und der alte Streicher meinte kopfschüttelnd: »Wenn das nun wieder jemand gehört hätte!« worauf er und der Sohn sich über die Hefte hermachten, die sie stillschweigend zu Ende korrigierten. Die Mutter hatte die Lampe gebracht und weinte nun draußen beim Kochen über das baldige Scheiden des Sohnes aus dem elterlichen Hause. Auch dem Vater ging der Abschied nah, er suchte jedoch seine Gefühle hinter einer besonders gestrengen Miene zu verbergen, die aber Heinrich recht wohl zu deuten wußte. Verstohlen irrten seine Blicke durch die behagliche Wohnstube hin zum Klavier, mit den beiden Notenständern rechts und links; auf dem schmäleren lagen des Vaters Noten, gegenüber die seinen – die heißgeliebten Klavierauszüge der Wagnerschen Werke. Wie gerne hätte er in diesem Augenblick seine ebenso freudige als schmerzliche Bewegung in Tönen ausgesprochen, allein dies war nicht ratsam heute, denn seine Musik verdarb dem Vater die Laune, und Heinrich hatte eine Bitte auf dem Herzen und zwar eine so große, daß er fürchtete, niemals den Mut zu finden, sie gegen den Vater auszusprechen.
Als die Mutter mit der Platte Schinken hereinkam, begegnete sie dem Blick des Sohnes, und da wußte sie gleich: der will was!
Sofort bekam der Alte den Hof gemacht, die saftigsten Stücke wanderten auf seinen Teller, er allein bekam vom guten Wein, dem Sohn wurde ein Glas vom sauern hingestellt; das entsprach dem Prinzip des Vaters, und er wurde aufgeräumt, während ihn nichts mehr verdroß, als wenn es der Frau einfiel, den Sohn wie einen Erwachsenen zu behandeln.
»Nur die Kinder nicht verwöhnen«, fing er an, denn dies war sein Lieblingsthema, »keine traurigere Mitgift als Prätentionen; die Verwöhnung der Jugend ist der große Fehler der Neuzeit, und ich habe noch nicht gehört, daß etwas Gutes daraus entstanden wäre –« damit schenkte er dem Sohn vom guten Wein ein, und Frau Streicher wußte: jetzt war der Moment gekommen, der Gatte hatte sich auf seinem Steckenpferdlein getummelt, da durfte man etwas wagen –
»Heinerle«, hub sie an, »du siehst mir so kurios drein heut abend, hast vielleicht was auf dem Herzen? Geh' schäm' dich, wenn man so gute Eltern hat, sollte man nicht lang Sparglamenten machen, gelt du, Alterle, so ein dummer Bub, als ob man ihm heut' einen Wunsch versagen könnt'?«
Der alte Streicher machte »Hm« – und der junge räusperte sich, nahm in die Rechte die Gabel und in die Linke das Messer und sah in seinen leeren Teller:
»Nämlich, ich meinte nur, lieber Vater – wenn du nichts dagegen hättest, ich möchte so sehr gerne, bevor ich mein Amt antrete und somit gefesselt bin –«
Die Mutter schlug schon einen Marsch auf der Tischkante und zwar so lebhaft, daß der Gatte ihr mit einem »Pscht« beide Hände festhielt.
»Nämlich«, wagte sich der Sohn etwas weiter, »ich möchte für's Leben gern einer Wagneraufführung in Karlsruhe beiwohnen –«
»Um des Himmels willen«, brauste der Herr Streicher auf, »bist du nicht schon verrannt genug, willst du völlig verrückt werden? Ich hätte dich wirklich für vernünftiger gehalten, Heinrich –«
»Das Herz hängt mir daran, Vater, und außerdem wäre die Gelegenheit jetzt gerade so günstig«, sagte der Sohn, »in dieser Woche finden die Nibelungen in Karlsruhe statt und ich bin frei bis nächsten Montag, wo ich in Konstanz eintreffen soll; ich könnte also sämtliche Opern –«
»Sämtliche auch noch«, fuhr Herr Streicher auf, »nicht eine, sag' ich dir, das sind ganz und gar unnötige Ausgaben, bei denen nicht das geringste herauskommt; und niemals gebe ich die Erlaubnis zu einem solchen Unsinn.«
»Streicher –« Die kleine Frau legte die Hand auf ihres Mannes Arm, beugte sich ein wenig vor und flüsterte ihm leise zu: »und Jenny Lind?«
Der Eindruck, den dieser Name hervorbrachte, war ein bedeutender; Herr Streicher wußte sich einfach nicht zu helfen; erst wurde er rot, dann, dem Blick seines Sohnes begegnend, begann er zu husten und pusten, als sei er am Ersticken, schließlich sprang er vom Stuhle auf und fing an wie besessen durchs Zimmer zu rennen, er, der sonst die Bedächtigkeit und Langsamkeit in Person war. Frau Streicher, die sich innerlich über alle Maßen an dem Gebaren des Herrn Gemahls ergötzte, kam ihm doch zu Hilfe, indem sie allerlei plauderte und so des Sohnes Aufmerksamkeit von ihm ablenkte.
Die Aufregung des alten Herrn hatte sich in einem leisen, beinahe andächtigen Pfeifen Luft gemacht, wobei er den Zeigefinger wie im Takte bewegte, während seine alten Augen ein jugendlicher Glanz verklärte. Er öffnete das Klavier, schlug ein paar Akkorde an und begann dann mit seiner altmodischen steifen Fingerhaltung die Arie: Ei, so komm doch – aus der Nachtwandlerin zu spielen. Heinrich schnitt ein Gesicht, und nur der Respekt vor dem Vater hielt ihn davon ab, sich die Ohren zuzuhalten. Als aber die Musik gar kein Ende nehmen wollte, denn wenn der Alte einmal am Klavier saß, so tat er's nicht unter der halben Oper, da sprang Heinrich mit einem leisen: »Mutter, das halt' ich nicht aus«, von seinem Stuhle auf und machte sich davon.
»Das allein ist Musik«, erklärte Herr Streicher nach einer guten Stunde und drehte sich schweißgebadet auf seinem Klavierstuhl herum. Es war aber niemand mehr anwesend als die Gattin, die bereits ein Vorschläfchen machte, nachdem sie Kanapee und Stühle für die Nacht mit Überzügen versehen und auch das eigne Haupt in eine Nachtmütze gesteckt hatte. Der alte Herr wiederholte sehr ärgerlich: »Hast du gehört, das allein ist Musik.«
Sie fuhr auf: »Freilich, freilich, für mich ist alles Musik, was ein Gedudel macht.«
»Und der Heinrich ist natürlich wieder davongelaufen, das tut er immer, wenn sein Vater ans Klavier sitzt.«
»Und du machst es gerad' so, wenn er spielt, Alter, ihr habt darin einander gar nichts vorzuwerfen – jetzt aber hab' ich was im Sinn und zwar nichts anderes, als dir ein paar Tatsächlichkeiten vorzuhalten, damit du wieder einmal siehst, wie du anno 1846 gewesen bist, denn das scheinst du total vergessen zu haben.«
Sie hatte, während sie sprach, ein kleines blau angestrichenes Kästchen aus dem Schrank geholt und führte nun den laut brummenden Gatten, der behauptete, es sei die höchste Zeit zum Schlafengehen, zum Tisch hin, wo sie ihn in den bereits überzogenen Lehnstuhl drückte. Sodann packte sie den Inhalt des Kästchens aus – eine verblichene Zeitung, etliche morsche Lorbeerblätter, ein völlig vergilbtes Spitzenhäubchen und ein dicker Brief, an dem noch die Reste roter Oblaten klebten.
Der alte Streicher warf einen halb ärgerlichen, halb neugierigen Blick auf diese Zeugen seines einstmaligen Fühlens, aber bevor er recht im reinen war, ob er gehen oder bleiben wolle, hatte ihm die Gattin schon die Brille von der Nase genommen und sie auf die eigne gesetzt, und gleich nach den ersten paar Zeilen vergaß der alte Herr zu protestieren und war die Aufmerksamkeit selbst. Der Brief lautete:
Karlsruhe, den 31. November 1846.
Geliebte Braut!
In deinen Busen will ich sie niederlegen, alle die Erinnerungen dieser zum Teile gemeinsam verlebten, so unvergeßlich schönen Zeit, damit sie niemals verblasse, sondern in dem Schacht unsres Gedächtnisses sich in ewiger Frische erhalte:
Es war zu Johanni 1846, als ich an die Bürgerschule der alten Festungsstadt Rastatt versetzt wurde.
Von mütterlicher Seite her mit nicht geringen musikalischen Anlagen begabt, verfolgte ich damals mit nicht zu beschreibendem Eifer den wahrhaft phänomenalen Triumphzug dieses ersten Sternes der göttlichen Gesangeskunst, der von ganz Europa gefeierten Jenny Lind.
Welches aber waren meine Gefühle, als eines Tages die Nachricht unsere Stadt durchlief: Jenny Lind wird in Karlsruhe gastieren! Mein Freund, sagte ich zu mir selbst, was du besitzest, ist wenig, allein stehe darum nicht an, alles für den Genuß hinzugeben, etwas Unvergleichliches in dich aufzunehmen, das dir Zeit deines Lebens Zinsen tragen wird, indem es dich erleuchten und kräftigen soll in dem kommenden Ungemach, das jeden Sterblichen an der Pforte des Alters erwartet. Ich schrieb also unverzagt an den Kassier des Großherzoglichen Hoftheaters, er möchte die Güte haben, mir ein Billet im Parterre zu besorgen für das erste Auftreten der Jenny Lind in der Nachtwandlerin am 30. November. Der Herr Oberlehrer war so gut, mich für einen halben Tag in der Schule zu vertreten, meine Hausfrau flocht mir von den Blättern meiner Epheustöcke einen wunderschönen Kranz, mit welchem ich mich am Morgen des bewußten Tages in nicht zu beschreibender Aufregung auf den Weg machte.
Da mir die ganze Postfahrt von Rastatt nach Karlsruhe zu teuer gewesen wäre, legte ich die vier Stunden bis Ettlingen zu Fuß zurück: Es war jedoch etwas Schnee gefallen und viel Glatteis, so daß ich statt um ein Uhr, erst gegen drei in Ettlingen anlangte, wo mir gerade noch Zeit blieb, über Hals und Kopf in den Postwagen zu stürzen, unter welchen Verhältnissen ich natürlicherweise an ein Mittagessen nicht denken durfte. Der Postillon, ein junger Bursche, beantwortete meine Frage, ob unter der obwaltenden großen Glätte der Straßen nicht ein Umsturz des Wagens zu befürchten sei, mit der Versicherung: »'s geschieht nur manchmal, aber net immer.« Ich nahm also mein sehr schmal zugemessenes Plätzlein ein, rechts hatte ich die Wand, links zwei hohe Schachteln, hinter denen eine Modistin saß, die auf ihrer anderen Seite wiederum ein hohes Schachtelgebäude stehen hatte. Ich sah sie nicht, hörte sie dagegen fortwährend sprechen, und da sich die beiden Mitpassagiere, ein Pferdehändler und ein Schweinehändler, auf das eifrigste unter einander unterhielten und gar nicht auf die Mamsell achteten, so mußte ich annehmen, daß ihre Reden an mich gerichtet waren. Für's Leben gern hätte ich mein Erstaunen ausgedrückt, wie es möglich sei, so nahe der Residenz von etwas anderem zu sprechen, als von der Jenny Lind, allein es war mir nicht möglich, der Beredsamkeit dieser Person auch nur für einen Augenblick Einhalt zu tun. Wir hatten eben das langgestreckte Rüppur im Rücken und eine trostlose Ebene nach allen Seiten tat sich vor uns auf, als wir plötzlich mit einem vernehmlichen Krach in den neben der Landstraße liegenden Graben sausten. Unbeschreiblich war der Spektakel, der alsbald im Innern des Omnibusses vor sich ging. Die Männer fluchten und schimpften und schrieen nach dem Postillon, die Mamsell jammerte um ihre Hüte, und ich hatte nur zu tun, meinen Kranz vor der Vernichtung zu bewahren und die mich zu zerquetschen drohenden Schachteln von mir fern zu halten. Es gelang mir schließlich, die Türe zu erreichen und diese zu öffnen.
»Warum«, rief ich den Postillon an, »läßt Er uns denn nicht aus dem Kasten?« Er antwortete: »Z'erscht komme d' Gäul, d' Deichsel isch wieder kaput, da führ' ich sie allemal gleich nei, nach Rüppur.« Nach diesen Worten schwang er sich auf eines der Pferde und trabte mit ihnen davon, während ich den beiden wütenden Männern auf die Erde half; sie liefen fort, ohne von der armen Mamsell Notiz zu nehmen, die fürchterlich jammerte und sich vor dem Sprung aus dem Omnibus scheute. Ich nahm ihr also zuvörderst ihre Schachteln ab und redete ihr dann zu, in den weichen Schnee zu springen, was sie endlich nach langem Besinnen tat, und nachdem ich ihr, auf dem Rade stehend, die Hand gereicht hatte, wobei wir miteinander platt in den Graben fielen. Sie beschwor mich unter einem fürchterlichen Tränenstrom, sie doch um Gottes willen nicht mit ihren Hüten mutterseelenallein in dieser Einsamkeit zu lassen, welche Unmenschlichkeit ich natürlich nicht im Sinne hatte, sondern meinen Epheukranz um den Hals hing und zwei der größten Schachteln aufpackte, während die Mamsell die anderen beiden nahm. So machten wir uns auf den Weg; über das Feld pfiff ein schneidiger Wind und das Frauenzimmer schwatzte wieder ganz fidel, während ich in der Todesangst lebte, am Ende zur Kassenöffnung zu spät zu kommen. Wie aber beschreibe ich meinen Schreck, als plötzlich ein Windstoß den Deckel meiner obersten Schachtel aufriß und einen großblumigen Hut daraus entführte, der sofort seinen Weg querfeldein nahm. Die Person sank heulend am Weg nieder, schrie nach ihrem teueren Hut und behauptete, selbigen mit ihrem ganzen Vermögen nicht bezahlen zu können. Was blieb mir anders übrig, als dem Hut nachzusetzen über Stock und Stein, wobei ich der Glätte wegen alle paar Schritte auf die Nase fiel, mir Ellenbogen und Kniee zerschund und meinen besten Rock beschmutzte. Aber wie erstaunte ich, als ich endlich, mit dem eroberten Hute zurückkehrend, die Person zwischen ihren Schachteln sitzend, in einem solchen Gelächter begriffen fand, daß sie ein paar Minuten lang außer Stande war, sich von ihrem Platz zu erheben.