Heinrich Hansjakob

Meine Madonna

Ausgewählte Erzählungen Band 4

 

 

 

Heinrich Hansjakob: Meine Madonna. Ausgewählte Erzählungen Band 4

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Wilhelm Hasemann, Pfarrer Heinrich Hansjakob.

 

ISBN 978-3-7437-0722-1

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-0693-4 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-0698-9 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck dieser Auswahl: Stuttgart, Bonz, 1898.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Meine Madonna

1.

Seitdem ich in den »Erinnerungen einer alten Schwarzwälderin« die Geschichte meines mütterlichen Großvaters und seiner Hausierliste geschrieben, sind alle Familienstücke, die ich besitze, unruhig und lebendig geworden. So oft ich eines derselben ansehe, mein' ich immer, es wolle reden und erzählen.

Und mein »Genius«, dieser boshafte Musen-Bastard, hilft ihnen noch und plagt mich auch immer, wenn ich in einsamen Stunden die Andenken an meine Bäcker- und Hausierer-Ahnen betrachte. Er sagt mir dann jeweils: »Löse doch diesen stummen Zeugen einer kleinbürgerlichen, dir aber so nahestehenden Vergangenheit die Zunge, und laß sie reden von alten Zeiten und von längst vergangenen Menschen!«

Im Frühjahr des Jahres 1901 habe ich in Haste ein weiteres altes Familienstück entdeckt und erworben, das mein Urgroßvater, der Bäcker Tobias Hansjakob, anno 1755 in seiner Backstube aufstellen ließ, und das dort geblieben ist bis zum Jahre 1858. Also mehr als ein Jahrhundert lang hat dies Gebilde zugeschaut der Arbeit und den Mühen einer Bäckersfamilie, hat alles gehört und gesehen, was in dieser langen Zeit in der Backstube getan und geredet und erzählt worden ist.

Eine Backstube, in der die Nachbarn des Bäckers mit Vorliebe sich einfanden, war in der guten, alten Zeit eine kleine Welt. Drum, wer aus ihr erzählen könnte, wüßte viel.

Leider lebt kein Mensch mehr von all denen, die in meines Urgroßvaters Backstube arbeiteten, redeten und erzählten. Selbst das Haus ist verschwunden, das ihm gehörte, und aus seiner Werkstätte existierte im oben genannten Frühjahr nur noch ein einziges Wesen, und das war das eben genannte Gebilde, seine – Backmulde.

Ein heutiger Bäcker in Hasle hatte sie in seinem Holzschopf stehen und sagte mir davon, als ich einige Tage im »Paradies« war. – Ich besah sie, las daraus ins Holz geschnitten: Tobias Hansjakob 1755, kaufte sie sofort um wenige Mark und ließ sie nach Freiburg schicken.

Aber was nun machen aus einer alten, wurmstichigen Backmulde? Ich beriet mich mit einem bewährten Kunstmeister, dem Baudirektor Meckel, und bald waren wir dahin schlüssig, aus dem alten Familienstück eine gotische Madonna schnitzeln zu lassen.

Der Plan war sicher originell. Aber wer sollte ihn ausführen? Auch da war das Glück mir hold. Wir haben in Freiburg seit einigen Jahren einen jungen, gottbegnadeten Künstler in dem Bildhauer Josef Dettlinger, aus dem benachbarten Dörflein Heuweiler gebürtig. Der ist in Meckels Schule ein Bildschnitzer gotischen Stiles geworden, wie unser badisches Ländchen wohl keinen zweiten besitzt.

Ihm ward die Mulde anvertraut. Er ließ sie in Riemen schneiden und zu einem Klotz zusammenleimen. Aus diesem Klotz schuf er dann eine spätgotische Madonna allererster Güte.

Die jungen Maler Gebrüder Endres haben sie gefaßt, und mein alter Tapezier Muttelsee hat sie in der Karthause aufgestellt und drapiert. So ist aus der alten Backmulde der schönste Schmuck meiner Klause geworden.

So oft ich aber das goldglänzende Bild anschaue und mich freue, die Backmulde meines Urahnen also veredelt vor mir zu sehen, raunt mir mein Plaggeist zu: »Laß sie reden und erzählen aus den Tagen, da sie in deines Urgroßvaters Backstube stand!«

»Es wär' eine Schande«, – so fährt er dann fort – »wenn ich und du es nicht fertig brächten, ein hölzernes Madonnabild zum Sprechen zu bringen, nachdem uns dies bei einer Hausierkiste gelungen ist.«

Und wenn ich ihn dann zur Ruhe weise, hört er doch nicht auf und spricht weiter: »Nu bist es deinen väterlichen Ahnen schuldig, auch ein Familienstück aus ihrer Zunft in die Welt einzuführen, nachdem du die Hausierkiste deines mütterlichen Großvaters in ihr bekannt gemacht hast.«

Und zu all dem Raunen und Reden und Plagen des Kleinen schaut mich das Madonnabild immer an, wie eine stumme Heilige, welche, dankbar für die herrliche Gestalt, die ich ihr verliehen, mir erzählen möchte von ihrer Vergangenheit im Hause meiner Bäcker-Ahnen.

Darum will ich's probieren. Ich will mich jeden Tag, den ich in der nächsten Zeit in der Karthause zubringe, eine und die andere Stunde vor das schöne Bild hinsehen und lauschen dem, was mein Bäckersbubengeist herausbringt aus dem alten Holz, das ich verjüngt habe, und das so lange in der Familie meines Urgroßvaters gelebt hat.

Die himmlische Jungfrau wird es mir nicht verübeln, wenn ich dem Holz, aus welchem ihr Bild geschnitzt wurde, irdische, menschliche Dinge in den Mund lege und solche aus ihm heraus lese. Sie, die getreue Magd des Herrn, lebte ja selbst viele Jahre in der Hütte und Werkstätte eines Handwerkers. Nachbarn und Nachbarinnen gingen da ein und aus, und nichts Menschliches, die Sünde ausgenommen, ist der himmlischen Jungfrau in der Werkstätte des Zimmermanns von Nazareth fremd geblieben.

Unsere Literatur kennt Wachstubengeschichten, die der bekannte Schriftsteller Hackländer geschrieben. Ich möchte nun einmal Backstubengeschichten schreiben, zu denen das alte Holzgebilde aus meines Urgroßvaters Werkstätte mich angeregt hat.

Ich nehme an, es sei alles, was in der Backstube meines Urahnen gesprochen und erzählt wurde, phonographisch in das alte Holz gedrungen, aus dem ich es nun wieder herauslese, um eine Art Familien- und Zeitchronik zu bekommen. Es läßt sich ja auch aus der Vergangenheit einer Bäckersfamilie, aus dem Städtle, in dem sie gewohnt, und aus der Zeit, in der sie gelebt hat, manches erzählen, was andern interessant ist und sie unterhält.

Ich werde aber die Madonna nur die Einleitung sprechen lassen und mir dann von ihr das Wort erbitten, um das, was ich aus ihr herausgelesen und sonst noch weiß, selbst zu erzählen.

 

2.

Es ist ein trüber, aber warmer Novembertag des Jahres 1901, da ich, in der Karthause am Fenster sitzend, hinausschaue ins herbstliche Dreisamtal. Graue Nebel haben den Wald in einen dichten Schleier eingehüllt. Auf den Matten am Flusse hin blühen die letzten Herbstzeitlosen. Kein Windhauch geht durch die Bäume und kein Menschenkind über die Straße unten im Tal.

Überall Bilder des Spätherbstes und Vorboten des Winters. In mir selbst ist längst Winter, Winter des Lebens und Winter der Lebensfreude. Mir blühen nicht einmal mehr Herbstzeitlosen, und Nebel legen sich über meine Seele, nicht wie die duftigen Schleier in der Natur, sondern wie kalter Reif. Die Zukunft heißt Tod – Tod für die Natur. Tod für mich.

»Schau in die Vergangenheit, wenn dir Gegenwart und Zukunft so trübe sind«, also sprach in mir an diesem Tage mein Geist und fuhr fort: »Setze dich jetzt vor deine Madonna und laß dir von ihr erzählen aus der Vergangenheit, auf daß du vergissest die Gegenwart und die Zukunft.«

Ich folgte diesem Rat. Der Kleine ging mir helfend zur Seite, und schnell hatten wir uns in Rapport gesetzt mit dem gotischen Madonnabild, das in goldenem Mantel und rotem Kleide seit vierzehn Tagen in meinem »Salon« stand.

Ich lauschte aufmerksam, und bald waren Herbst und Winter in und außer mir vergessen, denn das Bild erzählte aus dem Lande meines Jugendglücks, aus dem Paradiese meiner Knabenzeit.

Ich bin, also hub es zu reden an, eine Holzmadonna, nicht wie alle andern aus Lindenholz, sondern aus Buchenholz, das bekanntlich ob seiner Sprödigkeit von Bildhauern sonst nie bearbeitet wird.

Wie die Äste eines Baumes seine Arme und das Laub dessen Haare sind, so war ich der Rumpf einer Buche, die am sonnigen Rande des »Urwalds« von Hasle stand.

Die Sicht auf Städtle und Tal und Fluß, welche ich von meinem Standort aus genoß, werde ich nie vergessen. Und du wirst als »Haslemer« das begreifen. Du kennst jenen Blick vom »roten Kreuz« aus und bist gewiß oft entzückt dort oben gestanden, wo ich schon lange stand, ehe dein Großvater, der Eselsbeck, auf der Welt war.

Hier lernte ich die ersten Haslacher kennen, da sie unmittelbar vor meinen Augen ihre Bergfelder bebauten. Im Frühjahr säeten und setzten sie, und im Sommer und Herbst ernteten sie ihre Halm- und Hülsenfrüchte. Erdäpfel gab es damals noch keine im Kinzigtal.

Wenn die Leute von ihrer Arbeit rasteten, setzten sie sich mir zu Füßen, holten aus einer Quelle, die drüben in einem stillen Grunde rieselte, einen Trunk Wasser, aßen Brot dazu und sprachen von Leid und Freud, wie sie das Leben im Städtle drunten mit sich brachte.

Ich war nie allein an meinem sonnigen Waldrand auf der Höhe. Waren keine erwachsenen Menschen da, so kam die Jugend. Im Herbst hüteten die Knaben drüben im grünen Grunde und sangen bei Wies' und Quelle ihre Hirtenlieder. Wenn dann der Reif sie heimtrieb ihrer Tiere wegen, kamen die Kinder erst recht zu mir. In hellen Scharen zogen sie den Berg herauf und suchten im Laub die Buchnüsse, die ich und meine Gefährtinnen samt dem goldenen Laub hatten fallen lassen.

Und wenn endlich der Winter ins Land gezogen war und sein Leichentuch ausgebreitet hatte über Berg und Tal, wenn die Tannen ächzten unter der Schneelast und die Kristalle auf der Schneedecke glänzten im Sonnenlicht, da keuchten die Knaben abermals den Berg herauf mit ihren Handschlitten und fuhren mit Windeseile zu Tal.

So fand ich meine Freude und meine Unterhaltung bei euch Menschen, groß und klein, zu allen Zeiten des Jahres, und ich glaubte, es gäbe nichts Schöneres, als ein Mensch sein und friedlich seinen Acker bauen, sein Vieh hüten, Buchnüsse lesen und Schlitten fahren zu können.

Eines Tages nun, es war im Frühjahr des Jahres 1755, sollte meine Freude arg getrübt werden.

Es war ein heller, lichter Märzentag; die Sonne hatte den Reif längst weggeküßt von den Feldern zu meinen Füßen. Die Knechte des Sonnenwirts Fideli Fackler hatten Haber gesäet und rasteten eben bei Schnaps und Schwarzbrot am Waldrande. Zu ihnen trat, aus dem Walde kommend, der städtische Waldhüter oder, wie er damals hieß, der Förster – Balthasar Mauser.

Der »Balzer«, wie er im Volksmunde genannt wurde, war trotz seines stolzen Förstertitels ein armer Burger, der alljährlich in seinem Amte bestätigt werden mußte. Schuhmacher seines Gewerbes, konnte er das Sitzen nicht wohl ertragen und hatte sich vor Jahren schon um die Försterstelle gemeldet und sie erhalten.

Bei der im Jänner eines jeden Jahres vorgenommenen Ämterbesetzung durch den Stadtrat ward sie dem Balthasar Mauser jeweils aufs neue übertragen worden mit dem Beisatz, »er solle sich auch dieses Jahr wieder fleißig und getreu einstellen.«

Sein Lohn waren zehn Gulden und vier Klafter Holz. Bei solchem Lohn blieb der Balzer auch als Förster das, was er vorher war – ein armer Mann. Drum nahm er an jenem Morgen die Einladung der Knechte zu einem Schluck Schnaps und einem Stück Schwarzbrot gerne an.

Während nun die drei so beisammen saßen, kam ein junger Mann den Hohlweg herauf. Bei seinem Anblick meinte der Waldhüter: »Das ist der junge Briemel. Was mag der wollen? Er hat doch keine Felder da oben!«

Eigentlich hieß der Ankömmling nicht Briemel, sondern Hansjakob; aber sein Vater, der ein Weber und Krempler war, hatte seine Kremplerei mit Eiern, Butter, Mehl, Bohnen und andern Hülsenfrüchten von den Erben des Hans Briemel, der auch ein Weber gewesen war, gekauft und damit, wie es im Volksmund üblich war, auch dessen Namen übernommen. Denn beim Briemel kauften die ärmeren Leute von Hasle ihre Eier, ihren Butter, ihr Habermehl, ihre Nüsse viele Jahre lang; darum hieß eben der Hansjörg Hansjakob, als er den alten Briemel ablöste, auch so. Und sein Sohn blieb der junge Briemel, bis er ein ander Geschäft begann, als Bäcker sich auftat und dann nach seinem Vornamen Tobias genannt wurde der »Becke-Toweis«.

»Was suchst du da oben, Toweis?« rief der Waldhüter dem jungen Mann zu, als dieser den Hohlweg überwunden hatte und nun vor den Frühstückenden stand.

»Ihr kommt mir g'rad recht, Balzer«, gab der Toweis zurück. »Ihr wißt, daß ich in der »vorderen Gasse« ein Bäckerhaus gekauft habe und mich zünftig niederlassen will. Ich bin nun dran, meine Backstube neu einzurichten, und such' eine glatte, schöne Buche zu einer Backmulde. Da kann mir aber niemand besser Auskunft geben als der Förster. Mein Vetter, der Färber und Waldmeister, hat mir gesagt, ich solle nur eine Buche aussuchen: das übrige wolle er dann, im Rat' schon ausmachen. Ihr habt also nichts zu riskieren, Balzer, wenn ihr mir etwas behilflich seid.«

»Da brauchen wir gar nicht lang zu suchen«, gab der Angeredete zurück; »die schönste Buche weit und breit steht gerade hier.« Bei diesen Worten deutete er auf die Buche, deren Holz als Madonna vor dir, dem Schreiber, steht.

Damit war mein Los entschieden. Ich sollte sterben und eine Backmulde werden.

»Sobald du«, fuhr der Waldhüter zum jungen Briemel zu reden fort, »vom Rat die Erlaubnis hast, die Buche zu fällen, schick' ich zwei Holzknechte, die eben droben beim ›heiligen Brunnen‹ das Holz fürs Rathaus machen, herab und laß dir die Buche niederhauen.«

»Sie gefällt mir«, antwortete der angehende Bäckermeister. »Was wird der Rat wohl dafür verlangen?«

»Die bekommst du sicher für einen Gulden; mehr kostet ja ein Klafter aufgemachtes Buchenholz wirklich nicht.«

»Soviel bezahl' ich gern und geb' dem Balzer noch einen Batzen Trinkgeld«, meinte der Toweis und schickte sich an zum Fortgehen. Die Knechte des Sonnenwirts erhoben sich auch zu neuer Arbeit. Der Balzer verschwand wieder im Wald; der Mann aber, der schuld war, daß ich Buchenkind sterben sollte, schritt bergab dem Städtle zu.

Wenige Tage darauf kam der Balzer wieder aus dem Wald und mit ihm zwei wildaussehende Holzknechte. Ich hatte sie manchen Winter in den Wald ziehen sehen, um Bäume zu morden, aber daß es auch einmal an mich kommen würde, dachte ich nicht.

Ich war ja glücklich am sonnigen Waldrand und im Hinabschauen auf Gottes schöne Erde. Und im Glück denkt kein Geschöpf ans Sterben.

Sterben ist – wer vermag's zu beschreiben – hart, doppelt hart aber, wenn man nicht am Alter oder an einer Krankheit, sondern eines gewaltsamen Todes sterben muß. Und dieser Tod ward mir zuteil zu einer Zeit, da eben die Lebenssäfte sich wieder anschickten, neu durch meine Adern zu ziehen, zu einer Zeit, da mein Blut wieder Sprossen treiben wollte.

Doch ihr Menschen kennt ja kein Erbarmen, keines gegen euch selbst und noch viel weniger gegen euere Mitgeschöpfe. Darum mußte auch ich mitten im Leben sterben. Im Angesichte von Berg und Tal im jungen Frühlingssonnenschein sank ich ächzend zum Tode.

Wer hätte aber in meiner Sterbestunde gedacht, daß ich eine solche Auferstehung feiern und eines Tages in verklärter Madonnagestalt wieder erstehen würde!

Ganz tot war ich nicht. Mein Blut lebte und regte sich noch lange, während ich am Waldrande als Baumleiche lag.

Und als es vollends Frühling geworden war und die Wibervölker vom Städtle heraufkamen, um Bohnen zu setzen und das Unkraut aus den Saaten zu jäten, da klagten sie über meinen Tod.

Und als sie erfuhren, wer mich habe töten lassen und zu welchem Zweck, schimpften sie weidlich über den Balzer und über den jungen Briemel.

»Der Balzer«, so meinte das Weib des Seilers Johannes Hornauß, »gibt alles her um ein Trinkgeld, und der junge Briemel ist ein Hansjakob, und dieses Geschlecht wirft alles um mit seinem bösen Maul, selbst Buchenbäume.«

»Unsereins muß«, fiel die alt' Sundthoferin, des Kuhhirten Ehehälfte, ein, »da oben hacken und jäten und schorfen für sechs Kreuzer den Tag, und doch hat man einem nicht einmal die Buche stehen lassen, unter deren Schatten wir ausruhen konnten von der harten Arbeit. Aber um die armen Leut' nimmt sich kein Mensch an. Selbst der Schatten der Bäume wird ihnen vergunnt.«

»Es ist nicht einmal gewiß«, nahm die alte Seilerin wieder das Wort, »daß alle Ratsherren schuld sind am Tod unserer schönen Schattenbuche. Der alte Färber Hansjakob, der auch Burgermeister gewesen, war ebenfalls ein gewalttätiger Mensch. Ich erinnere mich noch wohl, daß er vor Jahren im Wald einmal eigenmächtig vorging. Als sein Sohn Tobias, der jung Färber, sein Farbhäusle auf den Graben beim oberen Tor stellte, hat ihm sein Vater, ohne den Rat zu fragen, erlaubt, zehn Tannen und zwei Eichen zu hauen, und er mußte zur Straf nur ein Pfund Heller (drei Mark) erlegen.«

»Und sein Bruder, der Hansjörg Hansjakob, der schon lange tot ist, war auch nicht sauber. Er hat einmal seinen Gartenhag aufs städtische Almend gesetzt und so seinen Garten vergrößert. Wer Rat nahm einen Augenschein, und ums Haar war' er eingetürmt worden wegen Versetzen der Lochen (Marksteine).«

»Da kömmt der Balzer«, sprach jetzt eine Magd des Metzgers Vetter, der eben erst vom Rat gestraft worden, weil er dem Förster »in die Haare geraten war und ihn gedrosselt hatte.«

Vom »Pfaffen-Kähner« her schritt richtig der Förster auf die Wibervölker zu, die ihn mit einem Schwall von Vorwürfen überschütteten, daß er ihre Schattenbuche gefällt habe.

»Ihr Weibsleut' müßt mich nicht auch noch plagen«, verantwortete sich der Balzer. »Ich bin schon geplagt genug. Erst gestern wurde ich in Straf' genommen, weil ein Bur aus dem Bärenbach nächtlicherweile im Stadtwald einen Wagen voll Holz geholt hat und ich ihn nicht erwischt habe.«

»Der Strolch hat sich dann selber angezeigt, um besser davon zu kommen; ich aber soll ein Pfund Heller in die Stadtbüchs bezahlen. Dafür hab' ich aber jetzt den Pfarrer von Mühlenbach denunziert, weil seine Kühe immer auf der Stadt-Allmende weiden. Warum predigt er seinen Bauern nicht, daß sie kein Holz stehlen sollen!«

»Was eure Buche betrifft, so hat mir ein Stadtknecht vom Amtsburgermeister Hansjakob, der den Wald unter sich hat, die Meldung gebracht, die Buche dem Toweis Briemel auszuliefern.«

»Ich will für euch Weibsleut' aber eine Hütte aus Tannenreisig machen, damit ihr da Unterstand habt und den alten Balzer, der ein armer, geplagter Mann ist, in Ruhe laßt wegen der Buche.«

Deß waren die Wibervölker alle zufrieden. Sie gingen an ihre Arbeit und der Balzer in den Wald. Ich aber, der Buchenbaum, blieb gefällt. Mir konnte niemand mehr zum Leben verhelfen. Wenige Tage später kam der junge Bäcker mit einem Fuhrmann und dessen Roß. Ein Eisen wurde in meinen Leib geschlagen und eine Kette daran befestigt. An der Kette schleifte mich das Roß bergab, fort vom Wald, fort von der lichten Höhe, fort von der Familie der Buchenbäume, fort, hinab ins Städtle – ins Menschenleben.

Vor dem Hause des Krummholzen Jakob Gernhard in der Vorstadt hielten meine Peiniger an und übergaben mich dem Meister, um aus mir eine Backmulde zu machen. Er müsse aber bald an die Arbeit, hieß es, so lange das Holz noch im Saft sei.

Stück für Stück schlug nun der Krummholz (Wagner) das Fleisch aus meinem Leib, bis ich ausgehöhlt war wie ein Totenbaum. Dann lud er mich auf einen Karren, fuhr der »vordern Gass'« zu und hielt vor einem kleinen, hellen Häuslein.

Der Toweis erschien unter der Türe und lobte den Gernhard, daß er so bald und so schön aus dem Buchenbaum eine Mulde gemacht. Gemeinsam trugen sie mich ins Haus und in einen großen, dunkeln Raum. Hier stellten sie mich auf das Gestell, so meine Vorgängerin eingenommen. Ich war nun in der Backstube und an dem Platze, welchen ich mehr denn ein Jahrhundert nicht mehr verlassen sollte.

Was soll ich sagen über mein Los? Von der höchsten Himmelshöhe am Urwald in die Finsternis einer Backstube versenkt, ist wahrlich ein herbes Geschick.

Doch bald fand ich Trost. Ich war selten allein in meiner langen Backstubenzeit. Ich lernte euch Menschen kennen, und euer viel größeres Elend verkleinerte das meinige.

Und als eines Tages der Kapuziner-Pater Mathias, der Sohn des Metzgers Kröpple von Hasle, kam und das ganze Haus einsegnete, ehe der Toweis Hochzeit hielt, da trat er auch in die Backstube und besprengte mich unter Segensworten mit heiligem Wasser. Dann sprach er zum jungen Bäcker: »So eine Backmulde gleicht einem Totenbaum. Aber aus diesem Totenbaum sproßt Leben, kommt Brot, das Mark der Männer, der Menschen erste Speise, ihr Dasein zu fristen.«

Diese Worte waren mein größter Trost und machten mich stolz auf meine Bestimmung.

Heute aber, da ich vor dir, dem Urenkel des Toweis, stehe als Madonna, den Heiland der Welt, das Brot des ewigen Lebens, auf dem Arm, heute vergesse ich alle meine Leiden und bin voll süßer Freude über mein glänzendes Los, das ich ehrlich verdient habe im langen Dienste, den Menschen Brot und Leben zu schaffen.

Doch nun will ich schweigen und es dir überlassen, von mir abzulesen und wiederzugeben, was ich gehört und gesehen und erlebt habe in der Backstube deines Urgroßvaters.

Vergiß aber nicht, daß eine Madonna vor dir steht; bleibe allzeit bei der Wahrheit und übertrete nicht die Gebote christlicher Liebe. Mach' nicht zu viele Schlenkerer und laß die Frauenwelt in Ruh; sei hübsch brav und fromm und demütig, wie es sich geziemt im Angesicht der Gebenedeiten unter den Weibern und der Königin aller Heiligen.

 

3.

Anno 1627 war im Renchtal, dem sonnigsten Tale im nördlichen Schwarzwald, der Neue gut geraten. Um Micheli war schon Herbst, und es gab, wie die Leute von frühen Herbsten zu sagen pflegten, einen »Herrenwein«.

Im Städtchen Oberkirch, dem Hauptort des Tales, saßen die Burger fleißig beim neuen Klevner, und auf den Burgen über dem Städtchen, auf der Schauenburg und auf der Fürsteneck, taten die Ritter das gleiche.

Überall sprach man dabei vom Krieg, der im Norden Deutschlands tobte, und vom Wallenstein und vom Tilly, von denen heimkehrende Landsknechte viel zu erzählen wußten.

Auch in der Vorstadt Loh, in der Herberge zur Linde zu Oberkirch, saß an einem Abend in den ersten Tagen des Oktober 1627 eine Anzahl Burger beieinander; sie sprachen dem Klevner zu und diskurierten und disputierten. Das erste Wort führte ein Schreiner, nach seinem Vornamen nur der »Schriner-Mathis« genannt.

Er war vor Jahr und Tag über den Rhein herüber nach Oberkirch gekommen und galt bald als der erste seines Faches. Er machte schön eingelegte Kasten und Truhen für die umliegenden Ritterburgen und Klöster. Namentlich in den Stiften Allerheiligen und Gengenbach war er ob seiner Kunst viel beschäftigt.

Er spürte heute den Neuen bereits am meisten, denn er saß nicht mehr beim ersten Glas. In diesem Stadium schimpfte er gerne über die Obrigkeit. Auch heute war er an diesem Thema.

Als sein Tischnachbar, der Schuster Börsig, dessen Schuhknecht unter Wallenstein gedient, von diesem redete, meinte der Schriner-Mathis: »Wenn er nur bald auch zu uns heraus käm, der Wallensteiner, und die Württemberger aus dem Renchtal jagen tät.1 Denen ist's nur ums Geld der Untertanen zu tun, und nebenbei führen sie ein streng Regiment. Der jetzige Obervogt ist gar ein harter; der weiß nur von Steuern und Stockstreichen.«

»Also der Wallensteiner soll kommen und uns kaiserlich machen. Bischöflich möcht' ich auch nicht sein; wo die geistlichen Herren in alles hineinregieren, ist's auch nichts. Aber kaiserlich, das ist eine Nummer! Ich hab' in Wien gearbeitet und weiß, was die Bürger von Wien für freie Leute sind. Sie reden mit dem Kaiser per Du und bleiben im Wirtshaus sitzen, so lange es ihnen paßt.«

»Mathis«, so flüsterte ihm der Schuster Börsig bei diesen Worten zu, »sprich nit so laut; dort drüben sitzt unser Schultheiß beim württembergischen Gefälleinzieher. Die zwei hinterbringen alles dem Obervogt.«

»Sitz dort drüben wer will«, rief laut der vom Klevner erhitzte Schreiner: »ich sag meine Meinung und bleib dabei: Kaiserlich, des isch a Wort!«

»Ihr alte Oberkircher seid auch so Duckmäuser und Helden, welche die Faust im Sack machen. Ihr seid Herrenknechte und wedelt vor jedem Herrn, der ins Städtle kommt, sei es nun der Ritter von Schauenburg oder der von Staufenberg drüben oder gar der Bischof Leopold von Strasburg oder der Herzog Johann von Württemberg, euer gnädigster Herr!«

»Mir, dem Schriner-Mathis, können alle Herren g'stohlen werden!« fuhr er zu reden fort und schlug auf den Tisch. »Ich zahl' meine Steuer und meine Schoppen und laß' mir weiter von keinem Teufel was g'fallen!«

»Doch«, so schloß er, »jetzt will ich heim. Ihr Oberkircher schwitzt vor Angst ob meiner Rede, weil ihr meint, die Herren dort drüben sehen euch scheel an, daß ihr beim Schriner-Mathis sitzt.«

Mit diesen Worten stand er auf, bezahlte seinen Wein und schritt hinaus in den dunkeln Abend.

»Der verbrennt sein Maul doch noch«, hub der Glaser Huber an, als der Mathis fort war.

»Was fragt der Mathis darnach, wenn er's auch verbrennt«, gab der Schuster zurück. »Er ist ledig und geht fort von hier, wenn's ihm nicht mehr gefällt. Ein Meister, wie er, findet überall sein Brot.«

Am andern Abend saß der Mathis richtig im »Loch«, und nachdem er zweimal vierundzwanzig Stunden darin zugebracht, erhielt er die Weisung, innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden das Gebiet der Herrschaft Oberkirch für ewige Zeiten zu verlassen.

Am Morgen des 7. Oktober 1627 schritt der Schriner-Mathis wohlgemut zum unteren Tor von Oberkirch hinaus und sagte noch dem Torwart, »er möge die Stadtherren und die Bürger alle schön grüßen. Sie sollten gut württembergisch bleiben und 's Maul halten, dann kämen sie nie ins Loch und könnten als zufriedene Knechte leben und sterben.«

Zwanzig Tage später ward der Mathis von der Reichsstadt Gengenbach als Burger angenommen. Der »berühmte« Klosterorganist Jakob Billmayr, ein Breisacher, war sein Freund, und alle Klosterherren kannten die Kunst des vertriebenen Schreiners. Sie traten beim Rat für ihn ein, und er ward kurzerhand ein Reichsburger.

Es gefiel ihm bald in der heitern, kleinen Kinzigstadt, und anno 1630 heiratete er unter Assistenz seines Freundes Billmayr und eines Schreiners Karpfer eine Schwarzwälderin aus Elzach, Barbara Witt.

Im übrigen setzte er seine spitzigen Reden in den Wirtshäusern längst wieder fort, und nachdem er sich gegen die Oberkircher und ihre Herrschaft ausgeschimpft hatte, stichelte er bald auch gegen den Rat von Gengenbach und kritisierte dessen Verordnungen.

Die Bürger hörten ihm gerne zu; sie hatten als unabhängige Reichsburger mehr Mut als die Oberkircher, denen der württembergische Obervogt stets auf der Haube saß.

Dem Rat blieb das »Gespai« des Schriner-Mathis nicht unbekannt, und als derselbe sich anno 1631 um die von der Stadt in Pacht zu vergebende Wirtschaft »zur Blume« in der Kinzigvorstadt bewarb, ließ man ihn als Bewerber durchfallen. Der Grund ist heute noch im städtischen Protokollbuch zu lesen und heißt: »wegen seines widerspenstigen Wesens und wegen seines bösen Maules.«

Der Mathis, dem die Gengenbacher gierig zuhorchten, wenn er in den Weinkneipen seine losen Sprüche machte, hatte gemeint, als Wirt würde er ob seiner Unterhaltungsgabe stets Gäste haben.

Abgeblitzt beim Rat, stichelte er noch mehr denn vorher. Als nun anno 1633 die Blume wieder pachtfrei wurde und der Schriner-Mathis sich abermals meldete, da sprach der Ratsherr und Weißgerber Bock in der Rats-Sitzung also: »Ihr Herren von Gengenbach, ich meine, wir sollten dem Schriner-Mathis willfahren und ihm ›die Blume‹ zukommen lassen. Er hat viel Einfluß bei allen Zünften und beim gemeinen Mann ob seiner Redseligkeit und ob seines Gespais (Gespötts).«

»Wenn wir ihn nochmals durchfallen lassen, so hechelt er uns in allen Herbergen und Weinstuben noch ärger durch als bisher.«

Sprach's, und Beifall nickten die übrigen Väter der Stadt, und der Schriner-Mathis ward Blumenwirt. Aber, wie die meisten seiner Nachkommen, war er kein Glückskind. Kaum hatte er angefangen zu Wirten, als sich der Schwedenkrieg in die Gegend spielte. Ihm und allen Bürgern verging das Gespai, und anno 35 raffte die Pest viele Menschen hin, mit ihnen wahrscheinlich auch den Schriner-Mathis.

Er hinterließ einen einzigen Sohn, Johannes, mit dem die Mutter in ihre Heimat Elzach sich zurückzog.

Woher der Schriner-Mathis gewesen, das haben die Leute, so um die Backmulde gelebt und erzählt, nie recht gewußt. Die einen sagten, er sei ein Elsässer gewesen, die andern, er sei aus dem Wallis gekommen, noch andere, er habe aus Sachsen gestammt.

Eines nur steht fest, daß er der erste – Hansjakob im Kinzigtal und der Stammvater aller Proletarier dieses Namens im Schwarzwald gewesen und geworden ist.

Ich aber bin so stolz auf den um 1627 aus Oberkirch vertriebenen Schreiner Mathias Hansjakob, wie ein Zwölf-Ahnen-Kind auf seine adeligen Vorfahren. Es freut mich, daß er kein knechtseliger Mann war, sondern ein freies Wort nach oben liebte und dafür litt, und daß er seinen Nachkommen bis zur Stunde und so auch mir etwas von diesen Eigenschaften als Erbteil hinterlassen hat.

Wie dieselben sich vererbt haben und wie sie ein durchgehender Zug seines Geschlechtes geworden sind, das werden wir noch öfters aus der Backmulde herauslesen.

Im Jahre 1667 taucht sein Sohn Johannes als ein »ehrbarer und züchtiger Jüngling und Schwarzfärber« in Hasle auf, um die Brigitta Graf, Witwe des Schwarzfärbers Georg Walter in der Vorstadt, zu heiraten.

Die Brigitta ist aus dem benachbarten Dorfe Steinach und hat bereits drei Kinder. Sie nimmt den Johannes in ihre »völlige Haushaltung, in ihr liegend und fahrende Hab und Schuld dergestalten auf, daß er ihr besten Fleißes helfe haushalten, schalten, walten, gewinnen und werben und die jetzigen und durch Gottes Segen zu verhoffenden Kinder in einer Kindschaft zu aller Gottesfurcht, Zucht und Ehrbarkeit aufziehen.«

Er bringt – ein vorbildliches Wahrzeichen für die Armut der meisten seiner Nachkommen – in die Ehe blutwenig mit, nämlich einen neuen Farbkessel und 20 Gulden, welch letztere ihm seine verwitwete Mutter zuschießt.

Stirbt die Hochzeiterin vor ihm, so hat er bleibende Statt im Hause zehn Jahre lang. Dann aber kann er mit seinem Farbkessel und seinen zwanzig Gulden wieder abziehen, da der »Vortel« aufs Haus den Kindern seines Vorgängers gehört.

Lebt die Brigitte aber so lange, bis sie ein neues Häuslein neben das alte gebaut, so wird das neue dem Johannes von Gengenbach und seinen eventuellen Kindern zu teil.

Doch der ehrbare und züchtige Jüngling und Schwarzfärber war ebensowenig ein Glückskind wie sein Vater. Die Brigitte starb nach wenig Jahren, und der Johannes holte eine zweite Frau, Katharine Erath. Diese stirbt ihm auch und hinterläßt ihm ein Kind gleichen Namens wie die Mutter.

Indes sind die zehn Jahre, die er noch Herberg hat nach dem Tode des ersten Weibes, um; der Stiefsohn Franz Walter ist selbst Schwarzfärber und Meister geworden und kündigt dem Stiefvater Johannes die Wohnung auf. Da dieser nicht Folge leistet, wohl weil er keine andere Herberge hat, nimmt ihn der Stiefsohn vor Rat und Gericht und läßt ihm den Ausweis amtlich diktieren.

Er zieht nun aus mit seinem Kind, aber für seinen Farbkessel findet er keine Stätte. Noch 1679 verklagt ihn der Nachfolger des früh verstorbenen Franz Walter, Mathis Weiß, ein Schwarzfärber aus Rötz in Niederösterreich, der seines Vorgängers Witwe geheiratet – er solle seinen Kessel aus dem Haus tun.

Im gleichen Jahr gelingt es meinem Ahnherrn, ein drittes Weib zu bekommen und mit ihm ein eigenes Haus und Platz für seinen Farbkessel. Er geht im Mai 1679 »einen ehrlichen Heurat« ein mit Anna Maria Billmann, der Tochter eines alten Schmieds, der dem Färber seine Hütte für 210 Gulden überläßt.

Um etwas an dieser Schuld bezahlen zu können, verkauft der Johannes alsbald »einen Tauen« Matten an den Rappenwirt Rupp für 34 Gulden und eine halbe Ohm Wein.

1681 tritt unser Färber als Kronzeuge auf für ein gefährdetes »Heiltum« von Hasle. Die benachbarten Buren des Dorfes Steinach und ihr Pfarrer behaupten, die Kreuzpartikel in der Kirche zu Hasle gehöre ihnen; sie sei ehedem von Steine weggenommen worden.

Schon hat der Generalvikar von Straßburg ihnen dieselbe zugesprochen und sie schicken sich an, sie in Prozession abzuholen, als der Schwarzfärber Johannes Hansjakob und einige Burger sich erheben und mit der »Schwörhand« bezeugen, die Partikel sei von einem Bruder des verstorbenen Haslacher Erzpriesters Ramstein aus Italien gebracht und ihrer Stadtkirche geschenkt worden.

Jetzt mußten die Steinacher nachgeben.

Der Wettersegen, so mit der Kreuzpartikel gegeben wurde, nützte aber dem Schwarzfärber nicht viel. Er mußte in den neunziger Jahren seinen Krautgarten und abermals eine Matte verkaufen und konnte trotzdem das Heiratsgut seiner Tochter Katharine nicht bezahlen.

Sie hatte in den damaligen Kriegsläuften des orleanischen Kriegs einen Korporal des Prinz Lothringischen Regiments zu Fuß, namens Martin Lohr, geheiratet und war ihm nach Ungarn gefolgt.

Später wurde dieser als Werber ins Reich abkommandiert und schickte deshalb sein Weib zum Vater Färber, bei dem er es von seinen Werbzügen aus besuchte.

1695 nimmt er bei solch einem Besuch den alten Schwarzfärber vor Rat und Gericht und klagt, daß er ihm die versprochenen zwanzig Gulden Heiratsgut noch »völlig schuldig« sei.

Ob der Korporal je zu diesem Gut gekommen ist, möcht' ich bezweifeln.

Aus der Ehe mit der Billmännin sproßten dem armen Schwarzfärber zwei Söhne: Johannes und Hans Georg. Der erstere wurde ein Färber, der andere, mein näherer Ahnherr, ein Weber; denn Weber, Färber und Stricker bildeten eine Zunft in Hasle. Was die einen woben und strickten, das färbten die andern.

War eine feine Zunft, diese alliierte Bruderschaft der Weber, Färber und Stricker in Hasle an der Kinzig! Die erste Rolle spielten in ihr die Hosen- und Baretlin-Stricker. Sie verdienen es, der Vergessenheit entrissen zu werden.

Alle diese Stricker hatten in Prag gearbeitet, der hohen Schule ihrer Zunft. Und die Stricker in Hasle nahmen zum Meister nur den an, der das Meisterstück gemacht hatte, wie es in Prag üblich war. Dieses bestand aber darin, daß einer eine Decke, vier Ellen lang und vier Ellen breit, ein Baretlin von Arras, ein Wollhemd und ein Paar Handschuhe fertigen konnte.

Da von der alliierten Zunft die Stricker allein mit ihrer Ware auf die Märkte gingen, galt nur ihnen der Zunftartikel, daß keiner einen größeren Stand habe als der andere und daß keiner Waren auflegen solle, die nicht auf ihre »Ehrlichkeit« geprüft wären.

Was von der Ortsobrigkeit »ausgeschaut« wurde, durfte nicht verkauft werden.

Jeder Geselle der Zunft hatte täglich sechzehn Kreuzer Lohn anzusprechen. Davon mußte er quartaliter vier Kreuzer in die Bruderschaftslade geben, aus der jeder fremde Geselle, der keine Arbeit fand, sechs Kreuzer bekam.

Ein fremder Geselle ist zuerst dem Meister zuzuführen, dessen Werkstatt am längsten »leer und öde« gestanden ist.

Bei Strafe von zwei Gulden darf kein Meister deutsche oder welsche Maidle als Strickerinnen anstellen. Nur die eigenen Kinder, Maidle und Buben, darf er zum Handwerk verwenden.

Dieser »Artikul« wurde erst zu Ende des 17. Jahrhunderts aufgenommen. Der Rat wies demgemäß alle fremden Leute aus. Auch der »alte Schwarzfärber« Johannes Hansjakob muß 1699 auf Ratsbeschluß die bei ihm wohnende Hosenstrickerin »bei Strafe des Pfunds abschaffen«.

Wir sehen, die alten Hosenstricker waren keine Freunde der Frauen-Emanzipation; sie ließen sich von den Wibervölkern nicht einmal ins Stricken pfuschen.

Mein Urahne hatte mit den Damen überhaupt kein Glück. Als seine beiden Buben in der Fremde waren und er sich aus Armut keinen Gesellen halten konnte, stellte er wider Handwerksbrauch eine Magd ein, die ihm half beim Färben des Zwilches. Diese Magd fiel beim alten Johannes und bei der Anna Maria in Verdacht, als habe sie ihre arme Herrschaft bestohlen.

Der Färber bricht dem Maidle nicht nur seinen »Trog« auf, um nach dem gestohlenen Gut zu fahnden, sondern er behält ihm auch fünf Gulden »Liedlohn« zurück.

Für diesen Frevel muß der Johannes samt seiner Gattin vor den hohen Rat, dessen Hilfe die unschuldige Magd angerufen hat.

Dies geschah am 15. Oktober anno 1700. Nach »Red und Gegenred« stellt sich die Unschuld des Mägdleins heraus, und das Urteil lautet für den Johannes: »Er soll dem Maidle seinen Trog wieder schlüssig machen und den Liedlohn in zwei Terminen bezahlen.«

»Sein Weib aber muß der gekränkten Unschuld die Hand geben und bekennen, daß sie nichts als Ehr, Liebs und Guts von dem Maidle wisse.«

Nach meiner Ansicht vererben sich nicht bloß die angebornen leiblichen und geistigen, sondern auch die erworbenen Eigenschaften der Ahnen auf ihre Nachkommen. Wie obiges Urteil zeigt, war der Färber Johannes, der erste Hansjakob in Hasle, von dessen Armut wir schon oben erzählt, am Ende seiner Laufbahn so dürftig, daß er nicht fünf Gulden auf einmal zahlen konnte; er bekam dazu zwei Fristen. Und seit jener Zeit bis auf diese Stunde weiß ich nicht fünf unter seinen zahlreichen Nachkommen, die das erworben hätten, was man ein Vermögen nennt.

Die Schande, wegen einer Magd vor Gericht gekommen zu sein, entleidete dem alten Färber das ehrliche Handwerk. Sein Sohn Johannes kam bald nach dem angeführten Urteilsspruch aus Lyon, wo er sich in seiner Kunst vervollkommnet, und sofort übergab ihm nach gemachtem Meisterstück der Alte seinen Farbkessel und seine Hütte.

Die Plünderung und Niederbrennung der Stadt durch die Franzosen am 28., 29. und 30. April und am 1., 2. und 3. Mai 1703 erlebte der alte Johannes noch. Aber ihm, wie den meisten Vorstädtlern, war nicht viel zu plündern gewesen. Sie waren deshalb am glimpflichsten weggekommen.

Er ließ sich's drum auch im folgenden Sommer nicht nehmen, der alte, fromme Schwarzfärber, die Wallfahrt nach Triberg, welche die Bürgerschaft während der Plünderung gelobt, mitzumachen. Da jedoch der zwölfstündige Weg sehr beschwerlich war, legte er sich nach dieser Huldigung an die Himmelskönigin zum Sterben nieder. Sein Geschlecht aber ging weiter in seinen Söhnen Johannes und Hansjörg, die den Stamm verzweigten und die Ahnherren zweier Linien wurden. Vom Johannes ging die Färberlinie und vom Hansjörg die Bäckerlinie aus, eine fast so arm wie die andere, aber jede begabt mit der Redseligkeit und dem leichten Herzen des ehemaligen, aus Oberkirch vertriebenen Schreiners und nachmaligen Blumenwirts von Gengenbach.