LAPPAN
Satirisches mit Hirn, Charme und Methode
Bernd Gieseking erzählt mit zupackendem und trotzdem feinem Humor Geschichten über Ostwestfalen, Finnland, fliegende Rehe, kaputte Autos, sich selbst und das Leben mit seiner Freundin. In Gedichten besingt er die Mathematik und das Billy-Regal, außerdem führt er Telefonate mit bedeutenden Persönlichkeiten wie dem Schwarzen Loch, Helmut Schmidt oder Gott.
Sie werden Spaß beim Lesen haben, und wer ist schuld?
Na klar, der Gieseking!
„Wer dieses Buch zur Hand nimmt, wird es so schnell nicht wieder zur Seite legen wollen.“
Dietmar Wischmeyer
„Rau, aber herzlich“.
Main-Echo
Für Achim Frenz,
dem ich viel verdanke, der mich schon früh immer wieder ermutigt hat und der so letztlich auch an vielem schuld ist.
DIETMAR WISCHMEYER: HIER KOMMT EIN GIESEKING
POTT FÜRS GLÜCK
DAS DISKRIMINIERTE FAHRRAD
FLIEGENFÄNGER
OSTERN BEI URSULAS PFERDEN
HIGH FIVE ODER ABKLATSCHER
TIERISCHES AN DER OSTSEE
HELMUT SCHMIDT RUFT AN
ZU ALT FÜR DIESE WELT
DER GEMEINE GAFFER – EINE KLASSIFIZIERUNG
AUS MEINEM KÜNSTLER-TAGEBUCH
ZUM UMGANG MIT DER KUNST
DIE BALZ DER BOHRER
LIEBE FÜR MATHEMATIKER
68 WURDE 50
ALS ICH MAL THOMAS GSELLA WAR
LOB DES HERZENS
DIE MAGIE VON MAGGI
DIRK NOWITZKI UND ICH
KARL LAGERFELD RUFT AN
RUMPELNDE ROULADEN
KÖRPER UND SEELE (1) – DAS TAXI
AUF LUISES KLEBESPUR
DIE WALDORFLEHRERIN
LYRIK AUF LKWS
KONSTANTZ IN KONSCHTANZ
JA KLAR, ICH BIN SCHULD
GOTT RUFT AN
NIE WIEDER ZU SPÄT KOMMEN
SONNENBRAND UND MÜCKENSTICHE
DAS BILLY-REGAL – EINE ODE
WILD IM WALD
DAS RÄTSEL DER FINNISCHEN BALZ
CHARLES DARWIN RUFT AN
„AFTER DARK“ IN KONSTANZ
KÖRPER UND SEELE (2) – HOCH HINAUS
SARONG, WARUNG, WARAN
FINNLAND IST „HOT“
CHARLES DARWIN UND DAS ARSCHLOCH
DAS CHRISTKIND RUFT AN
NACH DER WEIHNACHTSFEIER
NACH ISLAND MIT PULLI
WANDERN IM DIGI-TAL
DAS SCHWARZE LOCH RUFT AN
IN SCHWEDEN IN NOT
EIN REH IM FLUG
SUPERHELD RASIERT
MOSES RUFT AN
VIETNAM
KÖRPER UND SEELE (3) – GEHT’S NOCH?
GEBROCHENES SCHWEIGEGELÜBDE
HERZEN AUF DIFFERENTEN WEGEN
DANK
Ende der 50er-Jahre kam ein Gieseking in Nordostwestfalen auf die Erde nieder. Es war nicht der erste seiner Art, aber doch der, um den es hier gehen soll. Dieser Gieseking nämlich wars, der so ganz aus der Art schlug. Zwar erlernte er als junger Bursch noch das ehrbare Zimmerhandwerk, doch schon bald wurde ihm Westfalens Osten allzu klein, und es zog ihn ins Hessische hinein. Nun wissen alle, die schon mal in Kassel waren, dass dort Sünde und Schlendrian Asyl genießen. Was Wunder, dass es auch den jungen Gieseking hinab zog in den Mahlstrom des Verderbens. Statt sich um einen Posten bei der unteren kurhessischen Liegenschaftsverwaltung zu bemühen, damit es den Eltern im hohen Norden Ostwestfalens ein Wohlgefallen wär, widmete sich der Strolch den niederen Künsten. Er schrieb für den Rundfunk und war sich nicht mal zu schade, in billigen Kaschemmen und Opiumhöhlen den Narren zu geben. Vergessen war der liebliche Weserstrand, wo noch jeder stramme Bursch ein Mädel fand. Doch Gieseking zog es immer weiter hinab in den Sündenpfuhl des billigen Amüsements. Statt seine Aufmerksamkeit dem Höheren zu schenken, Kants Kritiken neu zu lesen oder gar das Spiel auf der Blockflöte zu erlernen, schaute Gieseking dem gemeinen Volk auf die Finger, studierte sein Verhalten und stellte sich zu Studienzwecken sogar auf eine Stufe mit Pöbel und Gammlern, Haderlumpen und Studenten. Gieseking machte sich deren Welt zu eigen und berichtete davon im Hessischen Radio, dem Westdeutschen Rundfunk, schrieb für die taz, für die Schublade, für sich selbst und manchmal auch für die Ewigkeit.
Die Giesekingsche Sicht auf die Welt zeigt uns dieses Büchlein in ihrer ganzen Fülle. Wenn Gieseking schreibt, erzählt er von sich und wie die Welt um ihn kreist. Es ist immer ein liebevoller Blick auf die anderen, nie vernichtend. Es macht großen Spaß, in der Zeit zurückzublicken und in seinen Texten sich selbst, die eigene Geschichte und die der Zeitgenossen zu entdecken.
Wer dieses Buch zur Hand nimmt, wird es so schnell nicht wieder zur Seite legen wollen.
Lieber Bernd, ich wünsche Dir viele Leser und noch mehr den Lesern viel von Dir.
Dietmar Wischmeyer
Nachtrag: Der Künstler hat auf seiner Reise durch die Zeit relativ unbeschadet Ostwestfalen wieder erreicht.
Jeder Mensch hat seinen Tick. Ich sammle Kaffeetassen oder, um es ganz präzise zu sagen: Kaffeebecher. Jeden Morgen überlege ich, aus welcher Tasse, aus welchem Becher ich heute trinken will. Einer ist vom Künstler Günter Rückert gestaltet, mit einer Zeichnung des Dortmunder „U“. Andere Pötte erinnern mich an Orte, die ich besucht habe. Drei Regalreihen stehen voll.
Ich habe sogar ein Porzellanexemplar, das aussieht wie ein zerdrückter Plastikbecher. Ich finde das großartig, aber sie, also die Frau in meinem Leben, meint, das sei eigentlich ein Trennungsgrund. Ich besitze offensichtlich viele Trennungsgründe. Zum Beispiel meine Mumin-Tassen aus Finnland. Manche sind dort richtig was wert. Sammlerstücke, die nur in kleinen Auflagen hergestellt werden. Ich behandle sie entsprechend vorsichtig. Vor allem meine Lieblingstasse, die in Orange, die mit den Hatifnatten!
Ich sage manchmal: „Die ist wertvoll!“
„Ja, in Finnland!“, sagt sie dann. „Hier sind es Kaffeetassen! Mit sehr kindlichen Motiven!“
Aber doch nicht die mit dem Snorkfräulein! Für mich ist allerdings auch „Der Räuber Hotzenplotz“ Literatur, und „Urmel aus dem Eis“ halte ich kulturhistorisch für wichtiger als „Die Ästhetik des Widerstands“.
Sie sagt: „Wir reden über Tassen, nicht über Kindergeschichten!“
Den Pott mit dem Aufdruck „Äktschen“ findet sie besonders albern. Ich nehme den an ganz faulen Tagen zur Aufmunterung. Das hält sie nicht mehr für „kindlich“, sondern für „kindisch“. Ich frage sie, ob es ihr lieber sei, wenn ich eine Märklin-Eisenbahn im Wohnzimmer aufbauen würde. Sie sagt, wenn man daraus Kaffee trinken könnte, hätte ich das sicher längst getan.
An Tagen, an denen sie mich verstehen möchte, fragt sie schon mal: „Schmeckt der Kaffee anders aus verschiedenen Tassen?“
Darauf habe ich noch nie geachtet. Sie versucht zwar, verständnisvoll zu sein, aber ich spüre, es ist eine Falle! Kaffee schmeckt immer wie Kaffee, aber ich sage das nicht!
„So wie bei deinen Rotwein- und Weißweingläsern?“, setzt sie nach.
Sie weiß genau, dass es bei meinen Weinen völlig egal ist, ob ich den Weißen aus Weißweingläsern und den Roten aus Rotweingläsern trinke oder umgekehrt. Ein Freund von mir hat sogar „mundgeblasene“ Weingläser mit ganz dünnem Rand, die holt er für einige Gäste gar nicht raus. Mir hat er sie auch nur gezeigt. Die Zeit reichte trotzdem, einen Kelch vom Stiel zu trennen. Ich soll jetzt meine Hausratversicherung bemühen. Bei einem Kaffeepott hätte ich das verstanden. Na ja, es war halt keine Freundschaft für die Ewigkeit.
Das gilt vielleicht auch für meine Beziehung. Wir sind jetzt auf einen Polterabend eingeladen. Sie will, dass ich mich dafür von einigen Tassen trenne. Sonst würde sie sich von mir trennen. Ich hätte ohnehin zu viel von allem, ich solle das ganze Zeug endlich wegschmeißen. Was genau sie meine, frage ich nach. Die vielen schwarzen T-Shirts. Vor allem die in M. Nicht mal in die Größe L würde ich irgendwann wieder hineinpassen. Woher sie das so genau wisse? Sie kenne mich nun lange genug. Dann schaut sie mich an. Sie lächelt plötzlich und blickt auf den Kaffeepott in ihrer Hand, der mit dem Aufdruck „Heiß und wild!“. Dann streckt sie ihn seitlich von sich, fixiert mich lange und öffnet schließlich ihre Hand. Ich sehe in Zeitlupe, wie der Becher fällt.
Hoffentlich hat sie eine Hausratversicherung!
Ich hatte in meinem Leben mehr Autos als Fahrräder. Selten hatten die Wagen beim Kauf mehr als ein Jahr TÜV, und meistens kamen sie auch nicht wieder durch. Ein gebrauchtes neues Auto zu kaufen war oft billiger als das alte reparieren zu lassen. Es begann mit einem VW Käfer, den ersten bekam ich für 120 Mark, den nächsten für 250 Mark. Dann kam ein VW Variant, wieder ein Käfer, dann Opel Kadett, dann Karmann Ghia. Danach Opel Ascona Kombi, Ford Consul Kombi, Ford Granada Kombi, noch ein Consul, Mercedes Kombi, 5er BMW, VW Passat Kombi und inzwischen Volvo V 70. Insgesamt etwa 14 bis 16 Fahrzeuge bisher, ohne die sieben Motorräder, die zwei Mofas von Zündapp und zwei Mopeds beziehungsweise „Mokicks“, eine Herkules mit Sitzbank und natürlich eine Quickly.
Fahrräder hatte ich nur fünf. Derzeit fahre ich ein mintfarbenes Damenrad, eine echte „Scheese“, wie wir in Ostwestfalen sagen. Ich hasse Fahrradfahren. Seit der Kindheit habe ich Gegenwind, egal in welche Richtung ich fahre. Bis heute. Auf beiden Wegen, hin und zurück! Oder die Städte sind entschieden zu hügelig, wie Kassel.
Nun liebe ich seit einiger Zeit eine Frau, die für ihr Leben gern Fahrrad fährt. Plötzlich habe ich einen Fahrradträger hinten am V 70, und ich muss überall trampeln und strampeln. Um den Maschsee war ein müder Einstieg, es folgten rund ums Steinhuder Meer, der Weser-Radweg, jetzt Bodensee. Ich kam mit meinem Mint-Rad nicht mehr hinterher.
Also, dachte ich, ich bin über 50, es wird Zeit für ein neues Rad. Das sechste Fahrrad im sechsten Lebensjahrzehnt. Ich wollte ein 28er mit mehreren Gängen. Aber so einfach ist die Welt nicht mehr. Ich geriet quasi auf eine Art Fahrrad-Catwalk.
Die einfachste Unterscheidung war noch Ketten- oder Naben-Schaltung. Ansonsten war das Angebot schlimmer als die Produktpalette von Opel. Cityräder! Urban Bikes mit „Priorität Lifestyle“. Dann Speedbikes! Die hießen früher „Rennräder“. Gravelbikes, die mal Cyclocross-Räder hießen und noch früher, ich schätze im Mesozoikum (Kreide, Jura, Trias) Querfeldeinräder. Ich fand außerdem Transporträder, Falträder, Reiseräder, Trecking-Räder, Mountain-Räder, dazu Rumsteh-Räder und Sexy-Mini-Super-Flower-Pop-Op-Räder.
Mir wollte man hier vehement ein E-Bike verkaufen. So viel Geld gebe ich noch nicht mal für ein Auto aus. Außerdem würde meine Freundin mich sofort verlassen, wenn ich mit einem E-Bike heimkäme, und ich muss ehrlich sagen – zu Recht! Ich fahre, um zu treten, nicht, um zu rollen.
Ein Rad stand unbeachtet in einer Ecke des Verkaufsraums. Das gefiel mir. „Ist aber die alte Edition!“, hieß es.
„Bin ich auch!“, sagte ich.
Ich war sofort entschieden. Was hier als das hässliche Entlein galt, würde mein neues Rad werden. Man gab mir sogar einen nicht unerheblichen Preisnachlass.
„Muss ja auch mal weg!“
Dann wurde ich vermessen. Also, ich wurde nicht übermütig, sondern man nahm Maß an mir. Maße. Der Abstand vom Sattel zum Lenker wurde gemessen, vom Lenker zum Hirn und vom Hintern zur Pedale. Dann wurde ausgerechnet und der Sattelabstand vom Arsch zum Asphalt eingestellt. Und das Schlimmste: Es passte! Eigentlich sucht man nicht mehr das Rad für den Herrn, sondern den Herrn fürs Rad. Aber es fährt sich super!
Nur mein Mintfarbenes ist schwer verstimmt und steht beleidigt in der Garage. Immer wenn ich mit dem Neuen fahren will, fehlt Luft auf den Reifen. Ich bin sicher, das Mintene lässt dem Neuen nachts heimlich die Luft ab. Kürzlich war sogar was verbogen. Ich glaube, das Erstgekaufte geht der Neuerwerbung an die Speichen! Und wenn ich, um das Neue zu holen, am Mint-Rad vorbeigehe, zischt es mir durch sein Ventil zu: „Das ist Altersdiskriminierung, du Arsch!“
Keine Kreatur ist schwerer zu erwischen. Selbst der geduldigste Jäger auf seinem Hochsitz wird niemals so ausgetrickst vom Wild wie der Fliegenfänger von seinem summenden Flügeltier. Wobei der Jäger sich diesen frühen Morgen ja ausgesucht hat, um auf seinem Hochsitz auf das Wild zu warten. Ihm ist ganz egal, wann der junge Rehbock erscheint. Je länger er wartet, desto größer das Glücksgefühl, wenn das Tier sich dann zeigt und er seine Flinte anlegen kann.
Ich höre das Summen. Ich liege im Bett. Auf mir ist Nachtlandeverbot, aber es wird mal wieder komplett umgangen. Stete Starts und Landungen seit dem Morgengrauen. Dabei bin ich müde. Ich will schlafen, tief und fest. Ich will nicht jagen. Aber neben mir flüstert eben auch sie aus einem viel zu leichten Schlaf heraus: „Da ist eine Fliege …“
Ja, weiß ich. Und ich weiß auch, was nun zu tun ist. Ja, ich bin der Jäger, das hier ist meine Pflicht. Sie ist die Sammlerin, sie webt die Kleidung und fegt das Haus. Ihre Aufgaben sind andere im Leben. Die Fliege töten muss ich.
Die Morgendämmerung im Zimmer verheißt eigentlich gute Jagdbedingungen. Aber mein Gegner ist trotzdem im Vorteil. Erstens: Sie, die Fliege, ist wach. Ich bin schläfrig. Zweitens: ihre Facettenaugen! Mit ungefähr 3000 Ommatidien. Einzelaugen! Wenn ich, der Jäger, wenn wir Menschen so schnell und so viel sehen wollten wie eine Fliege, müsste unser Auge einen Durchmesser von einem Meter haben.
„Die Fliege ist immer noch da!“, höre ich.
Ich hole ein Handtuch aus dem Bad. Ich bin siegesgewiss. Mein Killerinstinkt weiß: Ich werde nur diesen einen Streich brauchen. Aber ich erwische mit diesem ersten Streich leider das Bein der Liebsten statt die Fliege. Ihr überraschter Schrei durchschneidet den frühen Morgen wie das Messer die Käsetorte. Wie gut, dass ich nicht mit scharfer Munition unterwegs bin.
Noch vor Minuten, als sich das Drama anbahnte, flog die Fliege geduldig ihre Runden durchs Zimmer, setzte sich hier senkrecht auf die Tapete, dort waagerecht auf die Bettdecke, aber eben auch auf sämtliche sichtbaren Teile von uns Schläfern. Oft saß sie nur kurz, trippelte dann und wann, verhielt und trippelte erneut. Erhob sich wieder, um unbestimmte Zeit später abermals zu landen und zu trippeln.
Eigentlich müssten wir Menschen uns gar nicht an ihr stören. Sie, die Fliege, saugt nicht an uns wie das Mückenweibchen, sie sticht nicht wie Wespe und Bremse. Aber sie nervt! Sie piesackt! Sie macht dich wahnsinnig! Unser Gehirn ist normalerweise ein sehr kluges, ich will nicht sagen ideales, aber doch gut funktionierendes Gerät. Es warnt uns vor Gefahren, nimmt aber gleichzeitig täglich, im Grunde sekündlich, Millionen Dinge mehr wahr als es uns meldet. Das Gehirn sortiert die Informationen – die wichtigen ins Bewusstsein, der Rest wird einfach nicht weitergeleitet. Der landet quasi im Spam-Ordner.
Aber ausgerechnet die Fliegentrippelei, von der keinerlei Bedrohung ausgeht, auf mir, auf den feinen Härchen am Unterarm oder oberhalb der Stirn, die meldet mein Gehirn meinem Bewusstsein? Wenn jetzt ein Löwe sich anpirschte, ja! Bitte sofortige Meldung. Wenn ein hirnloser Audi-Fahrer mal wieder die Zebrastreifen ignoriert, wie gestern, als ich gerade noch beiseite springen konnte, ja! Aber warum meldet mein Gehirn mir eine Fliege?! Könnte es mich nicht in Ruhe lassen damit? Aber will ich jetzt am Ende noch meinem Gehirn die Schuld geben an der Fliegennerverei? Wer hat denn angefangen? Das war doch sie!
Neben mir flüstert eine müde Stimme vorwurfsvoll: „Hast du sie immer noch nicht?“
Es gibt grauselige Tage im Jahresrund. Dazu gehören Weihnachten, Rosenmontag und Ostern. Ich habe eine gute Freundin, Susanne, die sich vor diesen Tagen genauso fürchtet wie ich. Sie stammt aus Hannover.
„Ich muss da Ostern hin. Zu meiner Familie“, hatte sie gestöhnt.
„Ich auch!“
„Nee, du musst ja zu deiner“, argumentierte sie zielgenau. Kein Wunder. Sie arbeitet an einer veritablen Universität. Ich hingegen habe ja nur an einer Gesamthochschule studiert. Neulich erst sagte meine Mutter: „Ob du das damals wirklich fertig gemacht hast, weiß ich ja auch nicht. Du hast uns ja nie dein Zeugnis gezeigt!“
Zu dieser Mutter sollte ich jetzt unter den Osterbusch nach Ostwestfalen.
„Meine Familie geht mir so was von auf den Geist!“, sagte Susanne.
„Meine erst.“
„Kannst du nicht für mich gehen?“, fragte sie.
„Ich muss doch schon zu meiner!“, sagte ich.
„Ich habe aber von meinem Geburtstag noch diesen Gutschein von dir. Für einen Wunsch.“
„Scheiße! Stimmt!“, entfuhr es mir. „Und was wünscht du dir?“
„Na, dass du zu meiner Familie gehst, für mich.“
„Mit dir? Zu deiner Familie?“
„Nein, anstelle von mir!“
„Und wer geht dann zu meiner?“, fragte ich.
„Das mache ich dann!“
„Und wie wollen wir das erklären?“
„Gar nicht, wir machen das einfach. In Vertretung.“
„Du bist verrückt!“
„Gutschein!!!“, sagte sie freudestrahlend, mit kieksender Stimme!
„Mist!“, fluchte ich.
Am Ostermontag fuhr ich nach Hannover, Abfahrt Lehrte. Das Navi brachte mich zu Regina und Jens. Regina ist Susannes Schwester. Regina hat zwei Kinder, Laura, sechs Jahre alt, und Paul, vier. Zu denen würde heute der Osterhase kommen.
Bei Regina war der Tisch gedeckt für ihre Mutter Erika, die Schwiegereltern Kurt und Margret und die zwei Kinder. Tante Trude war auch da. Ich wusste genau, wer wer war. Susanne hatte mich vorbereitet. Wir hatten uns nicht mehr treffen können, aber sie hatte von allen Bilder gemailt. Ich wusste jetzt, wer die da waren. Ich wusste mehr über sie als sie selber über sich!
Ich hielt kurz am Ortseingangsschild. Durchatmen! Ich war nervös. Allein zu Fremden! Ich öffnete das Fenster. Ein kräftiges Land-Odeur zog in meinen vollklimatisierten Kombi.
„Mist, was mache ich hier?“, dachte ich. „So eine bekloppte Idee von Susanne.“
Im nächsten Moment dachte ich: „Mist, was stinkt hier so?“
In 30 Meter Luftlinie lag der erste Misthaufen dieser niedersächsischen Dorfidylle. Ich ergab mich in mein Schicksal, jetzt war der Gestank im Auto. Ich nahm mir noch mal die Ausdrucke und memorierte Namen und Gesichter von Susannes Verwandtschaft.
Ich fuhr die letzten 500 Meter, die Klimaanlage lief auf Hochtouren, der Gestank blieb. Ich parkte und ging, leicht nervös, durch den Garten zur Veranda. Dort saßen sie im ostermontagmorgendlichen Sonnenschein.
Ich peilte zum nächsten Misthaufen. 200 Meter entfernt, aber er roch, als hätte ich direkt daneben geparkt. Die Familie am Verandatisch schien sich heimisch zu fühlen.
Ich dachte: „Wenn man hier wohnt, kennt man es ja nicht anders.“
Dann schaute ich mich um. Alle waren in aufgeräumter Stimmung. Ein Stuhl war frei. Der für Susanne. Mein Platz. Jeder hatte ein Glas Sekt vor sich, die Kinder Saft. Nur Tante Trude trank, Susanne hatte mich vorbereitet, einen Guten-Morgen-Grog, obwohl es heiß war. Tante Trude war die Tante der Schwiegermutter, und diese Schwiegermutter schüttete ihr soeben Rum ein und goss mit heißem Wasser auf. Tante Trude war 91. Dem Grog sei Dank.
„Gegen die Kälte“, sagte Tante Trude jetzt und hielt das Glas hoch. Die anderen erhoben ihre Sektgläser.
„Guter Moment“, dachte ich. Bisher hatte niemand Notiz von mir genommen.
Ich räusperte mich: „Moin. Frohe Ostern. Ich bin Bernd. Prost, Tante Trude.“
Acht Köpfe ruckten zu mir. Sekt schwappte aus Gläsern. Nur in Tante Trudes Grogglas kräuselte nicht einmal die Oberfläche. Acht Augenpaare starrten mich an.
Ich zählte im Stillen: „Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwan...“
„Wer ist das?“, fragte Schwiegermutter Magret ihre Schwiegertochter und sah sie dabei so erwartungs- wie vorwurfsvoll an.
„Weiß nicht“, sagte die und fragte ihren Mann: „Kennst du den?“
Jens schüttelte den Kopf.
Stille.
In diesem Moment zerriss ein Furz von immenser Lautstärke die Stille.
Fragend schaute ich in die Runde.
„Die Pferde“, sagte Regina zu mir. „Die Pferde furzen.“
„Ah“, sagte ich. „Die Pferde!“
Hier im Ort, erfuhr ich später, leben mehr Pferde als Menschen. Drei Pferde standen etwa 30 Meter entfernt auf der Weide. Ich überlegte, ob der Gestank eines Pferdefurzes den Misthaufen übertönen würde. Übertönen? Überduften? Überdecken? Wie vergleicht man Düfte? Was ist da das richtige Vokabular?
Während ich noch in dieses Problem vertieft war, hatte die Runde sich weiter mit mir auseinandergesetzt.
„Äh, Sie haben sich sicher vertan“, sagte Kurt, der Schwiegervater. „Wir kennen Sie nicht! Sie gehören hier gar nicht hin.“
Ich dachte kurz: So fühlen sich also Zugereiste bei der Begrüßung.
Dann sagte ich: „Nee, ich bin für Susanne da. Die will ni... – die kann nicht. Die kann heute nicht. Deshalb bin ich da. Schönen Gruß an alle.“
Ich holte einen Blumenstrauß hinter dem Rücken hervor. „Für die Hausherrin. Regina. Richtig?“
„Blumen? Für mich?“ Susannes Schwester stutzte. Dann sah sie ihren Mann an. „Die ersten Blumen seit zwei Jahren! An so was denkst du nie!“