Projektgruppe „Landeier“

FREI – LAND – HALTUNG

Jugend auf dem Land

Die Autor*innen:

Dieses Buch entstand im Zusammenhang mit einem von Prof. Dr. Kurt Möller geleiteten zweisemestrigen Lehrforschungsprojekt an der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Esslingen.

Die Autor*innen sind: Stephania Athanassiadou, Inna Bauknecht, Laura Bieler, Jana Bodmer, Andreas Borchert, Fabienne Gurau, Christopher Krasel, Celine Lebherz, Mathis Maurer, Erik Miersch, Iris Möck, Kurt Möller, Tatiana Ovechkina, Nadine Sauter, Viktoriia Snida, Henry M. Ulrich, Swetlana Ziebart.

© 2020 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin; prverlag@hirnkost.de; http://www.hirnkost.de/

Unsere Bücher kann man auch abonnieren: https://shop.hirnkost.de/

INHALT

FREI-LAND-HALTUNG

Frei-Land-Haltung? Hä?

Schwäbisch für Möchtegern–Käpsele

Heimat – Land. Aufwachsen, wo der Hahn noch kräht

WAS GEHT!?

„Eigentlich ischs subber hier, aber leider ischs halt net erlaubt.“

Rock & Rollinger – „Schwabenhymne“

„Da standst dann oben und hast nach unten geguckt, zwei Meter, und da hat dann alles gewackelt.“

Lustige Ortsnamen

„Hier auf dem Land muss man aufpassen, dass man nicht von einer Wildsau überrannt wird.“

„In der Stadt … gibt es zu viele Menschen auf einem Fleck, und die leben alle an einem vorbei.“

Witzige Sprüche zum Landleben

„Es ist ja auch nicht so, dass wir uns nur zum Trinken treffen. Da ist ja immer noch viel mehr mit verbunden.“

Rätsel: Was eine echtes Landei wissen sollte

„Landwirtschaft ist Leidenschaft!“

„Einige schütteln da vielleicht den Kopf, dass man so weit fährt für ’nen Trecker, aber das ist halt mein Ding.“

„Man sieht Natur, wie man ’se eigentlich sonst net sieht.“

Dorfrocker – „Dorfkind“

„Dann hat mein Vater auf den Fingern gepfiffen, das habe ich gehört, und dann sind wir heimgegangen.“

Wie viel Dorfkind steckt in dir? – Das ultimative Landei-Spiel

„Die, die in ’nem Dorf in koinem Verein sind, die händ dann au meischdens net so viel mit’m Dorf zum doa.“

WAS BEWEGEN!?

Man muss in der Feuerwehr sein, sein Holz machen oder seine Scheune haben

„Ich glaube, man schätzt viel zu selten, dass man auf dem Dorf wohnt …“

Brauchtum – nur von gestern?

„Gerade als Jugendlicher ist es wichtig, zu schauen, was will ich, wie soll die Welt, in der ich lebe, aussehen und was kann ich jetzt schon dafür tun.“

„… er ist anders, und was anders ist, wird hier oben einfach nicht akzeptiert.“

To-visit: Festkalender

„Ja, wir komm’n ausm Osten, deswegen sind wir aber noch längst keine Leute, die irgendwelche Hetzkrawalle anzetteln …“

„Das Dorf zusammenbringen ist ja auch ’ne Art Politik.“

„He, do goht mol wieder was, da müssa mer hin!“

„I würd dohana it wegganga, i kennts mr zum Beispiel niemols vorstella, in d’ Stadt zum ganga, weil’s eifach zu viel Trubel isch.“

Eine Variante des Trinkspiels „Nageln“

WAS WERDEN!?

„In Berlin sind alle stylisch angezogen. Und hier? Hier tragen alle noch Wanderschuhe!“

„Und wenn jemand über den Durst getrunken hat, wird er heimgeschafft … bis ins Bette …“

Tua –„Vorstadt“

„Eigentlich wollte ich ja nie Artist werden, das kam irgendwie einfach so dazwischen …“

„… weil das Internet bei uns auf dem Land noch nicht gut ausgebaut ist.“

Redewendungen

„… wo der eine malen kann, und der andere sitzt gerne nackt davor.“

Bauernkalender

„Die Gemeinschaft vom Land in der Stadt zu haben und trotzdem die Vorteile von der Stadt auch aufm Land nutzen zu können, das wär die perfekte Lösung.“

Querbeat –„Heimatkaff“

„’n paar Jugendliche, … die … nicht unbedingt ihre Oma stolz machen“

Ich würde … gerne zeigen, wie es hier wirklich ist“

Dorfrocker – „Engelbert Strauss“

WAS ANDERES!?

„Am Anfang wars sehr schwer. Wir haben versucht, von hier wegzugehen“

„Wir sind fast Nachbarn, da ist bloß ein Kuhstall im Weg.“

„Also hier auf dem Land wissen die Menschen, dass du ein Ausländer bist … “

„Händchen halten als Schwuler gehört nicht zur Norm.“

„Ich fühle mich in Deutschland nicht so, als wäre das mein Heimatland.“

„Oh, mein Gott! Sie kann Deutsch!“

WAS FERNES!?

„Wenn jemand sich von der Gemeinschaft unterscheidet, erfahren es alle.“

„… früher wurden die Kinder und Jugendlichen noch nicht so von den Medien beeinflusst …“

„… einfach mega der Familienmensch.“

„Auf dem Land, da reden die Menschen noch miteinander und pflegen Beziehungen.“

„Die Uhren gehen hier vielleicht noch ein bisschen anders.“

O-Töne

VORWORT

FREI-LAND-HALTUNG — HÄ?

Die schreiben ein Buch über Eier? Aber nein, liebe Leserinnen und Leser. Obwohl: Völlig falsch ist das gar nicht mal. Um genau zu sein: Wir schreiben ein Buch über „Landeier“ – Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene auf dem Land.

„Ist ja öde. Bauerntrampel als Thema – wie spannend ist das denn?!“, so murrt jetzt vielleicht der eine oder die andere. Aber stimmt das? Sind Gummistiefel, Gülle und Gartenarbeit wirklich alles, was das Land und die jungen Menschen dort zu bieten haben? Oder erleben die jungen Leute auf dem Land womöglich etwas, von dem Stadtmenschen nur träumen können?

Ist das Leben auf dem Land wirklich frei – vielleicht sogar freier als in der Stadt? Oder gleicht es doch eher dem trostlosen Dasein von Hühnern in einer Legebatterie: Fühlen sich Jugendliche hier nur gehalten wie das Federvieh, das seinem Stall nicht entfliehen kann? Richtet sich ihr Freiheitsdrang nur auf Landflucht aus? Oder ist das Landleben in einem ganz anderen Sinne eine Frage der Haltung? Kommt es darauf an, welche Einstellung man dazu hat? Und darauf, welche Erfahrungen diese Einstellung bewirkt haben?

Wir sind dem Ganzen auf die Spur gegangen und haben uns Fragen gestellt wie: Was ist Landleben überhaupt? Was machen Jugendliche heutzutage auf dem Land? Und vor allem: Wie fühlen sie sich dabei? Was ist ihnen wichtig? Was finden sie toll? Gibt es Dinge am Landleben, die sie so richtig nerven? Können sie sich vorstellen, ihr ganzes Leben auf dem Land zu verbringen?

FALLS IHR JETZT WISSEN WOLLT, WAS DIE LANDEIER ZU ERZÄHLEN HABEN, SCHAUT IN DIESES BUCH!

Es lohnt sich, denn das moderne Leben findet nicht nur in den Metropolen statt. Der Puls der Zeit pocht nicht nur in Berlin, Hamburg oder München: Ob im Schwabenländle, in Baden, im Allgäu, im hohen Norden oder wo auch immer: Überall gibt es ländliche Regionen und Dörfer. Und auch hier leben Menschen. Die meisten sogar. Und es handelt sich um Menschen, die nicht aus der Zeit gefallen sind. Kinder und Jugendliche, die hier aufwachsen, unternehmen mehr als Kühe melken, Misthaufen umschichten und sonntags in Festtagstracht die Kirche besuchen.

„Ich bin a Dorfkind, was kann’s Schönres geb’n / Als aufm Land zu leben?“ – Die Dorfrocker singen über die Gelassenheit auf dem Land und die geilen Partys. Mehr als das: Sie provozieren sogar mit der Liedzeile: „Manche denken, wir vom Dorf sind a bissl doof. Trotzdem machen’s Urlaub aufm Bauernhof.“ Wie sehen das die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen heute auf dem Land? Gibt es Unterschiede zwischen dem Leben auf dem Land früher und heute? Sind vielleicht die weithin kursierenden Vorstellungsbilder vom Landleben veraltet? Oder ticken Städterinnen und Städter doch völlig anders?

„Hinter dem Ortsschild […] die große Welt“? Was Querbeat in ihrem Lied „Heimatkaff“ so sieht, beschreibt das tatsächlich die Realität? Geht im Dorf, im eigenen Heimatkaff, nichts? Müssen die jungen Menschen raus aus ihrem Dorf, um was erleben zu können?

„Hochhäuser an 'nem Feld, Vorstadt. Dann noch mehr Dorf als Großstadt.“ Was ist Land? Wo fängt es an und wo hört es auf? Was bedeutet Heimat für junge Leute? Der Rapper Tua verdeutlicht mit seinem Song „Vorstadt“, wie subjektiv die Definition des ländlichen Raums und damit die Vorstellung von der eigenen Heimat ist.

„Wenn I durch mei Ländle wandre, dann brauch i überhauptsch nix mehr.“ So singen die Rock & Rollinger in ihrer Schwabenhymne. Aber trifft die Aussage auf die jungen Menschen zu, die auf dem Land leben? Sind sie wunschlos glücklich wie die Werbungs-Kühe auf der saftigen Weide? Ist alles super heimelig? Was fehlt ihnen? Sind sie nicht total angeödet von der ländlichen Stille, beschweren sie sich nicht darüber, dass permanent nichts los ist und abends die Bürgersteige hochgeklappt werden? Geile Partys oder tote Hose? Wer hat denn nun recht: die Meckertaschen oder die Rock & Rollinger?

© Jana Lorenz

Wir laden unsere Leserinnen und Leser ein, dieser Frage selbst auf den Grund zu gehen, sich den Erfahrungen von Jugendlichen auf dem Land zu öffnen und dabei neue Eindrücke zu sammeln.

Wir, das sind Studierende der Sozialen Arbeit und der frühkindlichen Bildung und Erziehung an der Hochschule Esslingen, verstärkt durch einige Studierende aus Sachsen. Ein ganzes Jahr lang haben wir uns mit dem Thema „Jugend auf dem Land“ auseinandergesetzt. Dies vor allem praktisch: Wir haben uns in die Dörfer und auf die Höfe begeben, teils lange Anfahrten in Bussen und Zügen in Kauf genommen, Jugendeinrichtungen und informelle Jugendtreffs aufgesucht, hier geschaut und da einen mitgetrunken, vor allem aber: Gespräche mit Jugendlichen geführt. Das Ergebnis unserer Recherchen ist dieses Buch. Die Offenheit und Erzählbereitschaft unserer jugendlichen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner hat es erst möglich gemacht. Dafür danken wir allen Beteiligten ganz herzlich, insbesondere auch Pia Dahlinger und Manuela Hagmeier, die uns Zugänge in die Jugendarbeit verschafft haben.

Ohne allzu viel der Lektüre vorzugreifen – uns scheint: Hinterwäldlerisch war vielleicht gestern mal. Das Land hat viel mehr zu bieten als Wiesen und Wälder, Äcker und Seen, stattliche Bauernhöfe und schnuckelige Dorfansichten. Auf dem Land geht was. Die Jugendlichen dort bewegen was. Sie wollen was werden. Und auch das, was auf den ersten Blick anders und fern erscheint, bleibt ihnen nicht fremd.

Also schau ins Buch! Lies seine Geschichten! Und vielleicht können wir uns dann ja auf dem ein oder anderen Dorffest bei ein, zwei Kaltgetränken darüber austauschen.

ESSLINGEN, IM FRÜHJAHR 2020 PROJEKTGRUPPE „LANDEIER“

ACHTUNG: ALLE INTERVIEWS MIT DIESEM SYMBOL SIND AUF SCHWÄBISCH GEFÜHRT WORDEN. BEI VERSTÄNDNISPROBLEMEN HILFT DIE FOLGENDE SEITE – SCHWÄBISCH FÜR MÖCHTEGERN-KÄPSELE.

SCHWÄBISCH FÜR MÖCHTEGERN–KÄPSELE

a: ein

äbbert: jemand

ällaweil/emmr: immer

älles: alles

ämmal: manchmal

amol: einmal

andersch: anders

andra: andere

au: auch

auszoga: ausgezogen

be: bin

blieba: geblieben

bsoffa: betrunken

butza: putzen

d’/dia: die

Daf/dafat/därfa:

darf/dürfen

Däg: Tage

dahanne/da hanna/

dohanna: hier oder dort

dahoim: daheim/zu Hause

danna: drüben

dät: würde /täte

dau: getan

doa: tun/getan

Dorfhock/Hock/Hocketse:

Beisammensitzen mit Musik, Essen und Getränken

dr: der

dra: dran

drussa/drusse: draußen

ebbes/äbbes: etwas

en/oine: ein/e

erinnra: erinnern

ersch: erst

et, net oder it: nicht

gäba: gegeben

Gam: gehen

ganga: gegangen

gau: gehen oder gleich

ge: nach oder zum

gheißa: geheißen

ghet: gehabt

gholat/gholt: geholt

gjuckt: gesprungen

glangat: gereicht

glei: gleich

gloffa: gelaufen

gmachet: gemacht

Gmoid: Gemeinde

Gosch: Mund

gsässa/ghöckt: gesessen

gschwind: schnell

gsei: war

gseit: gesagt

guat: gut

gwea/gsei/gwesa: gewesen

häm/ham mer: haben wir

han: hab

händ/hend: haben

Häs: Narrenkostüm

hasch: hast

hau/haut: hat

haut wella: wollten

Hennschtall: Hühnerstall

het: hätte

hot: hat

ins Gschäft: zur Arbeit

jengere: jüngere

Käpsele: Schlaumeier, kluger Kopf

kei: kein

kei: keine

kenna/kem: können

kenntat: könnten

kerig: arg

kriega: bekommen

läba: leben

Latsch: Treffpunkt

Leit: Leute

ma: man

mei Leud: die Eltern

miassa: müssen

mir/mr/mer: Gebrauch als „mir“ oder als „wir“

na: dann

näna: nirgends

neba: neben

nei: rein

nemme: nicht mehr

nia: nie

no: noch

(no) neit: (noch) nicht

noi: nein

nom: rüber

nommal: nochmal

nunter: runter

oifach: einfach

Olag: Anlage

s: das/es

schaffa: arbeiten

schälla: klingeln/schellen

schdandad: standen

scho: schon

schwätzen/schwätza: reden

se: sie

sem: sind

simmer: sind wir

sotsch: solltest

umanandgschprunga: herumgerannt

usm: aus dem

wara mer: waren wir

waret/warat: waren

warsch: warst

weggschaicht: weggeschickt

wore/gworde: geworden

wundersche: wunderschön

zamma: zusammen

zu dera: zu dieser

EINLEITUNG

HEIMAT – LAND AUFWACHSEN, WO DER HAHN NOCH KRÄHT

„Stadt“ – „Land“ – Was ist das überhaupt?
von KURT MÖLLER

So weit das Auge reicht nichts als bestellte Äcker, grüne Wiesen und rauschende Wälder, schmucke Bauernhöfe und blühende Bauerngärten, Misthaufen vor fast jedem Haus, Güllegeruch, Hühner gackern, Kühe muhen, Glockengeläut, fröhlich krakeelende Kinder beim Planschen im Mühlenbach, Mädchen in Tracht auf dem Weg zur Kirche und ein Leiterwagen rumpelt über das Kopfsteinpflaster – das ist Land, oder? Nein? Eher doch nicht? Das war vielleicht mal so? Höchstens bis in die 1950er Jahre hinein, meinen Sie? Oder nicht mal das? Sie vermuten hinter dem Bild eher eine Szenerie aus einem Heimatfilm oder aus einer Wilhelm-Busch-Illustration? Nun gut, aber was ist dann Land heute? Massentierhaltung in Großställen mit Solaranlagen auf dem Dach, Verbundsteinpflaster in jeder Hof- und Hauseinfahrt, innerorts alles zugeparkt, Sparkassengebäude aus Waschbetonplatten, blinde Fensterscheiben in der ehemaligen Metzgerei, ausladende Supermärkte und Neubaugebiete mit geraniengeschmückten Einfamilienhäusern hinter Thuja-Hecken am Dorfrand, Lastwagen, die ohrenbetäubend dicht an dicht durch den halb sanierten Fachwerk-Ortskern rattern, von Abgas geschwängerte Luft und Straßenlärm weht von der neuen Umgehungsstraße herüber? Und die Leute auf der Straße? Bauernklamotten und Sonntagsnachmittags-Ausgehanzüge Fehlanzeige? Fast alle in Casual-Dresscode? Sehen aus wie Städter?

JA, WAS DENN NUN? WAS IST LAND?

„Ich bin ja auf dem Land groß geworden.“ – Täuscht es oder hört man einen solchen Satz heute seltener als früher? Es dürfte sich um keinen Irrtum handeln, denn die deutsche Bevölkerung verlagert sich tendenziell hinein in städtische Zentren. Nur noch weniger als ein Viertel der Bevölkerung lebt in gering besiedelten Gebieten (vgl. Statistisches Jahrbuch 2018: 29). Und laut Prognosen werden in rund 30 Jahren nur noch 18 % dort leben (vgl. United Nation World Population Programme UN/WPP 2011). Fragt sich nur noch, was überhaupt ein gering besiedeltes Gebiet ist. Nach neueren Einteilungsverfahren versteht man unter ländlichen Gebieten jene Regionen, die nach dem sogenannten EU-Rasterzellenverfahren nicht als städtisch eingestuft werden. Und eben danach sind städtische Regionen Gebiete, in denen a) pro Rasterzelle von 1 km2 mehr als 300 Einwohner*innen leben und zugleich b) in den benachbarten Rasterzellen mehr als 5.000 Einwohner*innen zu Hause sind. Als gering besiedelt gelten ländliche Gebiete, in denen mehr als die Hälfte der Bevölkerung in ländlichen Rasterzellen lebt (vgl. Statistisches Bundesamt 2018: 29).

Solche Berechnungen nach dem Verdichtungsgrad mögen für statistische Zwecke und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen für Infrastrukturpolitik vorteilhaft sein. Was in sie nicht eingeht, sind die subjektiven Wahrnehmungen und die sozialräumlichen Erfahrungen der Menschen. Wie Subjekte ihre Umwelt und sich selbst erleben, prägt aber letztlich ihre Haltung dazu. Vor allem aber: Welche Bedeutung und welchen Sinn sie dieser Umwelt und der eigenen Platzierung darin zuweisen, entscheidet letztlich über ihren Umgang damit. Denn wie schon der griechische Philosoph Epikur (50–138 n. Chr.) wusste, bestimmen nicht Tatsachen an sich, sondern Meinungen über Tatsachen das Zusammenleben. Subjektive Sichtweisen wiederum sind zwar nicht gänzlich unabhängig von gesamtgesellschaftlichen Vorstellungen und kollektiven Vorlagen für sie, letztendlich aber sind es die individuellen Haltungen, die den Orientierungen und Aktivitäten einzelner Menschen ihren jeweils einzigartigen Stempel aufdrücken.

In diesem Buch wird daher anders vorgegangen als bei der Statistik: Hier werden die Erlebensweisen der Befragten in den Mittelpunkt gerückt. Wie sehen sie sich und die Welt, in der sie leben? Dies ist hier die Kernfrage. Insofern gelten die befragten Kinder und Jugendlichen dann als in ländlichen Gebieten Wohnende, wenn sie nach ihrem eigenen Empfindungen „auf dem Lande“ leben – auch wenn es sich rechtlich betrachtet beim jeweiligen Wohnort nicht unbedingt um ein Dorf, sondern vielleicht um einen (im Zuge der Gebietsreform eingemeindeten) Stadtteil oder ein Städtchen „auf dem flachen Lande“ handelt. Dass sie dafür keinen landwirtschaftlichen Bezug haben müssen, versteht sich wohl von selbst, obwohl der Begriff der „Landjugend“ dies für viele noch nahelegt.

© Jana Lorenz

Diese Ausrichtung, also danach zu fragen, wie junge Menschen in ländlichen Räumen eigentlich „ticken“, ist auch eine Orientierung, die durch die Befunde der neueren Forschungen über Kinder und Jugendliche auf dem Lande nahegelegt wird.

KINDHEIT UND JUGEND AUF DEM LAND: WAS DIE FORSCHUNG WEIß

Die großen Kinder- und Jugendstudien in Deutschland verschaffen in Hinsicht auf regionale Unterschiede nur wenig verallgemeinerbare Erkenntnisse. Und wenn solche Differenzierungen gemacht werden, dann geht es meist um Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, weniger um Stadt-Land-Vergleiche. Insgesamt muss man eher eine Schieflage der Jugendforschung zugunsten der Analyse der Lebenssituationen und -stile in urbanen Räumen ausmachen, wenn man nicht sogar den Eindruck gewinnt, die Untersuchung ländlicher Lebenslagen und Lebenswelten von Minderjährigen sei „zu einer bloßen Fußnote“ einschlägiger Studien „verkommen“ (Herrenknecht o. J.: 3).

Zwar lässt sich seit Mitte der 1950er Jahre bis heute eine Reihe von Untersuchungen über Jugendliche und Jugendarbeit auf dem Lande finden (vgl. im Überblick Stein 2013: 44 f.; aktueller auch z. B. Becker/Moser 2013; Faulde/Grünhauser/Schulte-Döinghaus 2019), allerdings zeichnen sie ein Bild, das nicht selten klischeehaft wirkt und lange zwischen dem Bild einer im Stadt-Land-Vergleich benachteiligten und marginalisierten Jugend auf dem Land und dem Bild einer idyllisierten, unbelasteten, sicheren und geborgenen (Dorf-) Kindheit und Jugend auf dem Land hin und her gependelt ist (vgl. Herrenknecht o. J.). Seit den 1980er und 1990er Jahren mehren sich Studien, die das „Bild einer ländlichen Jugend zwischen Tradition und Moderne“ (Grund 2002: 41; so auch noch Vogelgesang/Kersch 2016: v. a. 206) zeichnen. In den letzten 20 Jahren herrschen Ansätze vor, die Skizzen einer „pluralisierten Jugend im regionalen Dorf“ (ebd.: 57) entwerfen, also die Heterogenität von in ländlichen Gebieten Aufwachsenden und ihre vermehrten regionalen, das heißt nicht (mehr) nur vornehmlich lokalen sozialen Bezugnahmen betonen.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn die „Nebeneinanderexistenz“ verschiedener ländlich geprägter Kindheits-(und Jugend-)muster konstatiert wird (Herrenknecht o. J.): Obwohl quantitativ deutlich auf dem Rückzug, hält sich in Nischen noch eine „alt-dörfliche“ Kindheit und Jugend, die noch stark von der bäuerlichen Arbeitswelt, der Mithilfe im Haushalt, auf dem Feld und bei der Betreuung von Geschwistern sowie vom Spielen im Freien geprägt ist. Zugleich wird eine seit den 1960er Jahren zunehmend auftretende „lokal-dörfliche“ Kindheit und Jugend registriert, die der Bedeutungsverlust bäuerlicher Landwirtschaft, das Anwachsen von Neubaugebieten mit (oft zugezogenen) Berufspendler*innen, der Rückgang von tradierten Strukturen dörflicher Kontrolle, die „Zonierung der Kindheit in feste Spiel-, Aufenthalts- und Bewegungsräume“ bei durchaus noch verbreitet vorhandener Nutzung naturnaher und unbeaufsichtigter Flächen kennzeichnet. Das jüngste Muster der „regional-dörflichen“ Lebensweise hat diese beiden Zeitkulturen zwar in den Hintergrund treten lassen, aber nicht völlig verdrängt. Ihre Merkmale sind vor allem die Privatisierung, Verhäuslichung und umfassendere (sowie im Vergleich zu früher stärker altersgetrennte) Institutionalisierung des Aufwachsens, die durch Mobilitätszuwächse und -erfordernisse, Mediatisierung und das Hereinbrechen regionaler, ja globaler Einflüsse in die lokale Kultur ergänzt werden (ebd.: 6–10). So konstatieren dann auch Becker und Moser (2013) in ihrer Online-Befragung von 2.600 14- bis 18-Jährigen in drei westlichen und drei östlichen Bundesländern für das Thünen-Institut, dass es „die“ Jugend in ländlichen Räumen nicht gibt und sich der Kommunikations- und Aktionsradius vor allem durch neue Beschulungstendenzen vom Lokalen ins Regionale, nicht zuletzt aufgrund verbesserter Mobilität und Mediatisierung, aber auch darüber hinaus auf Großstädte, das Ausland und Internetaktivitäten ausgeweitet hat.

So entsteht für viele ein Lebenszusammenhang, der gleichermaßen ländliche wie städtische Prägungen aufweist, einerseits im Lokalen und in regionalen Besonderheiten verhaftet ist, andererseits Aspekte jener Welt integriert, die (z. T. weit) über diese Rahmungen hinausreicht (vgl. auch Vogelgesang 2013). Eben diese Doppelexistenz geben auch viele Interviews im vorliegenden Buch zu erkennen.

Aber was wissen wir genauer über diese recht großrahmig zugeschnittenen Entwicklungen hinaus in Hinsicht auf die konkreten Lebensumstände und Lebenswelten von in ländlichen Strukturen aufwachsenden Kindern und Jugendlichen heute? Was lässt sich über die Beschaffenheit von Wohnformen, Familienkonstellationen, Arbeit, (Aus-) Bildung, Freundschaften, Vereinsbindungen etc. herausbekommen? Und: Wie wohl oder unwohl fühlen sich junge Menschen mit ihrem Leben auf dem Land? Fühlen sie sich tatsächlich benachteiligt durch ein Leben „am Arsch der Welt“? Leiden sie also unter Landfrust? Oder verspüren sie im Gegenteil so etwas wie Landlust? Zieht es sie weg oder wollen sie bleiben?

Einige Antworten auf solche Fragen lassen sich bei einer Durchforstung der mehr oder minder aktuellen Fachliteratur zum Thema gewinnen.

WOHN- UND FAMILIENFORMEN

Kinder auf dem Lande sind im Vergleich zu Stadtkindern seltener Einzelkind, haben – vor allem in Westdeutschland – eher Eltern, die miteinander verheiratet sind, leben seltener in Alleinerziehenden-Konstellationen, besitzen weniger häufig Migrationshintergrund und wohnen mit ihrer Familie eher im eigenen Haus (das dann auch häufig einen Garten hat). Ihre Eltern verfügen zudem eher über einen oder mehrere Pkw, um damit die höheren Herausforderungen an Mobilität bewältigen zu können (vgl. Haumann 2013).

Auch nach der jüngsten der alle zehn Jahre in ähnlicher Weise durchgeführten Studie (hier: unter gut 400 Mitgliedern) der Niedersächsischen Landjugend (Stein 2013) wachsen Landjugendliche deutlich häufiger als Kinder und Jugendliche in städtischen Gebieten mit beiden Elternteilen auf, und Alleinerziehenden-Haushalte sind unter ihnen viel seltener anzutreffen als in Deutschland insgesamt. Mit 30,4 %, die in Dreigenerationenhaushalten zu Hause sind, wird unter den hier Befragten der deutsche Durchschnittswert um das 34-Fache übertroffen. Auch die Geschwisterzahl ist deutlich höher. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass mehr als 35 % der Proband*innen unmittelbar landwirtschaftlich eingebunden sind und in diesen Kontexten Multi-Generationenfamilien traditionell besonders stark verbreitet sind. Mit dem Rückgang der bäuerlichen Lebensweise ist zukünftig auch eine Abnahme solcher Familien- und Wohnformen wahrscheinlich.

SCHULE, AUSBILDUNG UND ARBEIT

Nach dem Thünen-Report 12 (Becker/Moser 2013) sind Jugendliche auf dem Lande in erstaunlichem Maße mit dem jeweiligen regionalen Schulangebot überwiegend oder völlig zufrieden (63 % bzw. 53 %). Auch die Schulwege sind danach weniger lang als vielfach angenommen. Je nach Untersuchungsregionen unterschiedlich geben zwischen 69 % und 89 % an, weniger als 30 Minuten zu benötigen. Eine Regionalstudie in Brandenburg kommt freilich zu anderen Ergebnissen: 16,4 % der Schüler*innen brauchen demnach mehr als eine Stunde, um von daheim zur Schule zu gelangen (vgl. Hoffmann/Sturzbecher 2012: 191), und im Gegensatz zu den Befunden des Thünen-Reports, der diesbezüglich keine Unterschiede feststellt, müssen nach einer Studie im Westerwald dort junge Menschen aus kleinen Dörfern besonders zeitintensive Schulwege zurücklegen (AWO Kreisverband Westerwald 2001: 27). Offenbar gibt es also deutliche regionale und lokale Unterschiede.

Die Beurteilung der wirtschaftlichen Situation fällt nach den schon 2009 (!) erhobenen Daten des Thünen-Reports ebenso unterschiedlich aus, besonders deutlich zwischen ost- und westdeutschen Regionen. Zwar geht eine Mehrheit in allen Untersuchungsregionen davon aus, in der Region, in der man zurzeit lebt, „sicher“ eine Arbeit finden zu können, aber auch hier gibt es deutliche Unterschiede zwischen Ost und West bzw. prosperierenden und eher abgehängten Regionen (vgl. Becker/Moser 2013: 77). Je nach Region zweifeln 25 % bis zu 44 % daran, dass sich die eigenen Zukunftspläne in der Region verwirklichen lassen. Danach gefragt, wo sich Lebensziele vermutlich am ehesten realisieren lassen, wird „Karriere machen“ von 95 % als eher in der Stadt umsetzbar angenommen.

FREUNDE, FREIZEIT, MEDIEN UND MOBILITÄT

Freunde erschließen (auch) Jugendliche auf dem Lande vorrangig über den gemeinsamen Schulbesuch. Insofern dieser ab dem Nach-Grundschulalter vielfach nicht mehr vor Ort stattfindet, hat sich im Vergleich zu früher das Freundschaftsnetz junger Menschen geografisch in die Region hinein ausgeweitet. Höchstens (noch) jede*r Fünfte gibt in der Thünen-Studie an, im eigenen Wohnort einen „besten Freund“ bzw. eine „beste Freundin“ zu haben. Mehrheitlich haben die Jugendlichen Freund*innen (auch) in einer Großstadt oder über Internetkontakt (regional unterschiedlich zwischen 58 % und 89 %). Nur zwischen 11 % und 20 % sind mit ihrem Internetzugang „wenig“ oder „gar nicht“ „zufrieden“, wobei unklar bleibt, inwieweit diese Prozentzahlen mit den regional bzw. örtlich vorhandenen Internetempfangsmöglichkeiten, Fragen der Versorgung des Haushalts mit entsprechenden Anschlüssen oder elterlichen Regelungen zusammenhängen (zu den Daten vgl. Becker/Moser 2013: 32–35).

Internetaktivitäten stellen wie für Jugendliche in Deutschland im Allgemeinen nach „sich treffen mit Freunden“ und noch vor Musik hören dieser Studie zufolge wichtige Freizeitbeschäftigungen dar, wobei die tägliche Nutzungsdauer des Internets bei Landjugendlichen sogar höher ist als bei Gleichaltrigen in der Stadt; einen Jugendclub besucht nicht einmal jede*r Zehnte. Konkrete Freizeitinteressen fallen aber sehr unterschiedlich aus. So sind zum Beispiel die Dorf- und Gemeindefeste je nach Region mal für 29 %, mal für fast doppelt so viele Befragte, nämlich 53 % „wichtig“ oder „sehr wichtig“, wohingegen sich – wiederum regional unterschiedlich – zwischen 22 % und 37 % für solche Formen der Ortsverbundenheit nicht interessieren. Etwa 3/4 bis 4/5 der Befragten sind in Vereinen aktiv, meist in Sportvereinen – hier vor allem die Jungen. In Kultur- und Musikvereinen bzw. Einrichtungen der Jugendarbeit engagiert sich – wiederum mit erheblichen regionalen Differenzen – ein Zehntel bis ein Drittel der jungen Menschen. Das kirchliche Engagement schwankt noch stärker, nicht zuletzt je nach religiösen Traditionsbezügen der Gegenden (7 % bis 28 %) (vgl. Becker/Moser 2013: 35–43). Insgesamt ist wohl trotz sinkender Mitgliedszahlen und erheblichen Nachwuchsproblemen der meisten Vereine noch immer davon auszugehen, dass derartig institutionalisierte Formen der Freizeitbeschäftigung mehr auf dem Lande als in städtischen Räumen verbreitet sind.

Mangelnde Mobilität ist trotz objektiv vergleichsweise ungünstiger Ausgangssituationen in dünn besiedelten Gebieten nur für eine Minderheit von 1 % bis 8 % ein schwerwiegendes Problem. Da der ÖPNV allerdings meist nicht befriedigend ausgebaut ist, wird, um eine eigenständige Mobilität zu sichern, die Bedeutung von Fahrerlaubnissen für Krafträder und Autos dementsprechend hoch eingeschätzt. Bevor altersgemäß Führerscheine erworben werden können, heißt es angesichts nur dünnmaschig vernetzter und selten verkehrender Bus- und Zugverbindungen, zu Fuß zu gehen, sich aufs Fahrrad zu schwingen oder elterliche Fahrdienste zu erbitten (vgl. Becker/Moser 2013: 43–48; zur Illustration des Mobilitätsalltags auch die zahlreichen Beispiele dafür in den Interviews dieses Bandes).

WERTE, POLITISCHE HALTUNGEN UND SOZIALES ENGAGEMENT

Über die regionalspezifische Verteilung von Werthaltungen, also von Kriterien, nach denen Verhaltensweisen anderer Personen beurteilt werden und eigene Lebensorientierungen erfolgen, ist mangels entsprechender Forschungsanlagen wenig bekannt. Zwar stimmen insgesamt auch Landjugendliche demokratischen Einstellungen deutlich mehrheitlich zu, allerdings kann – auch bei einer Minderheit der verbandlich in der Landjugend Organisierten – die Befürwortung von „autokratischen und undemokratischen Meinungen“ als „bedenklich“ gelten (Stein 2013: 139). Bemerkenswert, wenn nicht besorgniserregend, ist darüber hinaus die im Vergleich zu städtischen Gebieten breitere Akzeptanz, die gegen Ausländer*innen gerichtete und extrem rechte politische Einstellungen erhalten. Nach der repräsentativen Studie von Baier u. a. (2009) sind dabei männliche Jugendliche, ostdeutsche Landstriche und niedrigere Bildungsniveaus besonders belastet. Vermutlich dürfte die geringere Wahrscheinlichkeit, zu Migrant*innen Kontakt schließen zu können, für die Stadt-Land-Unterschiede der Belastung mit Rechtsextremismus und Rechtspopulismus wesentliche Erklärungskraft besitzen. Hinzu kommen Abwanderungstendenzen der Jüngeren verbunden mit einer Überalterung (Salomo 2019) unter den Zurückgebliebenen sowie die auf dem Lande überproportional verbreitete „lokalistische“ Orientierung, die das Entstehen einer „Nahmoral“ und einen „höheren Konformitätsdruck“ begünstigt (Simon u. a. 2017: 50). Sie kann an „Fragmenten traditioneller Werthaltungen“, „die in ländlich strukturierten Sozialräumen stärker präsent sind“, wie „Konventionalismus, Autoritarismus, Homophobie bis hin zum Rassismus“ „anknüpfen“ und dabei Skepsis, wenn nicht gar Ablehnung und Hass gegenüber dem und den „Fremden“ mit sich bringen (ebd.: 48).

Das soziale Engagement scheint unter Landjugendlichen vergleichsweise hoch zu sein. Bei den in der Niedersächsischen Landjugend Organisierten liegt es deutlich über dem Engagementniveau, das für Jugendliche allgemein in Deutschland registriert wird – auch in Bereichen, die nicht unmittelbar mit der Landjugendmitgliedschaft zu tun haben (vgl. Stein 2013: bes. 124). Obwohl dafür sicher auch der Umstand verantwortlich ist, dass Engagierte sich erfahrungsgemäß häufig nicht nur auf ein Betätigungsfeld beschränken, sondern gleich in mehreren Bereichen Aktivitäten entfalten, tragen offenbar die weiterhin noch stärker erhaltenen Vereins- und Feiertraditionen, die größere soziale Nähe der Einwohner*innen untereinander und die vorrangig in westdeutschen Landstrichen verbreitete intergenerationelle Überlieferung religiöser Aktivitäten und Mitgliedschaften zu diesem hohen Level bei. Allerdings führt ganz offensichtlich der Ausbau der Ganztagsschule zu deutlichen Rückgängen von Engagementmöglichkeiten und -bereitschaften – vor allem außerhalb schulischer Zusammenhänge (vgl. auch Simon u. a. 2017).

WEGZIEHEN ODER BLEIBEN?

Schametat, Schenk und Engel (2017) haben quantitativ mittels Fragebogen 444 Neuntklässler*innen verschiedener Schulformen in den Kreisen Höxter und Holzminden im Hinblick auf ihre regionalen Bindungen befragt. Die schon aufgrund ihrer regionalen Beschränkung nicht für Deutschland insgesamt repräsentative Studie kommt zu dem Schluss, dass 71,6 % gern in ihrem jetzigen Wohnort leben, nur für 13,9 % gilt das nicht, und 14,4 % wissen sich weder für die eine noch die andere Antwortmöglichkeit zu entscheiden (vgl. ebd.: 70). 9 % aller Befragten wollen „auf jeden Fall“ und 28,4 % „eher“ „hier bleiben“; 26,5 % wollen „eher“, 13,1 % „unbedingt“ „wegziehen“; dem Rest ist es „egal“ (ebd.: 81). Bemerkenswert dabei ist, dass auch ein gutes Fünftel derjenigen, die gern in ihrem Wohnort leben, eine Abwanderungstendenz hat. Was also entscheidet darüber, ob man einen Wegzug aus der Region plant oder nicht? Nach dieser Untersuchung hängt die Bindungsneigung am stärksten von der Einschätzung und positiven Bewertung der Region selber ab, für die wiederum – in dieser Reihenfolge – Landschaft, Natur, Freizeitmöglichkeiten und die Erreichbarkeit für attraktiv gehaltener Räume und Orte von vorrangiger Bedeutsamkeit sind. Einen zweiten Bindungsfaktor bildet die Familie, einen dritten die Wertschätzung von Freizeit, wobei hier Sportaktivitäten bzw. -kontakte und auch freundschaftliche Bindungen, wenn sie im gleichen Maße wie familiäre Bindungen geschätzt werden, sowie starke Paarbeziehungen besondere Rollen zu spielen scheinen. Wer hingegen „Einzelgänger“ ist, sich deutlich stärker an der Peergroup als an der Familie orientiert, shoppen gehen wichtig findet und/oder vor allem eine berufliche Karriere ansteuert, hat eher Abwanderungstendenzen (vgl. ebd.: v. a. 104–113). Während Wochnik (2014) feststellt, dass die Entscheidung über Gehen oder Bleiben der Berufswahlentscheidung vorausgeht und eher ein alternativer Berufswunsch verfolgt wird, als die Region zu verlassen, gibt die Mehrheit der Proband*innen in der Studie von Schametat u. a. zu erkennen, die Region verlassen zu wollen (oder zu müssen?), um den primären Berufswunsch in die Tat umsetzen zu können. Abwanderungsintentionen steigen auch mit der Ortsgröße. Interessanterweise ist in größeren Ortschaften die Zufriedenheit mit der Freizeitsituation und den Einkaufsgelegenheiten trotz tatsächlich größeren Angebots geringer (vgl. ebd.: 116 f.) – ein erneuter Hinweis darauf, dass sich subjektive Bewertungen nicht mit objektiven Lagen decken müssen.

Deutlich stärkere Bleibetendenzen stellt die niedersächsische Landjugendstudie 2010 fest (vgl. Stein 2013), in der allerdings bis auf 3 Befragte alle Proband*innen Mitglieder der Niedersächsischen Landjugend und auch im Durchschnitt mit fast 21 Jahren deutlich älter sind, weshalb auch die von ihr produzierten Ergebnisse nicht verallgemeinerbar sind. Hiernach würden 99,5 % am liebsten weiterhin innerhalb der nächsten fünf Jahre in der Region bleiben (vgl. ebd.: 142). Dabei ist zusätzlich anzumerken, dass kaum Migrant*innen einbezogen wurden (5 % der Stichprobe), viele bereits altersbedingt die Ausbildung und damit auch – anders als die o. e. Neuntklässler – ihre Berufsorientierung hinter sich haben und – wie schon oben erwähnt – mehr als ein Drittel der Proband*innen in der Landwirtschaft tätig ist, gewachsene Freundeskreise stark für die Wohnortwahl zu Buche schlagen und 77,3 % sich „stark familienorientiert“ zeigen. Fast ein Fünftel gibt auch die Landschaft als Grund für die Wohnortpräferenz an, immerhin 13,1 % benennen auch „Tradition/Kultur“ als mit ausschlaggebend (ebd.: 113, 142 f. und 162).

Resümierend ist festzuhalten: Umso positiver die regionale Verankerung ausfällt, umso stärker die sozialen Kontakte sich darstellen, umso höherer Stellenwert der Freizeit zugemessen wird und umso kleiner der Ort ist, an dem man*frau wohnt, desto größer ist die Bindungsneigung.

FAZIT UND PERSPEKTIVEN

Das Dorf ist offenbar nicht mehr das, was es einmal war – jedenfalls nach den weithin verbreiteten nostalgisch-schönfärberischen Zeichnungen ländlicher Idylle: ein Ort der Heimat, der durch Homogenität, Nestwärme und Sesshaftigkeit gekennzeichnet ist. Im Ausmaß regional und auch geschlechtsspezifisch sehr unterschiedlich denkt heutzutage immerhin die Hälfte bis 3/4 der Landjugendlichen über einen (womöglich auch nur temporären) Wegzug nach (ebd.: 106/107), um Selbstverwirklichungs-, Ausbildungs- und Berufschancen zu verbessern und Chancen auf den Erwerb von Wohlstand zu nutzen. In einigen strukturschwachen Landstrichen bestehen deutlich spürbare Unzufriedenheiten mit den infrastrukturellen Gegebenheiten, und gerade die besser (aus)gebildeten, vor allem weiblichen jungen Menschen haben hier verstärkt Abwanderungstendenzen. Heimatgefühle und lokale sowie familiäre Verwurzelungen können Letzteren auf Dauer bei den meisten nichts entgegensetzen. Auch wenn konventionalistische Werthaltungen mit zum Teil problematischen Auswirkungen auf die politische Kultur des ländlichen Raums noch vergleichsweise stark verhaftet bleiben, weichen sich dennoch traditionelle Bindungen und kulturelle Praktiken mehr oder weniger rapide auf, erleiden über Jahrhunderte und Jahrzehnte gewachsene örtliche Vereinigungen Attraktivitätsverluste innerhalb der nachwachsenden Generationen und häufen sich bei ihnen dementsprechend fast durchweg die Klagen über Rekrutierungsschwierigkeiten neuer Mitglieder. Bleibt wenigstens die Kirche im Dorf? Auch ihre Rolle wird – nicht nur im weitflächig konfessionslosen Osten der Republik – erheblich in den Hintergrund geschoben. Gesellschaftliche Treiber wie Ökonomisierung, Mediatisierung, Anonymisierung, Individualisierung, Pluralisierung, Entschleunigung, Globalisierung und Mobilitätszuwächse haben längst auch ländliche Strukturen ergriffen.

Und dennoch oder gerade deshalb: Von regionalen Ausnahmen einmal abgesehen zeigen sich rund 90 % der Landjugendlichen mit ihren Lebenssituationen insgesamt und den Gestaltungsmöglichkeiten in ihren Lebensumfeldern zufrieden, die meisten von ihnen sogar „überwiegend“ bzw. „völlig“ (vgl. Becker/Moser 2013: 58). Sie weisen damit für sich eine hohe Lebensqualität aus und sehen zumeist zuversichtlich in die Zukunft. Das lange vorherrschende Bild von Landjugend als benachteiligter Jugend erweist sich vor diesem Hintergrund eher als Zerrbild. Am Dorfleben wird besonders geschätzt, seine Ruhe zu haben, in einer sicheren Umwelt leben zu können und dabei viele Freiheiten zu besitzen (vgl. Becker/Moser 2013: 87).

Was diese Vorzüge neben allen empfundenen Widrigkeiten und Unzulänglichkeiten, aber auch den Strategien des Arrangements mit ihnen konkret für die jungen Menschen bedeuten und welche weiteren Vorteile Landleben aus ihrer Sicht mit sich bringt, lassen die in diesem Buch folgenden Gesprächsauszüge zutage treten. Ihre Vielfalt macht dreierlei deutlich: Erstens gibt sie zu erkennen: Die Landjugend gibt es nicht. Zweitens offenbart die Pluralität der Sichtweisen: Eine geografisch und kulturell statische Heimat lässt sich nicht (mehr) denken. Heimatverluste, die in dieser Weise verspürt werden, gleichen tatsächlich Phantomschmerzen (vgl. Schüle 2017), die auf einer Verklärung der Vergangenheit beruhen und die Möglichkeiten neuer Erfahrungsformen von Vertrautheit, Gemeinschaft und Geborgenheit ungenutzt lassen. Drittens nährt sie gerade mit Blick auf diese neuen Optionen von Beheimatung die Vermutung: Es kann kein Zufall sein, wenn der urbane Zeitgeist alte Dorfqualitäten in die Stadt holt: selbst gärtnern als Urban Gardening, das Backhaus als Backvollautomat, Nachbarschaftstratsch und Hocketse als Quartiersfest, alte Handwerkstugenden als aktueller Do-It-Yourself-Trend, unbekümmerte Freiflächennutzung als innerstädtisches Brachenrecycling, Hausmusik im kleinen Kreis als Wohnzimmer-Konzert einer Indie-Band, internetverbreitete Jugendkultur aus der Provinz als chart- und metropolentauglichen Hype, Fahrzeug ausborgen als Sharing-Kultur, Tante Emma als Bioladen, die Eckkneipe als hippen veganen Imbiss, Holzfällerhemden und Strickmützen kombiniert mit schweren Lederboots und Hosenträgern als Lumbersexual-Style für den urbanen wilden Mann, Marmelade selbst einkochen als ultimativen Nachhaltigkeits-Ausweis …

LITERATUR

Arbeiterwohlfahrt (AWO) Kreisverband Westerwald: Jung sein im Westerwald. Lebens- und Freizeitsituation junger Menschen im Westerwaldkreis. Eine Studie der Arbeiterwohlfahrt Westerwald e. V. in Zusammenarbeit mit der Universität Koblenz-Landau. Koblenz 2001.

Baier, Dirk/Pfeiffer, Christian/Simonson, Julia/Rabold, Susann: Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt. Erster Forschungsbericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des KFN. Forschungsbericht Nr. 107. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen, Hannover 2009.

Becker, Heinrich/Moser, Andrea: Jugend in ländlichen Räumen zwischen Bleiben und Abwandern. Lebenssituation und Zukunftspläne von Jugendlichen in sechs Regionen in Deutschland. Thünen Report 12. Thünen-Institut, Braunschweig 2013. Online verfügbar unter: https://www.thuenen.de/de/infothek/publikationen/thuenen-report/thuenen-report-alle-ausgaben/ [Zugriff am 12.09.2019].

Faulde, Joachim/Grünhäuser, Florian/Schulte-Döinghaus, Sarah (Hrsg.): Jugendarbeit in ländlichen Regionen. Beltz, Weinheim 2019.

Grund, Timo: Ländliche Jugendwelten im Wandel – Jugendbilder in der Landjugendforschung und ihre Wirkungen auf die Landjugendarbeit in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Norderstedt 2002.

Haumann, Walter: „Lebenswelten und -wünsche“, in: LandInForm – Magazin für ländliche Räume 1/2013: 16/17.

Hoffmann, Lars/Sturzbecher, Dieter: „Soziale Schulqualität, Schülerbeförderung und Schulschwänzen“, in: Sturzbecher, Dietmar/Kleeberg-Niepage, Andrea/Hoffmann, Lars (Hrsg.): Aufschwung Ost? Lebenssituation und Wertorientierungen ostdeutscher Jugendlicher. VS, Wiesbaden2012: 189–214.

Herrenknecht, Albert: Land-Kindheit im Wandel. Sozialräumliche Veränderungen im Lebensalltag von Kindern und Jugendlichen auf dem Lande. Deutsches Kinderhilfswerk (o. J.). Online verfügbar unter: https://www.kinderpolitik.de/bausteine/aktionsfelder/dorferneuerung/164-beteiligungsbaustein-c-5-1 [Zugriff: 12.09.2019].

Salomo, Katja (2019): „The residential context as source of deprivation: Impacts on the local political culture. Evidence from the East German state Thuringia“, in: Political Geography 69, 3/2019, 103-117.

Schametat, Jan/Schenk, Sascha/Engel, Alexandra: Was sie hält. Regionale Bindung von Jugendlichen im ländlichen Raum. Beltz Juventa, Weinheim/Basel 2017.

Schüle, Christian: Heimat. Ein Phantomschmerz. Droemer Knaur, München 2017.

Simon, Titus u. a.: Schweigen heißt Zustimmung. Rechtsextremismus in den ländlichen Räumen. Bund der Deutschen Landjugend e. V., Berlin 2017.

Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch 2018. Deutschland und Internationales. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2018.

Stein, Margit: Jugend in ländlichen Räumen. Die Landjugendstudie 2010. Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2013.

United Nations World Population Programme (UN/WPP): The 2011 Revision. United Nations, New York 2011.

Vogelgesang, Waldemar: „Warum ziehen Jugendliche weg?“, in: LandInForm – Magazin für ländliche Räume 3/2013: 34–35.

Vogelgesang, Waldemar/Kersch, Luisa: „Jung sein! Und das auf dem Land?“, in: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumplanung (Hrsg.): Landflucht? Gesellschaft in Bewegung. Franz Steiner, Stuttgart 2016: 201–218.

Wochnik, Markus: „Jugendliche im ländlichen Raum – Heimatbezug und Berufswahl“, in: Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an beruflichen Schulen (Hrsg.): Die berufsbildende Schule Bd. 66 (6) 2014: 215–218.

WAS GEHT!?

„EIGENTLICH ISCHS SUBBER HIER, ABER LEIDER ISCHS HALT NET ERLAUBT.“

Florian (17) – Schüler an einem wirtschaftlichen Berufskolleg –, Dennis (18) – macht eine Ausbildung als Grafikdesigner –, Maxi (16) – Schüler –, Moritz (17) – macht eine Ausbildung als Zimmermann – und Tim (16) – macht eine Ausbildung als Mechatroniker – haben gemeinsam einen Bauwagen und einen Wohnwagen als Treffpunkt.

Also ihr habt ja hier den Bauwagen. Wollt ihr einfach mal erzählen, wie es dazu gekommen ist?

Florian: Wir waren mal sechs Personen. Damals fings mit einem Bauwagen an, des is der da drüben, wo wir später reingehen. Wir haben angefangen den zu richten. Wir haben ja hier handwerklich Begabte, dann ham mer da auch schon kleine Feiern gemacht und dann haben sich welche unserem Team angeschlossen und dann kam der alte Wohnwagen hier dazu.

Du hast gesagt „handwerklich Begabte“ – das heißt, ihr macht alle in die Richtung ’ne Ausbildung oder wie meintest du das?

Florian: Nee, ’s hat jeder so seine Stärken. Ich zum Beispiel, das kann ich ja offen zugeben, bin net so handwerklich begabt. [alle lachen]

Dennis: Ich mach ’ne Ausbildung zum Grafikdesigner und bin halt au net handwerklich begabt. Also ich will jetzt net sagen, dass ich nix check. Ma kann scho helfen, aber …

Florian: … aber er macht zum Beispiel dann die Werbung und ich bin auf dem wirtschaftlichen Berufskolleg, ich kümmer mich dann um die Finanzen.

Moritz: Ich mach ’ne Ausbildung als Zimmerer.

Tim: Und ich mach Mechatroniker.