IMPRESSUM
Umschlaggestaltung von Claudia Adam unter Verwendung einer Zeichnung des Sternbilds Löwe (Leo) aus Johannes Hevelius’ Firmamentum Sobiescianum, sive uranographia von 1690.
Mit 107 Farbabbildungen und 149 Zeichnungen von Kay Elzner.
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Distanzierungserklärung
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© 2021, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG,
Pfizerstr. 5–7, 70184 Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-440-50378-2
Projektleitung: Sven Melchert
Redaktion: Susanne Richter
Produktion: Ralf Paucke
E-Book-Konvertierung: Text & Bild | Michael Grätzbach
INHALT
Einführung
Die Sternbilder im Frühling
Ursa Major – Große Bärin
Ursa Minor – Kleine Bärin
Canes Venatici – Jagdhunde
Draco – Drache
Hercules – Herkules
Bootes – Rinderhirte/Bärenhüter
Corona Borealis – Nördliche Krone
Virgo – Jungfrau
Hydra und Corvus – Wasserschlange und Rabe
Crater – Becher
Scorpius – Skorpion
Libra – Waage
Ara – Altar
Ophiuchus und Serpens – Schlangenträger und Schlange
Centaurus und Lupus – Kentaur und Wolf
Crux – Kreuz des Südens
Musca – Fliege
Circinus – Zirkel
Norma – Maß
Triangulum Australe – Südliches Dreieck
Apus – Paradiesvogel
Chamaeleon – Chamäleon
Volans – Fliegender Fisch
Die Sternbilder im Sommer
Lyra – Lyra/Leier
Cygnus – Schwan
Aquila – Adler
Sagitta – Pfeil
Vulpecula – Füchschen
Delphinus – Delfin
Aquarius – Wassermann
Capricornus – Ziegenfisch/Steinbock
Piscis Austrinus – Südlicher Fisch
Corona Australis – Südliche Krone
Sagittarius – Schütze
Scutum – Schild
Grus – Kranich
Indus – Eingeborener
Pavo – Pfau
Tucana – Tukan
Microscopium – Mikroskop
Telescopium –Teleskop
Octans – Oktant
Die Sternbilder im Herbst
Andromeda
Cassiopeia – Kassiepeia
Cepheus – Kepheus
Perseus
Cetus – Ketos
Pisces – Fische
Aries – Widder
Triangulum – Dreieck
Taurus – Stier
Pegasus
Equuleus – Füllen/Pferdchen
Camelopardalis – Giraffe
Lacerta – Eidechse
Horologium – Pendeluhr
Fornax – Chemischer Ofen
Hydrus – Kleine Wasserschlange
Phoenix – Phönix
Pictor – Malerstaffelei/Maler
Sculptor – Bildhauer
Die Sternbilder im Winter
Orion
Canis Major – Großer Hund
Canis Minor – Kleiner Hund
Lepus – Hase
Gemini – Zwillinge
Auriga – Fuhrmann
Eridanus
Argo – Schiff
Columba – Taube
Monoceros – Einhorn
Cancer – Krebs
Leo – Löwe
Leo Minor – Kleiner Löwe
Coma Berenices – Haar der Berenike
Sextans – Sextant
Lynx – Luchs
Antlia – Luftpumpe
Mensa – Tafelberg
Caelum – Grabstichel
Reticulum – Netz
Dorado – Goldfisch/Schwertfisch
Chinesische Sternbilder
Dark Constellations
Impressum
Einführung
ORIENTIERUNG AM STERNHIMMEL
Sternbilder sind ein historisches Bezugssystem, mit dem sich Positionen am Himmel beschreiben lassen. Koordinatensysteme entstanden erst zwischen 500 v. Chr. und 200 n. Chr.: komplette Koordinaten sind erstmalig im Almagest aus dem Jahr 135 überliefert. Als Koordinatensystem wäre am offensichtlichsten das äquatoriale, bei dem die Höhe des Himmelspols überm Horizont der geografischen Breite entspricht.
Für den Beobachter im Horizontsystem (flache Ebene) liegt der Himmelsäquator stets gleich hoch über dem Horizont.
© Gunther Schulz
Da sich die Erde um ihre Achse dreht, gehen scheinbar die Sterne im Laufe der Nacht im Osten auf und wandern nach Westen, um dort unterzugehen. Die Himmelsuhr kann also anzeigen, wie lange ein Stern für einen scheinbaren Umlauf benötigt: einen Tag Sternzeit. Uhrzeit bzw. Dauer der Sichtbarkeit und Polabstand eines Sterns definieren also im Prinzip die Position dieses Sterns.
© Mario Weigand
Nachdem dieses intuitive Koordinatensystem jahrhundertelang benutzt worden war, entschied sich Ptolemaios für eine modernere Alternative, die man nicht so leicht beobachten kann. Das äquatoriale Koordinatensystem übertrug er auf die Erdkugel, wofür es seither genutzt wird.
Gewiss hatte das Kugelkoordinatensystem Vorläufer in Form von Listen mit Polabständen von Sternen oder ekliptikalen Längen von bestimmten Mess-Sternen (sogenannten Normalsterne, lat. norma, „das Maß“), die im alten Babylonien sehr üblich waren. Es kann auch sein, dass bereits frühere griechische Astronomen derartige Sternkataloge zusammengestellt hatten, aber davon ist nichts überliefert.
STERNBILDER ALS REFERENZ
Vor der Erfindung von Koordinaten wurden Positionen von Sternen über ihre Position in der Figur beschrieben. Man sagte „der Stern an der linken Schulter von Orion“ oder „der Stern an der Schwanzspitze der Kleinen Bärin“. Dazu muss natürlich dem Gegenüber klar sein, welche Sterne zu Orion gehören und dass Orion eine anthropomorph gedachte, also eine wie ein Mensch aussehende, Figur ist bzw. die Kleine Bärin ein vierbeiniges Tier mit Schwanz ist.
Sterne wie die des Orion dienen seit jeher als Orientierungsmarken am Himmel.
© Mario Weigand
Menschen projizieren gern in zufällige Verteilungen vertraute Figuren – das erforscht die sogenannte Gestalt-Psychologie. Gestalt-Sehen lässt uns Figuren in Wolken, Bergen, Häusern oder dem Sternhimmel erkennen. Welche Figuren man dort sieht, hängt von den Sehgewohnheiten und daher der Kultur ab: Nur wer ein Kamel einmal gesehen hat, kann sich auch eines vorstellen. Gestalt-Sehen gibt aber für den Sternhimmel nur eine Tendenz vor: z. B. ob es eine menschliche Gestalt oder ein Tier ist. Welchen Namen der Mensch oder Gott bekommt bzw. welches vierbeinige Säugetier genau zur Benennung dient, hängt auch von der kulturellen Funktion und jahreszeitlichen Sichtbarkeit des Sternhimmels ab.
Gestalt-Sehen nennt man das Erkennen von Bildern, wo keine sind: in Wolken, Sternen – oder Marsgestein.
© NASA/JPL-Caltech
Da sich der Anblick des Sternhimmels im Lauf des Jahres verändert, dient der Himmel auch als eine Art Kalender. Außerdem verändert sich der Anblick des Himmels, wenn man in Nord-Süd-Richtung reist, sodass er eine Orientierung im Raum bieten kann.
Wird die Funktion des Kalenders oder die Funktion der Ortsbestimmung auf Reisen in eine andere Kultur kopiert, wirken die Bilder nicht selten unverständlich: Hätte beispielsweise Hannibal ein Sternbild „Elefant“ gekannt und den Germanen beim Zug durch die Alpen davon erzählt, könnte man dies vielleicht in Genf verstehen. Hätten aber Kaufleute dieses Bild einem Nordgermanen aus Paris oder Köln gezeigt, wäre das Bild zu einem Fabelwesen umgedeutet worden. Bei Gestalten, die schon die Ursprungskultur als Fabelwesen gesehen hatte, insbesondere alle Formen von Mischwesen – Sphingen, Kentauren oder Papageno aus Mozarts „Zauberflöte“ – wäre das Verständnis entsprechend geringer.
Kentauren sind griechische Fabelwesen. Wer diese Kultur nicht kennt, sieht auch keinen Kentauren in den Sternen.
© Kay Elzner/KOSMOS
Die Reihenfolge der Sternbilder bzw. ihre Lage relativ zueinander hat mehrere Gründe: Zuerst zeigten sie Wetterregeln an, d. h. sie waren für Seefahrer und Bauern wichtige Indikatoren der Jahreszeiten. Darum erfand man spätestens im Hellenismus (ca. 340–30 v. Chr.) auch Mythen und Legenden der Verstirnung dieser Figuren, die unter anderem die Funktion hatten, Eselsbrücken zu bilden. Diese Sternsagen „erklären“, warum sich gewisse Sternbildfiguren nebeneinander befinden (z. B. wegen Familienbeziehungen wie um Andromeda) oder warum sie niemals gleichzeitig sichtbar sind (z. B. Skorpion und Orion). Diese Geschichten waren in dieser Epoche bereits sehr alt, denn sie spielen alle in der legendären Zeit vor dem trojanischen Krieg, der auf das zwölfte oder 13. Jahrhundert v. Chr. datiert wird. Sie sind aber erst nachträglich auf die Sternbilder transportiert worden bzw. der Akt der Verstirnung wurde vermutlich erst nachträglich hinzugedichtet.
Das Fries des berühmten Pergamon Altars zeigt Szenen aus der Gigantomachie (hier: Göttin Athene).
© Jane Vareneva/Shutterstock
Mitunter sollen diese Mythen auch den Transfer des Bildes aus einer fremden Kultur verwischen: So ist z. B. das babylonische Fabelwesen eines Ziegenfisches in Griechenland unverständlich. Um diese Figur, die sich im Tierkreis befindet, irgendwie in die griechische Mythologie und Religion einzugliedern, wurde eine Nebengeschichte zum Waldgott Pan innerhalb der traditionellen Gigantomachie erfunden.
Solche mehr oder weniger an den Haaren herbei gezogenen Mythen werden wir für die Sternbilder erwähnen, aber das Anliegen dieses Buches ist es eher aufzuzeigen, woher die Bilder wirklich kommen oder wie sie sich entwickelt haben, damit die Mythen und Merkhilfen verständlicher werden.
Sterne als Kalender
Während die Erde sich um die Sonne bewegt, scheint die Sonne von der Erde aus stets vor einem anderen Hintergrund zu stehen. Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf einem runden Marktplatz mit einer Statue in der Mitte: Während Sie sich um die Statue bewegen, wechseln die Häuser in ihrem Hintergrund. Genau das passiert am Himmel im Jahreslauf.
Das Hevelius-Denkmal vor dem Rathaus in Danzig erinnert an einen Bürgermeister des 18. Jahrhunderts. Zusammen mit seiner Frau war er astronomisch tätig; in ihrem Sternkatalog erfanden sie neue Sternbilder.
© Urs Schweitzer/akg-images
Im Laufe des Jahres steht die Sonne monatsweise in einem anderen Abschnitt der Ekliptik, den wir Tierkreiszeichen nennen. Diese „Zeichen“ sind Kreisabschnitte, die etwa die gleichen Namen tragen wie einige der Sternbilder dahinter. Da die Sonne ihre Position in diesen Abschnitten monatlich wechselt, kann man diese Abschnitte als Kalender verstehen. Das Sternbild, in dem die Sonne jeweils steht, ist tagsüber natürlich unsichtbar, aber es wechseln mit diesem auch die Sterne neben der Sonne, also die Ansicht des Abend- und Morgenhimmels in der Dämmerung. Schaut man immer, welche Sterne gerade morgens kurz vor Sonnenaufgang aufgehen, sind das stets diejenigen Sterne, die sie gerade hinter sich gelassen hat. Astronomen sagen dazu „heliakisch aufgehen“, also im Jahreslauf wieder aus dem Glanz der Sonne hervortreten.
Im Lauf des Jahres wandert die Sonne entlang der Ekliptik. Der Streifen, in dem auch Mond und Planeten laufen, heißt Tierkreis.
© Gunther Schulz
Die Daten heliakischer Aufgänge wurden in vielen alten Kulturen sorgfältig notiert und als Sternkalender genutzt. In ägyptischen Sternuhren als Dekoration von Sargdeckeln ist das Prinzip seit dem dritten Jahrtausend belegt. Die einsetzende mathematische Astronomie in Mesopotamien im zweiten Jahrtausend überliefert zahlreiche Listen solcher heliakischer Phänomene mit wachsender Genauigkeit. Der große griechische Dichter Aratos berichtet ebenfalls von dieser Idee, allerdings behauptet er fälschlicherweise, dass man die Uhrzeit in der Nacht an den aufgehenden Sternen ablesen könne. Das geht nur, wenn man sich ziemlich gut am Himmel und im Jahreslauf auskennt.
Venus als Morgenstern ist auch bei hellem Himmel sichtbar. Die Sterne hingegen verschwinden während der Dämmerung im Himmelblau.
© Mario Weigand
SICHTBARKEITEN UND DER SÜDHIMMEL
Wenn man von Mitteleuropa nach Zentralsibirien reist, ändert sich am Himmel fast nichts: Man hat sich nur in geografischer Länge bewegt. Reist man aber nach Nordeuropa, dann sieht man im Sommer die Sonne nicht untergehen: Sie hat unter den Sternen den gleichen Platz. Das heißt, sie steht neben einem bestimmten Stern oder in einem bestimmten Sternbild, egal, wo der Beobachter steht. Das sehen alle gleich; durch die Änderung der Position auf der Erde liegt jedoch der Horizont verschieden, d. h. ein Stern(bild) steht je nach Beobachtungsort auf der Erde verschieden hoch am Himmel. Wie die Mitternachtssonne für Beobachtende im hohen Norden nicht untergeht, so werden bei Bewegung nach Süden mehr von den nördlichen Sternen nicht zirkumpolar sein und es werden bisher ungesehene Sterne über dem südlichen Horizont sichtbar.
Bei dunkler Nacht sieht man auch im Band der Milchstraße Strukturen: hellere und dunklere Wolken. Am Südhimmel zeigen sich die Große und Kleine Magellansche Wolke.
© ESO/Y. Beletsky
Das Kreuz des Südens sieht man heutzutage beispielsweise auf der Südhalbkugel, aber auch schon auf den Kanarischen Inseln. Durch die Präzession der Erdachse war es zu vorchristlichen Zeiten nicht nur auf den Kanarischen Inseln – d. h. am Wendekreis – sichtbar, sondern auch im Mittelmeerraum. Die Griechen, Römer, Ägypter und Mesopotamier haben daher diese Sterne in ihre Sternbilder eingegliedert: Sie haben sie sicherlich nicht „Kreuz“ genannt, denn das ist ein christliches Symbol, aber sie waren in den Sternkatalogen verzeichnet.
Das Kreuz des Südens und die „Pointer-Sterne“ α und β Centauri
© Bernhard Hubl
Besonders interessant ist diese Änderung der Lage des Horizontes in Bezug auf den Sternhimmel auch beim Mond anzuschauen. Der schiffchenförmig „liegende“ Mond in Sichelgestalt ist für den Islam ikonisch geworden, wirkt aber in Deutschland unnatürlich. Tatsächlich ist es jedoch möglich, die schmale Mondsichel aber liegend am Horizont zu sehen: In den Tropen ist das eher die Regel als die Ausnahme und auch in Nordafrika und auf der arabischen Halbinsel kommt es häufig vor.
Im Mittelmeerraum ist die liegende Mondsichel nicht nur als Symbol auf Moscheen, sondern auch in natura zu sehen.
© mauritius images/Sener Dagasan/Alamy
Aufgrund der Bahnlage der Mondbahn geht das allerdings auf den geografischen Breiten Mitteleuropas nur bis in den Alpenraum. Bis etwa München sieht man den Mond sehr selten liegend auf- oder untergehen; in Norddeutschland ist diese Konstellation nicht möglich.
PRÄZESSIONSVERSCHIEBUNG
Beobachtet man einen Kreisel, wird man schnell bemerken, dass seine Achse im Raum nicht stabil liegt: Der Kreisel scheint zu taumeln und fällt irgendwann um.
Eine solche Bewegung vollführen auch die Rotationsachsen der Planeten: Sie liegen nicht stabil im Raum, sondern vollführen eine Kreisbewegung. Bei der Rotationsachse der Erde kommt hinzu, dass die Erde einen Mond hat, der ein Drittel so groß ist wie sie selbst. Der Erdmond könnte beinahe ein eigener Planet sein im Vergleich zu anderen Planetenmonden.
Die Anziehungskraft des Erdmondes bewirkt zwei Flutberge auf der Erde und die Erde dreht sich unter diesen. Der Umlauf des Erdmondes um die Erde sorgt für eine systematische Verschiebung dieser Flutberge im Lauf des Monats. Daraus resultiert eine stetige Massenverlagerung auf der Erde, was sich auf die Rotationsbewegungen auswirkt. Der Mond entfernt sich zudem im Lauf der Jahrhunderte von der Erde: etwa vier Zentimeter pro Jahr, also vier Meter pro Jahrhundert. Dadurch verlängert sich die Dauer des Monats und auch die Rotationsdauer der Erde (also die Tageslänge) verändert sich.
Grob angenähert könnte man sagen, dass die Rotationsachse der Erde am Himmel einen Kreis beschreibt, der innerhalb von ca. 25.000 Jahren durchlaufen wird. Aufgrund von Einflüssen des Mondes, der Sonne und der Planeten ist die Bahn, die die Rotationsachse am Himmel zeichnet, kein perfekter Kreis. Ursache dafür ist einerseits, dass die Erdachse wiederum durch den Mond beeinflusst und zum Taumeln gebracht wird (Nutation). Andererseits kehrt die Achsenlage nach 25.000 Jahren auch nicht in die Ausgangslage zurück: Es ist also genau genommen eine Spirale.
In etwa 25.000 Jahren taumelt die Erdachse einmal um den Pol der Ekliptik. Diese Präzession ändert die Sichtbarkeit von Gestirnen und den Polarstern.
© Gunther Schulz
All diese Effekte sind aber so klein, dass wir sie erst in der modernen Zeit messen können. Nur die Präzession, also die scheinbare Kreisbewegung der Erdachse, war in der Antike bekannt.
Entdeckt wurde sie von Hipparch von Nicäa, indem er seine Koordinatenmessungen einiger ekliptiknaher Sterne wie z. B. Spica in der Jungfrau, β Scorpii im Sternbild Skorpion und den Plejaden im Stier mit denen von Timocharis und Aristyll verglich. Diese Beobachtungen waren zu Hipparchs Zeit bereits 100 bis 150 Jahre alt und keiner der beiden hat einen vollständigen Sternkatalog gemacht, sondern nur ausgewählte Sternpositionen festgestellt und überliefert. Für solche exakten Sternpositionsmessungen eigneten sich besonders Sternbedeckungen durch den Mond: Da der Mond am Himmel nur ein halbes Grad durchmisst, ist das Stattfinden einer Bedeckung von einem Stern eine Positionsbestimmung auf ein halbes Grad – also einen Monddurchmesser – genau. Dies kann dann anhand der Oberflächendetails am Mond weiter unterteilt und die Messung verfeinert werden. Timocharis beschrieb z. B. von der Spica-Bedeckung im Jahr 293 v. Chr., dass der Pfad der Spica hinter dem Mond das obere Drittel der Mondfläche schnitt. Anhand derartig genauer Beobachtungen von Sternbedeckungen konnte Hipparch dann sehr genau den Ekliptikabstand der betreffenden Sterne und ihre ekliptikale Länge bestimmen. Er stellte fest, dass der Abstand zur Ekliptik gleichblieb, während sich die Länge änderte.
Die Plejaden-Sterne sind in der nautischen Dämmerung erkennbar.
© Mario Weigand
Mit der damaligen Messgenauigkeit reichte bereits der Vergleich von zwei Sternbedeckungen im Abstand von zwölf Jahren, um den richtigen Wert für die Präzession zu bestimmen (ein Grad Verschiebung in 72 Jahren), wie man im Almagest nachlesen kann. Allerdings wollte man sich natürlich nicht auf ein einziges Messwertepaar verlassen, sondern weitere Beobachtungsdaten konsultieren, sodass man im Rahmen der damaligen Messunsicherheit nicht wagte, den Wert der Präzession genauer anzugeben als ca. ein Grad pro Jahrhundert – eine Zahl, die wir heute mit großen Messunsicherheiten denken würden.
Durch den Vergleich der Beobachtungen von Sternbedeckungen stellte Hipparch jedenfalls fest, dass die ekliptiknahen Sterne eine systematische Drehung auf Parallelkreisen zur Ekliptik vollführten. Nun musste er nur noch beweisen, dass die Sterne außerhalb des Tierkreises dieselbe Drehung mitmachen. Dazu zeigte er, dass sich die Abstände der Sterne zueinander am Himmel nicht verändern, d. h., dass die Lage der Sternbilder zueinander stabil bleibt: Die Drehung der ekliptiknahen Sterne führt den Löwen nicht unter der Großen Bärin entlang, sondern die Bärin bleibt fix über dem Löwen. Heute wissen wir, dass die Sterne eine Eigenbewegung haben und sich daher die Sternbilder am Himmel doch verändern – aber diese Veränderung geschieht auf viel größeren Zeitskalen als den ca. drei Jahrtausenden astronomischer Schriftkultur und hat nichts mit der Erdachse zu tun.
Im Alten Ägypten galt unser Großer Wagen als angepflockter Ochsenschenkel, der von der Nilpferd-Göttin bewacht wird.
© Ministry of Tourism and Antiquities, Ahmed Amin
Alle früheren Zuweisungen der Kenntnis der Präzession, bei denen Forschende glauben, dies aus ägyptischen oder babylonischen Mythen herauszulesen, sind ins Reich der Spekulation zu verweisen: In der ägyptischen Religion gibt es die Geschichte, dass eine Nilpferdgöttin einen Pflock bewacht, an dem das Sternbild festgemacht ist, das wir den Großen Wagen nennen. Sie soll aufpassen, dass diese Sterne nicht unter den Horizont tauchen, also nicht in die Unterwelt gelangen. Ein Papyrus, das auf ca. 1290 v. Chr. datiert, erzählt von einer Nachlässigkeit der Nilpferdgöttin, sodass diese Sterne doch unter den Horizont tauchten. Die Präzessionsverschiebung würde so einen Effekt verursachen – jedoch ist es fraglich, ob der Mythos astronomischen Beobachtungstatsachen entspricht. Beobachtbar war es damals bestenfalls im Sudan und am Äquator. Zudem könnte auch das einfache Reisen nach Süden diesen Effekt verursachen. Falls hier wirklich Beobachtungen in Form eines Mythos wiedergegeben werden, muss es nicht die Präzession gewesen sein, was hier beobachtet wurde, sondern es kann sich um eine Reise-Erfahrung handeln.
Ähnliches gilt für ein paar Formulierungen im babylonischen Erra-Mythos, die manchmal als vorzeitige Entdeckung der Präzession verhandelt werden: Der Erra-Mythos stammt aus der gleichen Epoche wie das oben erwähnte Papyrus und berichtet von einem Gott, der im Zorn die Sterne verschob und nicht an ihren Ort zurückbrachte. Ähnlich wie wir von Omina wissen, dass sie konstruiert sind, wenn z. B. etwas aus der Geburt eines Schafs mit sieben Köpfen oder einem Vollmond, der neben der Sonne steht, abgeleitet wird, so müssen auch die Mythen nicht auf astronomischen Beobachtungstatsachen beruhen. Wie die Offenbarung des Johannes können sie auch von hypothetischen Erscheinungen berichten, die die Allmacht eines Gottes ausdrücken.
Nicht ganz ausschließen kann man allerdings die Entdeckung der Präzession durch den babylonischen Astronomen Kidinnu ca. 150 bis 200 Jahre vor Hipparch. Vermutet wurde dies, weil Kidinnu das damals gebräuchliche Koordinatensystem zu ändern vorschlug, also den Nullpunkt verschob. Das kann jedoch verschiedene Ursachen haben und außerdem waren schon länger mehrere Varianten in der babylonischen mathematischen Astronomie gebräuchlich.
Zusammenfassend ist eine vorhipparchische Kenntnis der Präzession also nicht belegt und falls es sie irgendwo auf der Welt gegeben hat, fand sie – soweit wir wissen – keine Rezeption in der griechischen Astronomie, d. h. Hipparch wusste davon nichts. Er hat sie unabhängig entdeckt.
In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass es im Altertum keinen Polarstern gab, anhand dessen eine Verschiebung über die Jahrhunderte leicht erkennbar gewesen wäre: Kein heller Stern wird jemals so nah an den Himmelspol kommen wie α Ursae Minoris im Sternbild Kleine Bärin, der jetzt Polarstern ist. Hipparch selbst betont, dass die Gegend um den Himmelspol frei von Sternen sei und sich erst in gehörigem Abstand eine Gruppe von vier Sternen befindet (was wir heute den Kasten des Kleinen Wagens nennen).
Die Pyramiden von Gizeh: Ob diese Grabmale astronomisch ausgerichtet wurden, ist höchst fraglich.
© WitR/Shutterstock
Im zweiten Jahrtausend v. Chr. war das genauso. Der letzte Stern, der nah am Pol stand, war der Stern Thuban im Drachen, der um 2800 v. Chr. Polarstern war, also lange vor dem Bau der Pyramiden am Nil. Dieser Stern ist übrigens deutlich leuchtschwächer als unser Polarstern.
ENTWICKLUNG DER ASTRONOMIE – STERNKARTEN, GLOBEN UND KOORDINATENSYSTEME
Denken wir an die Geschichte der Astronomie, wird oft die Entwicklung des heliozentrischen Weltbildes beschrieben und gegen das geozentrische ausgespielt. In diesem Buch beschränken wir uns auf den Globus, denn sein Getriebe spielt bei der Betrachtung des Himmels überhaupt keine Rolle.
Die Vorsokatiker in der heutigen Türkei hatten versucht, Himmelsbeobachtungen mit mechanistischen Weltbildern begreiflich zu machen. Sie fühlten sich durch das Vorwärts- und Rückwärtsrollen der Planeten zwischen den Sternen an Räderwerke erinnert und ersonnen Walzen, Rollen, Räder und Kugeln, mit denen sich mechanisch nachstellen ließ, was am Himmel gesehen wurde. Später abstrahierte man von der Mechanik und wollte nur mathematische Bahnen und – wie es die moderne Fourier-Transformation macht – die regelmäßigen Schleifen am Himmel durch Überlagerung mehrerer Kreisbewegungen beschreiben. Schon in der Antike gab es mehrere Modelle, wer sich um wen bewegt: Die Erde um die Sonne, der Mond um die Erde, vielleicht auch die Sonne um die Erde und nur Venus und Merkur um die Sonne?
All diese Modelle und wer sie wann vertreten hat, sind für die Transformationen der Sternbilder im Lauf der Geschichte irrelevant. Diese Modelle sind Teil der Entwicklung der mathematischen Beschreibung zum Zweck des Treffens von richtigen Vorhersagen. Uns geht es hier allein um die erdgebundene Beobachtung mit dem bloßen Auge und das nichtmathematische Bezugssystem. Viele Sternbilder könnten von Menschen durch das Gestalt-Sehen erkannt werden, wenn man die kulturellen Hintergründe kennen würden. Manche Sternbilder waren schon immer unanschaulich. Wir gehen ihnen auf den Grund.
Der „Atlas Farnese“ schultert einen antiken Himmelsglobus.
© wikimedia/Gabriel Seah
Bereits mit freiäugigen Beobachtungsdaten konnte man Himmelskarten erstellen und dass der Himmel sich am besten als Globus darstellen lässt, darüber ist man sich schon immer einig. Es ist keine einzige Himmelskarte aus Babylon oder dem antiken Griechenland erhalten. Aus römischer Zeit gibt es eine Marmorkopie eines griechischen Himmelsglobus und zwei metallische Mini-Globen. Alle gezeigten Sternbild-Zeichnungen sind daher nach bestem Gewissen rekonstruiert – z. B. aus uranografischen Beschreibungstexten, Sternkatalogen, und Abbildungen im kulturellen Kontext, an Tempelwänden etc.
Umzeichnung der Figuren auf dem Globus Farnese: Schulter und Hände des Riesen namens Atlas decken weite Teile des Himmels ab.
© wikimedia/Alice-astro
WOHER KENNEN WIR DIE STERNBILDER VERFLOSSENER KULTUREN?
Viele heute noch existierende Kulturen werden von der Ethnologie erforscht. Seit ca. 150 oder 200 Jahren beschäftigt sich diese Wissenschaft mit dem Aufzeichnen der Oral History, der „mündlichen Geschichte“, von Völkern in ihrer angestammten Heimatgegend, z. B. der Khoi und San, die um Kapstadt leben, der Zulu und anderer Stämme im östlichen Teil der heutigen Republik Südafrika bzw. der australischen Ureinwohner oder jener in den chilenischen Anden.
Die Bilder, die mit diesen Gesprächen aufgezeichnet und dokumentiert werden, sind gewiss keine Jahrtausende alten Originale, sondern wurden im Laufe der Zeit durch mündliche Weitergabe angepasst. Hingegen sind die Bilder, die wir von den griechisch-antiken und babylonischen Sternbildern zeichnen, größtenteils im Original überliefert oder aus anderen Bildern rekonstruierbar.
BABYLONISCHE GESCHICHTE
Mesopotamien, das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, bestand aus dem südlichen Teil Babylonien und dem nördlichen Teil Assyrien. Die Hauptstadt von Assyrien war meistens Assur am Tigris. Die Hauptstadt von Babylonien war Babylon am Euphrat. Heute fließen die beiden Flüsse zusammen und danach ins Meer, aber dieses Land ab dem Zusammenfluss ist relativ jung: Im Altertum war es noch Teil des Meeresbodens und die Flüsse hatten getrennte Mündungen. Die südlichsten Städte Babyloniens, die damals am Meer lagen, sind heute also weit im Landesinnern.
In ihrer Blütezeit vor 4000 Jahren lag die Stadt Ur nah am Persischen Golf; das Land südöstlich von Ur wurde im Lauf der Jahrhunderte aus dem Meer gewonnen.
© Susanne Richter
Babylon, gegründet vermutlich am Anfang des zweiten Jahrtausends v. Chr., wurde von verschiedenen mesopotamischen Stämmen regiert und blieb stets geistiges und religiöses Zentrum von Babylonien. Es gilt als die erste „Weltstadt“ der Geschichte, als Ort des Zusammentreffens vieler Kulturen, des Austausches auch auf wissenschaftlicher Ebene. Der Stadtgott von Babylon war Marduk und mit dem Aufschwung Babylons ersten vorchristlichen Jahrtausend wurde Marduk zum Hauptgott des babylonischen Pantheons.
Marduk, Stadtgott Babylons, später Hauptgott
© wikimedia/Šarukinu
Die Stadt Assur ist ca. ein halbes Jahrtausend älter als Babylon. Sie war zeitweise von syrischen Herrschern erobert worden, befreite sich dann wieder von diesen und eroberte ihrerseits Babylon. Am Beginn des ersten Jahrtausends vor Christus wurde der Regierungssitz Assyriens mehrfach verlegt, aber die Stadt Assur blieb aufgrund des Sitzes des Stadt- und Staatsgottes Assur stets das religiöse Zentrum.
Assur, Stadtgott der Stadt Assur
© wikimedia/Franz Heinrich Weißbach
Der letzte König von Assur, Assurbanipal, regierte in Niniveh. Dort legte er eine große Bibliothek an, in der Schriften zu allen möglichen Wissensgebieten, Literatur und Verwaltungstexte gelagert wurden. In einem Bruderkrieg eroberte er Babylon, doch die Babylonier rächten sich mithilfe der Meder. Bei der Eroberung von Niniveh durch die Babylonier und Meder im siebten Jahrhundert brannte die Bibliothek.
Im Original erhaltene Tontafel aus der Bibliothek von Assurbanipal
© akg-images/WHA/World History Archive
Aus archäologischer Sicht war das sehr gut, denn gebrannte Tontafeln sind für die Ewigkeit haltbar. Normalerweise schrieb man in weichen, feuchten Ton, der bestenfalls an der Luft liegen gelassen wurde, um etwas auszuhärten. Sobald ein Dokument nicht mehr gebraucht wurde, weichte man die Tafel wieder in Wasser ein und konnte sie neu beschreiben. Gebrannter Ton konnte nicht mehr eingeweicht werden und war damit als Schreibmaterial wertlos. Durch den Brand in der Bibliothek von Assurbanipal wurde also eine Momentaufnahme eines historischen Wissensstands eingefroren und für unsere heutige Geschichtsforschung konserviert.
Die Bibliothek enthielt viele Texte in mehreren Sprachen, nämlich mindestens drei: der assyrische und der babylonische Dialekt der zeitgenössischen Sprache Akkadisch sowie die damals bereits mündlich ausgestorbene Sprache Sumerisch. Manche Texte liegen in bis zu sechs verschiedenen Sprachen vor. Die mehrsprachigen Texte sind ein wichtiger Schlüssel zum Verstehen der alten Schriften, sowohl in der Philologie als auch in den historischen Wissenschaften.
Für die Geschichte der Astronomie überliefert die Bibliothek von Assurbanipal zahlreiche Gestirnlisten und Texte, die sich als konzeptionelle, messtechnische Schriften entpuppten. So lassen sich verschiedene Beobachtungsverfahren seit der Mitte des zweiten Jahrtausends rekonstruieren – nur leider bisher nicht die Instrumente, die genutzt wurden: Die Daten aus dem zweiten Jahrtausend lassen auf eine Messgenauigkeit von ca. fünf Grad schließen, die man mit der Beobachtung ohne weitere Hilfsmittel erzielen kann. Die Daten aus dem ersten Jahrtausend v. Chr. erzählen uns allerdings, dass sie damals schon auf mindestens ein Winkelgrad – in speziellen Fällen sogar noch weniger – genau messen konnten, aber nicht, wie sie das angestellt haben. Ob es damals schon so etwas wie Armillarsphären oder Sextanten gab, wissen wir nicht – vermutlich nicht, aber irgendein Instrumentarium gab es sicher.
Das erste Astronomiebuch
Die früheste Zusammenschrift astronomischen Wissens ist ein Werk, das aus zwei großen Tontafeln besteht. Normalerweise sind Tontäfelchen nur etwa so groß wie ein Handteller, aber dieses Werk passte nur auf zwei Tafeln, die jeweils so groß waren wie eine DIN A4 Seite. Wir wissen nicht, ob die Verfasser es vielleicht „das Astronomiebuch“ nannten, aber wir nennen es nach dem ersten Wort im Text MUL.APIN. Man schreibt es mit Großbuchstaben, weil es ein sumerisches Lehnwort in diesem akkadischen Text ist. „MUL“ ist ein sogenanntes Determinativ, ein Bestimmungspartikel, „APIN“ ist das Wort für Pflug. Der Partikel „MUL“ kennzeichnet also, dass hier nicht das Feld-Werkzeug gemeint ist, sondern ein Gestirn mit gleichem Namen. Der Pflug war demnach ein Sternbild – und zwar offenbar ein sehr wichtiges, denn es ist das erste, das auf dem wichtigsten „Buch“ zum Fachgebiet an erster Stelle in einer Aufzählung aller Gestirne genannt wird.
Eine der Tafeln des Kompendiums MUL.APIN ist etwa so groß wie ein Blatt Papier.
© akg-images / Rabatti & Domingie
Nach dieser Aufzählung aller Sternbilder enthält das Werk weitere Listen mit Daten von heliakischen Auf- und Untergängen von Gestirnen, aus denen man ungefähre Positionen der Sternbilder berechnen kann. So haben wir durch die Daten in MUL.APIN ein relativ vollständiges Bild, welche Sternbilder in Mesopotamien benutzt wurden. Doch eine Frage konnte bisher nicht beantwortet werden: Wie alt ist MUL.APIN?
Das älteste Exemplar ist aus Assurbanipals Bibliothek und damit aus dem siebten Jahrhundert v. Chr., aber die astronomischen Daten und die verwendeten Götter zeigen, dass es vor 1250 v. Chr. kompiliert und kanonisiert wurde. Einzelne Tabellen könnten aus dem 15. oder 14. Jahrhundert v. Chr. stammen oder gemäß sehr gewagter Hypothesen sogar noch viel älter sein.
Koordinatensystem in MUL.APIN
Die Beobachtungsdaten in MUL.APIN sind Auf- und Untergänge, also Zeiten. Die Uhrzeit kann man am Himmel am Äquator ablesen: Nehmen wir zu einem bestimmten Zeitpunkt einen bestimmten Stern, der durch den Meridian geht. Infolge der Drehung der Erde um die eigene Achse scheint sich der Stern weiter nach Westen zu bewegen und eine Stunde später steht er 15 Grad westlich des Meridians. Das ist eine Stunde im sogenannten Stundenwinkel.
Weil sich die Erde um die Sonne bewegt, wird der Stern am nächsten Tag nicht genau zur selben Uhrzeit im Meridian stehen, sondern vier Minuten früher. Dieser Unterschied war den Schreibern von MUL.APIN bekannt, sie konnten also sehr genau diese Zeit bestimmen.
Auf- und Untergangstermine werden nicht für Einzelsterne angegeben, sondern für ganze Sternbilder. Die Termine sind übrigens stets Vielfache von Fünf, d. h. die Bestimmungsgenauigkeit war ca. fünf Grad. Die Daten, die in diesen Listen angegeben werden, sind somit keine realen Kalenderdaten, die man durch das Zählen von Sonnenaufgängen bestimmen könnte, sondern es sind Idealdaten: Hier wurde die Länge eines Jahres bestimmt und dann diese Zeitspanne von ca. 365 Sonnenaufgängen durch die runde Zahl 360 dividiert. Im sexagesimalen Zahlensystem ergibt sich 360 aus sechs Einheiten zu je 60, d. h. 360 entspricht sechs, entspricht einer ganzen Zahl. 365 entspricht somit einem Bruch.
Die babylonische Mathematik basiert auf den Zahlen 12 und 12 ÷ 5 = 60. Dieses Sexagesimalsystem nutzen wir noch bei Stunden, Minuten, Sekunden.
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Ob die Babylonier dies bereits auf einem Globus darstellten, bleibt hypothetisch. Jedenfalls ergibt die Visualisierung dieser Teilung auf dem Himmelsglobus eine Teilung des Himmelsäquators in 360 gleiche Stücke. Es ist also quasi ein äquatoriales Koordinatensystem, das – völlig anders hergeleitet – zufällig mit unserem System von Rektaszension und Deklination übereinstimmt. Die Rektaszension wird aber nicht fort-laufend von eins bis 360 Grad gezählt und auch nicht, wie in den letzten Jahrhunderten üblich, von eins bis 24 Stunden. In Mesopotamien wäre sie angegeben worden in Monatsname plus Teilstück Nummer eins bis 30. Was in unserem Koordinatensystem zwei Stunden oder 30 Grad Rektaszension heißt, wäre in mesopotamischen Koordinaten angegeben worden als Anfang des zweiten Monats und ab dann würden die Tage bis 30 gezählt, bis der dritte Monat beginnt.
Vorstufe des Tierkreises
Eine der Listen in MUL.APIN ist eine Liste von Gestirnen im „Pfad des Mondes“, die „der Mond durchläuft oder berührt“. Diese Liste enthält 17 Gestirne und ist eine Vorstufe des Tierkreises. Es sind hier noch 17 Gestirne, da manche der späteren Tierkreisbilder quasi doppelt genannt werden: z. B. wird der Sternhaufen der Plejaden als Büschel von Borsten auf dem Buckel des Stiers aufgefasst (auf akkadisch zappu, „Haarbüschel“) und trotzdem hier ergänzend zum Kiefer des Himmelsstiers (Hyaden) erneut genannt. Die Zwillinge wurden in jener Zeit noch als zwei Zwillingspaare (also vier Gestalten, zwei Sternbilder) betrachtet und da die Plejaden nicht nur der Buckel des Stiers, sondern auch der Fuß von Perseus sind, steht auch Perseus (babylonisch das Sternbild Alter Mann, der Großvater der Götter) auf der Liste.
Geübte Beobachter erkennen schnell die klassischen Sternbilder, wie hier Perseus, links der Bildmitte.
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Überraschend mag es auch sein, dass Orion in diesem Prä-Zodiak steht, aber das ist im Grunde bis heute unverändert: Das moderne Sternbild Orion ist so definiert, dass es 0,5 Grad unter der scheinbaren Sonnenbahn endet, d. h. die Sonne läuft nicht durch Orion – der Mond aber schon! Seine Bahn ist um ca. fünf Grad gegen die Sonnenbahn geneigt, sodass er im Lauf von 18,6 Jahren etwa die Hälfte der Zeit monatlich ein paar Stunden lang im Orion steht.
Der Vorübergang des Mondes an Sternen und Sternbildern ist nachts leicht beobachtbar und konnte daher einfach niedergeschrieben werden. Wann die Babylonier diesen Mondpfad zu dem Tierkreis weiterentwickelt haben, den wir kennen, ist unbekannt. Es muss um die Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. gewesen sein.
Anunitu ist die Göttin Ischtar (heute Fische) und der Lohnarbeiter ihr Ehemann, Dumuzi (heute Widder). Der Alte Mann ist der Großvater der Götter, Enmescharra, im Sternbild Perseus. Die Großen Zwillinge werden von den Kleinen Zwillingen unterschieden, die nicht im Mondpfad genannt werden. Das Krummholz ist in Auriga, der Himmelshirte entspricht Orion. Der Gott Pabilsang ist unser Schütze und aus dem sumerischen Gott Enki wurde der akkadische Ea und der griechische Wassermann. Vom Sternbild Riesenschwalbe liegen nur die Schwänze (das Band der Fische) im Mondpfad. In Babylon hieß das Sternbild stets Schwänze, während es in Uruk später in Schwalbenfisch umgetauft wurde. Ebenso wurde die Ackerfurche zwar in Babylon stets mit der Göttin Schala assoziiert, hieß aber jederzeit Ackerfurche, während in Uruk das Sternbild im ersten Jahrtausend v. Chr. zur Göttin umgedeutet wurde.
Der Grund für die Erfindung des Tierkreises ist vermutlich Zeitmessung. Die zwölf Monate sind in der Natur als Vollmonde beobachtbar, die monatlich in einem anderen Sternbild stehen. Die Babylonier haben also zuerst eine gleichmäßige Zwölfteilung des Sonnenjahres eingeführt und diese dann auf die wahre Mondbahn übertragen. Während die zwölf Abschnitte des Jahres die Monatsnamen tragen, erhielten die zwölf Abschnitte des Mondbahnstreifens die Namen der Sternbilder, in denen der Mond stehen kann. Die Sternbilder, die er selten streift – Perseus, die Plejaden, Auriga, Orion –, wurden weggelassen und das dreizehnte Sternbild war nicht nötig, da Jahre mit 13 Vollmonden Schaltjahre sind. Bei der Erfindung des Tierkreises galt dann die Abstraktion, dass die Monate nicht mit den Sternbildern der Vollmonde, sondern den unsichtbar gegenüberliegenden der Sonne verbunden werden.
Mesopotamische Sternbilder
Es ist nicht bekannt, dass es in Babylon je einen Globus gegeben hat.
Allerdings lassen die Daten, die in MUL.APIN und anderen Texten überliefert sind, sehr wohl die begründete Hypothese zu, dass es einen solchen um 1000 v. Chr. bereits gegeben haben könnte – ohne Beweis, nur Plausibilität.
Rekonstruieren können wir die Lage der Sternbilder aus den Auf- und Untergangszeiten, die überliefert sind. Virtuell können wir heute einen babylonischen Globus simulieren – egal, ob es ihn damals physisch gegeben hat oder nicht. Wir können an unserem modernen virtuellen Globus eine Horizontebene anbringen und die Sterne auf- und untergehen lassen und dabei auch beobachten, welche Sterne bzw. Sternbilder gerade im Zenit stehen. Dadurch erhalten wir eine Vorstellung von der Anordnung der babylonischen Sternbilder.