Gibt es alternative Wege der "Zeitgenössischen Musik"? Dieser Frage stellt sich der Autor Manfred Stahnke, selbst Komponist und Musikologe, in dieser Sammlung seiner Schriften von 1981-2017. Er beschäftigt sich wesentlich mit zwei "Aussteigern": György Ligeti und Harry Partch. Ligeti bezeichnete sich allenfalls noch als fernen "Satelliten" der Avantgarde. Partch baute von vornherein seine eigenen Instrumente und seine Welt in "naturreinen" Intervallen. Stahnke reagiert seit vielen Jahren wesentlich auf diese beiden Komponisten und Musikdenker und beschreibt hier seinen eigenen Weg.

Partch fand in den einfachen Gesängen der amerikanischen Hobos seinen Ausgangspunkt, sang selbst viele Jahre in den Kneipen zu seiner "Adapted Viola". Ligeti blieb zwar im "Konzertsaal", wanderte aber immer deutlicher zur Musik seiner Heimat, des Balkan, zurück. Stahnke reflektiert "Straßenmusik" und "Konzertsaal", integriert auch die Improvisation, das freie Fließen im "Hörendenken". Sein Weg ist nah "am Wasser", wo nur am Grund noch harte Strukturen existieren, immer der Auflösung nahe... Über allem steht die Frage nach einer "anderen Meloharmonik", nach einer integrativen, auch pulsativen Rhythmik.

Der Hamburger Komponist und Musikologe Manfred Stahnke wurde 1951 in Kiel geboren und studierte ab 1966 in Lübeck Violine, Klavier und Komposition, ab 1970 in Freiburg, Hamburg und in den USA Komposition, Musikwissenschaft und Computermusik. Er legte das Examen in "Musiktheorie und Komposition" 1973 in Freiburg bei Wolfgang Fortner ab. 1979 promovierte er in Hamburg bei Constantin Floros über Pierre Boulez. Seine Lehrer in Komposition waren nach Wolfgang Fortner: Klaus Huber und Brian Ferneyhough (Freiburg), Ben Johnston (Urbana, USA) und György Ligeti (Hamburg).

Zu seinen Kompositionen zählen Bühnenwerke: "DER UNTERGANG DES HAUSES USHER" 1981, "HEINRICH DER VIERTE" 1987, "WAHNSINN, DAS IST DIE SEELE DER HANDLUNG", Neufassung Berlin Staatsoper 2012, "ORPHEUS KRISTALL" 2002, Biennale München. Ferner Orchesterwerke und Konzerte, u.a. aufgeführt vom Radiosinfonieorchester Hilversum, den Kieler Philharmonikern und dem SWR-Sinfonieorchester, sowie viele Kammermusiken für Ensembles wie das ensemble modern, das Nieuw Ensemble Amsterdam, das ensemble decoder etc.

Er reiste mit dem Ensemble CHAOSMA als Komponist und Keyboarder in viele Erdteile; war in Neuseeland, Südafrika oder in den USA Vortragender über aktuelle Musik; spielt derzeit mit dem Improvisationsensemble "TonArt" Viola.

Seit 1989 ist er an der "Hochschule für Musik und Theater Hamburg" Professor für Komposition, seit 1999 Mitglied der "Freien Akademie der Künste in Hamburg", wo er derzeit (2017) die Sektion Musik leitet. Er wirkte viele Jahre im Musikbeirat des Goethe-Instituts München.

Meinen Eltern gewidmet

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2017 Manfred Stahnke

Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-74-313232-0

Inhalt

Einleitung

Dies ist meine Schriftensammlung für die Zeitspanne von 1981 bis 2017. György Ligeti und Harry Partch kommen darin zentral vor. Sie beide üben einen wesentlichen Einfluss auf meine Denkweise und meine Kompositionen aus, welche ich immer wieder eingestreut beschreibe. Ich widme mich aber auch anderen Komponisten wie Pierre Boulez, Gérard Grisey oder Ben Johnston, sowie meinen FreundInnen aus der Kompositionswelt Sidney Corbett, Hubertus Dreyer, John Fonville, Hans Peter Reutter oder Mari Takano. Es geht immer wieder um die Entdeckung möglicher Wege heute, Musik zu schreiben. Dazu gehören Gedanken zu einer Harmonik und Melodik jenseits unserer 12 Töne, um neue rhythmische Erfindungen jenseits der alten "Avantgarde". Mich faszinieren Musiken seit jeher aus sehr alter Zeit, von der Antike bis zum Mittelalter oder der Renaissance, oder von außerhalb Europas, besonders aus Südamerika, Afrika oder Südostasien. Dem gegenseitigen Reagieren der verschiedenen Musiken gilt mein Hauptaugenmerk.

Meiner Frau Susanne danke ich sehr als Lektorin. Sie hat viele Stolperstellen in meinen Texten gefunden, vor allem die Vielzahl von Parenthesen reduziert und Textvereinfachungen vorgeschlagen.

Wer Musikbeispiele hören will, melde sich gern bei mir:

ms@manfred-stahnke.de

Erstausgabe Hamburg, den 5. April 1996

Aktualisierung dieses Bandes 2017

Mein Weg zu Mikrotönen

Für Constantin Floros

1981 geschrieben, hier in der Fassung aus dem Jahr 2000.

Dieser Artikel entstand in seiner ersten Form 1981 unmittelbar nach dem Hörerlebnis eines Festivals mit mikrotonaler Musik, das Hans Rudolf Zeller in Bonn organisiert hatte. Auf einige der damals zu hörenden Werke nehme ich im Folgenden Bezug. Auch meine Arbeiten, die ich in Beispielen vorstelle, stammen aus dieser Zeit, wo ich meine mikrotonale Denkweise voller Elan aufbaute. Inzwischen ist viel passiert. Ganze Welten sind zusammengebrochen, nicht nur im Politischen, auch in unserem kleinen Spezialfeld der "Neuen Musik"! Alte, für wahr gehaltene Kohärenzen sind immer fragwürdiger geworden. Abgeschlossene Denkbilder haben allgemein etwas Großväterliches bekommen. Dazu gehört auch der emphatische Begriff einer "mikrotonalen" Musik, sofern sie die gar so verschmutzte Temperierung aufheben will. Doch ist keine Sekunde des Musikdenkens wirklich "vergessbar", höchstens schwanken Aktualitäten. Im Gegenteil sind die vielfältigen Musikdenk-Entwicklungen geradezu unvergänglich, wie Sprachentwicklungen: Eine Sprache bereichert sich stetig durch neue "Bilder". Und "Bilder" sind neue - oder umgefärbte - Erkenntnisse. Gerade so wandert Musik durch ständig sich verändernde idiomatische Felder. Es baut sich stetig ein neues "Bild" von Musiksprache, übrigens jetzt, 2000, besonders intensiv synkretistisch zwischen sehr vielen Idiomen quer durch Zeit und Raum. Musikdenken ist für den Musiker instantan und nicht-lokal: Ein Gedanke aus dem 14. Jahrhundert ist blitzartig JETZT (wenn wir ihn jetzt erfassen), genauso wie ein Gedanke von den Salomon-Inseln HIER ist.

Ich habe damals, 1981, untersucht, was das Faszinosum "Mikroton" für mich ist. Jetzt, 2000, ermesse ich die Differenz meines sehr geradlinigen Denkens 1981 zu meinem gegenwärtigen brüchigen, fragenden Denken. Den alten Artikel von 1981 habe ich für die Festschrift zum 70. Geburtstag von Constantin Floros umgearbeitet und erweitert.

Der Begriff "Mikroton" ist schwer zu definieren. Wenn ich sage: Mikrotöne sind alle die Töne, die zwischen den 12 temperierten Tönen unserer Skala liegen, dann würde jedes klassische Orchesterstück, jedes Streichquartett, jedes Chorstück mikrotonal sein. Denn kein Musiker oder Sänger wird je wirklich die temperierte Skala spielen bzw. singen wollen oder können. Unsere Temperierung ging aus Überlegungen der Klavierstimmung hervor. Übertragen auf die abendländische Musik allgemein, bleibt sie eine Fiktion. In der Tat kann ein geschickter Klavierstimmer, sei es durch Schwebungshören, sei es einfach durch die Hörerfahrung der temperierten Quinte oder Terz, eine gleichschwebende Skala annähernd realisieren. Aber sobald sich der Komponist einbildet, auch das Orchester spiele dieselbe Skala wie das Klavier, unterliegt er einem fundamentalen Irrtum. Ich brauche nur die Stimmung der Streicher in reinen Quinten zu erwähnen oder die Verwendung des Naturtonblasens bei den Blechbläsern, wo reine Terzen 5/4, sogar die reinen Septen 7/4 zum typischen Klang des Blechbläsersatzes gehören. Nun wird niemand behaupten, klassische Orchestermusik verwende Mikrotöne. Offensichtlich gibt es für jede einzelne Note auf dem Notenpapier eine Tonentsprechung mit einer gewissen Toleranzbreite. Jeder geschriebenen Note entspricht ein "Tonfeld", das in der klassischen Musik recht weit sein kann.

Stellen wir uns diese Tonfolge vor:

Abb. 1: Tonfolge

Ein rein spielendes Quartett würde zwischen cis2 und des2 unterscheiden. Theoretisch beträgt bei reinen Intervallen der Tonhöhenunterschied hier 41 Cent, hier abgekürzt "c". 50c sind ein Viertelton, da 100c als temperierter Halbton definiert sind. Die reine Terz 5/4 über a1=440 Hz ist cis2=550 Hz. Das des2 wird über das f1 erreicht: Die Terz 4/5 unter a1 beträgt f1=352 Hz, darüber die Sexte 8/5 ist des2=563.2 Hz.

Trotz dieses Fast-Vierteltonunterschieds wird kaum ein Hörer wahrnehmen, dass hier fremdartige Töne gespielt werden. Tonhöhengefärbte Töne treten als sog. "Mikrotöne" ins Bewusstsein des Hörers erst, wenn tatsächlich melodische Mikrotonschritte vorliegen bzw. wenn von der bisherigen tonalen Musik abweichende Intervalle auftreten, bei denen Töne sich nicht mehr klar einem der herkömmlichen Tonfelder zuordnen lassen. Nehmen wir ein anderes Beispiel für das subjektive Empfinden von Mikrotönen: Bekanntlich wurden in einer der wesentlichen mitteltönigen Stimmungen die einfacheren Tonarten mit den folgenden reinen Terzen gestimmt: B-D-Fis, F-A-Cis, C-E-Gis, Es-G-H. Diese Terzen wurden in ca. gleich große Tonschritte unterteilt, die in der vorgestellten "Mitte" zwischen 9/8 und 10/9 lagen, daher der Name dieser Stimmung. Einige Intervalle wurden dadurch verzerrt, geradezu zu Mikro- und Makrointervallen, was aber nicht auffiel, solange man in den einfachen Tonarten blieb und auf Chromatik verzichtete. Ligeti hat nun in seiner Passacaglia ungherese für Cembalo den der mitteltönigen Stimmung immanenten Dualismus zwischen extremer Reinheit und Verschmutzung ausgenutzt. Im ersten Teil des Stücks wird niemand angesichts der reinen Intervalle glauben, dass mit denselben Tönen sehr unreine Strukturen möglich sind.1

Abb. 2: György Ligeti: Passacaglia ungherese (1978)

Diese Intervalle sind absolut reine gemäß den oben angegebenen Terzen. Gegen Schluss schlägt aber harmonische Verständlichkeit um in melodische Skurrilität:2

Abb. 3: György Ligeti: Passacaglia ungherese (1978); Cent-Abstände

Hier nehmen wir Mikrotoneffekte wahr, besonders bei den 76c-Intervallen, die ca. um einen Achtelton enger sind als der temperierte Halbton von 100c, aber auch bei den 234c- und 427c-Intervallen.

Ein Mikroton lässt sich also schwer als etwas Besonderes von einem "normalen" Ton abgrenzen. Er entsteht im musikalischen Kontext. Die mikrotonalen Möglichkeiten gehören zur Eigenschaft jedes Tons. Ich muss jetzt an die Worte meines Geigenlehrers denken: Leittöne müssen hoch sein, die kleinen Septen als Gleittöne tief. Sehr enge kleine Sekunden vergrößern die Spannung etc. Man denke an die Praxis der Solokonzerte: Die Soli bekommen Glanz durch überhohes Spiel. Man vergleiche Interpretationen von Mozart und Schubert: Mozarts Durterz wird hoch gegriffen. Niemand käme auf die Idee, tiefe Terzen 5/4 zu spielen. Im Adagio des Streichquintetts Schuberts z.B. scheint die Musik hingegen die tiefe, verhangene, "depressive" Durterz 5/4 zu verlangen.3

Der "Ton" der Musik wird offenbar ganz wesentlich durch seine Tonhöhenfärbung bestimmt. Hier berühren wir das erste Mal die Frage, die mich vor allen anderen beschäftigt: Kann mikrotonale Musik den Hörer "bewegen", und welche Töne in welchem Zusammenhang können das? Gerade das "Fremdartige" der Mikrotöne müsste doch, adäquat eingesetzt, den Hörer aus sich "herausbewegen" können. Das heißt "E-motion" im ursprünglichen Wortsinn. Wenn es um Musik geht, dann geht es doch nur um dieses "Heraus", dieses "Bewegen". Musik muss alles neu erscheinen lassen. Sie selbst ist dabei nur ein Medium, nicht Selbstzweck. Lange wurde gedacht, Neuartiges in der Musik genüge schon. Wir haben im Niedergang großer Teile der sog. "Neuen Musik" gesehen, wie falsch es war, Nur-Neues zu fabrizieren, als Wegwerf-Neues, wie sich bald herausstellte.

Sicherlich wird mikrotonale Musik mit dem Vorurteil kämpfen müssen, auch hier experimentiere man wieder einmal mit neuem Material. Aber darum geht es nicht. Es wird nötig sein, sich rigoros vom Neuheitsstreben abzugrenzen, wie wir es kennengelernt haben, und sich über den Gehalt der eigenen Musik zu äußern, und läge er "nur" in musikalischer Immanenz. Dabei wird es nützlich sein, darauf aufmerksam zu machen, dass die tonalen / mikrotonalen Möglichkeiten eines Tones ganz offensichtlich in der abendländischen Musik von Anfang an erkannt und nicht nur mathematisch, sondern auch weltanschaulich diskutiert wurden. Ich denke z.B. an den von den Griechen herstammenden Streit des Mittelalters über die pythagoräische Terz 81/64 (eigentlich die Vierfach-Quint, wie C-G-D-A-E) und die reine Terz 5/4, wo über C ein E um 21.5c tiefer ist als die Vierfach-Quint: Hier lag die "Drei" der 3/2-Quinte als Symbol des göttlichen Prinzips mit der Fünf als Symbol der irdischen Sinnenhaftigkeit im Widerstreit.

Keineswegs handelte es sich nur um eine rein intellektuelle, scholastische Diskussion. Hier stritt man über unterschiedliche Klänge, wobei die reine Terz schließlich (in der Mitteltontemperatur der Renaissance) gewann und erst durch die gleichstufige Temperierung (zumindest im Bereich der Tasteninstrumente) wieder abgeschafft wurde. Einmal auf dem Weg zur reinen Terz, ging es weiter zu Überlegungen, auch die reine Sept 7/4 in feste Skalen einzubauen. Ich denke an Christiaan Huygens' 31tontemperatur (Ende 17. Jh.). Im Zuge der Renaissance-Ideen belebte sich auch wieder der Gedanke, linear Kleinstschritte zu erzeugen, aufbauend auf der altgriechischen Chromatik und Enharmonik: siehe z.B. Nicola Vicentinos Archicembalo (1555).

Der Begriff "Mikroton" ist neu, die Sache ist uralt. Hier muss ich aber einem möglichen Missverständnis vorbeuge.: Ich werde nie behaupten, dass alle heutige Mikrotonmusik auf ohnehin vorhandenen Ideen der europäischen Musiktradition beruht oder beruhen sollte. Die Vierteltonmusik Hábas oder Wyschnegradskys z.B. bezieht sich auf die Zwölftontemperierung und ist deren Derivat durch Weiterteilung. Beide blieben aber hier nicht stehen.

Meine eigene Mikrotondenkweise, auf die ich gleich zu sprechen komme, unterscheidet sich allerdings wesentlich von allen Versuchen, die temperierte Skala weiter zu teilen. Dabei akzeptiere ich durchaus einige Resultate, die die vierteltönige Stimmung gebracht hat: Zu den besten Stücken dieser Art gehören die in den Bonner Mikrotonkonzerten 1981 gespielten Three Quartertone Pieces von Charles Ives. Ives schafft es, z.B. durch die einfache Vierteltonversetzung ganzer Passagen (die tonal geschrieben sind), den Hörer aus der bekannten Tonalität "herauszubewegen". Die Töne bekommen plötzlich den Hauch des Ganz-Neu-Gemachten, des Eigens-Erfundenen. Einen guten Ansatz zeigte in Bonn auch das Riesenklavierstück von Klarentz Barlow: coglu otobüs isletmesi (1980). Hier werden nur vier Töne pro Oktave vierteltönig heruntergestimmt: D, E, Fis, H in allen Oktaven. Durch diese Reduzierung wird Vierteltonmusik, bei Barlow türkisch angehaucht, nicht zu einem Brei, sondern sehr erlebbar. Der Breigefahr ist demgegenüber Fernand Vandenbogaerde in einem noch weiter gehenden Tonsystem nicht entkommen: In Hélicoide für Sechzehnteltonklavier und Tonband musste die Pianistin in Bonn mit einem Brett all die vielen kleinen Töne immer zur gleichen Zeit nieder-(zer-)drücken. Der Mikrotonbrei war alsbald nicht mehr genießbar. Um Mikrotöne erlebbar zu machen, muss der Komponist offensichtlich äußerst behutsam vorgehen.

Und jetzt werde ich kurz meinen eigenen Ansatz umreißen. Vorausschicken möchte ich einige kurze Bemerkungen dazu, wie ich zu Mikrotönen kam. Ich hatte seit meinem 11. Lebensjahr Geigenunterricht und kämpfte von Anbeginn mit den Intonationsproblemen dieses Teufelsinstruments. Wenn ich auf den tiefsten Saiten ein reines g-e1 griff, stimmte das e1 nicht mehr als Quarte mit der A-Saite überein (bis heute nicht) etc. Ich las von den verschiedenen Kommata, den verschiedenen Stimmsystemen. Ich hörte von den 11. und 13. Naturtönen und versuchte, sie auf meiner Geige hörbar zu machen. Schließlich bekamen meine Eltern für ein Jahr ein Cembalo zur Pflege, und ich machte mich daran, mit Hilfe der verschiedenen Register komplizierte reine Skalen aufzubauen bis hin zum 11. Naturton, der als reines Intervall ganz offenkundig erlebbar war. Ich träumte endlos über diesen schönen Tönen. Stücke mit diesen Skalen jenseits des Improvisierens zu schreiben, wagte ich nicht. Vor allem wusste ich nicht, wie ich die fremden Töne notieren sollte. In einem kleinen Interview mit der "Segeberger Zeitung" im Sommer 1970 anlässlich der Uraufführung eines "Klavierkonzerts" für unser Schülerorchester (ohne gewollte Mikrotöne) sagte ich in meinem Abiturjahr 1970 reichlich übertreibend, dass ich an neuartigen Skalen arbeite.

Allzu bereitwillig gab ich alles dies auf, als ich zu Wolfgang Fortner nach Freiburg kam, damals der berühmteste Kompositionslehrer in der BRD. Vier Jahre lang tüftelte ich nun über Ton-, Rhythmus-, Lautstärke-, gar Klangfarbenreihen und begann erst 1974, inzwischen in Hamburg, alte Gedanken wieder aufzugreifen. Ligetis II. Streichquartett mit Mikrotönen, die ich über Kopfhörer ganz nah an mich heranholte, war für mich der Anlass, mich um einen Platz in seiner Kompositionsklasse zu bewerben. Einige Zeit waren die Synthesizer (z.B. der EMS 100) der Hamburger Hochschule meine Spielwiese, bis ich für das "Ensemble 13" Manfred Reicherts ein Stück mit reichlichem Gebrauch von Mikrotönen schrieb (1977: Adagio sostenuto). Es folgte 1978 Metallic Spaces für umgestimmtes Orchester (72tonsystem), in Holland gespielt - für mich ein Erlebnis, andere ließen die metallischen Räume kalt. 1979 (nach meiner Promotion bei Constantin Floros über ganz etwas anderes: Pierre Boulez) ging ich zu dem Mikrotonkomponisten Ben Johnston nach Urbana, Illinois in die Lehre und experimentierte mit Mikrotonmusik an den Computerzentren in Urbana, danach in Stanford, Kalifornien.

Die Richtung, in der ich arbeite, liegt nicht in europäischen Mikrotontraditionen (etwa Hába, Wyschnegradsky), sondern in amerikanischen (Partch, Johnston). Hier fand ich eine Philosophie der neuen Körperlichkeit, "Corporeality", die durchaus keine "Neue Einfachheit" ist. Ich werde mich hier nicht umfassend zu diesem sehr amerikanischen Denken äußern. Was ich für wesentlich am Denken Harry Partch's halte, kann nachgelesen werden in meinem Artikel "Gedanken zu Harry Partch"4. Nur einige Gesichtspunkte dieser Mikrotonphilosophie möchte ich einflechten: Partch und Johnston haben die Vorstellung, Musik müsse auf reinen, schwebungsfreien Intervallen aufgebaut werden, weil das Ohr zu ihnen eine Affinität habe. Unmittelbare Verständlichkeit ist das Anliegen, bei Partch umschrieben mit dem Begriff "Corporeality". Seine Musik möchte körperlich-sensuell wirkende Identitäten suggerieren jenseits von reinen Intellektualismen. So zumindest verstehe ich ihn. Partch baute sich eine Skala aus 43 nichttemperierten Tönen. Diese Skala erläutere ich in dem genannten Artikel (siehe zu Partch auch die spätere Petersen-Festschrift)5.

Johnston verwendet ein System, das durch wechselnde "Limits" alle Grade von einfacher bis hyperkomplizierter Harmonik erlaubt. So beruhen die Two Shakespeare Sonets auf einem 2/3/11-System, d.h.: Hier kommen nur Oktaven "2"/1, Quinten "3"/2 und Tritoni "11"/8 vor, samt Übereinanderschichtungen, aber keine Terzen 5/4, keine Septen 7/4. Diese Denkweise in naturreinen Intervallen ist mir sympathisch, weil Intervalle auf fremdartige Weise erlebbar werden bei gleichzeitiger Rückkehr zu einfachen Grundbausteine. Das Neue erschließt sich aus dem Einfachen und nicht daraus, dass es schon Kompliziertes weiter verkompliziert. Es sind in der amerikanischen Mikrotondenkweise aber gewisse Illusionen enthalten, die die Praktikabilität einer derartigen Musik in Frage stellen. Gewiss hat das Ohr eine Affinität zu reinen Intervallen. Gleichzeitig liebt es aber die Überschaubarkeit des Tonmaterials. Warum sonst setzte sich die Skala aus virtuell nur 12 Tönen durch? In einem neuen Chorstück von Johnston, das die New Swingle Singers im nächsten Jahr (1983) in Urbana/Illinois uraufführen werden, fand ich Noten wie:

Abb. 4: Notationszeichen von Ben Johnston

Johnstons spezielle Zeichenschrift zu erklären, erfordert einen Extra-Artikel. Kein Musiker vermag sich unter dem obigen Zeichen einen konkreten Ton vorzustellen. Johnston fragt aber nicht nach unmittelbarer Verständlichkeit des Notentextes, obwohl ihm die unmittelbare Verständlichkeit seiner Musik für den Hörer ein Anliegen ist. Ich hörte eine Probe des Chorstücks mit Johnston und den New Swingle Singers in Hamburg und war begeistert, wie merk- und denkwürdig viele Stellen aufgrund der Mikrotonschwankungen klangen. Die Sänger realisierten diese Töne vielleicht gerade wegen der merkwürdigen Zeichen.

Überlegungen zur Verständlichkeit des Notentextes führten mich dazu, nur eine äußerst begrenzte Zahl von Spezialzeichen zu verwenden, und dies nie in Zeichen-Kombinationen wie bei Johnston. Der praktisch denkende Partch (er übte seine Musik immer selbst mit seinen Freunden ein) hat seine Musik nie mit Mikrotonzeichen aufgeschrieben, sicher auch, weil er wusste, dass eine theoretisch richtig notierte naturreine Musik von gewisser harmonischer Komplexität kaum praktisch lesbar sein kann.

In der neueren Musik findet sich ein Mikrotonzeichen, das sich schon weiter Verbreitung erfreut. Das Vorzeichen mit einem Pfeil nach oben oder unten, etwa in der folgenden Darstellung der Naturtonreihe bis zum 13. Ton:

Abb. 5: Die Naturtonreihe bis zum 13.Partialton

Dieses Zeichen liest sich evidenterweise als "etwas tiefer" oder "etwas höher", um wieviel genau, bleibt offen. Der Geschmack und das Ohr des Musikers werden das an jeder Stelle einer Komposition neu bestimmen. Ich definiere diese Zeichen in meinen Partituren als "Fast-Vierteltonabweichungen". Erinnern wir uns daran, dass auch die "normalen" Töne eine gewisse Toleranzbreite haben. Jeder Ton steht in einem Tonfeld, das bei den Tönen mit Pfeil-Akzidentien lediglich verschoben ist. Mit diesen Vorzeichen habe ich eine exzellente Möglichkeit, mich dem 7., dem 11., sogar dem 13. Ton anzunähern. Mehr möchte ich gar nicht. Diese Töne exakt zu treffen, ist nur dem Computer möglich. Sie ungefähr zu treffen, gibt doch das Erlebnis der 7/4-, 11/8-, 13/8-Intervalle. Und eine Praxis über Jahre wird die Musiker diese Töne immer besser treffen und hören lassen.

Vergegenwärtigen wir uns, wie stark diese Intervalle von den temperierten abweichen: Die Abweichung der reinen 7/4-Sept von der temperierten Sept beträgt -31c, des reinen 11/8-Tritonus vom temperierten Tritonus -49c, der reinen 13/8 Sexte von der temperierten kleinen Sexte +41c. Hierfür bietet sich für die Notation die Akzidentie mit Pfeil an. Ihr Mittelwert ist ca. eine 40c-Abweichung, die Streubreite der Abweichungen beträgt 49-31=18c. Zum Vergleich: Die Abweichung der reinen von der temperierten Großterz beträgt -14c. Bei den Tönen mit normaler Vorzeichnung ist ein Tonfeld also gegeben und selbstverständlich, warum nicht auch bei den Tönen mit Pfeilvorzeichnung?

Für reine Quinten 3/2 und Terzen 5/4 verwende ich keine Spezialzeichen, sondern denke mir, dass meine Harmonik diese reinen Intervalle von allein suggeriert. Es handelt sich bei Streichern meist lediglich um ein leichtes Neigen der Finger, nicht mehr, und dann um ein Wahrnehmen. Ich ließ mich, wie gesagt, von dem Gedanken leiten, so einfach wie möglich zu schreiben. Gewiss wird jemand, der lange über reine Stimmungen nachgegrübelt hat, gerade die Einfachheit und mathematische Ungenauigkeit der Pfeilakzidentien bemängeln. Es geht mir aber in meinen Partituren nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung, sondern um praktikable Musik.6

Nach der Diskussion meiner Zeichen mag es so aussehen, als beschäftige sich meine Musik ausschließlich mit dem Dur-Akkord und seiner Erweiterung durch die Naturtonreihe. Mein Anliegen ist jedoch gerade die Spannung zwischen "rein" und "seltsam". Wie ich die neugewonnenen Intervallmöglichkeiten verwende, mögen einige Beispiele aus meinen Partituren zeigen:7

Abb. 6: Manfred Stahnke: Wahnsinn, das ist die Seele der Handlung(1982)

Hier entstehen Mikrotöne, ohne dass spezielle Zeichen verwendet werden. Allein durch die Verkettung reiner Terzen 5/4 kommen praktisch Vierteltöne zustande, und zwar deswegen, weil drei reine Terzen übereinander eine fast um einen Viertelton verzerrte Oktave ergeben: 5/4 x 5/4 x 5/4 = 125/64 (Oktave: 128/64, Unterschied 41c) Durch die Terzenkette eses-ges-b-d1-fis1-ais1-cisis2-eisis2 habe ich sehr viele dieser "falschen" Oktaven, die einen fremdartigen Klang für die Passage bewirken. Ich erinnere in diesem Zusammenhang Johnstons Microtonal Piano Sonata, die 1981 in Bonn ihre europäische Erstaufführung erlebte. Sie ist für ein ausschließlich in reinen Terzen gestimmtes Klavier geschrieben. Leider hat Johnston über diese subtile Stimmung ein vielerorts nivellierendes, teils serielles Schema gestülpt, das meiner Meinung nach nicht originär aus der Stimmung entwickelt ist. Ein sehr gelungenes Klavierstück von Johnston ist die Suite: Hier wird eine komplexe reine Stimmung wirklich hörbar, nur in einer stochastischen Episode absichtsvoll, bösartig zerstört. Ähnliche Effekte wie bei Reinterz-Türmen entstehen bei der Verkettung reiner Septen 7/4, wobei zwei Septen übereinander eine Fast-Duodezime ergeben: 7/4 x 7/4 = 49/16 (Duodezime: 48/16, Unterschied 36c). Derartige subtile Klänge halte ich für erreichbar nur in kleinen Besetzungen, etwa Streichquartett, Bläserquintett.

Ich modifiziere meine Mikrotonzeichen dann dahingehend, dass etwa die zweite Sept logischerweise mit einer Doppelpfeil-Akzidentie angegeben wird:8

Abb. 7: Manfred Stahnke:2. Streichquartett “Requiem für S.„(1981); VIII. Satz

Ein anderes Beispiel ist ein Akkord unter Verwendung der Sexte 13/8 in demselben Quartett S.13 Takt 3:

Abb. 8: Manfred Stahnke:2. Streichquartett “Requiem für S.„(1981); VI. Satz

e1-gis1: Terz 5/4

e2-hoch/c2: Sexte 13/8

hoch/c2- hoch/e2: Terz 5/4

und die Umkehrung dieses Vorgangs in Viola und Violoncello, Verbindungen:

e1-c1: Terz 4/5

c1-as: Terz 4/5

c1-tief/e: Sexte 8/13

tief/e-tief/c: Terz 4/5

Dabei ergeben sich gespannte Oktaven:

tief/c - c1 - hoch/c2

tief/e - e1 - hoch/e2

as - gis1

Dieser Akkord löst sich in einen niedrigeren Spannungszustand auf: Im folgenden Akkord d-b-d1-g1-c2-e2 besteht noch eine Restspannung wegen des an der leeren E-Saite der 1. Violine orientierten c2, das keine reinen, einfachen Intervalle mit dem Unterbau bildet.

Selbstverständlich benutze ich auch einfachere Harmonien, wobei ich als "einfach" jene Intervalle und Akkorde höre, die in ihren Schwingungsverhältnissen nur die ersten ganzen Zahlen enthalten: Oktave 2/1, Quinte 3/2, Terz 5/4 etc. Einfache Akkorde sind für mich jene, die diese Intervalle so zusammenfügen, dass entweder oben oder unten gemeinsame "Bezugstöne" liegen.

Die Partch'sche Musik baut auf derartigen Akkorden auf, "Otonality" und "Utonality":

Abb. 9: H. Partch: Otonality / Utonality; Intervallproportionen über c1 / unter g2

Die "Otonality" (ich will bei Partch's Begriffen bleiben) klingt keineswegs fremd: Es ist die obertönige Erweiterung des Dur-Akkords. Die "Utonality" hat den Reiz des Neuartigen, da wir selten oder nie die reine Untersept 4/7 oder gar den Untertritonus 4/11 zu hören bekommen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang die Harfenstimmung in meiner Kammeroper Der Untergang des Hauses Usher erwähnen. Die Harfe ist die Seele des Ganzen. In ihrer Doppelstimmung in "O- und Utonality" enthält sie die Erinnerung an den (Dur-)Glanz der alten guten Zeit Madeline und Roderick Ushers: Otonality. Gleichzeitig steckt in der Harfe die Realität der teuflischen Krankheit Madelines (Katatonie) und damit des Usher-Hauses: Utonality. Das Dunkel ist der Widerpart des Lichts: Die Stimmung in drei Otonality-Terz-Sept-Akkorden ergibt zwangsläufig auch reine Utonality-Akkorde.

Die Stimmung der Harfen-Saiten, alle oktavidentisch in den Oktavlagen, ist folgendermaßen (die Saiten sind notiert, nicht das klangliche Resultat):

reine Terzen 5/4:

H - Es

Es - G

G - Ces

reine Septen 7/4:

H - A

Es - Des

G - F

Diese Stimmung ergibt die folgenden Akkorde:

Otonalities:

H - Es - A - F*

His - E - Ais - Fis*

Es - G - Des

E - Gis - D

G - Ces - F

Gis - C - Fis

Utonalities:

As - E**- B

A - Eis**- H

Des - A - Es

D - Ais - E

F- Des - G - H*

Fis - D - Gis - His*

*als Tritonus 11/8 bzw. 8/11: Fehler 9.9c

**als Terz 4/5: Fehler 3.8c

Ich verwende hier bei den Sternchen "zufällig" benutzbare, fast reine Intervalle.

Es folgt ein Otonality-Beispiel aus meiner Kammeroper Der Untergang des Hauses Usher, ein Ausschnitt für Gesang und Harfe:9

Abb. 10: Manfred Stahnke: Der Untergang des Hauses Usher (1979-81)

Der Ausgangspunkt meiner Harmonik ist das einfache, möglichst reine Intervall. Obertönige oder untertönige Akkorde sind für mich nur ein Spezialfall der Intervall-zusammenfügung, anders als bei Partch, wo sich alles auf sie bezieht. Partch setzte sich das "11 limit". Ich treibe meine Grenze gefährlich viel weiter: Töne wie der 17. (kleine None) oder 19. (kleine Dezime) oder auch der 23. und 25. Partialton enthalten besondere Ausdrucksmöglichkeiten, die ich mir zunutze machen möchte. Wir kennen natürlich Akkorde mit der kleinen None bzw. Dezime, allerdings kaum in der untertönigen Form.

Zum eigentümlichsten (und gewünschten) Effekt meiner Musik gehören die hörbaren, mehr oder weniger langsamen Schwebungen der angenähert reinen Intervalle. Das exakte Tempo dieser Schwebungen lässt sich unmöglich vom Komponisten steuern, da es von der Intonation der Musiker abhängt. Jede Aufführung bringt andere Resultate dieses Schattens hervor. Es ist tatsächlich ein Schatten, der sich in die Symbiose Komponist-Musiker einschleicht: die allmächtige Logik der Zahlen. Die Kontrolle entgleitet. Der Schatten der Schwebungen ist mir wesentlich. Er ist die komponierte und mitkomponierende groteske Seele des Ganzen.

Ich versuche, jener Vorstellung Partch's aus dem Weg zu gehen, reine Intervalle seien am besten bei totaler Schwebungsfreiheit, also 100% exakter Realisierung. Im Gegenteil habe ich bei meiner Arbeit mit Computern die Erfahrung gemacht, dass gewisse Unreinheiten erst den Klang "beseelen". Partch wollte bei seinem "Chromelodeon" (einem umgestimmten Harmonium) Schwebungsfreiheit bis hinauf zu Intervallen mit dem 11. Ton erzielen. Dieses Instrument besitzt gerade deswegen eine ungewöhnliche Archaik, die sicher für Partch's Zwecke geeignet ist, zur allgemeineren Verwendung aber wenig brauchbar erscheint.10

Weil ich die pure Reinheit der Intervalle nur als Utopie erkenne und gar Schwebungen für wünschenswert halte, kann ich einige theoretisch temperiert spielende Instrumente in bestimmten Zusammenhängen einsetzen. Selbstverständlich muss ich mir genau überlegen, welche Töne die Temperierung mit für meine Zwecke ausreichender Exaktheit darstellen kann. Dazu gehören jene reinen Intervalle mit den Zahlen 2 (Oktave), 3 (Quinte, Fehler 1.9c), 9 (große None, Fehler 3.9c), 17 (kleine None, Fehler 5c), 19 (kleine Dezime, Fehler 2.5c).

Bedenken wir den tatsächlichen Effekt der Abstände einiger Intervalle der Temperierung zur akustischen Reinheit:

Die Quinte 3/2: Sie ist kein Problem in der Temperierung. Zwischen c1=261.63 Hz und g1=392 Hz schweben, wie bei jeder zwölftontemperierten Quinte, vor allem der 3. Partialton von c1 (261.63x3=784.9 Hz) und der 2. Partialton von g1 (784 Hz). Da die Zahl der Schwebungen pro Sekunde gleich der Differenz zwischen den Frequenzen der beiden schwebenden Töne ist, beträgt die Schwebungsfrequenz hier 784.9-784=0.9 Hz. So deutlich wird das auf dem Klavier allerdings nie zu hören sein, erstens wegen der minimalen gegenseitigen Verstimmung der zwei bis drei Saiten pro Ton, ein Charakteristikum des Klavierklangs, zweitens wohl auch wegen der durch den Anschlagsdruck auf die Saiten erzeugten anfänglichen Inharmonizität, drittens wegen anderer Schwebungen höherer Partialtöne, die trotz geringerer Lautstärke mit der Hauptschwebung konkurrieren, z.B. schweben der 6. Partialton von c1 und der 4. von g1 genau doppelt so oft.

Es ist klar, dass rein theoretisch tiefere Quinten langsamer schweben, höhere Quinten schneller. Bekanntlich wird aber das Klavier in der hohen Lage etwas "zu hoch" gestimmt. Hierdurch werden schnelle Schwebungen hochgelegener Quinten praktisch ausgeglichen. Langsamere Schwebungen sind gerade bei Instrumenten ohne Vibratomöglichkeit sehr willkommen. Bei allen nicht-digitalen Instrumenten sind sie ohnehin unvermeidbar.

Die Terz 5/4: Signifikant werden die Schwebungen in der temperierten Stimmung erst bei der Terz. Hier beträgt zwischen c1=261.63 Hz und e1=329.63 Hz die Schwebungsfrequenz 10 Hz, welche die große temperierte Terz hörbar prägt und das Erlebnis der reinen Terz unmöglich macht (5. Partialton von c1=1308 Hz, 4. von e1=1318 Hz).

Die Sept 7/4: Die temperierte kleine Sept ist ein ganz anderes Intervall als die reine Sept 7/4. Sie liegt viel näher an der Sept 16/9 (Abstand nur 3.9c). Wenn es hier ein Zurecht-hören gibt, dann zu diesem Intervall. Nur noch theoretisch ist es richtig, dass z.B. in der Lage um c1 bis b1 zwischen der temperierten und der reinen Sept 7/4 eine 33 Hertz-Schwebung vorliegt, mithin ein eigener (Brumm-)Ton. Die Realisierung der Sept auf der temperierten Skala erlaubt die Sept 7/4 nicht mehr als Hörbezugspunkt, was bei der Terz noch gegeben war.

Der Tritonus 11/8, die Sexte 13/8: Dasselbe wie bei der Sept gilt wegen der starken Tonhöhenabweichung für diese Intervalle. Sie sind alle in der Temperierung nicht vorhanden.

Je höher wir die Partialtonreihe hinaufgehen, desto weniger auffällig wird das Erlebnis des akustisch reinen Intervalls: Beim Intervall 19/8, das extrem nah an der temperierten kleinen Dezime liegt, muss bei einem "Reinheitserlebnis" der 19. Partialton (!) des Grundtons mit dem 8. Ton das 19/8-Intervalls übereinstimmen. Bei partialtonreichen Instrumenten wie Blech- oder Doppelrohrblatt-Instrumenten könnte dieser Effekt der Reinheit auftreten, beim Klavier nur im allerersten Anfang eines fortissimo angeschlagenen Intervalls. Hieran sieht man, welche Grenzen einem mit reinen Intervallen arbeitenden Komponisten gesetzt sind.

Mitunter schlägt meine Musik über die Stränge und kommt zu "freien Verschmutzungen", z.B. in Ritus (1979 begonnen), woraus ich ein Beispiel anführen möchte. Die Flöte mokiert sich gewissermaßen über die rituellen Reinspiel-Versuche des Cellos:11

Abb. 11: Manfred Stahnke: Ritus für Flöte, Violoncello und Klavier (1979)

Diese Passage wird bestimmt durch die in Mikroschritten aufsteigende Spitzenmelodie des Cellos (unteres System): Das tief/c1 (als reiner Sept 7/4 über d) ist theoretisch (bei a=220 Hz): 220 x 2/3 (Unterquinte d) x 7/4 = 256.7 Hz. Es wird fortgesetzt durch das c1 als Bestandteil des reinen "Sexte 5/3, Sexte 8/5"-Akkords über G. Dieses zweite c1 ist 27.3c höher als das vorige, in Hz: 220 x 4/9 (Unternone G) x 5/3 x 8/5 = 260.7 Hz. Im Takt 36 folgt ein um 21.8c höheres c1, das von den Intervallen Quarte 4/3, Sexte 8/5 herrührt: 220 x 3/4 (Unterquarte) x 8/5 = 264 Hz.

Diese schleichende Mikrotonlinie aufwärts lässt zusammen mit der Flöte einige exotische Intervalle entstehen, darunter einige Fast-Oktaven, -Quinten, -Quarten; z.B. wird im Takt 36 durch das Hochtreiben des Flöten-as1 (das melodiebedingt ist) die schmutzige Oktave ahoch/as1 erzielt. Das temperierte as1 im Takt 37/38 wird eine unsaubere Quarte mit dem dis (als Terz 5/4 über H) des Cellos ergeben.

Ich bin sicher ein wenig belästigend auf die Mathematik hinter meinen Mikrotönen eingegangen. Jetzt könnte der Leser ein großes Kapitel über die möglichen Inhalte der Musik erwarten, die dieses Konzept erzeugt. Gewiss könnte ich sprechen über Licht und Dunkel, über Komik oder Groteske in Der Untergang des Hauses Usher, in Wahnsinn, das ist die Seele der Handlung, im 2. Requiem-Streichquartett. Aber ich scheue mich vor blumigen Wörtern.

Lieber übergebe ich zum Schluss das Wort an E.T.A. Hoffmann, der in den Serapionsbrüdern12 über Naturtöne schreibt:

Oft konnte ich genau das tiefe F mit der angeschlagenen Quinte C unterscheiden, oft erklang sogar die kleine Terz Es, so dass der schneidende Septimenakkord in den Tönen der tiefsten Klage meine Brust mit einer das Innerste durchdringenden Wehmut, ja mit Entsetzen erfüllte.


1 György Ligeti, Passacaglia ungherese, Cembalo solo, Schott-International, Mainz 1978, Takt 3-4

2 aus Takt 67

3 Anmerkung 1999: Inzwischen habe ich im Zuge der sog. "historisch informierten Aufführungspraxis" z.B. auch Haydn in reiner, nicht-temperierter Stimmung gehört.

4 MS, "Gedanken zu Harry Partch", in: Neuland 2, Ansätze zur Musik der Gegenwart, hrsg. von Herbert Henck, Bergisch Gladbach 1981/82, S.243-251. Auch im vorliegenden Band.

5 MS, "Zwei Blumen der reinen Stimmung im 20. Jahrhundert: Harry Partch und Gérard Grisey", in: Komposition als Kommunikation. Zur Musik des 20. Jahrhunderts, hrsg. von C. Floros etc., Peter Lang, Frankfurt 2001, S.369-389. Auch im vorliegenden Band.

6 Ich setzte mich später in einem Artikel mit Gérard Grisey auseinander und fand einen sehr ähnlichen Ansatz der vereinfachten Darstellung von Naturtonreihen, siehe MS, "Die Schwelle des Hörens: 'Liminales' Denken bei Gérard Grisey", in: ÖMZ 6/1999 S.21f. Allerdings tendierte ich in späteren Kompositionen immer wieder zu Zusatzzeichen, etwa "-" für Naturterzen, oder Vierteltonzeichen für den 11. Naturton.

7 MS, Wahnsinn, das ist die Seele der Handlung , für weibliche Stimme, Streichquartett und Tontechnik, Auftrag Theater Braunschweig und Carla Henius, UA Lübeck, Braunschweig und Gelsenkirchen 1981, Stahnke-Verlag ms@manfred-stahnke.de, Partitur S. 18

8 MS, 2. Streichquartett "Requiem für S." (1981), Stahnke-Verlag ms@manfred-stahnke.de, Partitur S.16, 1.Violine

9 MS, Der Untergang des Hauses Usher, Kammeroper, UA Kiel 1981, Ricordi-Verlag, Partitur S.4 , Takte 2839, Sopran (Madeline) und naturrein gestimmte Harfe

10 Anmerkung 2000: Aber gerade dieses Instrument Partch's gibt den besten Hinweis auf sein Denken, hier liegt Partch in nucleo.

11 MS, Ritus für Flöte, Violoncello und Klavier, Heinrichshofen's Verlag, Partitur S.4 Takt 35-38

12 E.T.A. Hoffmann, Die Serapionsbrüder: Die Automate. Dieses Zitat zuerst in "Allgemeine musikalische Zeitung", Breitkopf und Härtel, Leipzig 9.2.1814, S.100

Gedanken zu Harry Partch

Für den Pianisten Herbert Henck geschrieben, der damals gerade seinen privaten Verlag "Neuland" gegründet hatte und bis heute extrem an neuen Denkentwicklungen interessiert ist. November 1980, redigiert 2016

1979/80 studierte ich bei Ben Johnston, einem Freund des inzwischen verstorbenen amerikanischen Harmonikers Harry Partch, und lernte dessen Musik und Theorie intensiv kennen. Wer Partch's Musik hört, kann sich kaum dem eigentümlichen Reiz seiner Mikro-Harmonik entziehen. Wie sie aber zustande kommt, bleibt uns zunächst verborgen. Es gibt bisher keine Notenschrift für diese Musik und auch sonst kaum Brücken, die uns Partch näher bringen könnten. Partch selbst legte Wert auf den Abbruch der Brücken zu Europa. Vielleicht aber hat er (mit Absicht?) einige vergessen oder nicht gründlich genug abgetragen.

Ich werde in diesen knappen Anmerkungen zu Harry Partch versuchen, uns seine Musik in Noten erfahrbar zu machen. Dieses Unternehmen erscheint, wenn wir unsere traditionelle Notenschrift verwenden wollen, zunächst absurd angesichts der 43 Töne pro Oktave bei Partch. Da Partch aber bei näherem Hinsehen uns bekannte Akkorde zum Ausgangspunkt seiner Harmonik nahm, liegt nichts näher, als diese Akkorde auf eine uns bekannte Weise zu notieren. Allerdings werden wir zu berücksichtigen haben, dass Partch 1. nicht-temperierte Intervalle wollte, 2. seine Harmonik bis hin zum für uns exotischen Intervall 11/8 erweiterte (dem "Natur-Tritonus").

Nach meinem Vorschlag einer Partch-Notation werden wir die Frage aufwerfen können, wie groß tatsächlich der Abstand zwischen Partch's Harmonik und jener westlicher Prägung ist, ob hier ein wesensmäßiger Unterschied oder nur ein gradueller vorliegt.

Abschließend werden wir einige fragmentarische Gedanken anfügen zum Problem, wieweit das Ohr Partch folgen kann und wieweit Partch seine Harmonik mit seinen selbstgebauten Instrumenten zu realisieren vermochte.

Gewiss hat Partch uns Hindernisse aufgebaut auf dem Weg in sein privates Labyrinth. Andererseits bietet er Wege an in Form von zahlreichen Hinweisen auf europäisches musiktheoretisches Denken von den Griechen bis zu Arthur von Oettingen.

Harry Partch, der komponierende Hobo und bastelnde Philosoph, lebte von 1901 bis 1974. Die erste deutsche Aufführung eines seiner Werke mit selbstgebauten Instrumenten (The Bewitched) fand erst 1980 in Berlin statt. Was wollte Partch, der sein Leben lang als Erzhasser westeuropäischer Musikkultur auftrat und doch einen großen Teil seiner Ideen aus ihr ableitete?

Partch berichtet über sein Denken umfassend in seinem Buch "Genesis of a Music".13 Schon der Titel gibt einigen Aufschluss: Er lautet nicht etwa "Genesis of a New Music"; denn als neu sieht Partch die Prinzipien der reinen Stimmung und des "corporealism" nicht an. Partch's Corporealismus meint emotionale "Greifbarkeit" und lehnt die westliche "abstrakte" Musik ab; wir kommen darauf zurück.

Just how old this 'new' philosophy actually is has since been a continual revelation to me.14

Partch vermied es auch, die reine Stimmung, sein Markenzeichen, unter dem er in Amerika mittlerweile erstaunlich bekannt ist, im Buchtitel hervorzuheben.

Wir werden sehen, dass es ihm durchaus nicht nur um reine, einfache Intervalle ging. "Genesis of a Music" meint das Erfinden einer Musik (von vielen möglichen) im Gegensatz zum Erfinden im Rahmen einer bestehenden Musikkultur.

Mine is a procedure more of antithesis than of simple modification.15

The creative individual, in developing the man-made ingredients and in examining the God-given, finds the way to a special kind of truth.16

Als "gottgegeben" sieht Partch nur zweierlei: 1. die Fähigkeit eines Körpers zu vibrieren und dadurch Klang zu erzeugen, 2. den Mechanismus des menschlichen Ohres, diesen Klang zu registrieren. Alles andere: Skalen, Instrumente und die Theorie dahinter, sei vom Menschen gemacht und müsse immer neu hinterfragt werden. Keineswegs meint Partch, die reinen Intervalle seien gottgegeben, oder gar, seine reine Stimmung sei der Zwölftontemperierung (gegen die er vornehmlich kämpft) überlegen.

Music systems are made valid - and workable by significant music.17

Equal Temperament has proved "practicable" simply because the music written for its instruments is significant.18

Wir verstehen Partch falsch, wenn wir meinen, er denke nur in Akkorden mit einfachen Intervall-Proportionen. Er geht im Gegenteil mitunter von außerordentlich komplexen Verhältnissen aus, z.B. gleichzeitig erklingenden Tönen im Verhältnis 55/54 zueinander.19 Die weitaus größte Zahl der 340 in seinem System vorkommenden Intervalle ist ähnlich komplex. Partch bezeichnete sein System als ein "Spiel von relativer Konsonanz gegen relative Dissonanz".20 Hierin, und nicht im möglichen autistischen Geklingel reiner Intervalle, liegt der exotische Reiz von Partch's Kompositionen.

An diesem Punkt wird es nötig, in die Einzelheiten der Partch'schen Skala zu gehen und Fragen der klanglichen Realisierung anzuschneiden. Wir können hier keine ausführliche Darstellung des Systems und der Partch'schen Instrumente geben. Um aber die vielleicht zukunftweisenden Möglichkeiten aufzuzeigen und sie gleichzeitig vor gewissen Illusionen Partch's in Schutz zu nehmen, müssen wir wenigstens Umrisse andeuten.

Zunächst gilt es festzuhalten, dass Partch keine Musik schreiben wollte, deren Fremdartigkeit Selbstzweck ist. Partch's Skala aus 43 Tönen pro Oktave steht im Dienst der Idee Corporealismus. Seine Musik baue, so Partch, auf "vokalisierten Wörtern" auf, deren Zweck der Transport von Bedeutung sei.21 Sie habe Beziehung zu "einer Zeit und einem Ort, einem Hier und Jetzt".22 Sie suggeriere "wirkliche Identitäten, wirkliche menschliche Situationen".23 Partch bezieht sich hierbei auf alte Musikkulturen (er erwähnt die chinesische, altgriechische, arabische, indische), wo "überall Musik physisch verbunden war mit Dichtung oder Tanz". Partch's Diskussion z.B. der Florentiner Camerata als Reaktion gegen die "Wortverrenkungen der restriktiven liturgischen Polyphonie",24 oder des Gluck'schen Kampfes gegen Virtuosenmätzchen zeigt, dass er seine Idee des Corporealismus auf eine breite Basis zu stellen vermag. Auch Neueres, wie Mahlers Lied von der Erde und Schönbergs Pierrot lunaire sieht er einem corporealen Prinzip verpflichtet. Angesichts von Schönbergs sonstigem "Abstraktionismus" müsse der Pierrot aber eher als ein "schrulliges Abenteuer" angesehen werden.25

Partch erwähnt in diesem Zusammenhang auch amerikanische Pop-Musik, die "trotz mancher Unzulänglichkeiten nichts einem halbgebildeten und akademischen Europäismus" verdanke.26

From one standpoint the twentieth century is a fair historic duplicate of the eleventh. At that time the standard and approved ecclesiastical expression failed to satisfy an earthly this-time-and-this-place musical hunger; result: the troubadour...27

Partch selbst zog viele Jahre als fahrender Sänger durch die U.S.A. und begleitete sich dabei auf seiner "Adapted Viola", einer Viola mit Violoncellohals.

Diese knappen Anmerkungen zum Corporealismus Partch's mögen ein Hinweis darauf sein, dass wir nicht den ganzen Partch beschrieben haben, wenn wir uns seinem Tonsystem und seinen Instrumenten zuwenden.

Eine der größten Schwierigkeiten, Partch's System zu verstehen, liegt darin, dass wir nicht an seine proportionale Denkweise und an die teilweise in seinen Werken praktizierte proportionale Schrift gewöhnt sind. Eine Akkordfortschreitung notiert er z.B. so:

Partch denkt in harmonischen Proportionen, nicht in uns geläufigen Notennamen. So heißt der Grundton seines Systems nicht G (392 Hertz), sondern "1/1", "Prime Unity". Ganz wesentlich ist, dass Partch das direkte Hören reiner Intervalle will, nicht ein korrumpiertes Hören, das für echt hält, was verstimmt ist (wie in der Zwölftontemperierung).

Falsch wäre es anzunehmen, Partch's System beruhe auf der Darstellung von Naturtonreihen, auch wenn er deren Proportionen bis zur Zahl 11 verwendet. Partch meint, das Ohr sei von Partialtönen als solchen unbeeindruckt, es nehme aber Intervalle mit harmonischen Proportionen als etwas Besonderes wahr.28