3Gernot Böhme
Leib: Die Natur, die wir selbst sind
Suhrkamp
Wenn im Titel dieses Buches Leib als die Natur, die wir selbst sind, bezeichnet wird, so mag dies anstößig wirken. In jedem Fall enthält es ein Paradox: Es wird hier zusammengebracht, was eigentlich auf die zwei Seiten einer Dichotomie zu verteilen ist, nämlich der Dichotomie zwischen dem Aktiven und dem Pathischen. Wir sind uns selbst als Natur gegeben, Natursein geschieht uns. Der Begriff des Selbstseins dagegen suggeriert eine Aktivität, unterstellt, dass, worum es dabei geht, von einem Selbst gestaltet, wenn nicht gar zu verantworten ist. Dieses Paradox besteht darin, dass wir in unser bewusstes Verhalten zu uns selbst unser Natursein aufnehmen, also etwas, über das wir nicht verfügen können. Dieses Paradox beschreibt aber sehr gut unsere Situation, die existentielle Seinweise. Sie ist als solche in der philosophischen Anthropologie durchaus anerkannt. Etwa bei Helmuth Plessner mit der Exzentrizität unseres Daseins; bei Sartre mit der Formel, dass wir sind, was wir nicht sind, und nicht sind, was wir sind; bei mir in meiner ersten Arbeit zur Anthropologie[1] mit dem Begriff des Risses im Sein. Man könnte sogar sagen, dass in der uralten, auf Aristoteles zurückgehenden Definition des Menschen als zoon logon echon oder lateinisch als animal rationale ebenfalls eine paradoxe Definition des Menschseins gegeben wurde. Ich stelle mich mit meiner Definition des Leibes durchaus in diese Tradition. Es liegt mir nur daran herauszuarbeiten, dass wir, indem wir uns selbst gegeben sind, mit uns qua Natur zu tun haben – um damit in gewisser Weise die bisher existierende Leibphilosophie zu korrigieren oder wenigstens doch zu ergänzen. Ebenso gilt es, den heute aktuellen Diskurs über Natur zu korrigieren beziehungsweise zu ergänzen – nämlich dahingehend, dass wir in unserer Leiberfahrung mit uns selbst qua Natur zu tun haben, und das heißt für den Naturdiskurs: dass wir Natur keineswegs bloß als etwas Äußerliches kennen, sondern sie vielmehr auch quasi von innen, nämlich in unserer Selbsterfahrung, kennenlernen.
10Durch die Formulierung kennenlernen deute ich bereits an, dass durch die Definition Leib: die Natur, die wir selbst sind sehr wohl Leib bestimmt ist, aber keineswegs als Faktum, sondern vielmehr als Aufgabe. Sowohl das Natur-selbst-Sein versteht sich nicht von selbst, ebenso nicht, Natur quasi von innen beziehungsweise in Selbsterfahrung kennenzulernen. Zwar sind wir von gewissen leiblichen Regungen wie dem Schmerz unausweichlich betroffen, und wir erfahren diese Regungen als aus einem Grunde stammend, den wir zunächst und zumeist nicht selbst sind, und doch sind wir eben unausweichlich betroffen, weil solche Regungen, insbesondere der Schmerz, uns gerade anzeigen, dass, was uns da trifft – so fremd und lästig es gerade sein mag, eben zu uns gehört, uns zu eigen ist.
Es geht also im Folgenden einerseits um den Leib als Naturerfahrung und andererseits um die Einführung des Leibbegriffs in den Diskurs über die Natur. Zunächst zu Ersterem.
Es ist erstaunlich, dass in der mittlerweile ausgearbeiteten und wirkungsvollen Phänomenologie menschlicher Leiblichkeit das Natursein des Menschen nicht thematisiert wurde. Das mag, wie bei Hermann Schmitz, ein bewusstes Ausweichen sein – er wollte nicht, dass seine Anthropologie in die Dichotomie von Natur und Geist zurückfiele. Es mag aber auch daran liegen, dass die Phänomenologie sich generell im Gegenzug zur Naturwissenschaft versteht und damit einer Thematisierung des menschlichen Leibes als Natur misstraut, weil damit die Gefahr gegeben wäre, ihn doch wieder als Gegenstand der Naturwissenschaft, nämlich als Organismus, zu behandeln. Folge dieser Vermeidung des Naturbegriffs in der Leibphilosophie ist die erstaunliche Tatsache, dass die Geschlechtlichkeit in dieser Philosophie praktisch keine Rolle spielt. Insofern ist die Arbeit von Ute Gahlings über die Phänomenologie weiblicher Leiberfahrungen[2] ein ganz wesentliches Korrektiv.
Wenn ich sagte praktisch keine Rolle spielt, so weil es in Merleau-Pontys Buch Phänomenologie der Wahrnehmung das Kapitel V »Der Leib als geschlechtliches Sein« gibt und es ja gerade als eine der wesentlichen Errungenschaften Merleau-Pontys gilt, von der Inkarnation des Ich beziehungsweise des Subjekts Kenntnis zu neh11men.[3] Diese Inkarnation hat unter dem Titel embodiment geradezu einen Siegeszug um die ganze Welt vollbracht und vertritt oder besser gesagt: verdrängt dadurch die Thematisierung des Leibes als solchen.[4] Der Grund dafür, dass Merleau-Ponty den Leib in der einseitigen und damit unzureichenden Weise der Inkarnation des Ich entdeckt, liegt in der – für einen französischen Philosophen typischen – vorausgesetzten Selbstsicherheit des Ich, des Ich-denke, das heißt in seinem Kartesianismus – oder allgemeiner gesehen: in dem Vorrang, den man dem Handeln bis dato – oder sagen wir besser bis zu Hermann Schmitz:[5] in der philosophischen Anthropologie zuschrieb. Geschlechtlichkeit wird deshalb von Merleau-Ponty vom Bewusstsein her verstanden, und Bewusstsein ist für ihn mit Edmund Husserl immer Bewusstsein von etwas, also intentional. Embodiment ist damit eine Weise, wie Bewusstsein sich sinnlich in die Welt der Gegenständlichkeit ausstreckt. Das ist die Inkarnation: »Der Begierde aber eignet ein Verstehen, das ›blindlings‹ Körper mit Körper verbindet. So ist selbst die Geschlechtlichkeit, die man doch lange genug als typisches Beispiel einer bloßen Körperfunktion betrachtet hat, keineswegs ein peripherer Automatismus, sondern Intentionalität, die der Bewegung der Existenz selbst folgt […].«[6] Geschlechtlichkeit wird also von Merleau-Ponty durchweg von der Begierde her verstanden, das heißt einem aktiven Zugriff auf den Anderen. Es entgeht ihm dabei die Selbsterfahrung im leiblichen Spüren, also das Pathische. Der Leib als solcher taucht dabei gar nicht auf, allenfalls noch bei der Behandlung der Exhibition, in der man quasi seine eigene Subjekthaftigkeit zurückstellt, um den anderen Menschen zu faszinieren. Auch hier geht es ihm um eine Strategie, also noch um verdecktes Handeln, bei dem man durch Verführung sich »dem anderen Menschen widerstandslos ausliefern [will], so daß es der Andere sein wird, der ihm zum Sklaven verfällt«.[7] 12Wie Sartre in Das Sein und das Nichts[8] interpretiert er die Situation hegelsch als Herr/Knecht-Dialektik, als Auseinandersetzung zweier Subjekte.
Man entgeht dieser Dialektik und damit der Verdeckung der Leiblichkeit durch die Strategie der Inkarnation nur, wenn man in der Analyse nicht das Subjekt, das Ich, den Willen schlicht voraussetzt, sondern vielmehr umgekehrt, die Etablierung einer Ich-Instanz als Ausdifferenzierung aus einer ursprünglichen Selbstgegebenheit, nämlich der Selbstgegebenheit qua Leib herleitet.[9] Der Leib ist die Natur, die uns im leiblichen Spüren gegeben ist. Dieses Spüren ist die Erfahrung von Natur, nämlich von etwas, das mir gegeben ist und das als etwas, was von selbst da ist (die Griechen kannten das automaton als Kennzeichen der Natur), das aber – wie das Beispiel Schmerz zeigt – trotz seines fremden und befremdlichen Charakters seine Mir-Zugehörigkeit signalisiert. Die eigene Natur wird also in betroffener Selbstgegebenheit erfahren. Und allerdings, was da erfahren wird, ist durchaus mein Organismus, aber nicht, wie ich ihn in gegenständlicher Kenntnis konstatieren kann, sondern wie er sich mir in leiblichen Regungen aufdrängt.
Auch bei Hermann Schmitz, dessen Leibphänomenologie wohl im weltweiten Vergleich ausgeführt ist wie keine andere, hat zwar die Analyse von Vorgängen, die eindeutig zu uns als Lebewesen gehören, ihren Platz. Gleichwohl wird sie keineswegs so geführt, dass sie als Erfahrung der Natur, die wir selbst sind, deutlich würden, geschweige denn als Lebensvollzüge, die zu uns in unserem Sein in der äußeren Natur und mit der äußeren Natur gehören. So etwa beim Thema Atmen. Für Schmitz ist das Atmen – in Erinnerung an Goethe als systole und diastole analysiert – ein Phänomen der Dynamik leiblicher Ökonomie.[10] Das heißt also: das Atmen wird beschrieben als ein Spiel innerhalb der Polarität von Enge und Weite, nämlich als jeweiliges Verhältnis von Spannung und Schwellung. So ist das Ausatmen beispielsweise ein »gerichtetes Vermitteln 13von Enge an Weite«.[11] Kein Wort dazu, dass man im Atmen das eigene Natursein erfährt. So kann man beispielsweise nach langem Ausatmen gewissermaßen am Tiefpunkt der Atmung erfahren, wie das Atmen von selbst wieder einsetzt. Die Erfahrung dieses von selbst ist, um es noch einmal mit den Griechen zu sagen, die Erfahrung des automaton, und das heißt also die Erfahrung, dass unser Sein qua Leben von selbst immer wieder einsetzt und dass wir so von der Natur getragen sind. Kein Wort auch bei Schmitz, dass das Atmen eine ständige Auseinandersetzung mit der Natur, die wir nicht sind, nämlich der uns umgebenden Luft ist. Nach Paracelsus sind wir bekanntlich Luftwesen, nämlich Lebewesen, die im Medium der Luft leben. Allerdings wird im alltäglichen Leben dieses Leben mit der Luft und die Angewiesenheit auf die Luft nicht spürbar. Sie ist – wie Heidegger sagen würde – immer unauffällig zu handen. Das kann sich aber durchaus ändern, und die Luft, die wir einatmen, kann erfrischend oder stickig wirken und uns etwa in Smoglagen das Atmen wirklich schwer machen. In der Regel bedarf es bewusster Atemübungen, um sich im Atmen des In- und Mitseins mit der Luft zu versichern. Das kann beispielsweise geschehen, indem man die Lippen anfeuchtet und so den Luftstrom im Atmen spürt. Es kann aber auch geschehen, indem man explizit darauf achtet, wie die Luft, die wir atmen, in affektiver Betroffenheit wahrgenommen wird – ich erwähnte schon die frische und die stickige Luft –, insbesondere ist aber hier an das Riechen zu denken. Riechend können wir uns geradezu im Dunstkreis, der uns umgibt, wie in einer Wolke verlieren.[12] Schließlich ist das Atmen als Erfahrung des Leibes als Ergänzung zu Hermann Schmitz’ Analyse, der mit seinem Leibinselkonzept den Leib grundsätzlich als opakes Volumen behandelt, zu ergänzen, dass im Atmen der Leib auch als Hohlraum oder als Mannigfaltigkeit von Hohlräumen erfahren werden kann.[13] 14In Analogie zu der Erfahrung der Luft im Atmen dürfte es sich lohnen, phänomenologische Untersuchungen dazu zu machen, wie wir in der Erfahrung unseres Leibes als der Natur, die wir selbst sind, zugleich auch das Wasser oder allgemeiner das Flüssige, das wir nicht selbst sind, erfahren. Es würde dabei um die mannigfaltigen Erfahrungen des Trinkens gehen, aber eben auch um das Schwimmen als spürbares Sein in einem natürlichen Medium.
So weit also zu der Forderung, in der Leibphänomenologie die Natur, die wir selbst sind, zu berücksichtigen. Und nun zu der Verortung des vorliegenden Buches im aktuellen Naturdiskurs.
Der Naturdiskurs, wie er uns gegenwärtig beschäftigt – und mit uns sind keineswegs bloß die Philosophinnen und Philosophen und die Gemeinde der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gemeint, sondern durchaus auch die Öffentlichkeit von Politik und Jurisprudenz –, nahm seinen Ausgang mit und in der Zeit von Jean-Jacques Rousseau und hatte seinen Grund in einem, mit Sigmund Freud gesprochen, Unbehagen in der Kultur.[14] Kunsthistoriker wie Matthias Eberle[15] gehen zeitlich noch ein Stück weiter zurück, wenn sie behaupten, dass Landschaft eine ästhetische Entdeckung des Stadtbürgers war, der, beengt nicht bloß durch die Mauern, sondern beengt durch die Menge sozialer Regelungen – von den rechtlichen über die Marktregeln, die ständischen Regeln, die Kleiderordnung, die strengen Zunftregeln –, Natur da draußen, vor den Mauern suchte. In jedem Fall kann man sagen, dass der Naturdiskurs, der uns beschäftigt, ein moderner Diskurs ist, nämlich wenn man als Moderne die Neuzeit bezeichnet. Dieser Diskurs verschärfte sich allerdings mit der industriellen Revolution, also etwa seit 1800, als nämlich Natur nicht mehr einfach als Reich der Freiheit im Gegensatz zum Bereich der Zivilisation verstanden werden konnte, sondern als menschliche Lebensgrundlage ins Bewusstsein trat. Es war die Hüttenrauch-Diskussion im 19. Jahrhundert, die zur Naturschutzbewegung, es war das Sterben der Wälder durch industriebedingte Versauerung der Luft und das Dahinschwinden der Ozonschicht durch FCKW-Emissionen 15(ab 1974) und die Erderwärmung durch CO2 (ab 1985),[16] was zur Klimadiskussion führte. Diese Diskussion führte zu der Einsicht, dass die Natur keineswegs ein unendliches Reservoir, insbesondere nicht ein sich selbst stabilisierendes System war, dem gegenüber die Einwirkungen des Menschen als ein durch Produktions- und Konsumformen organisiertes Kollektiv irrelevant waren. War mit Rousseau – aber auch, freilich im anderen Sinne, mit Hobbes – Natur im Gegensatz zu Zivilisation als ein hypothetisch angenommener Urzustand friedlichen Zusammenlebens beziehungsweise als ein Krieg aller gegen alle verstanden worden, so trat mit der neueren Phase des Diskurses etwa in der Mitte des 19. Jahrhundert die Natur als menschlicher Lebensraum in den Blick mit dem Resultat: dass es diesen Lebensraum zu schützen galt.
Man kann diese Phase auch als Phase des Diskurses über das Schwinden der Natur bezeichnen, und zwar nicht nur der faktischen Natur da draußen, sondern auch des Dahinschwindens des Naturbegriffs als einer kulturellen, nämlich normativen Ressource. Beides hängt zusammen, weil nämlich – freilich kurzsichtig – in der Kritik des menschlichen, des zivilisatorischen Verhaltens, dann aber der industriellen Ausbeutung von Natur die Natur da draußen als der Bereich galt, der von sich aus da ist und als solcher gut.[17] Angesichts dieser Diskurslage hat Rolf Peter Sieferle von der Krise der menschlichen Natur[18] geschrieben, hat Michel Serres einen Naturvertrag gefordert,[19] hat Klaus Michael Meyer-Abich an einen vergessenen Traum erinnert,[20] hat mein Bruder Hartmut Böhme von Aussichten der Natur gesprochen,[21] indem er dem Naturkonzept – jedenfalls in diesem Buch – nur als ästhetischem eine Chance gibt. 16Ich selbst habe mit dem Buch Die Natur vor uns[22] im Einklang mit Ernst Ulrich von Weizsäcker[23] mit einer Kehrtwende gegen Rousseau behauptet, dass Natur sowohl als menschlicher Lebensraum wie auch als Bestandteil menschlichen Selbstverständnisses als Aufgabe vor uns liegt. In jüngster Zeit haben nun wortgewaltige Autoren wie Bruno Latour und Philippe Descola versucht, den soeben geschilderten neuzeitlichen Naturdiskurs überhaupt zu kippen. Beiden ist gemeinsam, dass sie philosophierende Autoren sind, die aus der Ethnologie beziehungsweise der soziologisch orientierten Anthropologie stammen und deshalb – wohl methodisch der strukturalen Anthropologie eines Lévi-Strauss folgend – den Naturbegriff nicht für sich, sondern als Pol im Doppelbegriff Natur/Kultur behandeln. Freilich impliziert das – zumindest bei Bruno Latour, dessen historische Bildung bis zu Descartes, allenfalls noch bis zu Galilei zurückreicht – eine historische Kurzsichtigkeit. Denn wenn zwar auch ursprünglich – das heißt bei den Vorsokratikern – Natur qua Physis das Ganze des Seienden bezeichnete, so war doch seit dem Sophisten Antiphon – oder literarisch belegt seit Aristoteles – mit Natur ein Gegenbegriff zu Technik, Gesetzgebung, zu nomos als gesellschaftlicher Ordnung konzipiert. Das von Natur Seiende ist nach Aristoteles, was von selbst da ist und das Prinzip seiner Bewegung und Veränderung, also auch das Prinzip seiner Reproduktion, in sich trägt.[24] Das, was durch Technik da ist, dagegen bedarf des Menschen, nämlich insbesondere des Handwerkers oder des Techniten zu seiner Herstellung beziehungsweise Wiederherstellung. Latour war oder ist nun besonders stolz darauf, dass er meint, in Natur/Kultur das Prinzip der Moderne gefunden zu haben, um von daher uns, den Menschen der Moderne, vorzuwerfen, wir seien nie modern gewesen – nämlich weil wir immer schon Mischwesen oder Hybride zwischen Natur und Kultur hergestellt hätten, um sie aber gleichzeitig ideologisch als solche zu verschleiern.[25] Dabei übersieht er gänzlich, dass bereits die antike Unterscheidung von physe on, dem, was von Natur aus da ist, 17und techne on, dem, was durch menschliches Verhalten da ist, mitten durch den Menschen selbst hindurchgeht. Der Mensch ist sich selbst qua Natur gegeben, bildet sich aber in seinem Charakter und Verhalten als Kulturwesen aus.[26] Latour entgeht entsprechend auch gänzlich, dass es in dem Naturdiskurs der Moderne, insbesondere im Naturschutz nicht um den Schutz der Natur an sich ging, sondern vielmehr um Natur als menschlichem Lebensraum, das heißt die immer schon kulturell gestaltete Natur, nämlich die durch Forstwirtschaft und Ackerbau gestaltete Natur. Allenfalls in den USA, die ja in der Frühphase immer noch Natur als Wildnis vor Augen hatten, konnte etwa in der Naturphilosophie eines Emerson[27] Natur geschätzt werden als Bereich des von Menschenhand Unberührten.
Philippe Descola versucht nun, in seinem Buch aus der Perspektive der Ethnologie die Dichotomie Natur/Kultur als eine, im Weltmaßstab gesehen, Besonderheit der europäischen Zivilisation zu relativieren. Dabei übersieht er gänzlich, dass diese Zivilisation als technische Zivilisation quasi imperialistisch ist, das heißt heute den ganzen Globus überzieht und allenfalls regional beziehungsweise für die Feiertage der Mannigfaltigkeit der Kulturen noch Raum lässt.[28] Das Unglück ist nur, dass diese anderen, nichteuropäischen Kulturen gerade wegen des Mangels der Entgegensetzung von Natur und Kultur auch nicht die kritischen Ressourcen gegen die invasive Technisierung[29] entwickelt haben, die deren Siegeszug seit dem 18.,[30] spätestens seit dem 19. Jahrhundert begleitet haben.
Bruno Latour nun glaubt in seinem Buch Kampf um Gaia,[31] 18die Instabilität des Verhältnisses Natur/Kultur, die Aussichtslosigkeit des Ökologie-Diskurses, die »uns schier verrückt macht«,[32] im Blick auf das Gaia-Konzept von James Lovelock überschreiten zu können.[33] Gaia ist seit der griechischen Antike ein mythologischer Name für die Erde im Ganzen. So gesehen ist Latours Buch das Plädoyer dafür, sich nicht auf eine diffus unendliche Natur zu beziehen, sondern vielmehr auf den Teil der Natur, aus dem wir konkret leben, nämlich die Erde. Das klingt ganz vernünftig, ist aber verblüffend, weil er glaubt, dadurch den Naturbegriff überhaupt hinter sich lassen zu können. Insbesondere aber ist die vielleicht fruchtbare und empfehlenswerte Einschränkung des Interesses auf Natur qua Erde kurzsichtig, weil die Erde als Körper des Sonnensystems – und deshalb insbesondere in Bezug auf ihren Energiehaushalt von der Sonne abhängig – ein Teil des Kosmos ist und ihre kosmische Natur im Innern auch weiterhin birgt: Die Natur als menschlicher Lebensraum sind ja nur die ganz dünne Oberflächenschicht der Erde und die unteren Ebenen der Atmosphäre. Was die Erde als kosmisches Objekt darstellt, bekommen die Menschen immer wieder durch das zu spüren, was sie Naturkatastrophen nennen. Wenn Latour also quasi mit moralischer Geste eine Konzentration auf Erdpolitik fordert, so nimmt es doch wunder, dass er kein Wort darüber verliert, dass der Mensch längst durch Weltraumtechnologie in den Kosmos ausgreift und dass – zumindest in der Science-Fiction – Lebensräume auch außerhalb der Erde konzipiert werden.
Wenn Latour auch die Arbeit von Lovelock sehr ausführlich würdigt, so folgt er ihm doch gerade in dem entscheidenden Punkt nicht, nämlich dass die Erde eine Art Großlebewesen ist, eine sich selbst regulierende Ganzheit, deren Soll gerade darin besteht, den schmalen Spielraum im Spektrum der vielen Zustandsparameter (Durchschnittstemperatur, Zusammensetzung der Atmosphäre etc.) offenzuhalten, der auf der Erde – und das heißt hier: von der Tiefe des Meeres bis zu den niederen Schichten der Atmosphäre – Leben ermöglicht. Für Latour ist Gaia gerade kein Ganzes, sondern eine Mannigfaltigkeit von Rückkopplungsschleifen, die von Agenten in Gang gehalten werden und in ihrer Auseinandersetzung 19eine Evolution von Gaia vorantreiben. Dabei sind nach Latours Agency-Theorie Steine, Lebewesen, Menschen etc. in gleicher Weise Agenten und die Menschen nicht als Einzelne, sondern als technisch und wirtschaftlich organisiertes Kollektiv eine Wirkmacht, die sich als Gaia-gestaltende Rückkopplungsschleife auswirkt. Die Auseinandersetzung der verschiedenen Rückkopplungsschleifen beziehungsweise der sie vorantreibenden Wirkmächte sieht Latour nun im Anschluss an Carl Schmitt und dessen Definition des Politischen durch die Freund-Feind-Dichotomie nicht als Entgegensetzungen, sondern als Feindschaften. Deshalb läuft sein Buch, das in der deutschen Übersetzung noch relativ harmlos mit Kampf um Gaia betitelt ist, schließlich auf Krieg hinaus.[34] Freilich, sosehr sich Latour als Materialist gibt und sich explizit vom Idealisten Hegel absetzt,[35] ist der Kampf um Gaia, von dem er redet, letzten Endes ein ideologischer Krieg: Das Volk der »Erdverbundenen«,[36] deren Territorium nicht geographisch festzumachen ist, sondern aus Netzwerken besteht,[37] diese Kriegspartei der »Gaianer« also, zu der sich Latour selbst rechnet, sieht ihren Feind in den »Menschen«,[38] die sich halbmodern noch für die Natur und ihre Erhaltung einsetzen. Der Kampf um Gaia wird also als literarischer Krieg ausgefochten, und Bruno Latours Buch ist ganz selbstreflexiv ein Instrument in diesem Krieg.
Um mit dieser Einleitung zum Schluss zu kommen: Was hat nun die Durchsicht der Leibphänomenologie und des modernen Naturdiskurses mit der Frage, ob darin jeweils Leib als die Natur, die wir selbst sind, eine Rolle spielt, erbracht, und was könnte die Zusammenführung beider Diskurse, die in diesem Buch versucht wird, für Folgen haben?
In dem ökologisch motivierten modernen Naturdiskurs kommt die Natur des Menschen, insofern wir sie qua Leib selbst sind, nicht vor. Wenn es um den Menschen geht, der in der Natur ist, so wird 20er als Organismus unter anderen behandelt, der allerdings, ökonomisch und technisch organisiert, eine bedeutende Wirkmacht darstellt. Dies führt, insofern diese Wirkmacht die menschliche Lebensgrundlage Natur zu zerstören droht beziehungsweise die Rückkopplungsschleifen, die im Ganzen Gaia ausmachen, aus dem Gleichgewicht zu bringen drohen, jedoch lediglich zum politisch-juristischen und ökonomisch schonenden Umgang mit der Natur qua Erde. Das geht über den traditionellen Naturschutz, über die Definition von Reservaten und Grenzwerten, nicht hinaus. Auch die neuesten Berichte an den Club of Rome sind hier keine Ausnahme.[39] Eine wirkliche Alternative innerhalb des modernen Naturdiskurses stellt das schon genannte Buch von Klaus Michael Meyer-Abich dar. Darin findet sich auch eine Anerkennung meiner Vorschläge, »auf menschliche Weise Natur zu sein«.[40] Freilich überzieht er seine eigene Kategorie des Mitseins, wenn er meine Rede von der außermenschlichen Natur als der Natur, die wir nicht selbst sind, kritisiert: »Tier und Blume, Baum und Stein sind nicht die Natur, die wir nicht sind, sondern wir sind auch Tiere, Pflanzen und Elemente.«[41]
Im Leibdiskurs – so nenne ich hier einmal die Phänomenologie der menschlichen Leiblichkeit – kommt die Natur und damit das menschliche Natursein überhaupt nicht vor. Die Phänomenologie hat die Behandlung der menschlichen Natur faktisch der Naturwissenschaft überlassen, von der sie sich aber gerade qua Phänomenologie entschieden absetzt. Dabei begibt sie sich nicht nur der Chance, die Regung, die im leiblichen Spüren aufsteigt, als Erfahrung der eigenen Natur zu verstehen, sondern darüber hinaus der Entwicklung einer allgemeinen Phänomenologie der Natur, wie sie mit Goethes Naturwissenschaft ihren Anfang nahm.[42]
21Die Folgen einer Zusammenführung beider Diskurse liegen jedoch nicht nur vornehmlich auf der kognitiven Ebene, sondern betreffen die Praxis des Umgangs sowohl mit uns selbst als auch mit der äußeren Natur. Natur ist in beiden Bereichen kein Faktum, das sich konstatieren und beschreiben ließe, sondern vielmehr eine Aufgabe, die zunächst entwickelt werden und dann in der Praxis eingeübt werden muss.
Zunächst zur Natur im menschlichen Selbstverständnis: Seit der klassischen Definition des Menschen als animal rationale, also als ein Lebewesen, das Verstand hat, gehört ja das Natursein des Menschen eigentlich zu seinem Selbstverständnis. Doch eben nur eigentlich, denn nicht wirklich explizit und vor allem nicht praktiziert. Schon die Definition selbst in der klassischen Form des genus proximum und der differentia specifica nennt die Rationalität als dasjenige, was den Menschen qua Menschen ausmacht und ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Das kann in der Praxis bedeuten und hat bis weit in die Pädagogik hinein in der Praxis auch wirklich bedeutet: die Disziplinierung dessen, was am Menschen Natur ist, seine Verdrängung und die mögliche Emanzipation von der Natur. Die Leibphänomenologie und insbesondere das Verständnis des Leibes als die Natur, die wir selbst sind, verlangt dagegen eine Praxis, in der dieses Natursein des Menschen bewusst übernommen und eingeübt wird. Dadurch erhalten Lebensvollzüge wie Atmen, Sich-Ernähren, Gehen oder Schwimmen ein ganz anderes Gewicht: In ihnen vollzieht sich, was es heißt, ein Mensch zu sein. Doch was bedeutet das für die Beziehung des Menschen zur äußeren Natur? Handelt es sich bei der expliziten Übernahme des eigenen Naturseins etwa bloß um Selbstbildung und den Versuch, gut Mensch zu sein?[43] Die Konsequenzen in der Beziehung zur äußeren Natur zeichnen sich in Meyer-Abichs Kategorie des Mitseins schon – wenn vielleicht auch in zu netter Weise – ab. Tatsächlich geht es darum, eine neue Kultur des Umgangs mit der äußeren Natur und den anderen Lebewesen, die wir nicht sind, zu entwickeln. Doch wichtiger scheint mir dagegen die Kategorie des Inseins. Der Naturdiskurs, insofern er ökologisch motiviert ist, ver22langt ja gerade danach ernst zu nehmen, dass der Mensch in seiner Natürlichkeit in der Natur ist. Das heißt, es geht nicht um Natur oder Umwelt überhaupt, sondern um die menschliche Umwelt. Das bedeutet aber, dass unter ökologischen Gesichtspunkten die Natur keineswegs einfach hingenommen und gar geschont werden muss als das, was sie von sich aus ist. Vielmehr geht es um ihre Gestaltung als ein menschlicher Lebensraum. Das heißt aber nicht nur, dass die Natur als Umgebung des Menschen von der Art sein muss, dass er sein Leben darin vollziehen und reproduzieren kann, sondern auch, dass er sich darin wohl befindet. Daraus folgen zwei Maximen für den Umgang mit Natur als menschlichem Lebensraum: Erstens muss der Mensch in diesem Lebensraum seine eigene Reproduktion so einrichten, dass er zugleich mit ihr die umgebende Natur als menschlichen Lebensraum reproduziert. Man nennt das heute auch das Prinzip der Nachhaltigkeit, obgleich es seinen Ursprung im traditionell agrikulturellen und forstwirtschaftlichen Umgang mit der Natur hat.[44] Das zweite Prinzip ist das der ökologischen Naturästhetik. Hier wird ernst genommen, dass wir in der Erfahrung der Natur, die wir selbst sind, uns zugleich in bestimmter Weise als in einer Umgebung anwesend erfahren – oder unter Verwendung des Begriffs der Befindlichkeit: In unserem Befinden erfahren wir, in welcher Umgebung wir uns befinden.[45] Die Einführung des Begriffs Leib in den Naturdiskurs verlangt also eine Humanisierung der Natur als Umwelt.