Der Dialog zwischen den Natur- und den Kulturwissenschaften hat in den vergangenen Jahren an Intensität gewonnen, wobei die Hirnforschung einen zentralen Platz in der disziplinenübergreifenden Diskussion einnimmt. Es sind die mit der Hirnforschung verbundenen Fragen nach Bewußtsein, Identität und Selbstbestimmtheit des Menschen, denen sich der vorliegende Aufsatz widmet. Der Autor führt in das Feld der Neurobiologie ein und zeigt zugleich Chancen und Grenzen des Forschungsgebietes auf. Dabei entstehen zahlreiche Anknüpfungspunkte an die geisteswissenschaftliche Diskussion.

Wolf Singer ist Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Von ihm sind im Suhrkamp Verlag außerdem erschienen: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung (stw 1596) sowie Hirnforschung und Meditation. Ein Dialog (eu 4, zusammen mit Matthieu Ricard).

Wolf Singer

Der Beobachter im Gehirn

Essays zur Hirnforschung

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002

Der vorliegende Text folgt der 7. Auflage

des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1571

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag nach Entwürfen
von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-73210-6

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Vorwort

Auf dem Weg nach innen.
50 Jahre Hirnforschung in der Max-Planck-Gesellschaft

Das Jahrzehnt des Gehirns

Was kann ein Mensch wann lernen?

Vom Gehirn zum Bewußtsein

Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen.
Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft

Neurobiologische Anmerkungen zum Konstruktivismus-Diskurs

Hirnentwicklung und Umwelt

Hirnentwicklung oder die Suche nach Kohärenz
Determinanten der Hirnentwicklung

Der Beobachter im Gehirn

Im Grunde nichts Neues

Neugier als Verpflichtung
Warum der Mensch unentwegt weiterforschen muß

Für und wider die Natur
Was weiß die Wissenschaft, und was darf sie wissen?

Die Architektur des Gehirns als Modell für komplexe Stadtstrukturen?

Neurobiologische Anmerkungen zum Wesen und zur Notwendigkeit von Kunst

Literatur

Nachweise

7Vorwort

Die in diesem Band versammelten Texte verbindet kein Rahmenthema. Sie sind keine konzentrischen Annäherungsversuche an bestimmte Probleme und entfalten keine argumentativen Synergismen. Sie wurden nicht verfaßt, um in Abfolge gelesen zu werden. Was sie eint, ist das Anliegen, in Verschiedenem nach Bezügen zu suchen. Dahinter steht die Vermutung, daß die Phänomene der erfahrbaren Welt aus einem kontinuierlichen, evolutionären Prozeß hervorgegangen sind und deshalb trotz aller Unterschiede nicht gänzlich unverbunden sein können. Wir erfahren die Welt seit jeher auf vielfältige Weise, und die Bilder, die unsere Sinne vermitteln, decken sich nicht immer mit den Interpretationen, zu denen wir durch Experimentieren und Nachdenken gelangen. Durch die Ausweitung der analytischen Ansätze der Naturwissenschaften auf das Lebendige wurden diese Unterschiede zwischen subjektiver Welterfahrung und wissenschaftlichen Beschreibungssystemen besonders deutlich. Oft aber verweisen die naturwissenschaftlichen Erklärungsmodelle auch auf Gemeinsamkeiten, die unserer Primärerfahrung nicht zugänglich sind. Was uns als verschieden erscheint, beruht nicht selten auf denselben Prinzipien. Zu untersuchen, wie sich die Aussagen einer Wissensdisziplin, hier der Hirnforschung, zu anderen, lebensweltlichen Erfahrungsbereichen verhalten, ist das Anliegen der hier zusammengestellten Texte. Es handelt sich um eine Auswahl von Manuskripten, die meist in der Folge von Vorträgen entstanden sind. Mein Dank gilt deshalb den Initiatoren, die mich zu den interdisziplinären Veranstaltungen einluden und dazu brachten, das Gesagte zu Papier zu bringen.

Ein Literaturverzeichnis befindet sich am Ende des Bandes.

9Auf dem Weg nach innen

50 Jahre Hirnforschung
in der Max-Planck-Gesellschaft

Die Erforschung des menschlichen Gehirns ist ein eigentümliches, weil letztlich zirkuläres Unterfangen. Ein kognitives System versucht sich selbst zu ergründen, indem es sich im Spiegel naturwissenschaftlicher Beschreibungen betrachtet. Solange es nur um Erklärungsmodelle für sensorische oder motorische Leistungen geht, die sich auch an Tieren studieren lassen, gleichen die erkenntniskritischen Fragen denen der übrigen Wissensdisziplinen. Ganz anders jedoch, wenn es Ziel ist, Erklärungen für jene mentalen und psychischen Funktionen zu finden, die den Menschen ausmachen; wenn es um Erklärungsmodelle für die kognitiven Leistungen geht, die den Übergang von der biologischen zur kulturellen Evolution ermöglichten; wenn die Frage beantwortet werden soll, ob wir erklären können, wie aus dem Zusammenspiel von Nervenzellen, von materiellen Bausteinen also, mentale Phänomene hervorgehen – Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Aufmerksamkeit und Intentionen –, kurzum, wenn erklärt werden soll, wie Bewußtsein in die Welt kommt.

Die moderne Hirnforschung ist dabei, mit ihren analytischen Werkzeugen in diese innersten Sphären des Menschseins vorzudringen. Das Fortschreiten auf diesem Weg bewirkt tiefgreifende Veränderungen unseres Menschenbildes, folgenreichere vielleicht als die kopernikanische Wende und die Darwinsche Evolutionstheorie. Denn diesmal werden nicht mehr nur unser Ort im Kosmos und unsere biologische Bedingtheit hinterfragt, sondern die Begründung unserer Selbstwahrnehmung als freie, geistige Wesen. Dürfen wir diesen Weg weitergehen? Was gewinnen oder verlieren wir, wenn wir beschließen, innezuhalten? Können wir überhaupt noch innehalten, und wie, überhaupt, sind wir soweit gekommen, uns dieser Frage stellen zu müssen? Um Antworten auf diese drängenden Fragen vorzubereiten, ist es nützlich, die Motive und Mechanismen zu benennen, die das Fortschreiten bewirkt haben.

Da sich die Max-Planck-Gesellschaft als eine der institutionellen Verwalterinnen eben jenes Fortschreitens versteht, sollten Antworten in ihrer Geschichte zu finden sein – und da sie Geburtstag hat,10 will ich ihr die Lehren zum Geschenk machen, die ich als historischer Laie aus der Geschichte ihrer Hirnforschungsinstitute zu ziehen vermag.

Bis vor wenigen Dekaden war die Hirnforschung fast ausschließlich Domäne der Medizin. Diese war es auch, die mit besonderer Eindringlichkeit auf die materielle Bedingtheit mentaler Phänomene verwies und die Gegenthese zu herrschenden, dualistischen Positionen einforderte. Die Beobachtung von Patienten lehrte, daß Verletzungen des Gehirns mit selektiven Funktionsausfällen einhergehen, welche die höchsten kognitiven Leistungen mit einschließen. Läsionen können blind, taub, vergeßlich, antriebs- oder sprachlos machen oder zum Verlust der Fähigkeit führen, den emotionalen Ausdruck von Gesichtern zu erkennen, Freude und Trauer zu empfinden oder zwischen diesen Emotionen zu unterscheiden. Hirnorganische Veränderungen können sogar die Symptome psychiatrischer Krankheitsbilder hervorrufen, tiefste Depressionen oder kognitive Störungen, die zuweilen bis zum wahnhaften Verkennen der Wirklichkeit und zum Zerfall der Selbstwahrnehmung führen. Auf die organische Verursachung psychischer Phänomene verwiesen auch die Wirkung von Rauschgiften und die Vererblichkeit psychiatrischer Erkrankungen.

Die Mediziner waren also mit den engen Bezügen zwischen Gehirn und Psyche aufs beste vertraut, als sie sich zu Beginn dieses Jahrhunderts daran machten, das kranke Gehirn systematisch zu erforschen. Ob sie diese Einsichten mit herrschenden philosophischen und religiösen Überzeugungen in Konflikt sahen, geht aus den Quellen, die mir zur Verfügung standen, nicht hervor. Die Kollegen aus den geisteswissenschaftlichen Disziplinen schienen sich jedenfalls wenig mit diesen beunruhigenden Beobachtungen befaßt zu haben. Warum auch? Die Überzeugung, daß mentale Phänomene einen anderen ontologischen Status beanspruchen als biologische, hat sich unangefochten in allen abendländischen Denkmodellen behauptet. Zudem entspricht sie voll und ganz unserer Selbsterfahrung. Die beobachtete Abhängigkeit psychischer Phänomene von Hirnprozessen vermochte diese Position nicht zu erschüttern, da nicht erklärbar war, wie das eine das andere hervorbringen könnte. Noch 1872 prognostizierte Du Bois-Reymond anläßlich einer Festrede auf der Tagung der Naturforscher und Ärzte: »Ich werde jetzt, wie ich glaube, in sehr zwingender Weise dartun, daß nicht alleine bei dem heutigen Stand unserer Kenntnis das11 Bewußtsein aus seinen materiellen Bedingungen nicht erklärbar ist, was wohl jeder zugibt, sondern auch, daß es der Natur der Dinge nach aus diesen Bedingungen nie erklärbar sein wird.« Sein berühmtes: »Ignorabimus«. Doch in der Medizin dominierte damals wie heute die Pragmatik, und diese sollte auch das Programm der zukünftigen Hirnforschung diktieren. Emil Kraepelin, der Gründer der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, dem späteren MPI für Psychiatrie, formulierte das Programm so: »Unter den naturwissenschaftlich-medizinischen Aufgaben … dürfte es nicht allzuviele geben, die für das Wohl und Wehe des Menschen eine ähnliche Tragweite besitzen wie die Erforschung der Ursachen und des Wesens der Geistesstörungen. Die Tatsache, daß wir als Träger der seelischen Leistungen das Gehirn anzusehen berechtigt sind, … würde an sich schon genügen, um jedem Fortschritte in der Erkenntnis dieser Zusammenhänge größte Bedeutung zu sichern.«

Die Kühnheit dieser Vision läßt sich erst ermessen, wenn man die damals konkurrierenden Konzepte bedenkt und die aus unserer Sicht äußerst bescheidenen Werkzeuge in Betracht zieht.

Breuer hatte durch den Erfolg seiner Gesprächstherapie, die er an Berta Pappenheim, alias Anna O., erprobte, den Nachweis erbracht, daß sich schwere psychische Störungen ohne Eingriffe in somatische Prozesse auflösen lassen. Es genügte offenbar, dem Patienten die verursachenden psychischen Verletzungen im Kontext bewußten Erlebens erfahrbar zu machen. Anna O. litt an Hysterie, einer damals häufigen neurotischen Erkrankung, die sich in dramatischen psychischen und körperlichen Symptomen äußert. Damit war die Antithese zu Kraepelin formuliert. Nicht organische Prozesse, so Freud, waren die Verursacher psychischer Erkrankungen, sondern seelische Traumata, nicht die biologischen Erblasten, sondern die psychischen Verletzungen, erlitten in der empfindlichen Phase der Ich-Konstitution – Psychosen und Neurosen als Fehlleistungen der kulturellen, nicht der biologischen Evolution. Folgerichtig suchten nicht wenige Psychiater, auch solche mit schulmedizinischer Ausbildung, ihre Rückbindung in den Geistes- und Kulturwissenschaften. In weiten Bereichen der Psychiatrie mutierte der medizinische Diskurs zu einem philosophischen. Umgekehrt griffen die Geisteswissenschaften die tiefenpsychologischen Denkfiguren mit Verve auf. Karl Jaspers und Jacques Lacan, beide Psychiater, aber auch Binswanger, Merleau-Ponty und sogar Martin Heidegger12 verdienen in diesem Kontext Erwähnung. Die Gegenposition zur biologischen Psychiatrie war aus mehreren Gründen attraktiv: Sie erwies sich als vereinbar mit philosophischen Traditionen, sie entsprach dem Bedürfnis, Psychisches nicht mit Stofflichem verbunden zu sehen – und sie wies offenbar den Weg zu therapeutischen Erfolgen. Für geraume Zeit, und dies schließt die Jahre nach dem 2. Weltkrieg, und damit die Geburtsstunde der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) durchaus noch mit ein, war nicht entschieden, ob die Psyche samt ihren Erkrankungen den Geistes- oder den Naturwissenschaften zugeschrieben werden sollte.

Was also wußten und konnten die Hirnforscher zu Beginn dieses Jahrhunderts, als Oskar Vogt das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch und Emil Kraepelin die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, die ersten Hirnforschungsinstitute der Welt, gründeten? Wie das Evolutionsdiagramm (Seite 22/23) ausweist, waren diese Institute die direkten Vorläufer der ersten eigenen Hirnforschungsinstitute der MPG.

Das Kraepelinsche Institut war 1966 zum MPI für Psychiatrie geworden, das Berliner Hirnforschungsinstitut, vor dem Krieg das weltweit größte, wurde, als sich der Zusammenbruch ankündigte, abteilungsweise in den Westen verlagert. Keine Universität war in der Lage, dieses Institut insgesamt aufzunehmen und so fanden die durch Krieg, Emigration und politische Verfolgung dezimierten Abteilungen Zuflucht in Göttingen, Marburg, Gießen, Dillenburg, Wuppertal und Köln. In ihrer Gesamtheit wurden sie dann zum MPI für Hirnforschung zusammengefaßt, blieben aber räumlich getrennt, bis eine erste Konzentration 1962 mit dem Neubau des MPI für Hirnforschung in Frankfurt erfolgte. Dieses und das später verselbständigte MPI für neurologische Forschung in Köln-Mehrheim sind also direkte Nachkommen des Berliner Instituts.

Die Werkzeuge zur Erforschung des Gehirns beschränkten sich zu Beginn des Jahrhunderts auf das Seziermesser und das Lichtmikroskop. Und das sollte bis in die frühen 50er Jahre, über die Gründung der ersten Max-Planck-Institute hinaus, so bleiben. Während dieser Zeit posieren Direktoren von Hirnforschungsinstituten für die Nachwelt über Mikroskope gebeugt. Erkennbar war also nur, was sich dem Auge post mortem rei erschließt: daß Nervenzellen höchst unterschiedliche, oft bizarre Formen annehmen können, daß sie spezifische Affinitäten für Farbstoffe aufweisen, daß sie miteinander auf verwirrend komplexe Weise vernetzt sind, und13 daß Gehirne eine stereotype, hochdifferenzierte Organisation aufweisen, die der von Tieren auf frappierende Weise gleicht. Naturgemäß waren auch pathologische Veränderungen nur dann erkennbar, wenn sie sich über den Tod hinaus in Strukturänderungen manifestierten. Solange die Patienten lebten, mußten die Bezüge zwischen Läsionsart und Funktionsausfall hypothetisch bleiben. Zwar war bekannt, daß Nervenzellen elektrisch erregbar sind, und man vermutete zu Recht, daß Hirnleistungen auf der Verarbeitung von elektrischen Signalen beruhen, doch fehlten die elektronischen Techniken, um die Aktivität von Nervenzellen im intakten Gehirn zu registrieren. Bis diese Verfahren zur Verfügung standen – sie wurden erst in den 50er Jahren Routine und zu einer der wichtigsten Erkenntnisquellen in der Hirnforschung –, blieb der Weg zur Analyse neuronaler Verarbeitungsprozesse versperrt. Die einzig meßbaren Manifestationen der elektrischen Vorgänge im Gehirn waren die von Hans Berger in den 30er Jahren entdeckten Hirnströme, globale Potentialschwankungen, die von der Kopfhaut abgeleitet werden können. Doch die Messung dieser Ströme blieb unergiebig, da ihre Herkunft ungeklärt war. Alois Kornmüller, der mit seiner Abteilung von Berlin-Buch nach Göttingen umgezogen war, gilt als einer der Pioniere der Hirnstromregistrierung. Gemeinsam mit Schwarzer konstruierte er den ersten einsatzfähigen Elektroenzephalographen und konnte damit die Ströme fortlaufend registrieren. Sie zeigten eine frappierende Abhängigkeit von Aufmerksamkeitsschwankungen und vom Schlaf-Wach-Zyklus, hatten also offensichtlich mit den Verarbeitungsprozessen im Gehirn zu tun. Man wußte sich auf der richtigen Fährte, doch solange die Herkunft dieser Signale unbekannt war, erklärten sie wenig mehr als die schlichte Verhaltensbeobachtung. Erst den Schülern von Alois Kornmüller, Manfred Klee am MPI in Frankfurt und Hans Dieter Lux, zusammen mit Otto Creutzfeldt am MPI für Psychiatrie, gelang es in den 60er Jahren mit Experimenten an narkotisierten Tieren, die Herkunft der Hirnströme zu klären: Sie gehen auf die Aktivität von Nervenzellen in der Großhirnrinde zurück. Jetzt waren die Signale interpretierbar, und die Elektroenzephalographie konnte sich zu einem für Forschung und Klinik gleichermaßen unverzichtbaren Meßinstrument fortentwickeln.

Die methodischen Begrenzungen in der Vergangenheit verweisen auf ein Dilemma, das für die Hirnforschung zunehmend schmerzlicher wurde und ihre Befindlichkeit bis weit in die Gründerjahre14 der MPG hinein prägen sollte. Die Forscher erbrachten zwar einen Beweis nach dem anderen dafür, daß neurologische Erkrankungen und wohl auch die meisten psychischen Störungen auf pathologischen Vorgängen im Gehirn beruhen, scheiterten jedoch an der Herausforderung, kausale Erklärungsmodelle zu erarbeiten und auf deren Basis wirksame Therapien zu entwickeln. Wie bedrängend die Situation empfunden wurde, bezeugt der heroische Selbstversuch von Kornmüller: Er ließ sich von seinem Kollegen Wilhelm Tönnis, dem Leiter der neurochirurgischen Abteilung des MPI für Hirnforschung, ein Loch in die Schädeldecke bohren, um eine seiner Elektroden möglichst nahe ans Gehirn zu bringen.

Uns ist solches Insistieren fremd, doch es mag symptomatisch gewesen sein für die Befindlichkeit einer sich überfordernden Wissensdisziplin. Sie hatte sich der Lösung dringlicher medizinischer Probleme verschrieben, eine Fülle wichtiger Entdeckungen vorzuweisen, aber sie vermochte das selbstverfügte Ziel nicht zu erreichen, direkt anwendbare Erkenntnisse zu generieren. Falls die Hypothese zutrifft, daß es frustrierte Wissensdisziplinen gibt und daß diese ihre Akteure zu extremen Taten drängen können, muß uns dies aus zwei ernsten Gründen interessieren. Zum einen, weil wir verpflichtet sind, soweit uns dies möglich ist, herauszufinden, wie es geschehen konnte, daß sich auch Hirnforscher aus Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft aktiv an Eugenik- und Euthanasieprogrammen beteiligten, und warum diejenigen, die nicht daran teilnahmen, sich diesen Angriffen auf den Menschen und seine Würde nicht widersetzten; zum anderen, weil uns daran gelegen sein muß, das, was wir uns heute an Eingriffen zugestehen, im antizipierten Rückblick unserer Nachfolger zu reflektieren. Ich bin nicht kompetent, und es ist dies auch nicht der Ort, um im Einzelfall die notwendige Ausdeutung möglicher Motive vorzunehmen, zu unterscheiden zwischen korruptem Verhältnis zu Macht und Politik, dem Einfluß wahnhafter Rassenideologien, dem schleichenden Verfall der Achtung vor dem Mitmenschen und den medizinisch-wissenschaftlichen Ambitionen. Aber was letztere betrifft, so mag es lohnend sein, auch die forschungsimmanenten Bedingtheiten und die damit verbundene Selbstwahrnehmung der Hirnforscher zu untersuchen. Es wäre wichtig zu wissen, inwieweit sie die heute offensichtliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Vermögen bewußt erfahren oder verdrängt haben. Zu hinterfragen ist auch die unterschiedliche Bewertung des Kreatürlichen, hatte doch das gleiche15 Regime, das Menschenmord legitimierte, das weltweit erste Gesetz zum Schutz von Tieren erlassen. Ein kritischer historischer Zugriff wird auch dies aufzuarbeiten haben.

Als Sprößlinge der KWG-Institute blieben die Hirnforschungsinstitute der jungen MPG zunächst den traditionellen Forschungsansätzen treu. Damit erfüllten sie zwar eine bedeutende Funktion als Statthalter der biologisch orientierten Psychiatrie – die meisten psychiatrischen Lehrstühle hatten damals Vertreter tiefenpsychologischer und Daseins-analytischer Ausrichtung inne –, blieben jedoch mit den gleichen Problemen konfrontiert wie die KWG-Institute. Die biologische Psychiatrie hatte empirische Argumente, aber nach wie vor keine überzeugenden Erklärungsmodelle. Der couragierte Versuch, das erkrankte menschliche Gehirn zum Forschungsgegenstand zu machen, um auf diesem direkten Wege möglichst schnell zu therapeutisch verwertbaren Erkenntnissen zu gelangen, erwies sich als zu schwierig. Dieser Weg führte zwar zu einer geradezu enzyklopädischen Sammlung pathologischer Befunde – jeder, der eines dieser Institute besucht hat, weiß, welchen zentralen Raum diese Präparatesammlungen einnahmen –, erlaubte aber nur in Ausnahmefällen die Aufklärung funktioneller Zusammenhänge. Erst seit wenigen Jahren, seit moderne molekularbiologische Ansätze zur Verfügung stehen, erbringen diese Sammlungen die Früchte, die die Neuropathologen seinerzeit nicht zu ernten vermochten.

Ein Paradigmenwechsel war also notwendig, und eine bemerkenswerte Pioniertat von Horst Jatzkewitz in den 60er Jahren signalisierte, daß er bereits eingeleitet war. Jatzkewitz, Direktor am MPI für Psychiatrie, gelang es, die Ursache einer erblichen, zu Debilität führenden degenerativen Erkrankung, der von Willibald Scholz am gleichen Institut entdeckten Form der metachromatischen Leukodystrophie, aufzuklären. Ein angeborener Enzymdefekt führt hier zur Ansammlung von Lipidmolekülen, die sich im Gewebe anreichern und Nervenzellen abtöten.

Was war das Neue? Ein Biochemiker, nicht ein Arzt oder Pathologe, hatte sich an die Erforschung des Schwachsinns gemacht. Als Modell wählte er ein Krankheitsbild, das äußerst selten, klinisch also wenig relevant ist, aber mit besonders auffälligen strukturellen Veränderungen einhergeht – er suchte also, wo Licht war, und nicht dort, wo die dringlichsten klinischen Probleme lagen. Und er suchte mit methodischem Rüstzeug, das in einer anderen Wissensdisziplin für gänzlich andere Fragestellungen entwickelt worden war. Es16 waren die in Tierversuchen gewonnenen Erkenntnisse über Enzyme des Fettstoffwechsels, die zur Aufklärung der Ursachen einer Form erblichen Schwachsinns beim Menschen führten.

Dem Jatzkewitzschen Forschungsansatz folgend, ist es inzwischen gelungen, die Ursachen nahezu aller degenerativen Speicherkrankheiten des Nervensystems aufzuklären und für jene, die erblich sind, die verantwortlichen Gene zu identifizieren. Die Ursachen der Alzheimerschen Erkrankung wurden über eine ähnliche Forschungsstrategie geklärt, allerdings mit modernen, molekularbiologischen Verfahren. Auch hier führt die Anreicherung von Stoffwechselprodukten, in diesem Fall von Eiweißmolekülen, zum Tod von Nervenzellen im Gehirn.

Ich wählte dieses Beispiel aus dem MPI in München, weil es den Übergang in eine neue Epoche der Hirnforschung mit besonderer Klarheit markiert, den Übergang in eine Epoche, die ich wegen ihrer außerordentlichen Erkenntnisträchtigkeit als das Goldene Zeitalter der Hirnforschung apostrophieren möchte.

Thomas S. Kuhn folgend könnte man anführen, der Paradigmenwechsel habe sich vollzogen, weil die Gründerväter der Hirnforschung abtraten, jene Generation, die sich, der Kraepelinschen Vision verpflichtet, auf die Erforschung des kranken Gehirns konzentriert hatte. Dieser Generationenwechsel mag den Übergang erleichtert haben, greift als Erklärung aber zu kurz. Aufschlußreicher sind die Fachausrichtungen der Nachfolger und besonders die methodischen Entwicklungen. Nicht wenige der Neuberufenen kamen aus nicht-medizinischen Disziplinen oder hatten zumindest ihr Handwerkszeug von anderen Wissenschaftszweigen entlehnt. Die Neuropathologie war zwar nach wie vor tragende Säule der Institute in München und Frankfurt, aber sie hatte sich neue Aufgaben gestellt. In Berlin hatte Ruska das Elektronenmikroskop erfunden und am Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft für biologische Präparate tauglich gemacht. Damit eröffnete sich den Anatomen und Pathologen eine faszinierende, nie geschaute Welt. Nur – der Blick auf menschliches Hirngewebe blieb getrübt, weil es nicht möglich war, Gewebe von Verstorbenen so zu konservieren, daß die jetzt potentiell sichtbaren Feinstrukturen erhalten blieben. Folglich verlagerte sich das Interesse der anatomisch arbeitenden Hirnforscher auf die Untersuchung von Tiergehirnen. Die Forschung beschränkte sich also auf das Mögliche und klammerte die unlösbaren klinischen Probleme zunächst aus. Die experimentelle17 Neuroanatomie, eine primär am Gesunden interessierte Disziplin, zog wieder in die Hirnforschungsinstitute ein und ergänzte die Neuropathologie, nachdem sie von dieser 50 Jahre vorher verdrängt worden war.

Zunächst das Normale zu ergründen, hatte sich auch die Neurophysiologie vorgenommen, ein neuer Zweig der Physiologie, der sich dank der Fortschritte im Bereich der Elektrotechnik rasch entwickeln konnte. In Frankfurt wurde Rolf Hassler berufen. Er war Neurologe und Psychiater, hatte aber bei Walter Heß in Zürich gelernt und mit Tieren experimentiert. Heß hatte bewiesen und dafür 1949 den Nobelpreis erhalten, daß sich durch elektrische Reizung ausgewählter Hirnstrukturen in hochselektiver Weise Verhaltensmuster auslösen ließen – und zwar nicht nur Bewegungsfragmente, sondern Vollbilder emotionaler Reaktionen wie Furcht und Flucht oder Aggression und Angriff. Hasslers Anliegen waren seit seiner Promotion bei Oskar Vogt die Bewegungsstörungen, Parkinson und Chorea Huntington, beides Erkrankungen mit erblicher Disposition. Wie die meisten Hirnforscher der zweiten Generation war er überzeugt, daß dem Verständnis von Störungen die Kenntnis des Normalen vorausgehen mußte, und er konnte sich diese Überzeugung leisten, da ihm erstmals die erforderlichen Methoden zur Verfügung standen. Bastlern in aller Welt, so auch J. F. Tönnies, dem einstigen Elektronikingenieur von Kornmüller, war es inzwischen gelungen, Elektroden anzufertigen, mit denen sich die elektrische Aktivität einzelner Nervenzellen im Gehirn messen ließ. Der Signalaustausch zwischen Nervenzellen konnte verfolgt, die Sprache der Neuronen aufgezeichnet werden. Naturgemäß war auch diese neue Methode wegen der erforderlichen operativen Eingriffe nur im Tierversuch anwendbar. Diese Beschränkung wiederum zog die systematische Untersuchung der Anatomie tierischer Gehirne nach sich, weil die elektrophysiologischen Methoden ohne profunde Kenntnis der anatomischen Gegebenheiten nicht hätten genutzt werden können.

Am MPI für Psychiatrie in München vollzog sich der gleiche Paradigmenwechsel. Wir befinden uns bereits tief in den 60er Jahren. Auch hier blieb die Neuropathologie unter Gerd Peters zunächst bestimmend, entwickelte sich aber unter dem Einfluß der Elektronenmikroskopie und der Biochemie – ich erwähnte das Beispiel Jatzkewitz – immer mehr zu einer experimentellen Disziplin. Die Klinik wurde Detlev Ploog übertragen; er war Psychiater, aber18 er hatte bei McLean in Bethesda in Tierversuchen über die zentralnervöse Steuerung sexueller bzw. reproduktiver Verhaltensweisen gearbeitet. Überzeugt, daß psychiatrische Erkrankungen eng mit Störungen kommunikativen Verhaltens verbunden sind, nahm er sich vor, die neuronalen Grundlagen des Sozialverhaltens bei Primaten zu untersuchen. Zur gleichen Zeit kam Otto Creutzfeldt nach München. Auch er war Neurologe und Psychiater, hatte aber bei Richard Jung in Freiburg die kapriziöse Kunst erlernt, die Aktivität von Nervenzellen der Hirnrinde narkotisierter Tiere zu registrieren. Sein Plan war, die funktionelle Organisation jener Hirnstrukturen zu analysieren, die kognitiven Leistungen zugrunde liegen. Wie seinen charismatischen Lehrer, den Pionier der Elektrophysiologie in Deutschland, faszinierte ihn der Gesichtssinn. Doch er war, und wie wir heute wissen, zu Recht, davon überzeugt, daß aufgefundene Funktionsprinzipien auf alle anderen Sinnessysteme übertragbar sein würden.

Die Zusammenführung dieser, von ihrer Ausrichtung her so verschiedenen Forscherpersönlichkeiten war damals eine richtungsweisende Pioniertat der MPG. Um so mehr, als dem Klinischen Institut zusätzlich eine psychologische Abteilung unter Brengelmann und sogar eine psychoanalytisch-tiefenpsychologisch ausgerichtete Forschungsstelle unter Paul Matussek angegliedert wurde. Die Fruchtbarkeit dieser Mischung klassischer medizinischer Fachrichtungen mit experimentellen Disziplinen der biologischen Grundlagenforschung belegen nicht nur die Forschungsergebnisse, deren Fülle und Vielfältigkeit wegen auf die Lektüre der Jahrbücher verwiesen sei. Ebenso aufschlußreich sind die Curricula von Forscherpersönlichkeiten, die in der Kraepelinstraße gelernt hatten. Mehr als 20 wissenschaftliche Mitglieder und Direktoren von Max-Planck-Instituten haben entscheidende Jahre vor ihrer Berufung am Institut in München verbracht. Allein die Abteilung Creutzfeldts hat in den Jahren 1966 bis 1972 mindestens neun zukünftige Ordinarien ausgebrütet, ferner sieben Max-Planck-Direktoren, von denen zwei, Bert Sakmann und Erwin Neher, für die Arbeiten, die sie später am neugegründeten MPI für biophysikalische Chemie vollendeten, mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Sie hatten eine Ableitetechnik erfunden, mit der es ihnen erstmals gelang, die Aktivität einzelner Ionenkanäle in der Membran von Nervenzellen sichtbar zu machen. Diese Methode hat die Zellbiologie revolutioniert.

Die Gründe für die außerordentliche Erkenntnisträchtigkeit der19 neuen Ansätze lassen sich im Rückblick leicht ausmachen: Verzicht auf die Bearbeitung von Problemen, für die kein gangbarer Lösungsweg erkennbar ist, auch wenn sie noch so dringlich scheinen; geduldige Erforschung von Prinzipien statt forcierter Suche nach therapie- bzw. anwendungsrelevanten Ergebnissen; und die Bearbeitung von Modellsystemen, an denen sich die vermuteten Prinzipien besonders leicht erforschen lassen, unabhängig davon, ob direkte Bezüge zu medizinischen Problemen erkennbar sind. Kurzum: Dort zu suchen, wo Erkenntnisse und Durchbrüche wahrscheinlich sind, und nicht dort, wo zwar drängende Probleme ihrer Lösung harren, aber keine bearbeitbaren Hypothesen formuliert werden können. Unschwer läßt sich feststellen, daß just dies die Merkmale von Grundlagenforschung sind: Das Eingeständnis von Nichtwissen, das Bekenntnis zum Eigenwert von Erkenntnis, und schließlich der Mut, Wege zu gehen, für die sich nicht angeben läßt, zu welchem Ziel sie führen.

Dem für die Zukunft blinden Betrachter muß vieles von dem, was die Kollegen damals taten, als reines Spiel aus Neugier erschienen sein: die Untersuchung von Ionenkanälen an Nervenzellen von Schnecken (Lux), die Analyse der funktionellen Architektur der Hirnrinde von Katzen (Creutzfeldt), die Identifikation synaptischer Überträgerstoffe in entlegenen Bereichen des Gehirns von Ratten (Herz) und die Verfolgung des Transports von Eiweißmolekülen im überlangen Riechnerv des Hechtes (Kreutzberg). Nach dem Sinn des Tuns gefragt, hätten die Forscher kaum anders antworten können als: weil sich mit der Klärung dieser oder jener Frage Hoffnungen für das Verständnis gewisser Funktionsprinzipien verbinden. Es wäre in der Tat vermessen gewesen, hätten die Antworten auf konkrete Anwendungen, wie etwa die Entwicklung therapeutischer Verfahren, verwiesen. Erst im Rückblick wird erkennbar, wozu die Suche gut war. Ein Beispiel soll genügen: Die weitgehende Aufklärung der Ursachen von epileptischen Anfällen und die daraus resultierenden medikamentösen und operativen Behandlungsmethoden verdanken sich den grundlegenden Erkenntnissen, die in Untersuchungen der oben geschilderten Art gewonnen wurden. Durch sie wurde einsichtig, warum die Erregung von Nervenzellen in Krämpfen eskalieren kann.

Auch konnten jetzt erstmals präzise und testbare Hypothesen über die Funktionsabläufe im Gehirn formuliert werden. Die Neurophysiologen in der Kraepelinstraße folgten dem Fluß neuronaler20 Signale und drangen, von den Sinnesorganen ausgehend, in die inneren Hirnbereiche vor, wo sie das Substrat von Wahrnehmungsleistungen zu entschlüsseln hofften. Experimentatoren in Frankfurt, die sich für die Steuerung von Bewegungen interessierten, wählten den umgekehrten Weg und arbeiteten sich von den motorischen Zentren im Rückenmark zu den Gehirnregionen zurück, in denen Bewegungen initiiert und programmiert werden. Inzwischen sind sich die beiden Forschungsansätze, die längst weltweit mit großer Intensität verfolgt werden, begegnet. Heute ist nachvollziehbar, wie sensorische und motorische Prozesse ineinandergreifen, wenn wir ein Objekt mit den Augen verfolgen oder nach ihm greifen. Entsprechend konkret sind auch die Vorstellungen darüber, auf welchen Fehlfunktionen Störungen dieser Koordinationsleistungen beruhen. Die operativen und medikamentösen Therapien von Bewegungsstörungen, etwa der Parkinsonschen Erkrankung, beruhen ebenso auf diesem Wissen wie die modernen Rehabilitationsverfahren. Heute bezieht dieser systemphysiologische Erklärungsansatz auch die höchsten kognitiven Leistungen wie Sprache, Gedächtnis und Aufmerksamkeit mit ein und wird in mehreren der jüngeren Max-Planck-Institute verfolgt. Im Diagramm auf Seite 22/23 sind diese grün markiert. Ich werde auf die faszinierenden Entwicklungen in diesem zukunftsträchtigen Forschungsbereich zurückkommen, muß jedoch vorher einer Verzweigung nachgehen, die uns zunächst vom Verhalten fort und hinunter auf die molekulare Ebene führt.

Katalysiert durch die Entwicklung molekularbiologischer Methoden, fusionierten die klassischen Disziplinen der Pharmakologie und Biochemie bald zu einer neuen Disziplin, der molekularen Neurobiologie. Genauso wie die lateinischen Buchstaben allen westeuropäischen Sprachen gemeinsam sind, gleichen sich die molekularen Grundlagen der verschiedenen Organfunktionen. Der Vorstoß auf die molekulare Analyseebene erschloß somit ein Beschreibungssystem, in dessen Sprache sich Pharmakologen, Immunologen, Biochemiker, Entwicklungs- und Zellbiologen, Neuropathologen und Genetiker erstmals direkt verständigen konnten. Die Folgen sind bekannt. Der Synergieeffekt dieser Begegnung war gewaltig und ist anhaltend. Kaum jemals zuvor förderte eine Wissensdisziplin in so kurzer Zeit so viele neue, oft grundlegende Fakten zutage. Die Hirnforschung profitierte von diesem Elan in hohem Maße. Zum einen verwies dieser neue, integrierte Ansatz auf eine21 ungeahnte Diversität der molekularen Kommunikationsprozesse: Es wurde deutlich, daß sich Nervenzellen nicht nur über elektrische, sondern auch ausgiebig über molekulare Signale austauschen. Damit war jeder vorschnelle Vergleich zwischen Nervenzellen und Transistoren oder natürlichen und elektronischen Gehirnen obsolet geworden. Zum anderen wurde aber auch erkennbar, daß sich Nervenzellen in ihren molekularen Bausteinen von anderen Zellen nicht grundlegend unterscheiden. Damit stand all das Wissen, das in Untersuchungen anderer Organe und Organismen gesammelt worden war, für die Erforschung des Gehirns zur Verfügung.

Der molekulare Ansatz machte auch deutlich, wie konservativ die Evolution vorging, wie zäh sie an Bewährtem festhielt. Hinsichtlich der molekularen Zusammensetzung unterscheiden sich die Nervenzellen des menschlichen Gehirns kaum von denen anderer Spezies, Insekten und Schnecken eingeschlossen. Bemerkenswerte Unterschiede finden sich lediglich hinsichtlich des Entwurfs und der Komplexität der Verschaltungsmuster. Diese Erkenntnis legitimierte und stimulierte die Arbeit an niederen Organismen, an denen sich Prinzipien oft leichter aufdecken lassen als an komplexen Systemen – was den Erkenntnisgewinn weiter beschleunigte und zudem zu einer Reduktion von Versuchen mit höheren Wirbeltieren führte. Ein Großteil der anstehenden molekular- und zellbiologischen Probleme läßt sich heute dank methodischer Entwicklungen, die samt und sonders von der Grundlagenforschung getragen wurden, entweder an wirbellosen Tieren oder an kultiviertem Hirngewebe von Wirbeltieren untersuchen.

Die Gründungsgeschichte neurobiologischer Max-Planck-Abteilungen dokumentiert, daß die Mitglieder der biologisch-medizinischen Sektion die Zeichen der Zeit frühzeitig erkannten. Mit Ausnahme des MPI für Biokybernetik, das ich später anspreche, verfügen inzwischen alle MPIs, die sich mit der Erforschung des Nervensystems befassen, über starke molekularbiologisch ausgerichtete Abteilungen. Sie finden sich im Diagramm rot eingefärbt. Um sich von der Erkenntnisträchtigkeit dieses durch Reduktion zur Generalisierung befähigenden Ansatzes zu überzeugen, genügt es, die Jahresberichte aus den rot markierten Abteilungen durchzublättern. Eine repräsentative Würdigung verbietet sich des Umfangs wegen, und eine Auswahl, weil in der Grundlagenforschung das sehr Bedeutende vom nur Bedeutenden oft erst im nachhinein unter24scheidbar wird. Aber auch, weil sich in der Regel große Durchbrüche dem Synergismus unzähliger Teilbeiträge verdanken, möchte ich hier keine Einzelleistungen hervorheben. Diese herauszustellen, bleibt der Weisheit von Fachbeiräten, Preiskomitees und forschungsfördernden Institutionen vorbehalten.

Die auf diese Weise gewonnenen Minuten möchte ich für eine Prognose nutzen. Mir scheint, daß in den molekular orientierten Disziplinen der Neurobiologie die Frage nach der Erreichbarkeit der Forschungsziele nur mehr eine Frage der noch benötigten Zeit ist, nicht mehr ein grundsätzliches erkenntnistheoretisches Problem. Konzeptionell erscheinen die Wege als erschlossen. Wenn das Human-Genom-Projekt abgeschlossen ist, werden die molekularen Bausteine des menschlichen Organismus bekannt sein. Zwar bedarf es dann immer noch einer herkulischen Anstrengung, um die Funktion der neu entdeckten Proteine ausfindig zu machen, aber die Suchstrategien sind bereits erprobt.

Abzusehen ist auch, daß in nicht zu ferner Zukunft die molekularen Wechselwirkungen und Entscheidungsprozesse zumindest im Prinzip bekannt sein werden, die, von den Genen gesteuert, dafür sorgen, daß Nervenzellen während der Hirnentwicklung in der vorgesehenen Zahl gebildet werden, an die richtigen Stellen wandern, dort ihre spezifische Struktur und chemische Individualität ausbilden und dann mit den richtigen Partnern in Verbindung treten. Damit rücken kausale Therapien für genetisch bedingte Erkrankungen in greifbare Nähe. Für einige der erblichen neurologischen Erkrankungen, zum Beispiel der Myasthenia gravis und der Chorea Huntington, gelang bereits die lückenlose Rekonstruktion der molekularen Ursachen. Andere Erkrankungen werden auf gleiche Weise ihre molekulare Deutung erfahren, und so wird es auch mit Fehlfunktionen sein, die auf Entwicklungsstörungen zurückgehen. Die genaue Kenntnis der molekularen Krankheitsursachen erlaubt in vielen Fällen auch dann eine effektive Bekämpfung der Symptome, wenn die Ursachen nicht beseitigt werden können, wenn Eingriffe in das Genom der erkrankten Zellen nicht möglich sind. So berechtigt z.B. die fortgeschrittene Aufklärung der Kommunikation zwischen Immunund Nervensystem zu der Hoffnung, entzündliche Erkrankungen, wie Multiple Sklerose, beherrschbar zu machen.

Eine völlig überraschende und in ihrer therapeutischen Tragweite kaum zu überschätzende Konsequenz hatte die Identifikation der molekularen Mechanismen, die das Auswachsen von Nervenfasern25 während der Embryonalentwicklung kontrollieren. Experimente, die am MPI für Neurobiologie begannen und später von Martin Schwab in Zürich weitergeführt wurden, erbrachten den Nachweis, daß eben jene Moleküle, die das erstmalige Auswachsen von Nervenfasern kontrollieren, auch die Regeneration verletzter Nervenzellen im ausgereiften Gehirn beeinflussen. Im Tierversuch ist es bereits gelungen, Querschnittslähmungen durch gezielten Einsatz dieser wachstumsregulierenden Eiweißmoleküle zu behandeln. Die Tiere gewannen die Kontrolle über die gelähmten Körperteile zurück, weil die durchtrennten Nervenbahnen zur Regeneration gebracht werden konnten. Was diese Entwicklung für die Klinik bedeutet, bedarf keiner weiteren Erläuterung.

Schließlich revolutionierten molekularbiologische Techniken auch die Neuropharmakologie. Die genaue Kenntnis der molekularen Struktur von Chemorezeptoren gestattet es heute, Pharmaka maßzuschneidern und damit die erwünschte Wirkung zu steigern, ohne Nebenwirkungen befürchten zu müssen.

Dieses sind vorzeigbare Ergebnisse nicht nur für jene, die verstehen wollen, sondern auch für jene, die nach Anwendung fragen. Die fürwahr eindrucksvollen Erfolge des molekularen Ansatzes dürfen aber den Blick dafür nicht verstellen, daß es mit der lückenlosen Aufklärung der molekularen Komponenten des Gehirns und mit der erschöpfenden Charakterisierung der funktionellen Eigenschaften von Nervenzellen nicht getan ist. Selbst wenn dies alles gesichertes Wissen wäre, bliebe nach wie vor unverstanden, wie aus neuronalen Wechselwirkungen spezifisches Verhalten entsteht. Solange diese Erklärungslücke nicht geschlossen ist, kann aber das bereits angesammelte Wissen über molekulare und zelluläre Bedingtheiten neuronaler Verarbeitungsprozesse nicht für das Verständnis höherer Hirnleistungen und deren Störungen genutzt werden. Nach meinem Dafürhalten liegt im Versuch, diese Lücke zu schließen, die gegenwärtig größte Herausforderung der Hirnforschung. Denn immer noch können wir für die Hirnfunktionen, die den höchsten kognitiven Leistungen zugrunde liegen, und es sind dies die empfindlichsten, keine testbaren Erklärungsmodelle erdenken.

Da jedem reduktionistischen Ansatz die Definition der Explananda vorausgehen muß, sind hier zunächst Verhaltensforschung und Psychologie gefordert. Keine dieser Disziplinen war in der KWG vertreten, und so fanden auch bei der Neuordnung der Hirnforschung in der MPG die Verhaltenswissenschaften zunächst keine26 institutionelle Heimat. An deutschen Universitäten gab es nach der Vertreibung namhafter jüdischer Vertreter der Gestaltpsychologie kaum noch experimentell arbeitende Psychologen. Der behaviouristische Ansatz, der mit dem Namen Skinner verbunden ist und in angelsächsischen Ländern zum Rückgrat der Experimentalpsychologie wurde, hatte in Deutschland keine institutionelle Basis, beeinflußte aber die Denkmodelle. Die Hypothese war, daß das Gehirn eine Reizbeantwortungsmaschine sei, die nur tätig werde, wenn sie von außen angeregt wird. Wie stark dieses Dogma wirkte, wird aus dem Erstaunen deutlich, das Kornmüller äußerte, als er beobachtete, daß die Hirnströme über den Sehzentren nicht verschwanden, wenn die Probanden die Augen schlossen. Die heutige, auch vom Konstruktivismus usurpierte Position, daß die Initiative beim Gehirn liegt, daß Wahrnehmungen, Empfindungen und Motivation das Ergebnis aktiver, konstruktiver Prozesse sind, war in den 50er Jahren nur wenigen vorstellbar. Aber es gab einige Vordenker, die das behaviouristische Dogma überwunden hatten und dem Gehirn mehr zutrauten: Carl von Frisch, Erich von Holst und Konrad Lorenz, charismatische Forscherpersönlichkeiten von hohem Rang. Von Frisch analysierte die Tanzsprache der Bienen. Von Holst war von den synthetischen Leistungen der Sinnessysteme fasziniert und von den koordinativen Fähigkeiten der Neuronenverbände, die sich mit der Steuerung von Bewegung befassen. Lorenz suchte nach Herkunft und Interaktion von Handlungsmotiven, Trieben und Verhaltensdispositionen.

Auf die Hypothese, daß die Initiative beim Gehirn liegt, verwies auch die Evidenz, daß es sich seine eigene Zeit zumißt, daß es über eigene Uhren verfügt. Dies ging aus Experimenten des Ornithologen Kramer und des Chronobiologen Jürgen Aschoff hervor. Der eine, Kramer, postulierte die Uhr, weil Zugvögel ohne sie den Sonnenkompaß nicht hätten lesen können, der andere, Aschoff, brauchte sie, um zu erklären, daß Tiere ihren Schlaf-Wach-Rhythmus beibehalten, auch wenn ihnen alle äußeren Zeitgeber vorenthalten werden. Hier also waren Verhaltensforscher, die der Hypothese anhingen, daß Gehirne selbstbestimmte Produzenten von Verhalten sind und keine passiven Reflexmaschinen. Im Rückblick ist dieser konzeptionelle Bezug leicht zu erkennen, ihn damals gesehen und in das Gründungskonzept für das Max-Planck-Institut in Seewiesen umgesetzt zu haben, gleicht einem Geniestreich. Für die Protagonisten der neuen, verhaltensanalytischen Richtung wurde,27 weiterhin getreu dem Harnackschen Prinzip, ein großes Institut gegründet. Wie tragfähig und zukunftsweisend dieser Ansatz war, belegt der Umstand, daß Seewiesen sein integriertes Forschungsvorhaben durchzuhalten vermochte, obwohl Kramer noch in der Gründungsphase verunglückte und von Holst, viel zu jung, wenige Jahre später starb.

Aus der Seewiesener Geschichte lassen sich mindestens zwei wissenschaftspolitisch bedeutsame Lehren ziehen. Die Gründungsphase belegt eindrucksvoll, daß Wissenschaft etwas sehr Persönliches ist; nicht die Verordnung eines Forschungszieles, sondern die geschickte Zusammenführung von herausragenden Forscherpersönlichkeiten war es, die Seewiesen zu Weltruhm verhalf und den Grundstein für eine moderne, den Behaviourismus überwindende, gehirnorientierte Verhaltensforschung legte. Seewiesen belegt auch, und ich greife hier auf Arbeiten von Dietrich Schneider und seinem Lehrer Butenandt zurück, daß Ergebnisse der Grundlagenforschung ihre Anwendung zwar erhofft, aber meist auf verschlungenen Wegen finden. Wer hätte gedacht, daß die doch recht exotischen Studien über Pheromone, über Sexuallockstoffe, von Seidenspinnern zu einer der wirksamsten und ökologisch sanftesten Strategien der Schädlingsbekämpfung führen würden? Nach dem schmerzlichen Schließungsbeschluß des letzten Jahres bleibt uns im Augenblick nur die Hoffnung, daß der MPG alsbald noch einmal ein so genialer Wurf im Bereich der Ethologie gestattet sein möge wie damals mit Seewiesen. Jetzt, wo die Techniken zur Verfügung stehen, um auch höhere Hirnleistungen auf ihr neuronales Substrat zurückzuführen, ist es die Neuroethologie, der wir in Zukunft unsere Aufmerksamkeit zuwenden sollten, nicht zuletzt auch aus ökologischen Gründen.

Eine Benennung der Quellen der modernen Hirnforschung wäre unvollständig, berücksichtigte sie nicht die starken Impulse, die aus der Physik und Informationstheorie kommen. Die Entwicklung des MPI für Kybernetik in Tübingen dokumentiert, welch nachhaltigen Einfluß auch nichtbiologische Disziplinen auf die Hirnforschung haben. Die ausnehmend originelle Gründungsinitiative in den 60er Jahren reagierte mit bewundernswerter Sensibilität auf Signale aus Disziplinen, die später unter den Begriffen Informatik, künstliche Intelligenz und Robotik bekannt werden sollten. Sie legte damit den Grundstein für einen weiteren Zweig der Neurowissenschaften, die Neuroinformatik oder die »Computational Neurosciences«, wie28 die Angelsachsen sagen. Shannons Informationstheorie machte »Information«, also das, was in Nervensystemen rezipiert, umgewandelt und produziert wird, zur quantifizierbaren Größe. Norbert Wiener hatte mit seiner Theorie geregelter Prozesse auf die rudimentäre Intelligenz sich selbst stabilisierender technischer Systeme verwiesen und deren Organisationsprinzipien aufgezeigt. Turing war mit dem Beweis beschäftigt, daß sich beliebige logische Operationen auf die Addition und Subtraktion binärer Zahlen zurückführen lassen, und John von Neumann hatte die prinzipielle Möglichkeit der Realisierung des Turing-Algorithmus in elektronischen Schaltkreisen erkannt. Der Beweis war erbracht, daß auch künstliche Systeme im Prinzip zu intelligenten Leistungen fähig sind und somit vermutlich gewisse Eigenschaften mit Nervensystemen gemein haben. Folglich sollten Organisationsprinzipien, die sich in technischen Systemen für die Informationsverarbeitung und Prozeßsteuerung bewährt haben, auf Gehirne übertragbar sein.

29 Grundlagen höherer Hirnleistungen aufzuklären. Inzwischen fließt die Information aber auch in die andere Richtung. Der Wissenstransfer ist reziprok. Die Konstrukteure von Computern profitieren seit einigen Jahren auch ganz erheblich von den Ergebnissen der Hirnforschung, sie lernen von der Natur. Die neuen Rechnerarchitekturen, die sogenannten neuronalen Netze, basieren auf Verarbeitungsalgorithmen, die denen in der Hirnrinde ähneln, und sie bewähren sich überall dort, wo die klassischen von Neumann-Rechner Schwierigkeiten haben: bei der Mustererkennung, beim assoziativen Lernen und beim flexiblen Reagieren auf Unvorhersehbares.