Als Edda Betony, eine dreißigjährige Fotografin mit Lebenserfahrung, eilends von ihrer Tante Astrid ins Bromedornhaus gerufen wird, wo sie ihre Kindheit verbrachte, prallen Vergangenheit und Gegenwart jäh aufeinander.

Eddas älterer Cousin Tewes ist das Opfer einer Entführung geworden! Wieso schweigt sein Vater Carl über die Forderungen der Entführer? Weshalb untersucht ein Kind Eddas Nummernschild? Und was hat Tewes‘ Entführung mit dem tragischen Tod von Eddas Vater zu tun?

Je näher Edda der Lösung des Rätsels kommt, desto größer wird auch die Gefahr für sie selbst…

Alexandra Haber (geb. Schmidt) wurde 1990 geboren und studierte Theologie, Philosophie und Editions- und Dokumentwissenschaften an der Bergischen Universität Wuppertal. Sie lebt mit ihrer Familie im Sauerland. Neben ihrer beliebten Debütreihe Die Betonys ist auch ihr Nachkriegsdrama Flanders Fluch im Buchhandel erhältlich.

Weiterhin erschienen:
Gula – Gierige Flammen (Die Betonys, Bd. II)
Superbia – Erbe des Hochmuts (Die Betonys, Bd. III)
Luxuria – Verhängnisvolles Begehren (Die Betonys, Bd. IV)
Invidia – Ewiger Neid (Die Betonys, Bd. V)
Flanders Fluch
Banale Liebesgeschichten

Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2018 Alexandra Schmidt
Umschlaggestaltung: Alexandra Haber
Lektorat: Christoph Haber
3. Auflage 2020
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Homepage
www.as-literatur.de

ISBN: 978-3-7504-8674-4

Für meine Familie

Inhaltsverzeichnis

Prolog
1987

Ein Boot treibt mitten auf dem See; im Nebel ist es kaum zu erkennen. Das Gewässer ist keines natürlichen Ursprungs, denn der See wurde einst künstlich angelegt. Das liegt schon über ein halbes Jahrhundert zurück. Die jüngere Generation der Steinlinder Einwohner kennt ihn schon ihr Leben lang.

Dieser Stausee lädt im Sommer zum Baden ein, zieht Wassersportler und Angler an und bietet durch seinen Hafen auch Boots- und Jachtbesitzern Raum. Mit seiner Länge von vier und einer Breite von zwei Kilometern bettet er sich in ein Tal, zu dessen Nordseite sich tannenbewaldete Hügel erstrecken, während die felsige Ostseite besonders für Kinder und kleine Abenteurer einen nicht ganz ungefährlichen Anreiz darstellt. An seiner Westseite liegt der Hafen, direkt an Steinlindes Altstadt, die von der Flutung des Sees seinerzeit verschont geblieben ist.

Im November schläft der See; als liege ein unsichtbarer Bann auf der schwarzen Oberfläche, die kaum vermuten lässt, dass sie im Sommer durch ihren klaren grünen Schimmer zu bezaubern weiß.

Auf dem Steinlinder See treibt das Boot im Nebel.

Eine einzelne Person sitzt darin, eingehüllt in einen wetterfesten Anorak und unter einer Kapuze verborgen. Das Boot dümpelt eine ganze Weile lustlos in den ruhigen Wellen, dann hält es schließlich an. Der Vermummte zieht einen üppigen Gegenstand hervor, umschlungen von Seilen, dessen Gewicht den Kahn hin- und herkippen lässt. Langsam wird das Schwergewicht im See versenkt, ganz zum Schluss folgt das Seil.

Lange starrt die Person, bei der es sich um einen jungen Mann handelt, auf das sich bald wieder beruhigende Wasser. Nichts lässt darauf schließen, dass eben noch etwas an dieser Stelle versenkt wurde.

Der Mann seufzt. Sein Gewissen drückt ihn.

Er zieht einen zerknitterten Zettel aus der Anoraktasche und kritzelt mit einem Bleistift darauf herum.

»Nur für den äußersten Notfall«, murmelt er zu sich selbst. »Hier ist es gut aufgehoben. Verzeih mir, Edo. Ich werde es wirklich nur im äußersten Notfall benutzen.« Und mit einem bekümmerten Blick in die leise säuselnden Tannenwipfel, die den Großteil des Nordufers säumen: »Ich werde für Edda sorgen. Das verspreche ich dir. Ihr wird nichts passieren.«

25 Jahre später

Freitagmorgen

Die Grenze zwischen Frühling und Sommer hat etwas Betäubendes.

Die Luft schmeckt nach Übergang, wenn sich die noch teilweise kühlen Winde mit den lauen Brisen vermischen, die keine Gänsehaut mehr auf bloßen Armen auslösen, sondern einen samtigen Hauch darauf zurücklassen. Die Menschen entledigen sich ihrer langen Ärmel, ihrer Anoraks und Sweatjacken, nackte Waden werden von luftigen Röcken umspielt und weiche Busen zeichnen sich unter enganliegenden Hemden ab.

Der Sommer hat den Frühling in die Knie gezwungen.

Edda schwitzt.

Sobald das Thermometer die dreiundzwanzig Gradgrenze überschritten hat, herrscht für sie Tropenalarm und das dreimonatige Leiden beginnt.

Dabei mag Edda den Sommer schon irgendwie ganz gern. Er weckt alljährlich vertraute Gefühle, angefangen bei dem Geschmack von Himbeereis und frisch gepflückten Brombeeren, den Düften der lebensbejahenden Blüten im Garten ihres Elternhauses oder aber bei dem Geräusch von sich kräuselnden Wellen im Abendwind.

Hier kräuselt sich allerdings gerade nichts, abgesehen von den Abgasen der Autos.

Während Edda bereits zu schwitzen beginnt, kaum, dass sie aus der Tür des Fotostudios getreten ist, rauschen die ersten Sonnenbrillen an ihr vorbei. Als gelte es das Leben, die hellen Strahlen der Zehn-Uhr-Sonne sorgfältig hinter Kunststoff zu bannen.

Blinzelnd schaut Edda zwischen den Fassaden der Häuser hinauf in den stahlblauen Himmel. Wäre er nicht so heiß, hätte sie den Sommer richtig gern. Und wohnte sie nicht hier in Selve, würde sie ihre Frühstückspause jetzt sicher nicht im Bistro um die Ecke zubringen. Vielmehr würde sie sich ein belegtes Brötchen holen und zum Steinlinder Stausee fahren, um dieses, mit den Zehen im noch kühlen Wasser, zu mümmeln und dabei den Bewegungen der Tannenwipfel zuzusehen, die sich in der spiegelglatten Oberfläche abzeichnen. Doch Edda ist nicht in Steinlind und der Stausee ist zwanzig Kilometer weit weg.

Also schlendert sie zwischen den vielen Sonnenbrillen über den Asphalt, vorbei an wenigen eingezäunten Bäumen, die ihre Äste sehnsüchtig gen Himmel recken, und schiebt sich im Laufen eine Zigarette zwischen die Lippen. Bis sie das Bistro erreicht, hat sie diese aufgeraucht. An ihrem Ziel angekommen, bestellt sie sich ihren obligatorischen Milchkaffee und ein Croissant und lümmelt sich an einen kleinen Tisch am Fenster, um der Hektik der Leute zuzusehen, die hier hinter Glas liegt und von sanfter Jazzmusik verschleiert wird.

Edda zieht ihr Mobiltelefon hervor und beantwortet ein paar Nachrichten.

Gunnar hat ihr ein Foto geschickt und sie muss grinsen. Auch er sitzt in der Cafeteria eines gläsernen Kastens im siebten Stock in London. Sie schickt ihm ein Bild von sich, auf dem sie ihm zuprostet.

Heimweh?, schreibt Gunnar.

Jeden Tag, antwortet Edda.

Es ist ja gar nicht weit bis Steinlind, doch in letzter Zeit kommt Edda zu selten dazu, heimzufahren. Dabei weiß sie, wie sehr Astrid sich das wünscht. Edda zupft ein Stück von dem Croissant ab und stopft es sich in den Mund, während ihre Gedanken wandern.

Das Brummen ihres Handys lässt sie auf den Tisch schauen, doch es ist keine weitere Nachricht von Gunnar, sondern ein Anruf.

Astrid.

Als sei es Gedankenübertragung gewesen.

Edda nimmt das Gespräch entgegen und meldet sich, wobei sie versucht, den Anflug von Zärtlichkeit nicht zu offensichtlich heraushören zu lassen.

»Edda«, dringt die vertraute Altstimme ihrer Tante an ihr Ohr. Doch es ist kein fröhlicher Ausruf.

Sie weint.

Alarmiert hört Edda auf zu kauen und sieht aus dem Fenster, ohne wirklich zu schauen; die Menschenmenge strömt an ihr vorbei.

»Astrid, was ist passiert?« Ein Magendrücken kündet von der schlechten Botschaft, die Edda erwartet.

»Mein Kind«, weint Astrid und ihre Stimme überschlägt sich dabei. »Es ist etwas Schreckliches passiert: Tewes ist fort! Claudia rief uns heute Nacht an. Er ist gestern Abend nicht von seinem Training zurückgekehrt. Und heute Morgen … ist eine Botschaft gekommen. Ein … Brief.«

Ahnungsvoll weiten sich Eddas stahlblaue Augen. Sie begreift sogleich, was Astrid meint.

»Wird etwas verlangt?«, stellt sie unumwunden die naheliegende Frage und klingt dabei so emotionslos, dass sie sich dafür selbst in den Hintern beißen könnte.

»Ja, aber ich weiß nicht, was. Dein Onkel will es mir nicht sagen«, jammert Astrid.

»Was soll das heißen, er will es nicht sagen?«, bellt Edda ungehalten und schiebt energisch den Teller mit dem angeknabberten Croissant von sich fort.

»Er sagt, es werde etwas verlangt, was er nicht habe, und er könne darüber nicht mit mir sprechen.«

»Was soll denn dieser Unfug?«, ruft Edda. »Habt ihr die Polizei informiert?«

»Nein!«, wird Astrid laut. »Bloß nicht! Sie drohen, Tewes etwas anzutun, wenn wir die Polizei einschalten. Also bitte, Edda, tue auch du das nicht! Bitte komm heim, mein Engel. Ich brauche dich.«

»Aber natürlich! Ich bin heute Mittag da«, versichert Edda und ist schon fast zur Tür hinaus. »Ich lasse dich doch nicht allein. Ich komme heim.«

Während sie das Gespräch beendet, wählt sie schon die Nummer des Fotostudios, um ihrer Chefin Bescheid zu geben, dass ein familiärer Notstand eingetreten sei. Danach eilt Edda zu ihrem uralten grünen Auto und wird auf dem Weg zu ihrer kleinen Dachgeschosswohnung geblitzt, weil sie rast.

Zu Hause rafft Edda das Nötigste zusammen, reicht ihrer Nachbarin den Wohnungsschlüssel, damit diese sich um Eddas Rennmäuse kümmert und poltert anschließend die Treppen des mehrstöckigen Wohnsilos hinunter, um sich auf den Weg nach Steinlind zu machen und unterwegs ein weiteres Mal geblitzt zu werden.

*

Als die Straßen schmaler und die Autos weniger werden, weiß Edda, dass sie bald zu Hause ist. Doch diesmal ist es kein angenehmes Heimkommen wie sonst.

Kann das denn wirklich wahr sein?

Ihr Cousin Tewes – so richtig entführt?

Es klingt derart absurd, dass Edda lachen muss, obwohl ihr nicht danach ist.

Ein irres Lachen.

Besorgt.

Edda kaut auf ihrer Halskette herum und fragt sich, was wohl vorgefallen ist. Dass sich Tewes einfach so kidnappen lässt, erscheint ihr unglaubwürdig. Er ist sechsunddreißig, hochgewachsen und drahtig und außerdem rotzfrech. Edda kennt ihn doch. Sie haben sich früher ständig geprügelt und als er immer größer und breiter wurde als sie, hat er leider auch immer öfter gewonnen.

Edda lenkt den Wagen in das ihr vertraute, dünn bebaute Viertel und kommt vor einem gelbgetünchten Haus zum Stehen, das gemeinhin das Bromedornhaus genannt wird und dessen Vorgarten den Sommer willkommen heißt. Als Edda aussteigt, umschmeicheln milde, vertraute Gerüche ihre kleine Himmelfahrtsnase. Doch plötzlich greift ein namenloser Schatten nach ihr, ein Gefühl, eine Ahnung – Edda blickt sich um und fühlt sich beobachtet. Da wird die Tür des Hauses aufgerissen, noch bevor Edda das Gartentor öffnen kann, auf dessen Schild der Name Hederich prangt.

»Endlich bist du da«, ruft Astrid und breitet die Arme schon im Laufen aus.

Edda bekommt einen gewaltigen Schreck, denn ihre Tante ist weiß wie der Tod in Persona. Astrid umschließt mit Eisfingern Eddas bis eben noch warme Wangen und küsst sie heftig, wobei sie jedoch gedämpft sagt: »Komm schnell rein! Man schaut uns zu.«

Eddas erster Impuls, sich suchend umzublicken, geht in dem schnellen Vorwärtsschieben ihrer Tante unter und als sich die Haustür hinter ihnen schließt, bricht Astrid auch schon in Tränen aus und vergräbt das Gesicht in den Händen. Sie lässt sich auf eine Stufe der Treppe sinken, die in den ersten Stock führt.

»Er ist ganz bestimmt tot«, stößt Astrid immer wieder hervor und schaukelt mit dem Oberkörper auf und ab. »Sie haben ihn doch schon längst umgebracht. Solche Geschichten gehen in den seltensten Fällen gut aus. Mein armer Junge! Mein Kleiner!«

Der Ernst der Lage wird Edda erst jetzt richtig bewusst, nun, da sie ihre aufgelöste Tante vor sich sieht. Eine unsichtbare Hand drückt auf Eddas Herz, aber sie setzt ein beruhigendes Lächeln auf und reibt ihrer Tante beide Arme. »Komm«, sagt sie. »Lass uns in die Küche gehen. Erzähle mir alles. Noch ist nichts gewiss und ich bin mir sicher, dass Tewes sich schon zu verteidigen weiß.«

Nein, was für ein blöder Spruch!

Edda könnte sich selbst ohrfeigen.

Aber Astrid nimmt es ihr nicht übel, steht auf und geht mit Edda in die altmodische Wohnküche, um sich mit ihr an den weitläufigen Küchentisch zu setzen, dessen dunkles Holz das Echo längst vergangenen Kinderlachens und Frühstücklärms in sich trägt.

»Wo ist Carl?«, will Edda wissen und wirft suchende Blicke nach ihrem Onkel.

»In seinem Büro.«

Astrid faltet die langen Hände auf dem Tisch und weint. Betrübt sieht Edda sie an. Ihre Tante ist eine große, anmutige Frau mit roten Haaren, in die sich binnen Sekunden weiße Strähnen geschlichen haben müssen, denn Edda sieht sie erst jetzt.

»Bitte erzähle mir alles von Anfang an«, fordert Edda sie sanft auf.

Astrid schluchzt einmal laut, putzt sich die Nase und nickt.

»Heute Nacht gegen drei rief uns Claudia aus dem Bett.« Claudia ist Tewes Freundin. »Sie sagte uns, dass sie sich um Tewes Sorgen mache, da er nach dem Training nicht nach Hause gekommen sei. Das hätte zwischen zweiundzwanzig und dreiundzwanzig Uhr geschehen müssen. Zunächst dachte sie wohl, er sei noch irgendwohin gefahren. Aber als es immer später wurde, hat sie angefangen, sich zu sorgen und überlegte, ob er hierhergekommen sei, falls zu Hause vielleicht etwas passiert wäre. Natürlich machten wir uns nach diesem Anruf Sorgen, er könne vielleicht einen Unfall gehabt haben. Doch als wir heute früh im Briefkasten einen anonymen Briefumschlag fanden …« Astrid beendet den Satz nicht und bricht erneut in Tränen aus.

»Wo ist der Brief?«, will Edda wissen. »Darf ich ihn sehen?«

»Dein Onkel hat ihn. Aber es war nicht nur eine Botschaft darin, sondern auch das hier.«

Astrid steht auf und geht zur Anrichte, tastet mit zittriger Hand nach einem Stofftuch und legt es vor Edda auf den Tisch. Stumm blickt Edda auf das aufgeklappte weiße Stofftaschentuch. Sie schafft es nicht, es zu berühren.

Das Tuch ist fast vollständig mit hellrotem Blut besudelt und in den weichen Stofffalten liegt eine hellblonde Haarsträhne.

Tewes ist blond.

Eine Weile lässt Edda dieses Bild auf sich wirken, dann steht sie auf, öffnet das Küchenfester und steckt sich eine Zigarette an.

Ihre Finger zittern stark, aber sie will nicht, dass Astrid es sieht. Edda versucht, sich gefasst zu zeigen, um ihre Tante zu beruhigen. Sie lehnt eine Weile im Fensterrahmen und raucht. Dass Astrid nichts dagegen auszusetzen hat, zeigt, wie aufgelöst sie ist. Eine ganze Zigarettenlänge sprechen sie nicht.

Einmal glaubt Edda, in einiger Entfernung etwas aufblinken zu sehen; vielleicht ein Fernglas, in dem sich die gut gelaunte Sonne spiegelt?

Kurz ist sie versucht, den Mittelfinger rauszuhalten, doch sie hält sich zurück und schließt das Fenster.

Dann setzt Edda Kaffee auf, als sei dies das Natürlichste der Welt, und schiebt ihrer Tante eine dampfende Tasse zu. Sie selbst lässt sich wieder auf die Küchenbank sinken, nippt an ihrem eigenen Kaffee und starrt auf das

Tuch; nimmt es nun endlich in die Hand und riecht daran. Neben dem eisernen Blutgeruch haftet ihm noch ein anderer Duft an, den Edda nicht benennen kann. Irgendetwas zwischen Desinfektionsmittel und Salz. Vielleicht Schweiß? Tewes ist joggen gewesen.

Astrid schaut Edda aus roten Augen zu. Letztere hält das Tuch eine ganze Weile wortlos in Händen und blickt in einem Gemisch aus Betretenheit und namenloser Wut darauf. Diese Mistkerle! Was auch immer sie Tewes angetan haben, sie sollen büßen!

»Noch ist nichts gewiss, Tante«, versucht Edda weiter, Astrid zu beruhigen. »Wenn Carl doch nur sagen würde, was sie wollen. Ich frage ihn!«

Kurz entschlossen steht Edda auf und geht in den Korridor. Die Tür unter der Treppe führt zu Carls Büro. Wüst hämmert Edda dreimal dagegen.

Wie der Kuckuck aus der Uhr reißt ihr Onkel die Tür auf und blickt eher missbilligend auf Edda herunter. Carl ist groß, so wie seine Söhne Tewes und Gunnar. Edda reicht ihm nur knapp bis zur Schulter. Seine Brille sitzt schief auf der Nase, das Hemd hängt ihm aus dem Hosenbund und die Nasolabialfalten wirken tiefer als sonst. Seine Wangen sind unrasiert, was sonst niemals der Fall ist, und das ergraute Haar steht zu allen Seiten wirr vom Kopf.

»Da bist du ja«, grunzt Carl zur Begrüßung und küsst Edda flüchtig auf den Mund.

Er will ihr die Tür vor der Nase wieder zuschlagen, aber Edda hält dagegen.

»Nicht so schnell!«, knurrt sie. »Zeige mir bitte den Brief, Onkel. Von den Entführern.«

»Jetzt nicht«, gibt dieser zur Antwort und wirkt etwas abwesend.

»Natürlich jetzt! Wann denn wohl sonst?«

»Du bist schon wieder viel zu frech«, grunzt Carl und geht zurück ins Büro, lässt die Tür jedoch offenstehen. Edda schiebt sich hinterher und lehnt sie an.

Im Raum ist es düster. Berge von Dokumenten, Notizzetteln und Büchern türmen sich auf Schreibtisch, Sessel, Kaminsims und Fußboden. Die dunklen Bücherregale sind nie ordentlich und das heillose Chaos engt den Raum noch mehr ein als die schwarze massive Vertäfelung der Wände.

Onkel Carl tritt ans Fenster, unter dem der Schreibtisch steht, und tippt bloß wortlos auf die Platte. Edda folgt dem Tippen und sieht einen kleinen Zettel. Sie nimmt ihn und liest:

Aufgrund der ernsten Lage, lieber Carl, haben wir uns gezwungen gesehen, Deinen Sohn Tewes zu uns einzuladen. Du hast genau eine Woche Zeit, um Dich an die Vereinbarung zu halten, sonst wird die Vergangenheit - zu seinem Leidwesen - Bestandteil der Gegenwart werden. Wir beobachten Euch bei jedem Schritt. Sobald Ihr die Behörden einschaltet, wird Tewes leiden.

LA

Edda knallt den Brief auf die Tischplatte, aber Carl zuckt nicht zusammen. Sein eigener Hang zur Wut ist ihr seit jeher ein schlechtes Vorbild gewesen; genauso auch für seinen Sohn Tewes. Oh, wie sehr früher bei den drei Wutköpfen die Fetzen geflogen sind! Im Nachhinein muss Edda bei dem Gedanken daran lächeln. Astrid und Gunnar sind da anders. Die ruhigen Herren der Lage. »Was für ein abscheulicher Brief!«, faucht Edda aufgebracht. »Diese Mistkerle! Und was genau ist mit alledem gemeint, Onkel? Von welcher Vereinbarung ist hier die Rede?«

»Das kann ich dir nicht sagen, Kind«, antwortet Onkel Carl matt. »Es ist kompliziert und weitaus schwieriger zu realisieren als du es dir vorstellen kannst. Geh jetzt wieder zu deiner Tante. Sie ist so froh, dass du da bist.« »Ja, aber was läuft denn hier?«, ruft Edda und breitet die Arme aus. »Wir müssen doch etwas tun, irgendwie tätig werden. Tewes braucht unsere Hilfe, Onkel! Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät und sie haben ihm noch nichts getan.«

»Wahrscheinlich haben sie das noch nicht«, murmelt ihr Onkel. »Das wäre leichtsinnig und er kann unmöglich riskieren, dass ... Lass mich jetzt bitte allein. Ich muss nachdenken.«

»Wer kann was nicht riskieren? Kennst du diese Leute? In dem Brief duzen sie dich ja sogar. Was wollen die von dir?«, poltert Edda, aber Carl dreht sich jäh zu ihr um und zeigt auf die Tür.

»Raus!«, donnert er. Edda sieht ihn aufgebracht an. »Ich sage das nicht nochmal, Edda Betony!«

Wie ein Schatten schleicht Edda hinaus und schließt leise die Tür hinter sich. So ist es immer schon am besten gewesen, wenn Carl die Geduld verlor.

In der Küche läuft Astrid hektisch auf und ab wie ein eingeschlossener Puma. Sie hat die Fingerspitzen aneinandergelegt und betet leise das Vaterunser rauf und runter. Nun sieht sie Edda an und lächelt gequält.

»Ich bin froh, dass du gekommen bist, mein Engelchen«, seufzt sie und zupft an einem von Eddas kurzen lilafarbenen Zöpfen, die unter der Schlägermütze hervorschauen. »Was sollen wir nur tun?«

Mit einer abfälligen Kinnbewegung in Richtung Bürotür schnaubt Edda: »Für mich keine Frage! Auf die Bedingungen eingehen, die die Entführer stellen. Das kann ja nicht so unmöglich sein. Aber wie soll das funktionieren, wenn Onkel Carl uns nicht verrät, worum es sich handelt?«

Astrid nickt und tupft sich die Augen mit einem Taschentuchklumpen. »Ich habe ihn schon den ganzen Morgen mit Fragen gelöchert, bis er sich in seinem Büro verschanzt hat.«

»Von welcher Vereinbarung kann denn in dem Brief nur die Rede sein?«, überlegt Edda laut. »Hast du wirklich keine Vermutung? Und wer ist bitteschön LA? Weiß Gunnar eigentlich schon Bescheid?« Zu viele Fragen auf einmal für die arme Astrid.

*

Nachdem die Spannung unerträglich geworden ist, hat sich Edda in das Zimmer zurückgezogen, das sie und Tewes einst gemeinsam bewohnt haben, um ihre wenigen Sachen unterzubringen, die sie mitgebracht hat. Eigentlich braucht sie nur etwas zu tun, damit die Machtlosigkeit nicht zu erdrückend wird.

Der Blick auf Tewes‘ Bett an der Wand versetzt Edda einen Stich. Sie sieht sich selbst und ihren Vettern vor sich, wie sie sich prügelnd auf dem Boden wälzen, mindestens dreimal wöchentlich. Obwohl Edda ganze sechs Jahre jünger ist als Tewes, hat sie es ihm nie leicht gemacht und das Kräftemessen bereitete ihnen beiden in Wahrheit Freude; glaubt sie heute zumindest.

Edda lässt sich auf ihr eigenes Bett fallen und schaut aus dem kleinen Giebelfenster, das offensteht und milde Luft einlässt. Die Kastanienäste klappern leicht gegen den Rahmen. Widerstrebend, aufgrund der schlechten Botschaft, die sie ihm übermitteln muss, zieht Edda ihr Mobiltelefon hervor und ruft Gunnar an. Er meldet sich nicht sofort, schließlich ist er bei der Arbeit.

Nachdem sie mehrmals versucht hat, ruft er zurück. »Ist es dringend, Knirps?«, begrüßt Gunnar sie. »Ich habe jetzt eigentlich überhaupt keine Zeit.«

»Sehr dringend«, entgegnet Edda und beginnt, zu erzählen. Einige Sekunden lang herrscht Schweigen, nachdem sie geendet hat. Edda hört Gunnars Atem, der sich beschleunigt. Auf dem Nachttisch steht ein Foto von ihnen dreien als Kinder. Gunnar trägt Edda auf dem Rücken, während Tewes ihr von unten am Zopf zieht. Edda wendet den Blick davon ab.

»Ich weiß nicht, wie wir vorgehen sollen«, erklärt Edda und schiebt sich die nächste Zigarette zwischen die Lippen, stellt sich ans Fenster und schnippt Asche hinaus. »Die Polizei zu rufen, ist viel zu riskant. Wenn Tewes überhaupt noch lebt …«

»Gibt es denn keinen Kontakt zu den Entführern?«, unterbricht Gunnar sie. »Könnt ihr ein Lebenszeichen verlangen?«

»Bisher gibt es nur den Brief«, antwortet Edda. »Die Kerle behaupten darin, uns zu beobachten; und ich glaube, das stimmt auch. Ich merke es.«

»Aber gesehen hast du noch niemanden?«

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Kannst du mir den Brief einmal abfotografieren und zuschicken?«

»Dein Vater hat mich aus seinem Büro geschmissen. Ich glaube nicht, dass er mich jetzt reinlässt«, erklärt Edda, die Ellenbogen auf das Fensterbrett gestützt. »Er wird bestimmt mal rauskommen und etwas trinken oder wenigstens pinkeln. Dann mache ich schnell ein Foto.«

Sie schweigen einen Moment.

Die Ungewissheit lastet auf ihnen. Am anderen Ende hört Edda Gunnar auf- und abgehen. Seine Schritte sind schwer.

»Was habt ihr Claudia gesagt?«, bricht er schließlich das Schweigen.

»Ich habe sie angerufen, weil deine Mutter sich nicht in der Gewalt hat. Ich habe nur gesagt, dass ein Notstand eingetreten sei, bei dem sie uns nicht helfen könne. Wir würden uns melden.«

»Und das hat ihr gereicht als Erklärung?«

»Ich hoffe«, meint Edda und nimmt die Mütze vom Kopf, wirft sie auf den Boden, wo sich bereits ihre ausgepackte Wäsche verteilt hat. »Hier auftauchen sollte sie jedenfalls nicht. Es reicht, wenn nur wir beide eingeweiht sind. Sonst ruft sie am Ende noch die Polizei. Wirst du kommen, Großer?«

»Auf jeden Fall«, versichert Gunnar. »Aber ich werde nicht vor morgen bei euch sein. Halte mich bis dahin auf dem Laufenden, Knirps.«