MARCEL LUTHE

SANIERUNGSFALL BERLIN

Unsere Hauptstadt zwischen Missmanagement und Organisierter Kriminalität

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1. Auflage 2021

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Redaktion: Petra Sparrer

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Satz: Zerosoft

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ISBN Print 978-3-95972-446-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-836-2

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INHALT

Einleitung

Kapitel 1: Der Werkzeugkoffer eines Abgeordneten – Anfragen und Akteneinsichten

Kapitel 2: Historische Herleitung – die Baumafia, der Berliner Bankenskandal und seine Folgen

Kapitel 3: Kinder sind unsere Zukunft?

Kapitel 4: Rotlicht an!

Kapitel 5: Justizvollzug – Tage der offenen Tür

Kapitel 6: Eine Stadt wird ausgebremst

Kapitel 7: Wer schützt die, die uns schützen sollen?

Kapitel 8: Netflix und die Realität: von Clans und Organisierter Kriminalität

Kapitel 9: Reine Herzensgüte oder knallhartes Geschäft – die Vetternwirtschaft der Sozialen

Kapitel 10: Rechtsstaat nach Tagesform

Kapitel 11: Big Brother is watching you

Kapitel 12: Der Anschlag am Breitscheidplatz

Kapitel 13: Sicher durch die Nacht

Kapitel 14: Warum brennt es bei der Berliner Feuerwehr?

Kapitel 15: Ein Thema für sich: die Flughafengesellschaft FBB

Kapitel 16: Die Stasi und der Senat

Kapitel 17: Bomben in Berlin

Kapitel 18: Berlin ist krank

Kapitel 19: Masken für alle oder: Was kostet die Welt?

Kapitel 20: Sanierungsfall Berlin – ein Jahr Corona-Verordnungen

Schlusswort

Anmerkungen

EINLEITUNG

»Ist Berlin ein ›Failed State‹?«, werde ich immer wieder in Diskussionsrunden gefragt. Das ist eine Frage der Perspektive.

Zunächst einmal kommt es – wie in jeder Debatte zwischen Bürgern – darauf an, Einigkeit über die Begriffe selbst herzustellen. Der Urvater der deutschen Politolinguistik, der ehemalige CDU-Abgeordnete Josef Klein, hat mir das immer wieder als typische Technik der Grünen angeführt: Man nehme einen nach allgemeinem Konsens aufgefüllten Begriff, höhle diesen mit einem scharfen Löffel langsam, aber stetig aus und fülle diesen mit einem neuen Inhalt.

»Liberalismus« ist ein solches Beispiel. Oder auch »Soziale Marktwirtschaft«. Wer sich die Mühe macht – wobei ich den Stil auch heute noch sehr unterhaltsam finde – und Ludwig Erhards »Wohlstand für alle« liest, wird schnell feststellen, dass dessen »Soziale Marktwirtschaft« herzlich wenig mit dem zu tun hat, was die meisten Menschen heute darunter verstehen. Die heutige Wirtschaftsform der Bundesrepublik hätte Erhard als Planwirtschaft sozialistischer Prägung verstanden – mit Aufweichungen in manchen Bereichen.

Insoweit ist auch der Begriff des »Failed State« nicht eindeutig, denn diejenigen, die in souveränen Nationalstaaten und deren Untergliederungen einen Garant von Freiheit, Frieden und Wohlstand sehen, stellen andere Anforderungen an einen Staat als diejenigen, die eine vollständige Nivellierung der Verhältnisse global erreichen wollen oder – um es mit Churchill zu sagen – die gleichmäßige Verteilung des Elends, den Sozialismus.

Aus sozialistischer Sicht ist Berlin eine Erfolgsgeschichte: Durch die auch über den Königsteiner Schlüssel hinaus erfolgreich verlangte Zuweisung von Flüchtlingen ist es nicht nur gelungen, die Wohnungsknappheit in Berlin massiv zu verstärken, sondern der Senat hat durch die Anmietung von Privatwohnungen zum Zweck der Unterbringung von Flüchtlingen – etwa eine möblierte 44-qm-Wohnung für 6000 Euro monatlich – zugleich erfolgreich die Preise für Wohnraum angeheizt. Diese hausgemachte Anhebung der Nachfrage – mit praktisch unbegrenzten finanziellen Mitteln – einerseits und die stetige Verteuerung von Bauprojekten durch staatliche Vorgaben zur Bauausführung andererseits führen zu einer weiteren Preissteigerung und damit dazu, dass immer mehr Angehörige der Mittelschicht immer weiter verarmen und ebenfalls staatliche Leistungsempfänger werden, während die Gutverdiener entweder als »Immobilienhaie« zum Feindbild stilisiert werden können oder nach dem zweiten Brandanschlag auf ihr Auto Berlin gleich ganz verlassen. So oder so entsteht, was für den Klassenkampf notwendig ist: zwei einander feindselig gegenüberstehende Klassen. Insoweit ist Berlin kein »Failed State« für Sozialisten, denn er erodiert erfolgreich den Mittelstand.

Aber auch für Kapitalisten ist Berlin kein »Failed State« – vorausgesetzt, sie haben die richtigen Freunde im Senat. So hatte der rot-rote Senat im Jahr 2004 erfolgreich landeseigene Wohnungsbestände –zum Beispiel 6000 Wohnungen in Spandau und Reinickendorf – an einen privaten Investor veräußert – für immerhin rund 230 Millionen Euro. Und 2019 kaufte man dann eben diese Wohnungen wieder zurück, um den bösen Miethai zu bestrafen. Für etwa 930 Millionen Euro! Knapp 700 Millionen in 15 Jahren nur für das Halten eines Bestands – da kann man auch als Kapitalist Berlin doch nur als Erfolgsprojekt sehen!

Es bleibt nur einer auf der Strecke: der eingangs von mir erwähnte Bürger der Mittelschicht, denn er bezahlt – im Gegensatz zu den Transferleistungsempfängern unter und den klug beratenen Weltbürgern über ihm – mit einem immer größer werdenden Anteil des Staates an der vom Bürger erwirtschafteten Leistung – die Kapriolen, mit denen Rot-Rot-Grün, ebenso wie Rot-Schwarz und Rot-Rot vor ihnen, Freiheit, Wettbewerb und Wirtschaft vernichtet und Sozialismus errichtet.

Für diese Bürger ist Berlin ein »Failed State«.

Aufgabe der Abgeordneten ist es, alle Bürger – den Souverän, uns alle! – wahrheitsgemäß und vollständig anhand objektiver Zahlen über die wahre Leistung der Regierung zu unterrichten und aufzudecken, wo und für wen dieser Staat aktuell scheitert.

In den vergangenen viereinhalb Jahren habe ich dies mit zahlreichen Anfragen an den Senat getan und musste feststellen, dass Berlin praktisch in jedem Politikfeld – stets aus Sicht des mittelständischen Bürgers – gescheitert ist.

Diese Geschichten – manche würden von Skandalen sprechen – gehen meist deutlich tiefer und sind vielschichtiger, als es sich auf einer Zeitungs- oder Magazinseite bestenfalls darstellen lässt. Einen Teil dieser Geschichten kann ich nun hier etwas ausführlicher erzählen.

Jede Einzelne wäre in einem funktionierenden Staat nicht möglich gewesen, hätte aber zumindest die Justiz und Opposition mit aller Entschlossenheit auf den Plan gerufen.

Die Mittel, Berlin wieder auf den richtigen Kurs zu bringen, sind vorhanden. Sie müssen nur von engagierten Abgeordneten und ihren Wählern angewendet werden.

Berlin ist also nicht vollkommen gescheitert, sondern – positiv gesehen – ein Sanierungsfall.

KAPITEL 1

DER WERKZEUGKOFFER EINES ABGEORDNETEN – ANFRAGEN UND AKTENEINSICHTEN

Am 18. September 2016 wurde ein neues Abgeordnetenhaus von Berlin gewählt, der Landtag des Stadtstaates Berlin. Und als mich am nächsten Morgen Lorenz Vossen von der Berliner Morgenpost anrief, um ein Interview mit mir zu führen – das erste als Abgeordneter – war ich nicht wenig überrascht, denn die Detailergebnisse kannte ich da noch nicht.

Umso überraschter war ich zu erfahren, dass ich nicht nur in das Abgeordnetenhaus gewählt worden war, sondern der einzige gelbe Fleck auf der Berliner Karte in meinem Wahlkreis Grunewald & Halensee lag.

Quelle: Landeswahlleitung Berlin

Mit einem Gewinn von 12,6 Prozentpunkten gegenüber der desaströsen Wahl von 2011 konnte sich das durchaus sehen lassen – und ging mit einer großen Verantwortung einher. Entgegen der Vorstellung, die sicherlich viele Nichtberliner von unserer Stadt haben, ist Berlin im Prinzip ein Dorf. Die allermeisten Bürger bewegen sich in ihrem Kiez – und eher ungern aus diesem heraus.

Und mein Kiez war seit meinem Umzug nach Berlin der, der dann auch mein Wahlkreis wurde, und in dem ich – vielfach sichtbar – meinen Nachbarn ein klares Angebot gemacht hatte: Die Aufgabe zu erfüllen, ihre Interessen gegenüber denen anderer Bürger zu vertreten. Fünf Jahre lang. In einem »Teilzeitparlament« – so die damalige Definition.

Kurze Zeit später kamen wir erstmalig mit denjenigen zusammen, die für die nächsten fünf Jahre eine Fraktion bilden und gemeinsam arbeiten sollten. Wie diese Arbeit eigentlich genau aussieht, hatte uns niemand gesagt. Ebenso wenig war die Frage beantwortet, mit welchen Mitteln wir diese Arbeit eigentlich erledigen sollten. Einen Onboarding-Prozess, wie ich ihn aus Unternehmen kannte, gab es nicht.

Und so war der zentrale Leitfaden die Arbeitsplatzbeschreibung aus Artikel 38 der Verfassung von Berlin:

»Die Abgeordneten sind Vertreter aller Berliner. Sie sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.«

Was heißt das?

Alle Berliner zu vertreten, kann kein einziger Mensch erfüllen. Es liegt in unserer Natur, uns mit denjenigen am stärksten zu identifizieren, die uns auf die eine oder andere Art ähnlich sind. Deshalb kommt es im ersten Satz auf den Plural an – und das war mir im Hinblick auf manchen mir anfangs persönlich nicht sonderlich sympathischen Kollegen wichtig. Nur alle Abgeordneten gemeinsam – auch die Kollegen, die randständige Positionen vertreten – vertreten alle Berliner.

Wer sich weigert, mit dem einen oder anderen Kollegen zu sprechen, diesen bei parlamentarischen Prozessen ausgrenzt und seinen Ideen und Anregungen nicht wenigstens Gehör schenkt, der verletzt den Sinn dieser Regelung unserer Verfassung. Für diese Haltung bin ich immer mal wieder angegriffen worden, wenn ich mit Bürgern unterschiedlichster persönlicher, beruflicher, politischer und sozialer Hintergründe das Gespräch gesucht habe. Aber genau das ist unsere Aufgabe als Abgeordnete!

An Aufträge und Weisungen nicht gebunden zu sein, fällt mir als jemand, der Zeit seines Lebens allergrößten Wert auf berufliche und persönliche Unabhängigkeit gelegt hat, nicht allzu schwer. In einem Gefüge von 160 Abgeordneten kommt es aber nicht allein darauf an, ob ein Einzelner versteht, was die Freiheit von Aufträgen und Weisungen bedeutet.

Vor der ersten Sitzung eines meiner – anfangs acht – Ausschüsse, die ich für unsere Fraktion übernommen hatte, fragte mich der designierte Vorsitzende, ein erfahrener SPD-Abgeordneter, ob ich mit einer bestimmten Regelung, die Einstimmigkeit erfordere, einverstanden sei – um prompt zu ergänzen, dies sei ja auch schon mit »meinem Chef« abgesprochen.

Als ich ihn darauf hinwies, dass ich nie in meinem Leben – und erst recht nicht als freier Abgeordneter – einen »Chef« hatte, war er sichtlich erstaunt, denn offenbar hatte sich bei ihm über die jahrzehntelange Parlamentszugehörigkeit ein Selbstverständnis seiner Rolle als Abgeordneter entwickelt, demzufolge er und wohl auch alle seiner Kollegen den Fraktionsvorsitzenden als ihren »Chef« betrachten.

Wer sich also wundert, weshalb viele Abgeordnete entgegen der theoretischen Aufgabenbeschreibung aus der Verfassung – und im Bund gleichlautend dem Artikel 38 des Grundgesetzes – nicht deutlich ihre eigene Meinung vertreten und – gerade in Krisenzeiten – als Jasagertruppe wahrgenommen werden, führe sich dieses Beispiel vor Augen. Der Parlamentsbetrieb führt meines Erachtens automatisch dazu, dass individuelle Unabhängigkeit – ob aus Sorge, Bequemlichkeit oder schlichter Gewohnheit – mit der Zeit tendenziell kleiner wird und der Abgeordnete entgegen des Wortlauts der Verfassung sehr wohl nach »Aufträgen und Weisungen« sucht bzw. sich an diese gewöhnt.

Meinem sichtlich erstaunten SPD-Kollegen und den umstehenden anderen Fachsprechern erwiderte ich, dass er mich verwechseln müsse, da ich keinen Chef habe und im Übrigen leider meine Zustimmung nicht geben könne und entschuldigte mich dann. Die verdutzten Gesichter meiner Kollegen hätten mich eigentlich deutlicher darauf hinweisen sollen, dass Unabhängigkeit von Abgeordneten in der Praxis offenbar etwas sehr Ungewöhnliches ist. Geändert hätte es aber vermutlich ohnehin nichts.

Der letzte Punkt aus der Regelung der Berliner Landesverfassung scheint mir der Schwierigste zu sein. Erich Kästner, der von den Nationalsozialisten verfemte, berühmte Kinderbuchautor, der ein viel bedeutenderer politischer Publizist war, stellte seinerzeit zu diesem Thema zu Recht fest: »Das Gewissen ist fähig, Unrecht für Recht zu halten, Inquisition für Gott wohlgefällig und Mord für politisch wertvoll. Das Gewissen ist um 180 Grad drehbar.«1

Was also soll diese Regelung der Verfassung, dass Abgeordnete nur ihrem Gewissen unterworfen sind, eigentlich nutzen?

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts2 ist eine Gewissensentscheidung jede ernstliche, sittliche, also an den Kategorien von »Gut« und »Böse« orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend erfährt, sodass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte. Einen Gesetzesvorbehalt, also die Möglichkeit, die Gewissensfreiheit einzuschränken, kennen Berliner Verfassung und Grundgesetz nicht.

Nach meinem Verständnis stärkt diese Regelung noch einmal die Unabhängigkeit der Abgeordneten, die sich gegenüber jedermann – auch und insbesondere den eigenen Kollegen – auf ihr Gewissen berufen können. In den vier Jahren in der Fraktion der Freien Demokraten habe ich nur sehr wenige Fälle erlebt, bei denen sich andere Abgeordnete auf ihr Gewissen berufen haben, um einem Vorschlag nicht zuzustimmen. Darin sehe ich ein fundamentales Problem in unseren Parlamenten, denn die Gewissensfrage stellt sich nach meiner Überzeugung nicht nur in Fragen wie der nach der Legalisierung der Sterbehilfe, der gewerblichen Werbung für Abtreibung oder anderen unmittelbaren Fragen von Leben und Tod.

Nahezu jede parlamentarische Entscheidung ist eine, bei der wir Verantwortung übernehmen müssen. Für die beabsichtigten wie auch die unbeabsichtigten Folgen unseres Handelns. Wenn wir uns vor Augen führen, dass kleinste Änderungen in den Haushaltsgesetzen – die Umverteilung weniger tausend Euro – für ein Projekt das Ende bedeuten können, klingt das noch nicht dramatisch.

Wenn aber die eine Kraft, die über dieses Projekt mit einem Minijob finanziert wird, der ihr Halt und eine Aufgabe gibt, die sie woanders nicht gefunden hat, diesen Halt nun verliert? Sich nicht mehr um sich selbst und ihr familiäres Umfeld kümmern kann? Wenn man sich die Entscheidungen nicht leicht macht, indem man die eigene Verantwortung ignoriert, wird jede politische Entscheidung zur Gewissensfrage. Und so sollte es auch sein.

Welche konkreten Aufgaben die Abgeordneten also übernehmen, überlässt die Verfassung letztlich der individuellen Verantwortung der Gewählten. Ungeachtet dessen gibt es aber in unserer parlamentarischen Demokratie eine Gewaltenteilung und wechselseitige Kontrolle zwischen Exekutive, Legislative und Judikative, also der Regierung, dem Parlament und den Gerichten. Eben diese Kontrolle der Regierung durch das Parlament ist nach meiner Erfahrung als selbständiger Kaufmann die Kernaufgabe der Parlamente, denen wir in den Jahrzehnten seit der Gründung der Bundesrepublik zunehmend weniger nachgekommen sind.

Wenn der Inhaber eines Unternehmens sich nicht für das Geschäft interessiert, seine Mitarbeiter und ihre Probleme nicht kennt, seine Führungskräfte nicht für gute Leistungen lobt und schlechte konstruktiv tadelt, dann geht ein Unternehmen früher oder später in eine Abwärtsspirale. Und so ist es auch mit »der Politik«. Gemeint ist damit zumeist die Exekutive in Gestalt der politischen Verwaltungschefs und der Heerschar von Beamten und Angestellten, die wir als Bürger viel zu lange allein gelassen haben.

So habe ich meine Aufgabe verstanden, mit dem Wissen, das ich aus zwei Jahrzehnten beruflicher Tätigkeit in den unterschiedlichsten Branchen mitgebracht habe. Soweit die Beschreibung der zu lösenden Aufgabe. Aber mit welchen Mitteln sollen wir Abgeordnete das erreichen?

Während in der Berliner Exekutive – der Verwaltung des Senats und der zwölf Berliner Bezirke – allein 120 000 Menschen arbeiten und noch einmal rund 55 000 weitere in den einzelnen Beteiligungsunternehmen des Landes Berlin, besteht die für die Kontrolle der Exekutive gewählte Legislative, das Berliner Abgeordnetenhaus, aktuell aus 160 Abgeordneten.

Ein Verhältnis von einem Kontrolleur auf 1100 zu kontrollierende Personen klingt schon nach einer sportlichen Aufgabe. Wenn wir dann noch berücksichtigen, dass mindestens 51 Prozent der Abgeordneten faktisch schon deshalb wegfallen, weil die jeweilige Koalition glaubt, ihre Aufgabe bestehe darin, die Regierung vor der Opposition zu schützen, statt diese zu kontrollieren, verschiebt sich die Waage noch mehr zu Gunsten einer weitgehend unkontrollierten Exekutive.

Dabei sind die Mittel, die den Berliner Abgeordneten zur Verfügung stehen, durchaus weitreichend. Artikel 45 der Verfassung von Berlin regelt sowohl das Fragerecht der Abgeordneten als auch das Recht, »Einsicht in Akten und sonstige amtliche Unterlagen der Verwaltung zu nehmen. Die Einsichtnahme darf abgelehnt werden, soweit überwiegende öffentliche Interessen einschließlich des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung oder überwiegende private Interessen an der Geheimhaltung dies zwingend erfordern«.

Theoretisch bedeutet dies also, dass wir Abgeordnete – mit wenigen Ausnahmen – jede Akte der Verwaltung erhalten. Praktisch kommt dies sehr darauf an, wer wie schnell welche brisante Akte haben will, denn die durch das Parlament kontrollierte Exekutive entscheidet zunächst einmal selbst, ob womöglich »überwiegende Interessen an der Geheimhaltung« bestehen. Und wenn man das anders sieht, muss man eben klagen.

Die Macht dieses Kontrollinstruments ist aber ohnehin groß. Die Möglichkeit, sich selbst ein Bild davon zu machen, ob und wie die Exekutive die von uns beschlossenen Vorgaben auch umsetzt und wo – sagen wir – Verbesserungsbedarf besteht, ist wirkungsvoll. Umso erstaunter war ich zu erfahren, wie viele Akteneinsichtsanträge insgesamt – über fünf Jahre – es in der vorausgehenden Legislaturperiode, also von 2011 bis 2016, gegeben hatte: sage und schreibe 93, das heißt 0,12 Akteneinsichten pro Abgeordnetem und Jahr. Da ist es doch kein Wunder, wenn die Exekutive das Gefühl hat, niemand interessiere sich für ihre Arbeit, oder?

In der aktuellen Wahlperiode, die im Herbst 2021 endet, hatte es immerhin bis November 2020 – also nach gut vier Jahren – schon 119 Anträge gegeben, also 0,19 pro Abgeordnetem und Jahr. Das ist nicht doll, aber immerhin steigt die Tendenz.

Dabei waren die Fraktionen in höchst unterschiedlichem Maß an der Arbeit der Verwaltung interessiert: Die SPD-Fraktion stellte mit ihren 38 Abgeordneten ganze vier Anträge in vier Jahren, die CDU immerhin zwölf Anträge, Linke und Grüne je zehn, die AfD sogar 18 Anträge. Und die kleinste Fraktion, die FDP, interessierte sich 73 Mal – davon 67 Mal auf meinen Antrag hin – für die Akten der Verwaltung, mehr als alle anderen Fraktionen zusammen.3, 4 Seit dem Sommer 2020 und meinem Ausschluss aus der Fraktion der Freien Demokraten kamen dann noch einmal sieben Anträge von fraktionsfreien Abgeordneten hinzu.

Die Themen der Akteneinsichten waren dabei so vielfältig wie die Aufgaben der Berliner Verwaltung. Sie reichten von der politisch durchaus interessanten Frage, wer weshalb angeordnet hat, dass es entgegen der Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung kein Schweinefleisch in staatlichen Berliner Kitas geben soll, über die Gesellschaftererklärung der Flughafengesellschaft FBB (vgl. Kapitel 16) bis zu schwersten Vergewaltigungen, die unter den Adressen von bekannten Berliner Clubs wie dem Berghain stattgefunden haben sollen – und über die nie berichtet wurde.

Es ist unsere Aufgabe als Abgeordnete, so viele Informationen wie möglich zu gewinnen – und diese mit dem Souverän, dem Bürger, Ihnen allen zu teilen, damit wir alle die richtigen Entscheidungen treffen können. Eine Demokratie kann nur dann funktionieren, wenn den Bürgern, egal ob sie Wähler oder Nichtwähler sind, kein Sand in die Augen gestreut wird, sondern wenn sie über bestmögliche Informationen aus erster Hand verfügen. Denn nur dann kann der Souverän die richtige, informierte Wahlentscheidung treffen, statt danach gehen zu müssen, welches Plakat am meisten Hoffnung gemacht hat, weil die Werbeagentur besser war.

Bei jeder Akteneinsicht, die ich bisher durchführen konnte, stieß ich auf überraschte Gesichter. Teils erst einmal skeptisch, teils offen begeistert, aber immer verwundert, dass sich ein Abgeordneter so sehr für einen Vorgang interessiert, dass er die Akte sehen und selbst lesen will. Oft haben sich aus diesen Kontakten und Gesprächen neue, spannende Impulse und Ideen ergeben, denn auch wenn das Potenzial der Exekutive über Jahre und Jahrzehnte durch die Ignoranz der Parlamente verstaubt ist, bedarf es nicht viel, um diesen Staub wieder wegzufegen!

Jetzt stellen Sie sich doch einmal vor, dies würden nicht nur einige wenige, sondern alle rund 2600 Abgeordnete in Deutschland tun. Wir würden nicht nur von dem Wissen der verschiedensten Menschen profitieren, sondern ein ganz neues Klima der Wertschätzung schaffen. Und wir würden den weniger engagierten Beamten und Angestellten vermitteln, dass es sehr wohl jemanden gibt, der sich für ihre Leistung interessiert: der Souverän. Wir alle.

Das zweite Mittel im Instrumentenkoffer der Abgeordneten ist die Parlamentarische Anfrage. Sie wird je nach Detailregelungen des jeweiligen Parlaments auch Kleine Anfrage genannt. Die Große Anfrage erfolgt dort dann durch die Fraktionen. In Berlin wird sie schlicht Schriftliche Anfrage genannt:

»Jedes Mitglied des Abgeordnetenhauses kann über bestimmte Vorgänge in einer Anfrage, die bei dem Präsidenten schriftlich einzureichen ist, vom Senat Auskunft verlangen (Schriftliche Anfrage). Der Senat beantwortet die schriftliche Anfrage schriftlich.

Die Antwort soll innerhalb von drei Wochen erfolgen. Der Senat darf schriftliche Anfragen grundsätzlich nicht wegen ihres Umfangs zurückweisen und hat Verzögerungen zu entschuldigen. Anfrage und Antwort werden vom Präsidenten auch als Sammelvorlage veröffentlicht.«5

Soweit die Theorie, die die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses vorgibt. Und wie so oft sieht die Praxis etwas anders aus.

Fragen kann der einzelne Abgeordnete theoretisch vieles, aber je nach Art und Weise der Fragestellung – und des Respekts, den das jeweilige Senatsmitglied vor dem Parlament in einer Demokratie so hat – erhält er dann Antworten unterschiedlichster Qualität. So hatte der Regierende Bürgermeister Michael Müller in der Plenarsitzung vom 16. Februar 2017 auf die Frage nach den Prüfungen von Regressansprüchen gegen ehemalige Aufsichtsratsmitglieder der Flughafen Berlin-Brandenburg GmbH – gedacht hatte man da an seinen Amtsvorgänger Klaus Wowereit und andere – geantwortet, diese seien »natürlich alle schon erfolgt«. Er sagte: »Es ist schon von den früheren Aufsichtsräten alles entsprechend diskutiert und geprüft worden.«6 Darin sah ich eine ideale Gelegenheit, hier ein wenig Transparenz darüber herzustellen, an wen und weshalb eigentlich die Milliarden öffentlicher Mittel geflossen sind, die Berlin in der brandenburgischen Heide wortwörtlich vergraben hat. Und ob denn vielleicht doch irgendjemand für das Finanzdesaster BER verantwortlich sein könnte? Also fragte ich nach:

»Demnach hat der Regierende Bürgermeister positives Wissen um diese Prüfungen und deren Resultate. Nach § 36 Abs. 1 GGO I Berlin sind über Besprechungen, Prüfungen, Telefonate etc. Vermerke zu fertigen.

1. Wann, in wessen Auftrag, durch wen und mit welchem vollständigen Wortlaut des Rechtsgutachtens sind Regressforderungen des Landes Berlin gegen den Regierenden Bürgermeister a.D. Klaus Wowereit sowie weitere ehemalige oder amtierende Mitglieder des Senats im Zusammenhang mit der Flughafen Berlin-Brandenburg GmbH oder verbundenen Unternehmen geprüft worden?

2. Wann und wo können diese Unterlagen und Vermerke – jedenfalls von den Abgeordneten – eingesehen werden?«

Ich war ja gerade erst seit wenigen Monaten Abgeordneter und dementsprechend hoffnungsfroh. Die folgenden 16 Tage bis zum Erhalt der Antwort waren eine Zeit spannender Erwartung einer umfangreichen Antwort, mit deren Lektüre ich sicher einige Tage verbringen würde, um damit endlich der Spur der Milliarden folgen zu können und aufzuklären, wie ein – in der freien Wirtschaft undenkbarer – Schlendrian in dieses Bauprojekt einkehren konnte, für den keiner verantwortlich sein wollte. Doch die Antworten der damaligen Berliner Finanzstaatssekretärin Margaretha Sudhoff, die mich nicht selten mit ihrem feinen Sinn für Ironie überrascht hat, waren ernüchternd:

»Zu 1.

Durch Beschluss des Aufsichtsrates vom 01.11.2012 wurde die Flughafen Berlin Brandenburg GmbH (FBB) beauftragt, durch eine Rechtsanwaltskanzlei sämtliche Haftungsfragen im Zusammenhang mit den Verschiebungen der Inbetriebnahme des Flughafens Berlin Brandenburg Willy Brandt (BER) vom 03.06.2012 auf den 17.03.2013 und anschließend auf den 27.10.2013 zu klären. Im Rahmen der Auftragsvergabe an die Rechtsanwaltskanzlei Hengeler Müller Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB (Hengeler Müller) für das Haftungsgutachten trafen die Gesellschafter die Vorauswahl in einem vorgeschalteten Interessenbekundungsverfahren. Die Gesellschafter gaben die Auftragsdurchführung frei, nachdem ihre Vertreter sich bei dem Auftragnehmer von der Aussicht auf eine sachgerechte und qualifizierte Auftragsdurchführung überzeugen konnten.«7

Merken Sie etwas? Die kleine Teilfrage nach dem »vollständigen Wortlaut« des Gutachtens hat man in der Beantwortung irgendwie übersehen. Der Grund für diesen Fehler ist sodann in der Antwort auf meine zweite Frage zu finden:

»Die rechtlichen Bewertungen der Haftungsaspekte durch Hengeler Müller stellen Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der FBB dar und können deshalb nicht offengelegt werden. Sie sind dem Untersuchungsausschuss ›BER‹ als vertrauliche Unterlagen (Verschlusssache-vertraulich) zur Verfügung gestellt worden.«

Mit anderen Worten: Es ist also ein Geheimnis der zu 100 Prozent aus öffentlichen Mitteln finanzierten Flughafengesellschaft, die im Eigentum der Länder Berlin und Brandenburg sowie des Bundes steht, ob und mit welchem Ergebnis die politisch besetzten Aufsichtsräte einen oder zwei Fehler gemacht und ein paar Milliarden Steuermittel verschwendet haben? Kann das sein?

Das Bundesverfassungsgericht hat dankenswerterweise den gesetzlich nicht definierten Begriff des Betriebs- und Geschäftsgeheimnisses mit Beschluss vom 14. April 2006 bestimmt: »Als Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse werden alle auf ein Unternehmen bezogene Tatsachen, Umstände und Vorgänge verstanden, die nicht offenkundig, sondern nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind und an deren Nichtverbreitung der Rechtsträger ein berechtigtes Interesse hat. Betriebsgeheimnisse umfassen im Wesentlichen technisches Wissen im weitesten Sinne; Geschäftsgeheimnisse betreffen vornehmlich kaufmännisches Wissen. Zu derartigen Geheimnissen werden etwa Umsätze, Ertragslagen, Geschäftsbücher, Kundenlisten, Bezugsquellen, Konditionen, Marktstrategien, Unterlagen zur Kreditwürdigkeit, Kalkulationsunterlagen, Patentanmeldungen und sonstige Entwicklungs- und Forschungsprojekte gezählt, durch welche die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Betriebs maßgeblich bestimmt werden können.«

Versäumnisse von Aufsichtsratsmitgliedern, die nicht nur keinen blassen Schimmer von Unternehmensführung und betriebswirtschaftlichen Kennzahlen haben, geschweige denn von der konkreten Projektsteuerung von Großbauprojekten, sind ganz offensichtlich weder technisches Wissen noch kaufmännisches Wissen, sondern rechtliches Wissen. Also kein »Betriebs- und Geschäftsgeheimnis«.

Hinzu kommt, dass die Abgeordneten ja – wie wir oben gelesen haben – ein umfangreiches Auskunfts- und Einsichtsrecht in die Akten der Verwaltung haben, also spätestens aus den Akten der Senatskanzlei deutlich werden würde, worauf sich der Regierende Bürgermeister in der Parlamentssitzung zwei Wochen zuvor mit seiner Behauptung eigentlich bezogen hatte. Und schließlich dürfen wir nicht vergessen, wem die Flughafengesellschaft eigentlich gehört: dem Staat. Und das sind nicht Michael Müller oder Angela Merkel, sondern Sie und ich. Wir alle.

Der von mir wegen seines feinen Humors sehr geschätzte Grunewalder Bankier Carl Fürstenberg – und mit Abstand von rund hundert Jahren mein Nachbar – wird gerne mit dem folgenden Ausspruch zitiert: »Aktionäre sind dumm und frech. Dumm, weil sie ihr Geld anderen Leuten ohne ausreichende Kontrolle anvertrauen, und frech, weil sie Dividenden fordern, also für ihre Dummheit auch noch belohnt werden wollen.«8

In Zeiten, in denen Staaten die Hälfte dessen durch Steuern einfordern, was Sie mit Ihrer Arbeit erwirtschaften, liegt der Fall – aus der Sicht vieler Regierungsvertreter und zu meiner Enttäuschung auch vieler Oppositioneller – so auch für das Verhältnis von Ihnen als Bürger zum »Staat«: Sie vertrauen einer unkontrollierten – jedenfalls kaum kontrollierten – Bürokratie Hunderte Milliarden Euro jährlich an und verlangen dann allen Ernstes, dass diese dafür Leistung bringt?

Warum sollte sie das tun? Welchen Anreiz gibt es dafür? Eben. Der einzige Ansatz, um diese Logik zu durchbrechen, ist es, die Kontrolle der Bürokratie durch uns – den Souverän – wiederherzustellen und dafür im ersten Schritt Transparenz zu schaffen.

Bei vielen meiner Anfragen habe ich den Soziologen Robert Michels und sein ehernes Gesetz der Oligarchie vor Augen: »Die Organisation ist die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Delegierenden.«

Diese Erkenntnis aus seinem 1911 erschienenen und hochaktuellen Werk »Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie – Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens« hilft zu verstehen, weshalb und mit welchen Mitteln sich früher oder später jede Organisation durch ihre Führung aufschwingen wird, selbst die Kontrolle zu übernehmen und diese auch zu behalten, egal ob die dazu erforderlichen Schritte noch mit den Idealen der Organisation selbst vereinbar sind. Die Organisation wird vom Mittel zum Zweck zum Selbstzweck.

Dieses Phänomen ist mir in den vergangenen Jahren in einer Vielzahl von Bereichen begegnet – und eben auch im Aufsichtsrat der Flughafengesellschaft, der schließlich nicht den Zweck hatte zu existieren, sondern die Arbeit der Geschäftsführer der Flughafengesellschaft zu kontrollieren. Oder im Senat, der den Zweck hat, die Verwaltung der ihm durch den Bürger geliehenen Steuermittel – eigenes Geld hat ein Staat ja praktisch nicht – zu kontrollieren. Oder dem Parlament, das die Aufgabe hat, den Senat bei seiner Aufgabe – und sich selbst wechselseitig – zu kontrollieren.

In all diesen Bereichen haben sich Oligarchien herausgebildet, deren Interesse nicht primär der Erfüllung der Aufgabe gilt, sondern zunächst einmal der Bewahrung der eigenen Position. Dazu ist es erforderlich, Herrschaftswissen in einem kleinen Kreis zu halten, dessen wechselseitige Kontrolle dadurch erfolgt (oder auch nicht), dass ein jeder etwas über die Versäumnisse des anderen weiß. Wenn dieses Wissen nun nach außen dringen würde, wäre das gleichbedeutend mit einem Machtverlust all derjenigen, die bisher exklusiv auf diese Informationen zugreifen konnten.

Und eben deshalb ist die Frage nach der Verantwortung des damaligen Regierenden Bürgermeisters nicht nur nicht öffentlich beantwortet worden, sondern die Informationen sind nur als »vertrauliche Verschlusssache« einem Untersuchungsausschuss zur Verfügung gestellt worden. »Vertrauliche Verschlusssache« bedeutet übrigens ganz praktisch, dass Abgeordnete die Dokumente nicht einmal selbst lesen und bearbeiten können.

Obwohl an deren Erstellung eine Heerschar von demokratisch gar nicht legitimierten Rechtsanwälten und deren Angestellte mitgearbeitet haben, obwohl die Berichte mehreren Angestellten der – staatlichen – Flughafengesellschaft bekannt sind, obwohl praktisch jeder mit dem Vorgang befasste Beamte sich diese Akte nehmen und sie in Ruhe in seinem Büro lesen – und theoretisch auch kopieren – könnte, erhalten die durch Wahl bestimmten Vertreter des Souveräns, die Abgeordneten, diese Unterlagen nicht direkt.

Stattdessen werden ihnen solche Unterlagen nur unter Aufsicht zum Lesen zur Verfügung gestellt, etwaige Notizen müssen sie abgeben. Und wenn Unterlagen einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss, dem angeblich schärfsten, unter den allermeisten Vorsitzenden aber eher buttermesserstumpfem Schwert der Demokratie, zur Verfügung gestellt werden, bedeutet das natürlich nicht, dass jeder Abgeordnete diese lesen darf. Auch bekommt nur ein kleiner Kreis von Mitgliedern des jeweiligen Ausschusses die Unterlagen überhaupt je zu Gesicht.

Sie merken bereits: Die Oligarchie im Sinne des Soziologen Michels scheut das Bekanntwerden objektiver Daten über ihr Handeln. Dabei ist man sehr kreativ, die vielfältigsten Gründe zu erfinden, weshalb man eine bestimmte Information – leider, leider – nicht mitteilen könne, erst recht nicht öffentlich und zudem auch noch schriftlich. Anfangs versuchte es der Senat gerne damit, entweder Unwissen vorzugeben oder war tatsächlich komplett unwissend.

Die erste meiner bisher – je nach Zählweise – etwa 2000 Parlamentarischen Anfragen befasste sich mit dem – wenn man denn eine Metropole regieren will – nicht ganz nebensächlichen Wunsch, zu verstehen, welche unbebauten oder seit mindestens einem Jahr ungenutzten Grundstücke im Land Berlin im Eigentum des Landes oder von Landesbeteiligungen stehen. In meiner von der täglichen Arbeit mit Unternehmenskennzahlen geprägten beruflichen Tätigkeit als Unternehmensberater erworbenen grenzenlosen Naivität hatte ich erwartet, eine strukturierte Liste zu bekommen, die alle Immobilien nach Größe, Gestehungskosten, Marktpreis, Lage, Zustand, bisheriger Nutzung und so weiter säuberlich auflistet – am Besten auf Knopfdruck.

Eine Software, die einer meiner Geschäftspartner schon 2008 angeboten hatte, war dazu – und zu Tausenden weiterer Detaildaten – jederzeit und für Unternehmen aller Größenordnungen in der Lage. Dann würde es so etwas doch etliche Jahre später in der Verwaltung der Hauptstadt der größten Industrienation Europas mit Sicherheit auch geben. Wie sonst soll denn ein Finanzsenator »sein« Vermögen bewerten, wie sonst kann ein Stadtentwicklungssenator wirklich langfristig die Entwicklung einer Stadt planen?

Die Antwort war ernüchternd: »Eine aggregierte Übersicht wird nicht zentral vorgehalten, da die Vermögensträger die Grundstücke jeweils in eigener Zuständigkeit verwalten.«9 Mit anderen Worten: Wissen wir nicht, interessiert uns auch nicht. Und da wundert sich jemand über den Zustand unserer Stadt, das heillose Chaos in so vielen Teilen?

Diese fehlende strategische Übersicht gepaart mit einer gehörigen Portion Gleichgültigkeit weiter Teile des politischen Spitzenpersonals unserer Hauptstadt sind meines Erachtens der zentrale Grund dafür, weshalb Berlin nicht nur »arm, aber sexy« war, sondern durch den erratischen Umgang des Senats mit SARS-CoV2-Infektionen, sowie das Sterben der breiten kreativen Freizeit- und Tourismusangebote unserer Stadt zukünftig vorerst »arm und unsexy« sein wird.

Was mich hoffen lässt, ist das Vertrauen in die trotzige Durchhaltefähigkeit des Berliners, die jeder, der diese Stadt in sein Herz schließt, innerhalb weniger Jahre annimmt: der, die oder das sogenannte »Daffke«.

Ein weiterer Grunewalder Nachbar aus der Koenigsallee (Koenigs nicht Königs, nach dem Bankier, der das Gelände damals entwickelt hat), der personifizierte Berliner Harald Juhnke, hat dieses Berliner Lebensgefühl in seinem Song That’s life sehr schön wiedergegeben. Die Quintessenz:

»Wenn jeder von mir sagt: Der ist verlor’n, dann steh’ ich auf und beginn’ wieder von vorn.«

So sind die Berliner. Und so ist Berlin. Deshalb ging es trotz aller Skandale der Vergangenheit, trotz aller ökonomischen Tiefschläge, die diese Stadt hinnehmen musste, immer wieder weiter – irgendwie.

Zur Abwechslung könnten wir natürlich aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Diesmal wirklich. Bisher hat das nicht so gut geklappt, wenn wir uns erinnern.

KAPITEL 2

HISTORISCHE HERLEITUNG – DIE BAUMAFIA, DER BERLINER BANKENSKANDAL UND SEINE FOLGEN

Die Bankgesellschaft Berlin war eine Legende. Sie steht für die größte Bankenpleite in der Geschichte der Bundesrepublik und einen der größten Wirtschafts- und Politikskandale nach der Wiedervereinigung. Bekannt wurden die Hinter- und Abgründe der Bankgesellschaft im Jahr 2001 durch einen kritischen und beinahe durch die politische Hausleitung des damaligen Senders Freies Berlin noch gestoppten Bericht einiger aufmerksamer unerschrockener Journalisten.

Deren Gegenspieler waren diejenigen, die in Filmen gerne als »ehrenwerte Gesellschaft« bezeichnet werden oder sich selbst so bezeichnen, die Berliner Oligarchie im Michel’schen Sinne der Nachwendezeit.

Im Gegensatz zu Regierenden Bürgermeistern wie Ernst Reuter oder Willy Brandt hat diese Oligarchie keine positiven bleibenden Erinnerungen in unserer Stadt hinterlassen.

Und selbst deren Versagen ist wieder in Vergessenheit geraten. In so einer abenteuerlichen Geschwindigkeit, dass der langjährige CDU-Grande und damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen, regelmäßig in der Berliner B.Z. die aktuelle Politik kommentiert und – mit einigen Jahren Distanz – 2007 gar mit dem Verdienstorden des Landes Berlin geehrt wurde. Der Umstand, dass Diepgen durch das konstruktive Misstrauensvotum eines Bündnisses aus SPD, Grünen und PDS am 16. Juni 2001 abgewählt worden war und die CDU daraufhin mal eben 17,0 Prozentpunkte der Wählerstimmen verloren hatte, wovon sie sich bis heute nicht erholt hat, geriet ebenso schnell in Vergessenheit wie die »extreme Haushaltsnotlage«, die Folge dieses Skandals war. Die gesamte Geschichte der Bankgesellschaft, der umfangreichen Immobiliengeschäfte und der vielen, spannenden Akteure, die teils heute noch in Berlin hochaktiv sind – würde den Umfang dieses Buches sprengen.

Aber die Methoden und Prozesse – polizeilich der Modus Operandi – der Akteure ist bis heute derart ähnlich, dass sich zumindest eine kurze Betrachtung lohnt.

Am 24. Juli 1997, also rund vier Jahre vor öffentlichem Bekanntwerden der immensen finanziellen Risiken für das Land Berlin und damit für alle Bürger, erstellte der Hannoveraner Wirtschaftsprüfer Achim Walther einen 34-seitigen Bericht »über die Sonderprüfung zu den Risiken der von der Unternehmensgruppe Immobilien- und Baumanagement der Bankgesellschaft Berlin GmbH aufgelegten geschlossenen LBB-Immobilienfonds«.

Eine Sonderprüfung wird ja – wie der Name schon sagt – nicht regulär, sondern nur bei besonderen Anlässen vorgenommen. Man hatte also schon vor Beauftragung des Wirtschaftsprüfers Anlass zur Annahme, dass hier das eine oder andere Risiko – in der Summe etwa 23 Milliarden Euro – schlummern könnte.

Zum Vergleich: Das gesamte Einnahmevolumen des Berliner Landeshaushalts – die Summe aller Einnahmen, inklusive der aus dem Verkauf des »Tafelsilbers«, – belief sich im Jahr des öffentlichen Bekanntwerdens dieser Risiken auf etwa 20 Milliarden Euro. Das »kleine Risiko«, dessen Existenz man über mehrere Jahre dem Parlament und der Öffentlichkeit wohlwissentlich verschwiegen hatte, war also größer als die gesamten Jahreseinnahmen des Landes Berlin!

Theoretisch sind unsere demokratischen Prozesse in gleich mehrfacher Hinsicht dagegen abgesichert, dass ein solcher Skandal überhaupt entstehen kann, denn Landesgesellschaften wie die Bankgesellschaft werden nicht nur von der zuständigen Senatsverwaltung überwacht, sondern diese auch durch die zuständigen Parlamentsausschüsse, diese durch das gesamte Parlament und dieses wiederum durch den Souverän, uns alle.

Dann kann ja gar nichts passieren.

Außer natürlich, wenn an einer Stelle in dieser Kette der Informationsfluss und damit die Kontrollmöglichkeit abreißt oder bewusst gekappt wird. Oder wenn diejenigen, die die Kontrolle an irgendeiner Stelle in der Kette ausüben sollen, keinen blassen Schimmer haben, was sie da eigentlich tun.

So ist es in diesem Fall gewesen.

Bereits am 30. Januar 1997 hatte der Vorstandssprecher der Landesbank Berlin, Ulf-Wilhelm Decken, der zugleich auch Aufsichtsratsmitglied der Immobilientochtergesellschaft IBG war, den Hannoveraner Wirtschaftsprüfer kontaktiert und seine Sorgen und Bedenken wegen auch für ihn undurchsichtiger Konstruktionen bei den Immobiliendeals der Bankgesellschaftstochter geschildert. Als Aufsichtsratsmitglied hatte Decken dazu nicht nur das Recht, sondern im Rahmen seines übernommenen Aufsichtsratsmandats auch die Pflicht. Und dieser ist er nachgekommen. So weit, so gut.

Allerdings: Decken war ja nicht allein im Aufsichtsrat. Warum hatte eigentlich kein anderes Aufsichtsratsmitglied vor ihm kritische Fragen oder gar Bedenken zu den Konstruktionen? Wenn ein Fachmann wie Decken schon Zweifel hatte, ob er die Konstrukte durchschaut, was war denn dann mit den politischen Mitgliedern des Aufsichtsrats?

Da gab es zum Beispiel die Sozialdemokratin Annette Fugmann-Heesing, die Vorgängerin des heutigen Finanzsenators Matthias Kollatz (SPD). Die Juristin, die übrigens zum Thema »Parkvorsorge in Städten, rechtliche Fragen und praktische Auswirkungen auf die Stadtstruktur unter besonderer Berücksichtigung US-amerikanischer Erfahrungen«10 promoviert hatte, war einschlägig erfahren, denn vor ihrer Berufung zur Berliner Finanzsenatorin durch Eberhard Diepgen (CDU) war sie bereits hessische Finanzministerin gewesen. Zwar nur bis zu ihrem Rücktritt wegen der sogenannten Lotto-Affäre, aber immerhin. Auch diese kleine Nebengeschichte zeigt, worauf es bei der Übergabe der Verantwortung für das Berliner Finanzressort offenbar ankam – und worauf nicht.

»Die ›Lotto-Affäre‹ hatte mit der Lüge des Finanzstaatssekretärs Otto-Erich Geske begonnen«, berichtete der Spiegel 1994. Er hatte versichert, der frühere Lotto-Chef Hans-Joachim Dumschat hätte ›keine Abfindung‹ erhalten, als er vorzeitig ausscheiden musste. »Dabei hatte der Frühpensionär Dumschat in Wahrheit noch mal schnell 200 000 Mark kassiert.« Wenige Wochen später wurde Geske entlassen, trotz der Unterstützung durch Ministerin Fugmann-Heesing.

Dumschats Nachfolger als Lotto-Chef wurde Hanns-Detlef von Uckro, der zuvor Abteilungsleiter in Fugmann-Heesings Ministerium gewesen war. Denn obwohl er sein 300 000-Mark-Gehalt mit Fugmann-Heesing selbst ausgehandelt hatte, tat diese lange so, als wüsste sie von der Gehaltshöhe nichts.

Zunächst unterstützte sie von Uckro, ließ ihn aber schließlich fallen, als der Druck zu hoch wurde. Schließlich musste auch die Minsterin selbst den Hut nehmen.

Vor diesem Hintergrund des offenbar schlechten Gedächtnisses der Ministerin hätte man womöglich einen anderen Kandidaten in Betracht ziehen können, aber offenbar war der Umstand, dass die Berliner Finanzsenatorin als Aufsichtsratsmitglied im Gegensatz zum Banker Decken den vollen Durchblick durch die steuer- und gesellschaftsrechtlich hochkomplexen Konstruktionen hatte und deshalb keine Sonderprüfung verlangt hatte, wichtiger.

Neben Fugmann-Heesing war die Politik aber auch noch mit einem weiteren »Finanz- und Wirtschaftsexperten« im Aufsichtsgremium vertreten: dem Lehrer für Geschichte, Politik und Geografie Dietmar Staffelt (SPD). Auch er hatte höhere akademische Weihen errungen und eine Dissertation zum Thema »Der Wiederaufbau der Berliner Sozialdemokratie 1945/46 und die Einheitsfrage – ein Beitrag zur Nachkriegsgeschichte der unteren und mittleren Organisationsgliederungen der SPD« verfasst. Besondere fachliche Qualifikationen hatte Herr Staffelt zwar nicht, war aber als ehemaliger Vorsitzender der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus ja schon von Amts wegen geeignet, die Geschäfte des Bankvorstands zu kontrollieren. Auch er hatte offenbar den vollen Durchblick hinsichtlich der Finanzkonstruktionen der Bankgesellschaft und daher keine Notwendigkeit einer Sonderprüfung gesehen.

Der 34-seitige Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass die gesamte Immobilienfondskonstruktion der Bankgesellschaft auf Sand gebaut ist, da die erwünschten Steuervorteile keinesfalls sicher, sondern wohl eher »zu Unrecht erbracht sind«. Für die Behandlung von Steuern in den Ländern politisch zuständig ist der jeweilige Landesfinanzminister – oder im damaligen Fall eben die Finanzsenatorin. Die wollte aber von diesem Problem gar nichts mitbekommen haben.

Hätte sie den Sonderprüfungsbericht aus dem Jahr 1997 damals gelesen, wäre es ein Leichtes gewesen, die Notbremse zu ziehen. Hätten Abgeordnete in den zuständigen Ausschüssen, dem Haushaltsausschuss (in Berlin Hauptausschuss genannt) und seinen Unterausschüssen, dazu Fragen gestellt und die Vorlage von Akten durchsetzen können, wäre womöglich zumindest aufgefallen, dass die Senatorin den alarmierenden Bericht überlesen hatte.

Beides hatte aber schlicht niemand getan. Der Stein kam nur durch die akribische Aufklärungsarbeit engagierter – und durch Insider informierter – Journalisten ins Rollen. So sehr, dass nicht nur der Regierende Bürgermeister Diepgen (CDU) gestürzt wurde, sondern dass sogar eine kleine Gruppe von Managern der Bankgesellschaft zivil- und strafrechtlich verfolgt wurden. Der sicherlich Prominenteste von ihnen war der langjährige CDU-Fraktionsvorsitzende Klaus-Rüdiger Landowsky.

Den Aufsichtsrat freilich hat niemand belangt. Auch nicht die Oberstaatsanwältin, die sich detailliert in die komplexe Bankgesellschaftsaffäre eingearbeitet und in diesem riesigen Verfahren die Anklage vertreten hatte. 2014 – also dreizehn Jahre später, nachdem die Ansprüche gegen den Aufsichtsrat längst verjährt waren, wurde auch Klaus-Rüdiger Landowsky in letzter Instanz und auf Kosten der Staatskasse von allen Vorwürfen freigesprochen.

Sein damaliger Rechtsanwalt kommentierte dies mit dem Vorwurf an die Oberstaatsanwältin, diese habe mit der Ex-Justizsenatorin Karin Schubert (SPD) und dem ehemaligen brandenburgischen Finanzminister Klaus-Dieter Kühbacher (SPD) »bei der Ingangsetzung dieses Strafverfahrens politisch zusammengewirkt«, was aktenkundig sei, um Landowsky mit »an den Haaren herbeigezogenen Verdächtigungen« zu schädigen. Das habe das Land Berlin Millionen – an Prozesskosten – gekostet, obwohl die Substanzlosigkeit der Vorwürfe für Kenner der Materie von Anfang an offensichtlich gewesen sei.11

Das wäre womöglich eine strafbare Verfolgung Unschuldiger – zudem aus politischen Gründen – also ein starker Vorwurf. Eine Reaktion hat es aber nie gegeben.

Und so endete die Affäre um die Bankgesellschaft – die nicht nur viel Geld gekostet und politische Aufregung gestiftet hat, sondern in deren Zuge auch zahlreiche Existenzen vernichtet wurden – wie das berühmte Hornberger Schießen. Rauch, Pulverdampf und am Ende ändert sich: gar nichts.