Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. Vorwort – Die Alternative: ein Leben in Angst oder Freiheit
  8. Kindheit
  9. Kinderspiele
  10. Schulzeit
  11. Neue Frau, neue Mutter
  12. Lindas Flucht in die Freiheit
  13. Die Hafties
  14. Heirat
  15. Frisch verheiratet
  16. Eine Tragödie
  17. Cathleen und Tammy heiraten Merril
  18. Der Unfall
  19. Zurück nach Hause
  20. Hawaii: sieben Tage, aber nur zwei Nächte
  21. Als FLDS-Frau Mutter werden
  22. Einheirat in die Familie Jeffs
  23. Tammys missglückte Rebellion
  24. Das Musical
  25. Warrens Aufstieg zur Macht
  26. Merrils Herzanfall
  27. Ruths Nase
  28. Patricks schreckliches Erlebnis
  29. Der Wendepunkt
  30. Ich nehme mein Leben in die Hand
  31. Harrisons Krebserkrankung
  32. Mein letztes Baby
  33. Harrisons neuer Port
  34. Warren wird Prophet
  35. Nach der Flucht
  36. Ein neues Leben beginnt
  37. Beim Generalstaatsanwalt
  38. Im Frauenhaus
  39. Unser erstes Weihnachten
  40. Die letzte Sorgerechtsverhandlung
  41. Brian
  42. Es geht aufwärts
  43. Nachwort
  44. Danksagung

Über dieses Buch

Carolyn Blackmore wird in eine Polygamistensekte hineingeboren, in der Frauen keine Rechte haben und den Männern gehorchen müssen. Da diese Gesellschaft mit ihren frauenverachtenden Strukturen von klein auf das Einzige ist, was sie kennt, stellt Carolyn sie niemals in Frage. Bis sie mit 18 dazu gezwungen wird, den 50-jährigen Merril Jessop zu heiraten. In den folgenden 15 Jahren teilt sie Haus und Mann mit insgesamt sechs weiteren Frauen und bekommt selbst acht Kinder. Der Bevormundung und den brutalen Schikanen ihres Ehemanns und der anderen Frauen hilflos ausgeliefert, hält Carolyn es nicht mehr aus. In ihrer Verzweiflung bleibt ihr nur ein Ausweg: Bei Nacht und Nebel wagt sie mit ihren Kindern die Flucht.

Über die Autorin

Carolyn Jessop, geboren 1968, verbrachte die meiste Zeit ihres Lebens als Mitglied einer christlichen Polygamistensekte in Colorado City, Arizona, wo die Sekte ihr Hauptquartier hat. Seit ihrer Flucht lebt sie mit ihren Kindern in einer Kleinstad in Utah.

CAROLYN JESSOP
mit Laura Palmer

GEFANGENE
IM NAMEN
GOTTES

Meine Flucht aus den Fängen
einer Polygamistensekte

Aus dem Amerikanischen von
Maria Zybak

BASTEI ENTERTAINMENT

Ich widme dieses Buch meinen acht Kindern: Arthur, Betty, LuAnne, Patrick, Andrew, Merrilee, Harrison und Bryson. Ich habe euch unendlich lieb. Ihr wart mir immer Ansporn weiterzumachen, ihr habt mir die Kraft gegeben, die ich brauchte, auch in meinen dunkelsten Tagen. Dieses Buch ist auch den Frauen und Kindern gewidmet, die sich in der polygamen Lebenswelt ebenso eingesperrt fühlen wie ich früher und sich vielleicht fragen, ob es ihnen überhaupt zusteht, von einem Leben in Freiheit und Sicherheit zu träumen. Oh ja, es steht euch zu!

Vorwort
Die Alternative: ein Leben in Angst
oder Freiheit

Flucht. Seit Monaten hatte ich auf diesen Moment gewartet – jetzt war es so weit. Ich musste schnell handeln, durfte mich nicht von der Angst beherrschen lassen. Ich hatte nur einen Versuch. Und es ging um neun Menschenleben: das meiner acht Kinder und mein eigenes.

Montag, 21. April 2003. Um zehn Uhr abends stellte ich fest, dass mein Mann irgendwann zu einer Geschäftsreise aufgebrochen war. Meine acht Kinder waren zu Hause, auch mein Ältester, der fünfzehnjährige Arthur, der oft auswärts auf Baustellen arbeitete. Diese zwei entscheidenden Voraussetzungen mussten gegeben sein, damit ich flüchten konnte: dass mein Mann fort war und dass meine Kinder alle daheim waren. Mir blieben nur ein paar Stunden Zeit.

Die Alternative zur Flucht hieß, in ständiger Angst zu leben. Ich war fünfunddreißig und verzweifelt entschlossen, aus der polygamen Lebenswelt zu flüchten, der einzigen, die ich kannte. Meine Vorfahren waren seit sechs Generationen Polygamisten. Ich wurde in eine Sekte hineingeboren, die sich Fundamentalist Church of the Latter-Day Saints (FLDS) nennt – im Deutschen bekannt als Fundamentalistische Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (FHLT). Unsere kleine Gemeinschaft, die an der Grenze zwischen Utah und Arizona lebte, zählte etwa zehntausend Menschen.

Mit achtzehn wurde ich in eine arrangierte Ehe mit Merril Jessop gezwungen, einem fünfzigjährigen Mann, den ich kaum kannte. Ich wurde seine vierte Frau und bekam innerhalb von fünfzehn Jahren acht Kinder – von Arthur, meinem Ältesten, bis zu meinem jüngsten Sohn Bryson, der damals achtzehn Monate alt war und noch gestillt wurde. Mein Sorgenkind von den übrigen sechs war mein Sohn Harrison, fast vier Jahre alt, der durch eine hoch aggressive Krebserkrankung, ein spinales Neuroblastom, schwere Nervenschäden hatte.

Als mir klar wurde, dass ich tatsächlich flüchten konnte, ging ich als Erstes zu meiner Schwester Linda, um von dort zu telefonieren. Von zu Hause aus war das nicht möglich, denn die Telefone wurden abgehört. Die anderen sechs Frauen meines Mannes waren misstrauisch. Ich galt als etwas zu selbständig, zu eigenwillig, deshalb hatten meine Mitfrauen immer ein Auge auf mich. Beim geringsten Verdacht würde eine von ihnen sofort Merril anrufen.

Auch meine Schwester gehörte der FLDS-Gemeinschaft an, aber sie und ihr Mann führten keine polygame Ehe. Sie wusste aus früheren Gesprächen mit mir, wie verzweifelt es mich zur Flucht drängte. Wir waren beide der Meinung, dass die Sekte unter der Führung ihres Propheten Warren Jeffs erschreckend extrem wurde. »Lass den Kelch an mir vorübergehen«, witzelten wir immer, wenn wir miteinander telefonierten.

Warren Jeffs predigte, seit er nach dem Tod seines Vaters Rulon Jeffs die Führung der Sekte übernommen hatte, er selbst sei der fleischgewordene Jesus Christus und sein verstorbener Vater sei Gott. Und er erging sich immer öfter in dunklen Andeutungen, dass er seine Anhänger zum »Zentrum«, wie er es nannte, führen wolle. Wir befürchteten, er meinte damit eine von einer Mauer umgebene Siedlung, aus der es kein Entkommen mehr gab. Denn Jeffs war nicht der Meinung, dass die Menschen das Recht hatten, selbst zu entscheiden.

Mein Mann hatte großen Einfluss in der FLDS und stand Jeffs sehr nahe. Vermutlich würde mein Mann mit seinen sieben Frauen und fünfundvierzig Kindern unter den Ersten sein, die Jeffs zu diesem »Zentrum« brachte. Für mich und meine Kinder wäre es nichts anderes als ein Gefängnis gewesen – und wir hätten es sofort melden müssen, wenn ein anderer vom rechten Weg abkam oder dem Wort Gottes nicht gehorchte.

Während meiner Kindheit in der FLDS war unser Leben nicht so extrem reglementiert wie später unter Warren Jeffs. Die Kinder der Gemeinschaft besuchten öffentliche Schulen. Doch damit war Schluss, als Jeffs die Führung übernahm. Die Lehrer an den öffentlichen Schulen seien von Heiden ausgebildet worden und verdorben, befand er. Jeffs ordnete an, dass alle FLDS-Kinder in kircheneigene private Schulen zu gehen hätten, in die sogenannten »Schulen der Priesterschaft«.

Unsere Kinder sind die »von Gott auserwählte Saat«, predigte Jeffs, und unsere Pflicht für uns als Volk Gottes sei es, sie vor allem Unreinen zu bewahren. In den FLDS-Schulen wurden die Kinder einer Gehirnwäsche unterzogen, statt unterrichtet zu werden. Meine Kinder lehrte man, dass die Dinosaurier niemals existiert hätten und der Mensch niemals den Fuß auf den Mond gesetzt habe. Ich erlebte mit, wie ihre Entwicklung immer mehr gehemmt wurde.

Ich war Lehrerin an einer öffentlichen Schule gewesen und liebte die Literatur. Ich hatte über dreihundert Kinderbücher gesammelt. Kurz nachdem Jeffs die Führung übernommen hatte, ordnete er an, dass alles weltliche Material – einschließlich Bücher – aus der Gemeinschaft verschwinden müsse. Mein Mann befahl uns, dieser Anordnung Folge zu leisten. Unser Haus wurde von oben bis unten durchsucht, alle Literatur, einschließlich meiner Kinderbücher, eingesammelt und vernichtet.

Die Mädchen, die Jeffs verheiratete, wurden immer jünger, das wusste jeder von uns, und er selbst nahm sich eine Frau nach der anderen (zuletzt waren es siebzig). Einmal kam ich nach einem von Harrisons Krankenhausaufenthalten nach Hause und konnte meine zwölfjährige Tochter Betty nicht finden. Als ich herumfragte, wo sie sei, bekam ich keine Antwort. Ich war ganz aufgelöst. Schließlich sagte mir jemand, sie habe »den Wünschen ihres Vaters« Folge geleistet. Und ich erfuhr, dass sie und mehrere andere junge Mädchen zum Übernachten ins Haus des Propheten eingeladen worden waren …

Als ich bei meiner Schwester ankam, rief ich als Erstes bei der Polizei an. Beim Polizeirevier in Arizona nahm um diese Uhrzeit niemand mehr ab, ich landete bei einem Anrufbeantworter. Aber das Revier in Utah war noch besetzt. Ich fragte, ob dort jemand bereit sei, einer Frau und ihren Kindern zu helfen, die die FLDS-Gemeinschaft verlassen wollten. Der Polizist sagte, sie könnten in diesem Fall nichts tun, denn wir lebten zwar nur ungefähr eine Meile jenseits der Grenze, aber juristisch gesehen eben in Arizona.

Es ging schon auf elf Uhr nachts zu. Ich rief bei einer Gruppe an, die Frauen bei der Flucht aus der Polygamie unterstützt, aber dort konnte niemand unmittelbar aktiv werden.

Mitternacht rückte näher, bald würde die Falle zuschnappen. Meine Schwester und ich riefen meinen Bruder in Salt Lake City an. Arthur hatte die Sekte vor vier Jahren verlassen, um die Frau zu heiraten, die er liebte und die gleichzeitig seine Stiefschwester war. Als seinerzeit die dritte Frau unseres Vaters zu uns zog, brachte sie ihre acht Kinder mit. Arthur verliebte sich in Thelma, eine ihrer Töchter. Sie bekamen jedoch keine Heiratserlaubnis, obwohl sie biologisch nicht verwandt waren. Als der damalige Prophet, Warren Jeffs’ Vater, Thelma einen Mann als Ehegatten zuwies, den sie nicht wollte, floh sie zusammen mit Arthur. Sie verließen die FLDS, heirateten und bauten sich in Salt Lake City ein gutes Leben auf.

Arthur war zu Hause, als ich anrief. »Arthur, wenn ich es heute Nacht noch versuche, komme ich hier raus. Hilfst du mir?«

»Carolyn«, antwortete er, »ich werde alles tun, um dir zu helfen, aber auch wenn ich sofort losfahre, kann ich frühestens um fünf Uhr morgens bei dir sein.«

»Kommst du?«, fragte ich und bemühte mich, meine Verzweiflung nicht durchklingen zu lassen. Wir lebten dreihundert Meilen entfernt. Er würde die Nacht durchfahren müssen.

»Ich komme«, sagte er.

Wir vereinbarten, uns bei Canaan Corners zu treffen, einem Mini-Markt jenseits der Grenze in Utah, drei Meilen von uns entfernt. Arthur sagte, er werde mit einem Anhänger kommen, um meinen Van nach Salt Lake City zu bringen. Der Wagen war zwar auf meinen Namen angemeldet, aber die Nummernschilder waren nicht mehr gültig. Die Frauen in der Gemeinschaft durften zwar Auto fahren, aber unsere Wagen hatten entweder gar keine oder abgelaufene Nummernschilder, so dass wir von der Polizei angehalten wurden, wenn wir ohne Erlaubnis unseres Ehemanns irgendwo hinfahren wollten. Wir neun würden alle in Arthurs Geländewagen passen, und er wollte unseren anderen Bruder Darrell bitten, auch mitzukommen.

Mein Benzintank sei fast leer, sagte ich zu Arthur, aber ich würde alles tun, um zum Treffpunkt zu gelangen. »Bitte komm mich suchen, wenn ich nicht auftauche«, flehte ich ihn an. »Vielleicht komme ich nicht aus der Stadt heraus. Bitte fahr nicht wieder weg ohne mich.«

Jetzt musste ich mir etwas einfallen lassen, um meine Kinder aus dem Haus und in meinen Van zu bekommen. Sie würden niemals mitkommen, wenn sie wüssten, dass wir aus der Gemeinschaft flohen.

Meine Kinder hatten große Angst vor der Welt draußen. Uns wurde stets eingebläut, dass alle Menschen außerhalb unserer Gemeinschaft böse seien. Der bevorstehende Weltuntergang ist ein Kernpunkt der FLDS-Lehre. Diesem Glaubenssatz zufolge werden, wenn Gott kommt, um die Bösen zu vernichten, alle Menschen außerhalb der Gemeinschaft vernichtet. Diejenigen jedoch, die sich als würdig erwiesen hatten, würden als Gottes auserwähltes Volk verschont und ins himmlische Königreich erhoben werden. Wir spielten als Kinder dementsprechend nicht Verstecken, sondern Apokalypse.

Ich weiß noch, wie uns die Leute mit Verachtung und Abscheu musterten, wenn wir in unseren langen, pastellfarbenen Kleidern über dunklen Leggings in die Stadt gingen. Sie riefen uns »Polygs« nach und manchmal bewarfen sie uns mit Steinen. Ihre Feindseligkeit war für uns die Bestätigung, dass all die bösen Menschen in der Welt draußen nichts lieber taten, als uns Schaden zuzufügen oder uns sogar zu vernichten.

Es war kurz nach Mitternacht, als ich das Haus meiner Schwester Linda wieder verließ. Zu Hause war alles still. Ich holte zwei schwarze Müllsäcke aus der Küche und schlüpfte dann leise in die Zimmer der Kinder, um jedem Kleidung für zwei Tage einzupacken. Da ich die Wäsche oft nachts machte, würde niemand Verdacht schöpfen, falls man mich mit Kindersachen von einem Zimmer zum anderen gehen sähe.

Mein Zimmer im Untergeschoss führte zu einem gepflasterten Bereich, ich konnte es durch eine Verandatür betreten und wieder verlassen. Als ich von meiner Schwester zurückkam, parkte ich meinen Van direkt vor meinem Zimmer, damit ich ihn problemlos beladen konnte. Ich packte die Kleidung meiner Kinder hinein, unsere Familienfotos und eine Tüte mit Harrisons Medikamenten. Ich wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis ich nach unserer Flucht neue Ärzte für ihn fände, deshalb hatte ich schon seit fünf Monaten Medikamente gehortet. Ich hatte seine Tagesdosis ein wenig reduziert – um ein Milligramm hier und dort –, so dass ich einen kleinen Vorrat anlegen konnte.

Harrison war fast vier Jahre alt, konnte aber weder gehen noch sprechen und musste noch gewindelt werden. Er konnte nicht normal essen, sondern musste über einen Schlauch mit kalorienreicher Flüssignahrung versorgt werden. Als zusätzliche Kraftnahrung hatte ich seit sechs Monaten immer etwas Muttermilch von mir zugegeben – ich stillte ja meinen Kleinsten noch –, und sie schien gut anzuschlagen. Vorher hatte ich Harrison etwa einmal in der Woche ins Krankenhaus bringen müssen, in dem halben Jahr vor unserer Flucht kein einziges Mal.

Ich musste ihn unbedingt so weit bekommen, dass er auch normal zu essen begann. Harrison schrie und schlug um sich, wenn ich ihm etwas Essbares in den Mund schieben wollte. Er hasste es, aber ich wusste, dass ich nicht seine ganze medizinische Ausrüstung und den Vorrat an Spezialnahrung würde mitnehmen können, wenn wir flohen.

Pizza war meine Rettung. Harrison liebte Pizza. Schließlich hatte ich ihn so weit, dass er kleine Stückchen kaute und auch schluckte. Es dauerte fast vier Monate, aber am Ende konnte ich ihn auch mit Bröckchen von anderen Sachen füttern.

Harrison war schwerstbehindert, aber gerade dadurch trug er zu unserer Rettung bei. Er musste rund um die Uhr betreut werden. Mein Mann war überzeugt davon, dass ich mit Harrison niemals würde fliehen können, das wusste ich. Wie sollte das auch gehen? Harrison musste nachts ans Sauerstoffgerät, das neben seinem Bettchen stand. Es machte mir große Sorgen, wie er es ohne Sauerstoff schaffen würde, aber dieses Risiko musste ich eingehen.

Um vier Uhr morgens fing ich an, die Kinder aufzuwecken. Ich erklärte ihnen ganz sachlich, dass Harrison krank sei und zum Arzt müsste, eine absolut glaubhafte Begründung, denn Harrison musste ständig zu irgendeinem Arzt. Für die kleineren Kinder war es ein spannendes Abenteuer, sie kamen nicht allzu oft aus der Gemeinschaft hinaus. Den älteren Kindern sagte ich, dass auch sie mitkommen müssten, denn wir wollten hinterher zusammen mit Arthur Familienfotos bei Sears machen lassen.

Meine älteren Kinder reagierten gereizt. Sie wollten nicht mitkommen, aber ich bestand darauf.

Als sich meine Tochter Betty gerade anzog, kam eine von Merrils anderen Frauen herein. Sie begann Betty misstrauisch auszufragen. Inzwischen war es ungefähr vier Uhr zwanzig morgens. Dann rief sie offenbar meinen Mann an und berichtete ihm, dass ich auf sei und meine Kinder anziehe. Mein Vater erzählte mir später, Merril habe ihn gegen vier Uhr fünfundzwanzig angerufen und gesagt: »Was treibt Carolyn, verdammt nochmal? Sie ist auf und zieht die Kinder an!« Dad antwortete, dass er keine Ahnung habe, und er sagte die Wahrheit. Ich glaube, Merril war vollkommen überrumpelt. Ich hatte mich in den letzten Wochen sehr bemüht, in keiner Weise seinen Argwohn zu erregen. Wir hatten sogar zwei Tage zuvor miteinander geschlafen.

Dann rief Merril bei uns an, er wollte unbedingt mit mir sprechen. Ich hörte meinen Namen über die Haussprechanlage. Aber ich wusste, dass ich es nie schaffen würde zu gehen, wenn ich jetzt mit ihm sprach. Es war fast halb fünf. Mir blieben nur noch Minuten.

Ich setzte meine Kinder eines nach dem anderen in den Van und sagte, sie sollten den Gurt anlegen. Ich war fast in Panik, wir waren viel zu spät dran. Nur Harrison war noch im Haus. Ich lief hinein, stellte das Sauerstoffgerät ab und hob ihn aus seinem Bettchen. Ich gurtete ihn in seinem Kindersitz fest, drehte den Zündschlüssel um und zählte nach, ob auch alle Kinder da waren. Betty fehlte.

Ich musste in Sekundenschnelle eine Entscheidung treffen: Lasse ich ein Kind zurück, um die sieben anderen zu retten? Nein. Entweder alle oder keiner. Ich lief noch einmal hinein und fand Betty weinend und zornig in ihrem Zimmer.

»Mutter, du tust etwas Unrechtes! Warum weiß Vater nicht, was du vorhast?«

Ich packte sie am Arm. Sie wehrte sich und versuchte, sich frei zu strampeln. Ich zerrte sie hoch. »Betty, ich lasse dich nicht allein zurück! Du kommst mit!«

Ich schaffte Betty in den Van, obwohl sie weiter protestierte, schlug die Tür zu und startete. Ein Anruf von Merril beim nächsten Polizeirevier, und wir saßen in der Falle. Die Polizisten waren Mitglieder der FLDS, Merril konnte sich darauf verlassen, dass sie meine Flucht verhindern würden. Außerdem hatte die Gemeinschaft auch einen Wachdienst, der nachts Streife fuhr. Wenn mich jemand sah, würde ich angehalten und gefragt werden, ob mein Mann wüsste, was ich vorhätte.

Es war eine stockdunkle Nacht. Ich sah ständig in den Rückspiegel, ob hinter uns ein Auto kam. Sollte uns jemand verfolgen, würde ich aufs Gaspedal treten.

Nach ungefähr zwei Meilen begann der Motor zu stottern. Der Benzintank war fast leer. Die Kinder spürten, dass etwas im Gange war, und bekamen Angst. In einiger Entfernung sah ich schon Canaan Corners, den Treffpunkt. Mein Herz klopfte wie wild. Ich bekam kaum Luft. Als ich das Gefühl hatte, dass der Motor gleich absterben würde, fuhr ich zur Seite. Das Benzin sei aus, sagte ich zu den Kindern, aber weiter vorne hätte ich Leute gesehen, die uns vielleicht helfen könnten. Ich stieg aus und lief zu dem Laden, wo Arthur und Darrell warteten.

Ich umarmte die beiden erleichtert, für große Erklärungen war keine Zeit. Die Kinder wüssten noch nichts, sagte ich zu meinem Bruder, und wir dürften ihnen auch vorerst nichts sagen – die Wahrheit wäre zu viel für sie.

Als wir zurück beim Van waren, sagte ich den Kindern, dass diese beiden Männer uns mitnehmen würden, um Benzin zu besorgen. Mein Sohn Arthur sah meinen Bruder an, der den gleichen Namen trägt, und sagte: »Ist das Onkel Arthur?« Ich antwortete nicht. Ich wollte nicht lügen, aber die anderen Kinder würden die Nerven verlieren, wenn sie erfuhren, was ich vorhatte. Arthur begriff es, als keine Antwort von mir kam. Er sagte nichts.

In den ersten zwanzig Minuten verlief die Fahrt problemlos. Ich wusste nicht, wo wir in Salt Lake City Unterschlupf finden würden, aber mir war klar, dass Merril mich suchen würde. Bei jemandem aus der Familie konnte ich nicht bleiben, denn dort würde er als Allererstes nach mir fragen. Ich musste jemanden finden, von dem mein Mann nicht erwartete, dass er uns half. Aber wer konnte das sein? Vielleicht würde ich an die Türen fremder Leute klopfen müssen, bis ich einen Menschen fand, der uns versteckte.

Als wir an der Autobahnabfahrt nicht nach St. George weiterfuhren, wo Harrisons Ärztin am Krankenhaus arbeitete, sondern in Richtung Salt Lake City, ging Betty hoch wie eine Rakete.

»Du stiehlst uns! Mutter, du stiehlst uns! Onkel Warren wird uns zurückholen!«, kreischte sie hysterisch.

»Betty, ich kann nicht meine eigenen Kinder stehlen.«

»Wir gehören dir nicht! Wir gehören dem Propheten! Du hast kein Recht auf uns!«

»Wir werden sehen, was das Gericht sagt.« Ich versuchte, vernünftig mit ihr zu reden. »Bei Gericht haben richtige Mütter ein Recht auf ihre Kinder.«

Andrew, mein Siebenjähriger, drehte sich zu uns um. »Fährt Mami nach dem Doktor nicht mit uns Fotos machen?«

»Sie bringt uns nicht zum Fotografieren, sondern in die Hölle«, entgegnete Betty wütend.

»Warum machst du das?«, wollte Klein Andrew wissen. »Warum bringst du uns in die Hölle?«

Arthur blieb stumm, aber in ihm brodelte es. Ich brachte uns alle in Gefahr, und er wusste es. Schließlich schrie er Betty an, sie solle den Mund halten. »Du kannst an der Situation nichts ändern, Betty. Beruhige dich. Sei einfach still«, wiederholte Arthur immer wieder. Betty schrie zurück, dass der Prophet mich zur Hölle verdammen werde. Arthur gab jedoch nicht nach, bis Betty endlich erschöpft schwieg.

Fünf Stunden später erreichten wir Salt Lake City und tauchten unter. Zum ersten Mal in fünfunddreißig Jahren war ich frei. Ich hatte acht Kinder und zwanzig Dollar bei mir. Schon wenige Stunden später machte Merril Jagd auf mich.