Ich danke Dr. Andrew Edward Dizon, Dr. John Graves, Dr. Richard Dutton, Monte Wetzel und Dr. Percy Russell dafür, dass sie mir Zugang zu ihren Labors gewährt, mir ihre kostbare Zeit geschenkt und mich in meiner Arbeit unterstützt haben. Für spezielle Informationen bedanke ich mich bei Marian McLean (World Trade Center) und Herbert Quelle (Deutsches Konsulat Los Angeles) sowie bei Ellen Datlow, Melissa Singer und Andy Porter.
John F. Carr und David Brin haben mich vor einigen Jahren dazu ermutigt, die ursprüngliche Kurzgeschichte zu einem Roman auszuweiten. Stanley Schmidt hat mir in seiner Eigenschaft als Redakteur von Analog vorgeschlagen, die ursprüngliche Idee detaillierter auszuarbeiten und zu prüfen, ob sie mehr ist als eine rein fantastische Vorstellung. Beth Meacham hat als Lektorin das Romanprojekt begeistert unterstützt und durch ihre Hilfe und Ermutigung entscheidend zu dessen Vollendung beigetragen.
Als ich neulich Stippvisite bei einem Kongress in San Diego machte, bei dem es um neue Forschungsprojekte zur Hybridoma-Technologie und die Herstellung monoklonaler Antikörper ging, entdeckte ich Vergil I. Ulams roten Sportwagen, den Volvo, auf dem Parkplatz des Kongresshotels. Derzeit ist Vergil ein junger Doktorand auf Suche nach einer Teilzeitstelle.
Die Übersetzerin bedankt sich bei dem Biologen Dr. Axel Diernfellner, Universität Heidelberg, für Korrekturen, Hinweise und Anmerkungen.
Greg Bear wurde 1951 in San Diego geboren und studierte dort englische Literatur. Seit 1975 als freier Schriftsteller tätig, gilt er heute als einer der ideenreichsten wissenschaftlich orientierten Autoren der Gegenwart. Seine zuletzt veröffentlichten Romane »Das Darwin-Virus«, »Die Darwin-Kinder«, »Jäger« sowie »Quantico« wurden zu internationalen Bestsellern.
Mehr zu Greg Bear unter: www.gregbear.com
Gedankenuniversum
Michael Bernard, neunzehn Jahre alt und gleichzeitig alterslos, saß im Klamshak-Restaurant Olivia gegenüber. Über ihrer Nische hingen der altersschwache Kugelfisch, der Plastikhummer und die Korkschwimmer – die Dekoration war wirklich nicht sonderlich originell.
Sie hatte ihm gerade von der Auflösung ihrer Verlobung erzählt. Während er auf den Tisch blickte, spürte er, dass ihre Beziehung sich jetzt vielleicht in eine ganz andere Richtung entwickeln würde. Der Weg war frei.
»Das Essen war gut.« Olivia verschränkte die Hände hinter ihrem Teller, auf dem sich Austernschalen und Garnelenschwänze häuften. »Danke. Ich hab mich sehr gefreut, als du angerufen hast.«
»Ich kam mir einfach albern vor. Letztes Mal hab ich mich wirklich wie ein Trottel benommen.«
»Stimmt nicht, du warst sehr galant.«
»Galant. Hm.« Er lachte.
»Ich bin über die Geschichte hinweg. Anfangs war es zwar ein Schock, aber …«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Weißt du, als er damit herausrückte, dachte ich erst, ich könnte einfach wieder in die Seminare und Vorlesungen gehen und weitermachen wie bisher. Als wäre die Auflösung einer Verlobung keine große Sache. Es hat erst wehgetan, als er wirklich fort war. Und dann hab ich an dich gedacht.«
»Gibst du mir eine zweite Chance?«
Olivia lächelte. »Nur wenn du auch weiterhin dafür sorgst, dass ich mich so gut fühle wie in diesem Augenblick. «
Nichts geht verloren. Nichts wird vergessen.
Was im Blut, im Körper gelebt hat, wird fortdauern.
Für alle Zeit.
La Jolla, Kalifornien
Das rechteckige schiefergraue Schild stand inmitten hellgrüner Grasbüschel auf einem niedrigen Hügel. Ringsum wuchsen Schwertlilien. Seitlich davon floss in einem künstlich angelegten Bett aus Zement ein Bach, in dessen trübem Wasser es von Zierkarpfen wimmelte. Auf der Seite des Schildes, die der Straße zugekehrt war, prangte in knallroten Druckbuchstaben der Name GENETRON, darunter der Werbespruch Wo kleine Dinge große Veränderungen bewirken.
Die Labors und Geschäftsräume von Genetron waren rings um einen begrünten Innenhof in einem hufeisenförmigen, schmucklosen Betonbau im Bauhausstil untergebracht. Der Hauptkomplex bestand aus zwei Ebenen, die über im Freien liegende Korridore zugänglich waren. Jenseits des Innenhofs, unmittelbar hinter einem künstlich angelegten Erdhügel, der noch nicht bepflanzt war, stach ein vierstöckiger Kubus mit eingeschwärzten Glasfassaden ins Auge, der mit einem elektrischen Stacheldrahtzaun gesichert war.
Denn Genetron hatte zwei Seiten: einerseits die offenen Labors, in denen an Biochips geforscht wurde, andererseits das düstere Gebäude, wo im Auftrag des Verteidigungsministeriums militärische Nutzungsmöglichkeiten neuer Entwicklungen untersucht wurden.
Doch selbst in den offenen Labors galten strenge Sicherheitsbestimmungen. Alle Angestellten hatten Dienstmarken mit Laserkennung zu tragen, und der Besucherverkehr in den Labors wurde sorgfältig überwacht. Der Geschäftsführung von Genetron – fünf Absolventen der Stanford-Universität hatten das Unternehmen drei Jahre nach Studienabschluss gegründet – war schließlich klar, dass es nicht nur um mögliche Sicherheitslecks im schwarzen Kubus ging, sondern ein weit größeres Risiko in der Industriespionage lag. Dennoch wirkte die Atmosphäre nach außen hin locker. Die Leitung verwendete viel Mühe darauf, die Sicherheitsmaßnahmen unauffällig durchzuführen.
Ein großer Mann mit gebeugten Schultern und wirrem schwarzem Haar wand sich aus einem roten Sportwagen der Marke Volvo und nieste zweimal, ehe er den Mitarbeiterparkplatz überquerte. Mit ihrem frühsommerlichen Pollenflug sorgten die Gräser derzeit dafür, dass die Schleimhäute allergischer Menschen ständig gereizt waren.
Beiläufig begrüßte er Walter, einen Wachmann mittleren Alters, der dennoch drahtig wirkte. Ebenso beiläufig überprüfte Walter die Dienstmarke des Angestellten, indem er sie durch den Laserscanner laufen ließ. »Sie haben letzte Nacht wohl nicht viel Schlaf abbekommen, wie?«, fragte er dabei.
Vergil Ulam schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Partys, Walter.« Seine Augen waren gerötet. Außerdem war seine Nase inzwischen stark angeschwollen, da er sie ständig mit dem Taschentuch bearbeitet hatte, das jetzt durchfeuchtet und griffbereit in der Hosentasche steckte.
»Wie arbeitende Menschen wie Sie unter der Woche auch noch Partys feiern können, wird mir ewig ein Rätsel bleiben.«
»Die Damenwelt verlangt’s, Walter«, erwiderte Vergil im Vorbeigehen. Walter grinste und nickte, obwohl er ernsthafte Zweifel daran hegte, dass Vergil in dieser Hinsicht viel erlebte – ob mit oder ohne Partys. Keine Frau gab sich gern mit einem Mann ab, der sich eine Woche lang nicht rasiert hatte, es sei denn, die Maßstäbe waren seit Walters Glanzzeiten merklich gesunken.
Ulam zählte nicht gerade zu den attraktivsten Menschen bei Genetron. Seine riesigen Plattfüße hatten einen Körper von knapp einem Meter neunzig und ein Übergewicht von fünfundzwanzig Pfund zu tragen. Er war zwar erst zweiunddreißig Jahre alt, litt aber bereits unter Rückenschmerzen und zu hohem Blutdruck. Außerdem gelang es ihm nie, sich so gründlich zu rasieren, dass er die bläulichen Schatten loswurde, die an die Clownsmaske des berühmten Emmett Kelly erinnerten.
Auch seine Stimme war kaum dazu geeignet, Sympathie zu wecken: Sie klang rau, leicht kratzend und wurde schnell laut. Zwanzig Jahre Kalifornien hatten seinen texanischen Akzent zwar abgeschliffen, doch wenn er sich ereiferte oder wütend wurde, machte sich seine Herkunft wieder so stark bemerkbar, dass seine Stimme den Ohren der Zuhörer fast wehtat.
Das Einzige, was ihn auszeichnete, waren ungewöhnliche smaragdgrüne Augen, die groß und ausdrucksvoll wirkten und von langen Wimpern beschattet wurden. Allerdings waren diese Augen zwar schön, aber nicht sonderlich leistungsstark: Vergil verbarg sie meistens hinter einer riesigen schwarz gerahmten Brille, denn er war kurzsichtig.
Jeweils zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, eilte er die Treppe hinauf. Seine langen, kräftigen Beine erschütterten die Konstruktion aus Beton und Stahl so sehr, dass ein lauter Widerhall zu hören war. Im zweiten Stock ging er den offenen Korridor entlang, der zur gemeinsamen Betriebsanlage der Forschungsabteilung Biochips führte, kurz Gemeinschaftslabor genannt. Normalerweise überprüfte er morgens als Erstes die Proben in einer der fünf Ultrazentrifugen. Sein jüngster Ansatz hatte sechzig Stunden lang bei einer Geschwindigkeit von zweihunderttausend g rotiert und war jetzt so weit, dass er mit der Analyse beginnen konnte.
Für einen Mann seiner Größe hatte Vergil verblüffend zarte und sensible Hände. Nachdem er den teuren Rotor aus schwarzem Titan aus der Ultrazentrifuge gehoben hatte, schloss er die stählerne Vakuumverriegelung wieder. Gleich darauf legte er den Rotor auf einen Labortisch, kniff die Augen zusammen und befreite nacheinander alle fünf Glasröhren aus den Halterungen, in denen sie unter der pilzförmigen Kappe aufgehängt waren. In jeder Röhre hatten sich deutlich abgegrenzte eierschalfarbene Schichten gebildet.
Hinter dem dicken Brillenrand schnellten Vergils Augenbrauen erst hoch und zogen sich dann zusammen. Als er lächelte, enthüllte er bräunlich gefleckte Zähne – Folge einer Kindheit, in der er regelmäßig Wasser getrunken hatte, das mit natürlichem Fluor angereichert war. Gerade wollte er die Pufferlösung und die unerwünschten Schichten absaugen, da meldete sich das Labortelefon. Also verstaute er die Röhre, die er in Arbeit hatte, in einem Ständer und nahm ab. »Gemeinschaftslabor, Ulam am Apparat.«
»Vergil, ich bin’s, Rita. Hab Sie hereinkommen sehen, aber in Ihrem Labor nicht erreicht …«
»Bin wie üblich in meinem zweiten Zuhause, Rita. Worum geht’s?«
»Sie hatten mich doch gebeten – mir aufgetragen –, Ihnen Bescheid zu sagen, wenn hier ein gewisser Herr auftaucht. Ich meine, er ist jetzt da.«
»Michael Bernard?«
»Ich glaube, er ist es, Vergil. Aber …«
»Bin gleich unten.«
»Vergil …«
Er legte auf und überlegte kurz, wie er mit den Glasröhren verfahren sollte, ließ sie dann aber an Ort und Stelle.
Genetrons kreisförmiger Empfangsbereich, ringsum von Panoramafenstern eingefasst und großzügig mit Schusterpalmen in verchromten Übertöpfen ausgestattet, grenzte an den Ostflügel des Erdgeschosses. Als Vergil von der Laborseite her eintrat, blendete ihn das grelle, weiße Morgenlicht, das schräge Streifen auf den himmelblauen Teppich warf. Während er am Empfangstresen vorbeiging, erhob sich Rita von ihrem Platz.
»Vergil …«
»Danke«, erwiderte er flüchtig und blickte zu dem distinguiert wirkenden grauhaarigen Mann hinüber, der neben der einzigen Couch in der Lobby stand. Zweifellos war das Michael Bernard. Vergil erkannte ihn von Abbildungen wieder. Und vom Titelfoto, das das Time Magazine vor drei Jahren von ihm gebracht hatte. Breit lächelnd, streckte Vergil die Hand aus. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Bernard.«
Zwar erwiderte Bernard den Händedruck, doch er wirkte verunsichert.
In der breiten Doppeltür des schicken Eingangsbüros von Genetron, das hauptsächlich dazu diente, Besucher zu beeindrucken, tauchte Gerald T. Harrison auf, den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Hilfe suchend sah Bernard zu ihm hinüber.
»Ich bin sehr froh, dass Sie meine Nachricht erhalten haben«, fuhr Vergil fort, ehe er Harrison bemerkte.
Unverzüglich verabschiedete sich Harrison von seinem Gesprächspartner am Telefon und legte unwirsch auf. »Der Rang eines Vorgesetzten bringt nun mal gewisse Privilegien mit sich, Vergil.« Mit falschem Lächeln baute er sich neben Bernard auf.
»Entschuldigung, aber um welche Nachricht geht’s denn überhaupt?«, fragte Bernard.
»Das hier ist Vergil Ulam, einer unserer Spitzenforscher«, erklärte Harrison in schleimigem Ton. »Wir alle freuen uns sehr über Ihren Besuch, Mr. Bernard. – Vergil, wir reden später über die Sache, die Sie erörtern wollten. «
Vergil hatte Harrison keineswegs um ein Gespräch gebeten. »Alles klar«, erwiderte er, während das alte, wohlbekannte Gefühl an ihm nagte, wieder einmal umgangen, zur Seite gedrängt worden zu sein.
Bernard hatte keine Ahnung, wer er war.
»Später, Vergil«, wiederholte Harrison nachdrücklich.
»Selbstverständlich, alles klar.« Mit einem flehenden Blick zu Bernard hinüber zog er sich zurück, drehte sich um und schlurfte durch die Hintertür hinaus.
»Wer war das?«, erkundigte sich Bernard bei Harrison.
»Ein äußerst ehrgeiziger Bursche. Aber wir haben ihn im Griff.«
Harrisons Arbeitszimmer lag zu ebener Erde im westlichen Flügel des Laborgebäudes. Ringsum standen Holzregale, in denen die Bücher ordentlich aufgereiht waren. Hinter dem Schreibtisch befand sich auf Augenhöhe ein Regal mit den allseits bekannten Ringbüchern aus schwarzem Kunststoff – Loseblattsammlungen, die aus dem Cold Spring Harbor Laboratory stammten. Die Reihe darunter barg mehrere Telefonbücher – Harrison sammelte uralte Exemplare. Außerdem füllten Handbücher der Informatik mehrere Regale. Eine von Leder eingefasste Schreibunterlage mit Millimeterpapier schützte die schwarze Schreibtischplatte, auf der sich auch eine mit dem Zentralrechner Genetrons verbundene Workstation befand.
Von den Gründern Genetrons waren nur Harrison und William Yng so lange geblieben, dass sie miterlebt hatten, wie die Labors die Arbeit aufnahmen. Beide Gründer waren jedoch mehr an der Vermarktung von Forschungsergebnissen als an der Forschung selbst interessiert, obwohl ihre Promotionsurkunden, die sie als Naturwissenschaftler auswiesen, an der holzgetäfelten Wand hingen.
Mit erhobenen Armen, die Hände im Nacken verschränkt, lehnte Harrison sich im Sessel zurück. Vergil fiel die leichte Andeutung von Schweißflecken in den Achselhöhlen auf.
»Das war sehr peinlich, Vergil«, bemerkte Harrison. Sein weißblondes Haar war sorgfältig so gekämmt, dass es die vorzeitig gelichteten Stellen überdeckte.
»Tut mir leid.«
»Mir mindestens ebenso. Also waren Sie’s, der Mr. Bernard zu einem Besuch in unseren Labors eingeladen hat.«
»Ja.«
»Warum?«
»Ich dachte, er könne sich für unsere Arbeit interessieren. «
»Das haben wir uns auch gedacht, und eben darum haben wir ihn ja eingeladen. Ich glaube nicht, dass er von Ihrer Einladung überhaupt wusste.«
»Anscheinend nicht.«
»Sie haben’s hinter unserem Rücken gemacht.«
Vergil stellte sich vor den Schreibtisch und blickte missmutig auf das Computerterminal.
»Sie haben sehr viel nützliche Arbeit für uns geleistet. Rothwild hat Sie als brillant, vielleicht sogar unersetzlich bezeichnet.« Rothwild überwachte das Biochip-Projekt. »Andere behaupten allerdings, man könne sich nicht auf Sie verlassen. Und jetzt … dies.«
»Bernard …«
»Es geht hier nicht um Mr. Bernard, Vergil, sondern um das hier.« Harrison schwenkte die Workstation herum und drückte auf eine Taste: Vergils geheime, sorgfältig verschlüsselte Computerdatei rollte über den Bildschirm. Vergil riss die Augen auf, und ihm wurde die Kehle eng, allerdings gelang es ihm, sich so weit zu beherrschen, dass er nicht nach Luft rang. »Ich hab noch nicht alles gelesen, aber es klingt so, als hätten Sie einige äußerst verdächtige Dinge vor, die möglicherweise gegen ethische Grundsätze verstoßen. Wir hier bei Genetron halten uns allerdings gern an die Richtlinien, besonders in Anbetracht unserer künftigen Marktposition. Aber nicht nur deswegen. Auch persönlich lege ich großen Wert darauf, dass wir unsere Betriebsführung an ethischen Prinzipien ausrichten.«
»Ich habe nichts unternommen, das gegen ethische Grundsätze verstößt.«
»Ach nein?« Harrison ließ den angezeigten Text auf dem Display erstarren. »Sie entwerfen lediglich neue DNA-Abschnitte für mehrere Mikroorganismen, für die die Bestimmungen der National Institutes of Health gelten. Und Sie arbeiten mit Zellen von Säugetieren, was wir hier grundsätzlich nicht tun, da wir nicht ausreichend vor biologischen Gefahrenstoffen geschützt sind – jedenfalls nicht in den Zentrallabors. Aber bestimmt könnten Sie mir nachweisen, dass Ihre Forschung völlig unschädlich und harmlos ist. Sie sind nicht zufällig dabei, eine neue Seuchenart zu erzeugen, um sie an Revolutionäre in der Dritten Welt zu verscherbeln, oder?«
»Nein«, erwiderte Vergil lahm.
»Gut. Einiges von diesem Material übersteigt mein Begriffsvermögen. Sieht aber so aus, als versuchten Sie unser Projekt – die Erzeugung medizinisch anwendbarer Biochips – in gewisser Hinsicht auszuweiten. Möglicherweise verfügen Sie über wertvolle Erkenntnisse.« Er hielt kurz inne. »Was, zum Teufel, treiben Sie da überhaupt, Vergil?«
Vergil setzte die Brille ab und säuberte die Gläser mit einem Zipfel seines Laborkittels. Plötzlich musste er laut und feucht niesen, was Harrison leicht angewidert zur Kenntnis nahm.
»Wir haben den Code erst gestern geknackt. Fast zufällig. Warum haben Sie die Datei versteckt? Geht’s dabei um Dinge, die Sie uns lieber vorenthalten möchten?«
Ohne die Brille wirkte Vergil hilflos und ähnelte einer Eule. Er stammelte irgendeine Erwiderung, brach jedoch gleich darauf ab, streckte das Kinn vor und runzelte die dicken schwarzen Brauen, so dass sein Gesicht einen ebenso genervten wie verblüfften Ausdruck annahm.
»Mir kommt’s so vor, als hätten Sie unsere Forschungseinrichtungen für eigene genetische Arbeiten genutzt. Selbstverständlich unbefugt, aber Sie haben sich ja nie sonderlich um irgendwelche Hierarchien geschert.«
Mittlerweile war Vergils Gesicht knallrot angelaufen.
»Ist Ihnen nicht gut?« Harrison, der es offensichtlich genoss, Vergil in die Enge zu treiben, bedachte ihn mit einem forschenden Blick, konnte aber nur mit Mühe ein schadenfrohes Grinsen unterdrücken.
»Mir fehlt nichts, keine Sorge. Ich habe … Ich befasse mich derzeit mit Biologik.«
»Mit Biologik? Sagt mir nichts.«
»Ein Ableger der Biochip-Forschung. Es geht dabei um selbstständig arbeitende organische Computer.« Die Vorstellung, noch mehr preiszugeben, bereitete Vergil Höllenqualen. Er hatte Bernard deswegen angeschrieben – offenbar ohne Erfolg –, damit er sich die Arbeiten persönlich ansah. Vergil wollte seine Ergebnisse nicht einfach Genetron überlassen, obwohl eine Klausel in seinem Anstellungsvertrag besagte, dass dem Unternehmen, das ihn beschäftigte und bezahlte, all seine Arbeitsresultate zustanden. Eigentlich war seine Idee recht simpel gewesen, auch wenn deren Umsetzung ihn zwei Jahre Arbeit, heimlicher und mühseliger Arbeit, gekostet hatte.
»Die Sache fasziniert mich.« Harrison drehte das Terminal herum und scrollte durch die Datei. »Wir reden hier nicht nur über Proteine und Aminosäuren. Sie manipulieren Chromosomen, rekombinieren die Gene von Säugetieren. Wie ich sehe, vermischen Sie diese sogar mit den Genen von Viren und Bakterien.« Aus Harrisons Augen wich jeder Glanz. Jetzt wirkten sie so hart wie graues Gestein. »Ihre Arbeit könnte zur Folge haben, dass Genetron sofort, auf der Stelle dichtmachen muss, Vergil. Für derartige Experimente fehlen uns die Schutzvorrichtungen. Sie haben ja nicht mal die P-3-Standards für genetische Forschungen berücksichtigt.«
»Ich hantiere ja auch gar nicht mit reproduktiven Genen herum.«
»Gibt’s auch andere?« Wütend, weil er sich von Vergil auf den Arm genommen fühlte, beugte Harrison sich vor.
»Introns. DNA-Abschnitte, die keine Proteine codieren. «
»Was ist damit?«
»Ich beschränke mich auf diese Gebiete. Und … füge weiteres nicht-reproduktives genetisches Material hinzu.«
»Klingt für mich wie ein Widerspruch in sich selbst, Vergil. Wir haben keinen Beweis dafür, dass Introns nicht doch irgendwas codieren.«
»Ja, aber …«
»Aber …« Harrison streckte abwehrend die Hand hoch. »Das alles ist ziemlich irrelevant. Was immer Sie auch vorhaben mögen: Tatsache ist, dass Sie drauf und dran waren, unseren Vertrag zu brechen. Hinter unserem Rücken haben Sie sich an Bernard gewandt und versucht, seine Unterstützung für ein persönliches Projekt zu gewinnen. Ja oder nein?«
Darauf erwiderte Vergil nichts.
»Ich nehme an, dass es Ihnen schlicht an Welterfahrung mangelt, Vergil. Zumindest kennen Sie sich in der Geschäftswelt nicht gut aus. Vielleicht waren Ihnen die Folgen gar nicht klar.«
Vergil, dessen Gesicht immer noch knallrot war, schluckte heftig. Er spürte starken Blutandrang in den Ohren und ein durch Stress bedingtes Schwindelgefühl. Erneut musste er zweimal niesen.
»Also gut, ich will Ihnen die Konsequenzen aufzeigen. Es fehlt nicht mehr viel dazu, dass wir Hackfleisch aus Ihnen machen und es als Dosenfutter verkaufen.«
Nachdenklich hob Vergil die Augenbrauen.
»Allerdings sind Sie für die MAB-Forschung ein wichtiger Mann. Wenn es nicht so wäre, würden wir Sie sofort rausschmeißen, und ich würde persönlich dafür sorgen, dass Sie nie wieder in einem Labor der Privatwirtschaft arbeiten können. Aber Thornton, Rothwild und die anderen glauben, dass Sie vielleicht doch noch zu retten sind. Ja, Vergil, wir möchten Sie retten, vor sich selbst bewahren. Ich habe mich in dieser Angelegenheit noch nicht mit Yng beraten und werde sie nicht weiterverbreiten, wenn Sie sich künftig nach Vorschrift verhalten.«
Mit gesenkten Brauen fixierte er Vergil. »Brechen Sie die Arbeit an allen außerplanmäßigen Projekten sofort ab. Ihre Datei bewahren wir hier weiter auf, aber ich verlange von Ihnen, dass Sie unverzüglich alle Experimente einstellen, die nicht unmittelbar mit der medizinischen Anwendung von Biochips zu tun haben. Außerdem müssen Sie alle Organismen, mit denen Sie herumexperimentiert haben, vernichten. In zwei Stunden werde ich Ihr Labor persönlich inspizieren. Falls Sie diese Dinge bis dahin nicht erledigt haben, werden wir Sie fristlos entlassen. Zwei Stunden, Vergil. Und wir räumen Ihnen weder Ausnahmen noch Verlängerungen ein.«
»Ja, Sir.«
»Mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen.«