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Inhaltsverzeichnis
 
 
 

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Die Originalausgabe erscheint 2009 unter dem Titel 1939: Countdown to War bei Penguin, UK.

Vorwort
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bot sich regelmäßig alle zehn Jahre Gelegenheit, noch einmal über die außergewöhnlichen Umstände nachzudenken, die zu einem Krieg von so erschreckendem Ausmaß, so ungeheuerlicher Zerstörungskraft geführt haben, einem Krieg, vor dem sich selbst die Opfer und Verluste des vorausgegangenen Ersten Weltkriegs (1914 – 1918) klein ausnahmen. So konnte man sich auch die Ursachen dieses gewaltigen Konflikts nur sehr groß vorzustellen. Tatsächlich gab es in der Weltordnung der Nachkriegszeit, im kapitalistischen System oder in der politischen Geographie Europas systemische Schwächen, die den kommenden Konflikt schürten. Und es lag Untergangsstimmung über dem Kontinent, überall mühte man sich darum, mit einer düsteren Wirklichkeit zurechtzukommen; überall herrschte das Gefühl, dass dieser Weltteil, der gewohnt war, sich für den Mittelpunkt der modernen Zivilisation und Kultur zu halten, offenbar davorstand, in den Abgrund neuerlicher Barbarei zu stürzen.
Das ist der Hintergrund dieses kleinen Buchs. Die Absicht ist, eine kurze Geschichte zu erzählen, die mächtige Folgen hatte und die sich am Ende von zwanzig Jahren Unsicherheit und Krise zutrug, die auf den Ersten Weltkrieg folgten. So umfassend, so nachhaltig die Gründe gewesen sein mögen, einen Krieg zu beginnen und zu führen, es gab einen Augenblick, in dem sich die politischen Hauptakteure diesen Kräften stellen und schwere Entscheidungen treffen mussten. Noch immer war vieles im Lot, auch im Verlauf dieser dramatischen Tage kurz vor Kriegsbeginn. Große Ereignisse entwickeln ihre eigene Dynamik und ihre eigene innere Geschichte. Heute erscheint uns der Ausbruch des Kriegs als natürliche Konsequenz einer internationalen Krise, die hauptsächlich durch Hitlerdeutschland provoziert worden war. Mit den folgenden Ausführungen möchte ich zeigen, dass nichts in der Geschichte unausweichlich ist. Der eigentümliche Austausch zwischen System und Akteuren vollzieht sich im Innersten der historischen Erzählung. Ereignisse können beides sein: Auslöser und Folge, und das gilt umso mehr für die Ereignisse, die Europa vor siebzig Jahren in den Krieg führten.
 
Richard Overy
im März 2009

PROLOG
Polen, Deutschland und der Westen
1933 veröffentlichte der englische Schriftsteller H. G. Wells The Shape of Things to Come, einen fiktiven Bericht, der die Weltgeschichte der kommenden fünfzig Jahre erzählt, zentriert um die Voraussage eines »letzten Kriegs« in naher Zukunft. Als Datum seines Beginns wählt Wells den Januar 1940, und als Auslöser erfindet er einen kleinen Zwischenfall in Danzig: Ein polnischjüdischer Handelsvertreter wird im Danziger Hauptbahnhof von einem jungen Nationalsozialisten erschossen, der den Versuch des Polen, eine zerbrochene Zahnprothese zurechtzurücken, als Verspottung eines Repräsentanten des »Dritten Reichs« missverstanden hatte. In Wells’ Geschichte ist dieser Zwischenfall nur der Funke, der nötig war, das Pulverfass europäischer Rivalitäten und gegenseitigen Misstrauens zu zünden. Es dauert zwei Tage, und der Krieg hat Europa erfasst. Die Spannung, heißt es bei Wells, »stieg bis zu einem Punkt, an dem die Katastrophe als Erlösung erschien, und Europa war frei, sich selbst in Stücke zu reißen«.1
Etwas ganz Ähnliches ereignete sich im Herbst 1939 – gut vier Monate früher als Wells dies erwartet hatte. Innerhalb von drei Tagen nach den ersten deutschen Schüssen auf die Danziger Westerplatte stand Europa im Krieg. Die Forderung, die ehemals deutsche Stadt zurückzugeben, löste einen gewaltsamen Konflikt aus, der am 1. September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen begann und der zwei Tage später, mit der Kriegserklärung der beiden Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich, zum Weltkrieg wurde. Hinter dem formellen Anlass des Konflikts verbarg sich, dass sich Europa 1939 in einem Zustand extremer Spannung befand, ausgelöst durch den Zusammenbruch der internationalen Ordnung und des Gleichgewichts, die nach Ende des Ersten Weltkriegs hergestellt worden waren. Der Konflikt, der im September 1939 den Zweiten Weltkrieg entzündete, hatte weiter gespannte Ursachen als den Streit um den Status der Stadt Danzig. Vor dem britischen Unterhaus erklärte Premierminister Neville Chamberlain am 24. August 1939, dieser Krieg, sollte er kommen, werde nicht »für die politische Zukunft einer weit entfernten Stadt in einem fremden Land« geführt, sondern für die Erhaltung der Grundprinzipien des internationalen Rechts.2 Auch Adolf Hitler hatte den Generälen der Wehrmacht, die er am 23. Mai zu einer Besprechung bestellt hatte, um den Polenfeldzug vorzubereiten, erklärt: »Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um Arrondierung des Lebensraumes im Osten und Sicherstellung der Ernährung.«3
Der Krieg, der im September 1939 ausbrach, lässt sich angemessen nur im Zusammenhang der politischen Verhältnisse in Europa erklären, die sich während der 1930er Jahre verschlechtert hatten. Wirtschaftskrise, der Aufstieg autoritärer Diktaturen, tiefe ideologische Gräben, nationale Rivalitäten und das Scheitern des Völkerbunds bei seinen Bemühungen, den Frieden zu erhalten, wirkten zusammen, und dies machte einen größeren Konflikt wahrscheinlich. Gleichwohl war es ein Krieg, der, so hieß es, für die Unabhängigkeit Polens geführt wurde, und tatsächlich sind die unmittelbaren Ursachen des Kriegs im Konflikt um Polens Zukunft zu finden. Vor allem die unnachgiebige Weigerung der Polen, ihrem mächtigen deutschen Nachbarn irgendwelche Zugeständnisse einzuräumen, machte den Krieg fast unausweichlich. Polen, so schrieb ein Vertreter des britischen Außenministeriums im Mai 1939, sei der einzige Staat in Europa, »der fähig und bereit ist, der deutschen Aggression ernsthaft Widerstand zu leisten«.4
Die »polnische Frage« führt zurück in die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, als die alliierten Siegermächte beschlossen, einen unabhängigen polnischen Staat zu schaffen und diesem mit einem Korridor durch ehemals deutsches Territorium Zugang zur Ostsee zu garantieren. Damit verbunden war die Zusage, dass Polen die deutsche Stadt Danzig als Haupthafen für seinen Import- und Exporthandel nutzen konnte. Danzig wurde zur Freien Stadt, der Hafen zum Freihafen erklärt, beide standen unter Aufsicht des Völkerbunds. Ein Hochkommissar des Völkerbunds überwachte die Einhaltung des Abkommens, das einerseits den polnischen Handel schützen, andererseits der mehrheitlich deutschen Bevölkerung des Freistaats Danzig Selbstverwaltung garantieren sollte.5 Von deutscher Seite wurde diese Lösung nie akzeptiert, und der polnischen Führung war klar, dass dieses Abkommen Zündstoff für künftige Krisen enthielt. Der Status einer Freien Stadt, so Marschall Józef Piłsudski – von 1926 an, nach einem Putsch, bis zu seinem Tod im Jahr 1935 führte er als Ministerpräsident die polnische Regierung -, werde stets das »Barometer der polnisch-deutschen Beziehungen« sein.6 Im Mai 1933, kurz nachdem Hitler im Deutschen Reich an die Macht gelangt war, errang die NSDAP im Danziger Stadtparlament die absolute Mehrheit (38 von 72 Sitzen) und stellte die Regierung; bis zum Kriegsbeginn war Danzig ein Außenposten des Deutschen Reichs. Von 1936 an herrschte faktisch ein Einparteiensystem, und im November 1938 übernahm der Stadtrat gegen den Willen des Völkerbunds und seines Hochkommissars die im Reich seit 1935 geltenden Nürnberger Gesetze, die den Juden in Danzig die vollen Bürgerrechte raubten.7 1939 agitierte die deutsche Bevölkerung Danzigs, mehrheitlich nationalsozialistisch eingestellt, unter der Parole »Heim ins Reich«.
Doch die »polnische Frage« betraf nicht nur Danzig. Der im Juni 1919 unterzeichnete Versailler Vertrag gewährte Polen nicht nur den Korridor durch Westpreußen, sondern auch bedeutende Teile des oberschlesischen Kohlereviers. Deutsche Freikorps, 1919 aus demobilisierten deutschen Soldaten rekrutiert, kämpften, bis sie 1920 aufgelöst wurden, an der östlichen Reichsgrenze gegen Polen und seine Forderungen. Auch gehörten große Gebiete, die zuvor russisches Territorium gewesen waren, zum neuen polnischen Staatsgebiet. 1922, nach ihrem Sieg im russischen Bürgerkrieg, fielen Teile der revolutionären Roten Armee in Polen ein und versuchten, den gerade gebildeten polnischen Staat zu zerstören und die proletarische Revolution weiter nach Europa hineinzutragen. Die rote Kavallerie erreichte fast die deutsche Grenze, gleichzeitig drohten die schlecht ausgerüsteten Truppen unter General Michail Tuchatschewski Warschau einzuschließen, die Hauptstadt des ehemaligen Russisch-Polen. Großbritannien und Frankreich unterstützten den Staat, den sie gerade gegründet hatten, nicht, dennoch konnten die Polen unter Józef Piłsudski, einem polnischen Nationalisten, der 1914 eine polnische Armee aufgestellt hatte, die an der Seite Österreich-Ungarns gegen das zaristische Russland kämpfte, einen bemerkenswerten Sieg erringen. Man hat dieser frühen Schlacht um Warschau in den historischen Berichten nie das Gewicht gegeben, das ihr gebührt, rettete sie doch Osteuropa vor einem kommunistischen Kreuzzug und verteidigte Polens Unabhängigkeit gegen zwei gefährliche Nachbarn: gegen Deutschland und die Sowjetunion. In Polen selbst wurde der Sieg von 1920 zum Gründungsmythos des neuen Staats, und darin gründete dann auch die spätere Entschlossenheit, sich keinem der beiden übermächtigen Nachbarn zu beugen.8
In der Zwischenkriegszeit konnte Polen seine fragile Unabhängigkeit bewahren und zu einer bedeutenden Regionalmacht in Osteuropa werden: Einige führende Politiker Polens träumten gar davon, den polnischen Einfluss bis ans Schwarze Meer und in die sowjetische Ukraine hinein auszudehnen. 1932 schloss Polen einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion und unterzeichnete 1934 ein ähnliches Abkommen mit Hitlerdeutschland. Gemessen an den kleineren Staaten Europas war Polen hochgerüstet: Mitte der 1930er Jahre floss etwa die Hälfte des Staatsbudgets in Rüstung und Militär. Die größeren Staaten Westeuropas jedoch betrachteten Polen nicht als möglichen Bundesgenossen. Der polnische Antisemitismus und der autoritäre Stil des Regimes waren nicht gerade hilfreich für einen Brückenschlag in den Westen. Und im Sommer 1938 befürwortete die polnische Führungsschicht sogar die Zerschlagung der Tschechoslowakei: Sie hoffte nämlich, Polen könne eine unabhängige Slowakei dominieren und zwischen den baltischen Staaten und den Grenzen Rumäniens zu einer einflussreichen Macht werden. Nach dem Münchner Abkommen vom 30. September 1938, mit dem die Aufteilung des tschechoslowakischen Staats besiegelt wurde, sicherte sich Polen seinen Anteil an der Beute, indem es den Tschechen ultimativ und erfolgreich abverlangte, die wirtschaftlich starke Region Teschen (Cieszyn) abzutreten. So erschien es den westlichen Staaten nicht unwahrscheinlich, dass sich die Polen dem deutschen Lager anschließen könnten.9
Die abrupte Verschlechterung der deutsch-polnischen Beziehungen, die schließlich dazu führte, dass Deutschland 1939 den Krieg begann, resultierte daraus, dass sich die polnische Führung selbst keineswegs als Partner des deutschen Lagers betrachtete. Zwar herrschten 1938 kaum offensichtliche Spannungen zwischen Polen und Deutschland, selbst wenn der Status von Danzig und die Zukunft des polnischen Korridors weiterhin zu den Punkten der Nachkriegsverträge gehörten, die die deutsche Führung gern revidiert hätte. Doch im Wiedererstarken Deutschlands unter Hitler sah Polens Elite eine ernsthafte Bedrohung und war entschieden der Meinung, dass die Polen betreffenden Regelungen des Versailler Vertrags um jeden Preis zu verteidigen seien. Selbst wenn sie durchaus bereit war, vom Zusammenbruch des tschechischen Widerstands 1938 zu profitieren, wollte Polens Führung keinesfalls, dass Regelungen wie die in München getroffenen auch für deutsche Minderheiten in Polen oder in der Freien Stadt Danzig Anwendung fänden. Der deutschen Seite öffnete die Zerstückelung der Tschechoslowakei den Weg zu weiteren Revisionen des Status quo in Osteuropa, bedeutete aber noch nicht notwendig Krieg. Am 1. Oktober 1938, als deutsche Truppen, dem Münchner Abkommen folgend, ins Sudetenland einmarschierten, erklärte Hitler seinem Heeresadjutanten, dass die Polenfrage damit nicht erledigt sei: »Zur gegebenen Zeit würde er die Polen sturmreif schießen, dazu werde er die nunmehr bewährten Mittel anwenden.«10 Es ist unwahrscheinlich, dass Hitler damals schon an einen Krieg gegen Polen dachte. Seine bevorzugte Lösung war, sich mit Warschau über eine Revision der Grenzen und die Rückgabe Danzigs an Deutschland zu einigen; außerdem sollte Polen dem prodeutschen Block in Osteuropa beitreten. Am 24. Oktober 1938 lud Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop den polnischen Botschafter Józef Lipski zu einem Mittagessen ins Grand Hotel in Berchtesgaden ein, nahe Hitlers Ferienresidenz auf dem Obersalzberg. Bei dieser Gelegenheit schlug er zum ersten Mal vor, Polen solle Danzig an das Reich zurückgeben und dem Bau einer Autobahn sowie dem Ausbau der Eisenbahnlinie (der ehemaligen Preu ßischen Ostbahn) durch den Korridor zustimmen und Deutschland exterritoriale Rechte für diese Landverbindungen einräumen. Im Gegenzug werde Deutschland alle anderen deutsch-polnischen Grenzen anerkennen und den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt auf fünfundzwanzig Jahre verlängern; außerdem lud von Ribbentrop die Polen ein, dem Antikominternpakt zwischen Deutschland, Italien und Japan beizutreten, der gegen die Sowjetunion gerichtet war.11
Lipski kehrte nach Warschau zurück und erstattete Józef Beck, dem starken Mann in der polnischen Regierung, der seit 1932 das Außenministerium leitete, Bericht. Beck gewann den Eindruck, dass die deutsche Führung dabei war, einen »Nervenkrieg« um Danzig zu entfesseln. Erst gegen Ende November erklärte Beck seinem deutschen Amtskollegen, dass es nicht infrage komme, Danzig wieder ins Deutsche Reich einzugliedern, doch könne man über ein Ende des Völkerbundmandats für Danzig und ein deutsch-polnisches Abkommen verhandeln, das die Interessen beider Völker an Danzig, aber auch dessen Selbstständigkeit anerkenne. Am 24. November wies Hitler die Wehrmacht an, einen Plan für »eine handstreichartige Besetzung Danzigs« zu erarbeiten. Am 5. Januar 1939 wurde Beck nach Berlin eingeladen, wo Hitler darauf bestand, dass Danzig deutsch werden müsse. Bis zum Frühjahr wurden die Töne aus Deutschland immer entschiedener. Von Ribbentrop erklärte Botschafter Lipski am 20. März 1939, Danzig müsse an Deutschland zurückgegeben und eine exterritoriale Landverbindung geschaffen werden. Außenminister Beck solle zu Verhandlungen nach Berlin kommen.12 Diese Aufforderungen ergingen in einer aufgeheizten Atmosphäre, nur fünf Tage nachdem der tschechische Staatspräsident Emil Hácha unter Androhung der Bombardierung Prags gezwungen worden war, in Berlin einen »Protektoratsvertrag« zu unterzeichen. Am Tag darauf rückten die Wehrmachtseinheiten in die »Resttschechei« ein. Zwei Tage später, am 22. März, wurde Litauen gezwungen, das Memelland an das Deutsche Reich abzutreten. Beck erkannte die Zeichen und weigerte sich, nach Berlin zu kommen – das war das Ende der freundlichen Verhandlungen. Es kam zu keinem weiteren Treffen zwischen Botschafter Lipski und Hitler oder von Ribbentrop – bis zum 31. August, dem Tag vor dem deutschen Überfall auf sein Land. Am 24. März skizzierte Beck seinen Mitarbeitern im Außenministerium die polnischen Optionen: Deutschland habe »seine Berechenbarkeit verloren«, Hitler müsse mit einer Entschlossenheit konfrontiert werden, die ihm anderswo in Europa bislang nicht begegnet sei, es gebe eine Linie, die Polen in Verhandlungen nicht aufgeben könne. Und eines sei klar: »Wir werden kämpfen.«13
In der letzten Märzwoche 1939 waren die Fronten für den Krieg abgesteckt. Einen Tag nach Becks Sitzung und der endgültigen Zurückweisung der deutschen Vorschläge durch Polen befahl Hitler dem Oberkommando des Heeres (OKH), einen Angriffsplan auf Polen zu entwickeln – für den Fall, dass Polen die deutschen Forderungen weiterhin ablehne und international isoliert werden könne. Ebenfalls in dieser Woche wurden die polnischen Streitkräfte an der Westgrenze in Alarmbereitschaft versetzt. Die deutsche Besetzung der Tschechoslowakei hatte alle Illusionen der englischen Regierung zerstört, man könne Hitler auf einen Rahmen verpflichten, der englischen und französischen Interessen entsprach. Und mit der Annexion des Memellands wuchs die Furcht, dass ein Überraschungsangriff auch Danzig zur Beute der Deutschen machen könne. Geheimberichte, die London aus Polen erreichten, zeigten, dass sich die polnische Haltung verhärtete. Am 27. März hatte der polnische Kabinettschef angedeutet, das Polen um Danzig kämpfen werde. »Selbst für vernünftige Diskussionen« sei die öffentliche Meinung nicht mehr zugänglich, und die Armee sei nicht weniger unnachgiebig. Geheimdienstberichte legten den Briten dar, dass Deutschland tatsächlich im Begriff war, Danzig mit einem Überraschungsangriff einzunehmen. Chamberlain erhielt die Nachricht: »Angriff steht bevor«14 und verkündete am 31. März vor dem Unterhaus eine Garantie der polnischen Unabhängigkeit, der sich ein paar Tage später auch Frankreich anschloss. Weil der Überraschungsangriff ausblieb, gingen die Briten davon aus, die polnische Teilmobilmachung und die britisch-französische Garantie hätten Hitler zurückweichen lassen – eine Ansicht, die die Briten ermutigte, in den Sommermonaten immer entschiedener aufzutreten. Niemand jedoch betrachtete Danzig weiterhin als den eigentlichen Streitpunkt. Eine Kabinettsvorlage zur Danzig-Frage, die der britische Außenminister Lord Halifax am 5. Mai 1939 verfasste, erläuterte, das Problem seien nun einerseits die deutschen Herrschaftsansprüche in Europa, andererseits die Entschlossenheit der Polen, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen. Selbst wenn der Weg einer einvernehmlich ausgehandelten Lösung für Danzig noch nicht endgültig verbaut sei, halte er einen Kompromiss für »unwahrscheinlich«.15
Alle in die im Verlauf des August/Anfang September zum Weltkrieg führenden Krise verwickelten Parteien waren seit dem Frühjahr 1939 auf einen Kollisionskurs festgelegt. Polen war entschlossen, den deutschen Forderungen nicht nachzugeben, zudem hatte es eine internationale Garantieerklärung erhalten, die die polnische Entschlossenheit noch verstärkte. Am 3. April, als Reaktion auf die britische Garantieerklärung, hatte Hitler befohlen, den »Fall Weiß«, den Überfall auf Polen, vorzubereiten. Die Vorbereitungen sollten bis zum 1. September beendet sein. Gleichzeitig setzte er während der Sommermonate alles daran, einen Keil zwischen Polen und die westlichen Staaten zu treiben, damit sich ein Krieg mit Polen nicht ausweitete. Am 23. Mai erklärte er seinen Generälen in der Reichskanzlei: »Aufgabe ist es, Polen zu isolieren. Das Gelingen der Isolierung ist entscheidend. … Es darf nicht zu einer gleichzeitigen Auseinandersetzung mit dem Westen … kommen.«16 Die Überzeugung, dass der Westen nachgeben werde, wenn es hart auf hart käme, bestimmte Hitlers Denken bis zum Ausbruch des Konflikts. Die Regierungen Englands und Frankreichs wiederum, die alles andere als einig waren in der Frage, ob man einen europäischen Krieg führen solle, bekräftigten ihre Position während des Sommers wieder und wieder: Sollte Deutschland einseitige Schritte gegen Polen unternehmen, würden sie ihrer Garantieerklärung Folge leisten und Polen zu Hilfe kommen. In Paris wie in London hoffte man, dass die offenkundig feste Haltung des Westens Hitler abschrecken oder ihn dazu bringen werde, ohne Gewaltandrohung zu verhandeln. Diese Hoffnung, so gering sie heute erscheint, ist ein roter Faden in dieser Krise, die in den Krieg führte. Beide Seiten stürzten sich auf jeden Hinweis in den Berichten ihrer Geheimdienste, der die Hoffnung nährte, die jeweils andere Seite werde im letzten Moment nachgeben.
Gleichwohl vervielfachten alle Staaten ihre Vorbereitungen für den schlimmstmöglichen Fall. Im April 1939 führte Großbritannien die allgemeine Wehrpflicht ein; im März bereits hatten die britisch-französischen Generalstabsgespräche begonnen, die von einem dreijährigen Krieg gegen Deutschland ausgingen. Von ihrem polnischen Bundesgenossen waren die westlichen Staaten nicht sonderlich begeistert. Ziel der westlichen Politik war vielmehr, weitere deutsche Aktionen in welchem Teil Europas auch immer abzuwenden oder zu unterbinden; der Konflikt um Polen war insofern nur Anlass und Zündpunkt. Und so resultierten die Gespräche zwischen den britischen und französischen Stäben denn auch in einem Plan, demzufolge ein unabhängiges Polen erst nach den längeren Feindseligkeiten wieder errichtet werden sollte, womit eine frühe Niederlage für die Polen unausweichlich war.17
Als die polnische Regierung Großbritannien und Frankreich um finanzielle Unterstützung ihrer zukünftigen Kriegsanstrengungen bat, stieß sie auf taube Ohren. Beck hatte Ende April um einen Kredit zum Kauf von Rohstoffen und Waffen gebeten, im Mai wurde die Summe von 60 Millionen Pfund genannt. Um weitere Summen wurde in Paris nachgefragt, wo zunächst größere Bereitschaft bestand, Kredite zu gewähren. Der britische Schatzkanzler Sir John Simon erklärte Chamberlain, der Plan, polnische Waffenkäufe zu unterstützen, sei undurchführbar, denn Großbritanniens Finanzen seien durch hohe Militärausgaben belastet. Die britische Regierung war bereit, ein Zehntel der ursprünglich geforderten Summe zu gewähren, doch wurde diese Konzession erst am 24. Juli 1939 gemacht und nur unter der Bedingung, dass die bewilligten 8 Millionen Pfund für britische Güter verwendet würden. 18 Das Zögern der Briten steckte die Franzosen an, die sich nun ebenfalls zurückhaltend zeigten. Polen musste also für sich selbst sorgen.
Mochte Hitler an der Entschlossenheit des Westens zweifeln, im August 1939 war absehbar, dass die »polnische Frage« nicht zu Deutschlands Gunsten gelöst werden konnte, ohne eine Krise heraufzubeschwören, die ernsthafter sein würde als die im Jahr zuvor, als es um die Tschechoslowakei ging. Um Polen dennoch weiter zu isolieren, genehmigte Hitler Annäherungen an die Sowjetunion, deren Haltung in der Polenfrage ungewiss war. Auch Großbritannien und Frankreich hatten sich an Stalin in der Hoffnung gewandt, eine erneuerte Entente werde ausreichen, Hitler ein für alle Mal abzuschrecken. Doch ernsthaft hat keiner der westlichen Staaten versucht, mit der Sowjetunion zu militärischen oder politischen Abmachungen zu kommen und diese zu festigen. Ebenso wenig gelang es, die Polen zur Kooperation mit der Sowjetunion zu bewegen, denn die polnische Regierung bezweifelte zu Recht den guten Willen der Sowjets und hätte niemals sowjetische Truppen auf polnischem Boden geduldet. Diese Misserfolge hat man seither als die aussichtsreichsten Chancen betrachtet, die in den Vorkriegsjahren verspielt wurden. Nachträglich hat Georges Bonnet, der pazifistische Außenminister Frankreichs, Józef Becks »unverständliche, arrogante und trügerische Haltung« dafür verantwortlich gemacht, dass sich die Möglichkeit einer Allianz mit Stalin zerschlug. Lord Halifax, der sich während des Kriegs in einem unveröffentlichten Artikel mit dieser Frage befasste, sah die Lage klarer: »Von einem klugen Kaninchen wird man schwerlich erwarten, dass es bereitwillig den Schutz eines zehnmal größeren Tiers annehmen wird, dem man zudem Verhaltensweisen einer Boa constrictor nachsagt.«19 Aus der Sicht Polens hätte der Preis für eine Kooperation mit der Sowjetunion durchaus ähnlich hoch sein können wie die Kosten des Scheiterns dieser Bemühungen.
Am Ende fand Stalin die Aussicht attraktiver, sich in gleich welchen europäischen Konflikten neutral zu verhalten und sich Einfluss über osteuropäische Gebiete zu sichern, und stimmte dem Pakt mit Hitlerdeutschland zu. Manche Historiker sehen im sowjetischen Streben nach gewissen Formen kollektiver Sicherheit den ernsthaften Wunsch, mit dem Westen zu kooperieren, und nicht zuletzt sie behaupten, hier sei eine Chance, den Krieg abzuwenden, verspielt worden. Doch die Beweise sind erdrückend, dass die sowjetische Führung mit dem Gedanken einer Westallianz nur gespielt hat, um Deutschland zu einer Vereinbarung zu drängen, die der sowjetischen Seite wirkliche Zugeständnisse machte. Keiner der beiden Staaten zählte Polen zum dauerhaften Inventar der politischen Landkarte. Polnisches Territorium war seit dem 18. Jahrhundert zwischen Deutschland, Österreich und Russland aufgeteilt gewesen, und der neue Staat war gerade zwanzig Jahre alt. Die Zerschlagung Polens war eine für beide Seiten akzeptable Lösung. Die Geschichte von Ribbentrops dramatischem Flug nach Moskau am 22. August ist bekannt. Der dort ausgehandelte, in den frühen Morgenstunden des 24. August unterzeichnete Nichtangriffspakt sowie das geheime Zusatzprotokoll, das die Aufteilung des Baltikums und Polens in die jeweiligen Einflusssphären festhielt, wurde von Hitler als hoch bedeutsamer diplomatischer Triumph begrüßt. Er erwartete nach diesem Coup, in Kürze vom Sturz der Regierungen Englands und Frankreichs zu hören. Dass die sowjetische Bedrohung jetzt wegfiel, stärkte ihn in seiner Überzeugung, der Westen werde nicht für Polen kämpfen. »Unsere Gegner sind kleine Würmchen. Ich sah sie in München«, erklärte er seinen Oberbefehlshabern am 22. August auf dem Obersalzberg.20
Die Frage ist aufschlussreich: Wer wollte 1939 eigentlich Krieg? Die meisten Europäer sicher nicht. Hitler dagegen gewiss, denn sobald er beschlossen hatte, den Überfall auf Polen vorzubereiten, wollte er, was ihn selbst anging, jeden Eindruck der Schwäche vermeiden. Es war ihm nur zu bewusst, dass ihm München dazwischengekommen war, als er eigentlich einen kleinen Krieg gegen die Tschechen hatte führen wollen; vor den Augen seiner Militärführer war er zu einem Kompromiss gezwungen worden. Doch er wollte Krieg zu seinen eigenen Bedingungen, am liebsten einen begrenzten Krieg in Polen. Von Ribbentrop, das Echo seines Herrn, warf den Polen Unversöhnlichkeit vor, drohte mit jeder Art Krieg. Am 12. Juni 1939, in einem Gespräch mit dem Hochkommissar für Danzig, dem Schweizer Historiker Carl Burckhardt, soll von Ribbentrop gesagt haben, Polen werde in drei Tagen besiegt sein, Frankreich – sollte es intervenieren – »auf den Status einer drittklassigen Macht reduziert« werden, und sollte auch England folgen, »werde das Britische Reich zerschmettert«, während Deutschland kämpfen werde »bis zur letzten Frau und dem letzten Kind«. Schwer zu beurteilen, was führende Politiker des Westens solchen wilden Drohungen entnommen haben, als Burckhardt, wie von Ribbentrop erwartet hatte, sie ihnen ein paar Tage später übermittelte. Chamberlain schrieb, als ihm der Bericht vorgelegt wurde, an den Rand des Dokuments, ihm falle es bei solchen Tiraden »schwer, zu irgendeinem Schluss zu kommen«.21