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Für Sabrina & Carlotta

PROLOG

Die alte Angst. Sie konnte sie wieder spüren. Julia blieb stehen, ihr Atem ging in schnellen Stößen. Durch die Baumkronen der mächtigen Buchen drangen nur wenige Sonnenstrahlen, am Boden lagen morsche Stämme zwischen üppigen Farnen, es roch nach Erde und Laub. Der Wald schien verwunschen, als wäre er noch nie von einem Menschenfuß betreten worden. Doch Julia wusste, dass es anders war. Sie waren hier gewesen, viele von ihnen, und sie hatten eine mächtige, düstere Spur hinterlassen: Hunderte hüfthohe Pyramiden aus verwittertem Beton ragten aus dem Waldboden wie Rückenstacheln eines riesigen Drachen, der eingegraben unter der Erde schlief. Die bemoosten Buckel standen in mehreren Reihen und schlugen eine unheimliche Schneise quer durch den Wald, eine trotzige Grenze aus einer dunklen Vergangenheit, ein machtvolles Bollwerk, das sogar Panzern standhalten konnte.

Von weit her schallten Hundegebell und triumphierende Rufe durch den Wald. Julia erschauerte: Sie haben ihn.

Auf einmal wusste sie, woher sie die Angst kannte. Es war die Angst ihres Vaters. Wolfgang hatte immer versucht, sie vor ihr zu verbergen, damals, in ihrem Bauwagen am See. Er hatte versucht, sie wegzulachen und wegzulügen, er war mit seiner Tochter geflohen, das ahnte sie jetzt, um es für immer von ihr fernzuhalten – das Böse. Sie hatte es schon als Kind gespürt, aber es war nicht mehr gewesen als ein dunkler Schatten, den ein böser Traum auf das Leben eines kleinen Mädchens warf und der mit den ersten Sonnenstrahlen wieder verblasste.

Inzwischen wusste Julia, dass es in der Welt war. Und jetzt war es ganz nah, hier, in diesem Wald. Es hatte über eine lange Zeit geschlafen, war von einer weichen Moosschicht überwuchert worden wie die Reihen der alten Betonbuckel zwischen den riesigen Buchen. Es war erwacht, es wuchs wieder, und es wurde stärker. Und Julia spürte: Das Böse hatte sie im Visier.

Plötzlich drang ein heller Schrei durch das Rauschen der Baumkronen. Julia schaute sich um. Die Äste der umgeknickten Stämme schienen ihre knorrigen Finger nach ihr auszustrecken; überall um sie herum, im dunklen Unterholz und im Laub, wisperte, knackte und raschelte es, als wolle der Wald sie jeden Moment packen und mit seinen schartigen Betonzähnen zermalmen.

Julia löste sich aus der Angststarre und rannte los, zwischen den bemoosten Drachenzacken hindurch, hinab in eine Senke, tiefer in den Wald, über ausladende Wurzeln und kleine Bäche, dem Gebell entgegen. Sie war nicht weit gelaufen, als sie auf einen riesigen grauen Quader aus grobem Beton stieß, der aus dem Waldboden zu wachsen schien. An den Seiten öffneten sich Schießscharten und eine trichterförmige Geschützöffnung, eine rostige Tür versank halb im Laub. Julia stand vor einem alten, verwitterten Bunker. Vorsichtig kletterte sie auf das flache Dach, legte sich an die hintere Kante und schaute hinunter auf eine kleine Lichtung.

Dort unten standen fünf Jugendliche im Alter von zwölf bis neunzehn Jahren, drei Jungen und zwei Mädchen. Sie hatten sich im Halbkreis um einen zitternden Teenager mit kupferroten Haaren aufgebaut, der sich ängstlich an einen umgestürzten Baum drängte. Er ist so blass wie ein Toter, dachte Julia bang. Die Jugendlichen trugen abgetragene Hosen und Kapuzenjacken in Olivgrün, Grau und Schwarz. Ihre Füße steckten in Springerstiefeln oder alten Wanderschuhen. Der Größte der Meute war der Anführer, ein schütterer Schnurrbart verdeckte nur spärlich die Narbe seiner Hasenscharte, seine eng beieinanderliegenden Augen musterten unruhig das Opfer. An seinem rechten Mittelfinger erkannte Julia den Ring – eine einfache Spirale aus Eisendraht, die sich wie ein Schneckenhaus spitz nach oben wand. Über seinem Rücken hing eine Armbrust mit Zielfernrohr und einem gefiederten Pfeil im Lauf.

Neben dem Großen stand ein gedrungener Jugendlicher mit pickelrotem Gesicht und grinste, seine Schneidezähne waren abgebrochen. In beiden Händen hielt er eine geflochtene Lederleine, an der zwei graue Mastinos zerrten und bellend und geifernd nach dem Rothaarigen schnappten. Eine muskulöse Sechzehnjährige mit tätowierten Armen und Händen zündete sich im Hintergrund eine Zigarette an.

Der Anführer packte das Opfer grob am Kragen. »Weißt du nicht, wie groß der Wald ist, du Idiot? Hast du echt gedacht, du schaffst es hier raus?«

Ein schlaksiges Mädchen mit nachlässig gefärbten blond-blauen Haaren grinste. »Lass doch die Hunde los, ein paar Meter schafft der Jonas noch!«

Der Rothaarige presste sich fester gegen den umgekippten Baumstamm, die geifernden Hundeschnauzen berührten fast seine Schuhe. »Wartet. Ich wollte nicht abhauen, bitte … ich wollte …«

Er kam nicht weiter. Blitzschnell warf der Große ihn zu Boden und drückte ihn mit beiden Knien tief ins Laub. Dann bog er den linken Arm des Jungen hoch, zog mit militärisch präzisen Griffen ein Seil aus seiner Hosentasche und band das zuckende Handgelenk fest an einen Ast des Baumes. Der Rothaarige schluchzte ins feuchte Laub, Erde und Blätter klebten an seinem Gesicht. Vom Dach des Bunkers aus konnte Julia erkennen, dass an seiner gefesselten Hand der kleine Finger fehlte, der kurze Stumpf war dunkel vernarbt. Das Flehen des Jungen wurde panisch. »Bitte nicht! Ich wollte nur jagen gehen! Ich schwöre!«

Der Große mit dem Schnurrbart tastete den Rothaarigen grob ab und zog plötzlich grinsend mehrere Zweihundert-Euro-Scheine aus dessen Hosentasche. »Wohl eher shoppen, was?«

Die Kids johlten.

Das tätowierte Mädchen rief aus dem Hintergrund: »Verdammt, Jonas, du Vollidiot!«

Der Anführer packte die Hand des schreienden Gefangenen, spreizte den Mittel- und Ringfinger ab und band beide mit dem restlichen Seil an den Stamm. »Du weißt, wie es läuft. Beim zweiten Mal sind es zwei!«, sagte er, zog ein großes Jagdmesser aus der stählernen Scheide an seinem Gürtel und hielt es dem Kleinsten in der Runde hin, einem Knirps von etwa zwölf Jahren mit schmalen Schultern und strubbeligen, schwarzen Haaren. »Du machst es!«

Die Miene des Kleinen versteinerte. Zögernd nahm er das Messer in die Hand, wo es groß wie eine Machete wirkte.

Feixende Blicke der anderen. »Erst den Stinkefinger!«, rief der pickelige Junge. »Nein, beide auf einmal!«, tönte das Mädchen mit den blond-blauen Haaren.

Der Rothaarige wand sich schluchzend am Boden, doch der Anführer hielt ihn mit eiserner Entschlossenheit fest. Das riesige Messer zitterte in der Hand des Kleinen, seine Augen klebten wie hypnotisiert auf den Fingern am Baumstamm. Das schlaksige Mädchen gab dem Kleinen einen Schlag auf den Hinterkopf. »Na los! Ich will endlich frühstücken!«

Der pickelige Junge legte den Kopf schief und grinste. »Hast du gehört? Kiki hat Hunger.«

Der Rothaarige schaute den Kleinen flehend an. »Ben … bitte … Tu’s nicht!«

»Schnauze, Jonas!«, schrie der Anführer, wandte sich zu dem Kleinen um und gab ihm eine Ohrfeige. »Und jetzt mach hin, Ben! Hack sie ab!«

Der Kleine kämpfte gegen die Tränen und hob langsam das Jagdmesser über seinen Kopf. Die Klinge zitterte.

»Hey!«

Ben hielt inne und schaute nach oben zu Julia, die sich auf der Bunkerruine aufgerichtet hatte. Die Gruppe erstarrte, der Rothaarige hörte auf zu wimmern. Julia machte einen Satz und landete auf allen vieren im weichen Laub der Lichtung. Die Hunde wichen zurück. Langsam richtete Julia sich auf, jede Faser ihres Körpers war gespannt. Sie blickte in die überraschten Augen der Jugendlichen. Auf einmal schoss ein Gedanke blitzartig in ihren Kopf und breitete sich wie eine elektrisierende, befreiende Infusion in ihren Adern aus: Das Böse ist stark. Was, wenn ich selbst das Böse bin? Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

Mit einer schnellen Bewegung schnappte Julia dem Kleinen das Jagdmesser aus der Hand und hielt es für eine Sekunde in die Luft, damit alle ihn sehen konnten, den Ring mit der einfachen, gewundenen Drahtspirale an ihrem Finger.

Dann drehte sie sich zu dem gefesselten Rothaarigen um und ließ entschlossen die schwere Klinge niedersausen.