»NUR BEIM TANZEN WAR ICH FREI

In der Familie Nijinsky dreht sich alles nur um eines: ums Ballett. Als Bronislawa und Waslaw um 1900 in St. Petersburg aufwachsen, bewundern sie allabendlich ihre Eltern in der Garderobe, nervös vor den Auftritten, erhitzt und gelöst danach. Auch für die beiden Kinder ist der Weg vorgezeichnet: Sie werden an der kaiserlichen Ballettakademie aufgenommen – und schon bald zeigt sich, dass besonders Waslaw alle anderen überflügelt. Den Geschwistern steht eine ganze Welt offen – Paris, London, später gar New York –, eine Welt harten Trainings und geschundener Füße, aber auch des Glamours und des Ruhms …

 Hunderttausende Leser schwelgten in Eva Stachniaks Romanen über Katharina die Große – nun bereitet sie abermals einer großen russischen Heldin die Bühne: Bronislawa Nijinska, Schwester des legendären Waslaw Nijinsky und selbst gefeierter Star der Ballets Russes.

 Ein Roman über zwei ungleiche Geschwister, über den unbedingten Willen zum Erfolg – und über die Liebe zum Tanz, die alles andere überstrahlt.

 

Eva Stachniak, geboren in Breslau, lebt in Toronto. Sie hat für Radio Canada International gearbeitet und als Dozentin für Englisch und Geisteswissenschaften am Sheridan College gelehrt. Ihre Romane Der Winterpalast und Die Zarin der Nacht waren internationale Bestseller.

www.evastachniak.com

 

 

EVA STACHNIAK

DIE SCHWESTER DES
TÄNZERS

Roman

Aus dem Englischen von Peter Knecht

Insel Verlag

 

 

Die Originalausgabe erschien 2017
unter dem Titel The Chosen Maiden bei Doubleday, New York.

Der Verlag dankt dem ›Canada Council for the Arts‹ für die freundliche Unterstützung der Übersetzung.

 

 

We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts which
last year invested $ 153 million to bring the arts to canadians throughout
the country.

 

 

 

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4478

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2016
© 2016 Eva Stachniak

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagfoto: Malgorzata Maj/Arcangel Images; Fotolia

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

eISBN 978-3-458-74919-6

www.suhrkamp.de

DIE SCHWESTER DES TÄNZERS

 

 

 

 

Für Hugh und Brady

 

Kunst und Tanz sagen die Zukunft voraus.

Sie sind wie Intuition …

Bronislawa Nijinska

EINS

 

 

 

9. Oktober 1939

Kabine 11, Koje 3, SS American Trader.

Meine letzte Adresse?

Denn dieses Schiff kann leicht mein Sarg werden, wenn es irgendwo zwischen Europa und Amerika sinkt wie letzten Monat die SS Athenia auf ihrem Weg nach Montreal. Jetzt sind wir auch so ein kleines Pünktchen auf den grauen Wassern des Atlantiks. In New York – wenn wir es dahin schaffen – werden uns Wolkenkratzer begrüßen, die an Riesenechsen erinnern, schuppig und schön. Und ein neues Leben erwartet uns dort, aber vielleicht ist es gar nicht so sehr neu. In Momenten der Gefahr geloben wir alles Mögliche, fallen aber schon bald wieder in alte Gewohnheiten zurück.

Mein Vertrag in London wurde an dem Tag gekündigt, als Großbritannien dem Deutschen Reich den Krieg erklärte. Da die Theater in London geschlossen wurden und unsere britischen Visa befristet waren, ließ ich mich als Choreografin für die Australientour von Wassili de Basils Balletttruppe engagieren. Aber ob wir wirklich nach Australien fahren, steht in den Sternen. Wir machen Pläne, hat Mamusia immer gesagt, und Gott lacht.

Wenn die Befragung, der ich mich in der Amerikanischen Botschaft in London unterziehen musste, um ein Visum zu erhalten, Schlüsse darauf zulässt, womit ich bei der Einreise in die USA zu rechnen habe, muss ich mich auf kritische Fragen nach einigen Widersprüchen gefasst machen, die ihre Ursachen in der Geschichte haben. Mein russischer Pass aus zaristischer Zeit weist mich aus als , Bronislawa Fominitschna Nischinskaja, geboren 1890 in Minsk. Mein polnischer Pass dagegen behauptet, ich sei die polnische Staatsbürgerin Bronisława Niżyńska, geboren 1891 in Warschau. Mein Nansen-Pass vertritt die Ansicht, ich sei staatenlos. Einig sind sie alle drei darin, dass meine Gesichtsform länglich, meine Haut hell und mein Haar blond ist, in der Frage, ob meine Augen grün oder blau seien, gehen die Meinungen allerdings schon wieder auseinander.

Meine Geschichte, so werde ich zu meiner Verteidigung sagen, ist nicht ganz unkompliziert.

 

Mein Schlaf ist immer noch unruhig und flach. Die Phasen, in denen ich in eine Art tröstlichen Nebel eintauche, sind zu kurz, um mir wirklichen Frieden zu schenken. Ich wache am ganzen Körper zitternd auf, ausgehöhlt von Trauer, und warte darauf, dass es hell wird. Sobald der erste Sonnenstrahl über dem Rand des Ozeans auftaucht, stehe ich auf, lege einen Schal über meine Schultern und schleiche mich geräuschlos aus unserer stickigen Kabine. Ich habe lange genug in Djagilews Truppe getanzt: Wenn du den Fuß aufsetzt, darf nichts zu hören sein, nicht der leiseste Ton.

Auf dem Oberdeck mache ich an der Reling ein paar Pliés, dehne die Arme, die Beine, stelle die neuesten Einschränkungen meiner Beweglichkeit fest, Verspannungen, Versteifungen. Mit achtundvierzig ist mein Körper – das jahrelang immer weiter perfektionierte und glänzend polierte Instrument meiner Kunst – stumpf und unansehnlich. Und doch bewahren meine Muskeln treu die Erinnerung an Bewegungen auf, die ich einst beherrschte, die Tänze von Papillon, Ta-hor, der Sechsten Nymphe, der Auserwählten.

Nach dem Dehnen lehne ich mich an die Reling, zünde mir eine Zigarette an und warte auf die Delphine. Mein Mann versichert mir, sie hören es, wenn sich ein U-Boot nähert, und verschwinden dann sofort. Weil sie nie einzeln unterwegs sind, denke ich sie mir als ein Corps de ballet, Tänzerinnen und Tänzer, die lächelnd in geübter Harmonie ihre komplizierten, wunderbar glatten Sprung- und Tauchfiguren ausführen. Als sie endlich da sind, suche ich mir einen Platz, wo ich in Ruhe schreiben kann. Bei schönem Wetter reicht mir schon eine Taurolle irgendwo an Deck, wenn es kalt oder nass oder zu windig ist, gehe ich in den Rauchersalon.

Woher kommt dieser lebenslange Drang zu schreiben? Kindlicher Kummer. Tagebuch einer jungen Ballerina. Unnütze Aufregungen. Über Waslaw. Über Fjodor. Über Lewuschka. Ein Notizbuch nach dem anderen fülle ich, billige und teure, mit linierten oder karierten Seiten, broschiert oder mit festen Einbanddeckeln, aber immer so klein, dass es bequem in mein Handtäschchen passt. Hat es damit zu tun, dass ich so lange im Schatten von Riesengestalten gelebt habe? Dass ich immer darauf vorbereitet sein wollte, meine Sache zu verfechten, für das einzutreten, was mir wichtig war?

Mein Bruder Waslaw lebt in einem kleinen Hotel in dem Schweizer Gebirgsdorf Adelboden, eine Marionette in den Händen seiner Frau, die ihn anzieht, füttert, spazieren führt. Je nachdem, wem man Glauben schenkt, ist er schüchtern und kindlich oder aber reizbar und ruhelos. Die einen sagen, er sei stumm, die anderen, er rede ständig mit sich selbst. Manche nennen ihn erstarrt, manche tobsüchtig. Auch dem Gott des Tanzes sind Widersprüche nicht fremd.

Beschränke dich auf das Wesentliche, mahnt Waslaws Stimme. Alles andere lass weg.

Ich öffne mein Notizbuch und fange zu schreiben an.