WOLFGANG BÖCK

HABT’S MICH GERN

On the Road. Mein Leben

Aufgezeichnet von
Christoph Frühwirth

Mit 45 Abbildungen

Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at

Dieses Buch widme ich meiner Frau Soni.

Inhalt

Vorwort

Im Oldtimer zum »Zerbrochnen Krug«

Roadbook 2017

Kaisermühlen, der Blues und der Trautmann

1995 bis 1999

Rotz und Wasser – Kindheit und Jugend in Linz

1953 bis 1972

Brot und Beat – Schauspielstudium an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Graz

1973 bis 1976

Kunst und heiße Eisen – Theater für Vorarlberg in Bregenz

1976 bis 1979

Zwischen Dorf- und Volkstheater, Pürbach und Wien

1979 bis 1989

Das kleine Theater-ABC für Anfänger und Abonnenten

Liliom und die Strizzilieder

Ab 1993

Trautmann am Karmelitermarkt

2000 bis 2005

Harald Sicheritz: Trautmann, Böck und die sieben W

Meine Arbeit – ein Roadmovie

1992 bis heute

Wolfgang Murnberger: Böck und die »Brüder«

Schlossspiele Kobersdorf

2004 bis 2021

Erich Uiberlacker: Die Bühne Kobersdorf

Daheim im Burgenland

2018

Rollenverzeichnis

Bildnachweis

Personenregister

Vorwort

Werte Leserinnen, werte Leser!

Gleich vorweg, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, der Titel: »Habt’s mich gern« ist bei aller gewollten Doppeldeutigkeit im positiven Sinn zu verstehen. Ich bin nicht zuletzt auch Schauspieler geworden, um Anerkennung zu finden. Wobei mir die Berufsbezeichnung »Schauspieler« zu allgemein formuliert ist. Ich habe mich immer als Menschendarsteller oder besser als Menschenschicksal-Vermittler in der österreichischen Theatertradition verstanden. Dafür muss man sich intensiv auf seine Rollen einlassen und sehr viel von sich preisgeben. Das macht verletzlich. Und für diese allabendliche Anstrengung auf der Bühne möchte man eben gerngehabt werden. Ich spiele schließlich nicht für mich, sondern für mein Publikum. Nicht auf Ankommen, wie es so schön heißt, sondern um zu berühren. Im positiven wie im negativen Sinn. Je nachdem.

Nach über 40 intensiven Berufsjahren bekommt das »Habt’s mich gern« aber auch eine andere Bedeutung. Der Gedanke ans Aufhören taucht immer öfter auf. Man denkt darüber nach, wie es wohl wäre, so quasi in den Ruhestand zu gehen – und kann es sich dann doch nicht so richtig vorstellen. In diesen Zustand der Unentschlossenheit platzte plötzlich Christoph Frühwirth mit seinem Vorschlag, dieses Buch zu machen. Eine Werkschau sollte es werden. Nach vielen Gesprächen mit vielen Fragen ist es dann doch ein bisschen mehr geworden. Jetzt liegt es vor mir, und ich möchte die Möglichkeit nutzen, mich bei all jenen Menschen zu bedanken, die es in all den Jahren gut mit mir gemeint haben, und bei meinem Publikum, das mir so lange die Treue gehalten hat.

Ein besonderer Dank gilt meiner 91-jährigen Mutter, die immer bedingungslos an mich geglaubt hat, und meiner Frau Soni, die mir mit unerschütterlicher Liebe seit mehr als 30 Jahren zur Seite steht. Ich weiß nicht, was ohne sie aus mir geworden wäre.

Wolfgang Böck

Im Oldtimer zum »Zerbrochnen Krug«

Roadbook 2017

Lanzenkirchen, 2017. Eine niederösterreichische Ortschaft im Hinterland von Wiener Neustadt. Im Grandhotel Niederösterreich mit seinem idyllischen, von einem Kieselweg gesäumten Naturteich begrüßt Bürgermeister Bernhard Karnthaler eine Hundertschaft an Sonntagsausflüglern. Er lobt die Arbeitsplatzbeschaffung in Lanzenkirchen, hebt die beiden Golfplätze der Gemeinde als touristisches Alleinstellungsmerkmal hervor, bedankt sich bei den Betreibern des Hotels für ihre Gastfreundschaft und übergibt schließlich das Mikrofon an »den Herrn Intendanten«. Allerdings nicht, ohne ihm das »obligate Präsenterl« zu überreichen, einen Korb mit Produkten vom eigenen Hof. Der Herr Intendant bedankt sich mit medial-routiniertem Lächeln. Die Hundertschaft applaudiert.

On the Road mit Schriftsteller Christoph Frühwirth

Ein Sonntag am Land, ein Sonntag mit Wolfgang Böck. Zum zwölften Mal richtet der leidenschaftliche Oldtimer-Sammler Böck im Rahmen der von ihm seit 14 Jahren geleiteten Schlossspiele Kobersdorf seine »Oldtimer-Rallye« aus und führt einen Konvoi gleichgesinnter Automobilisten an, die sich die abendliche Vorstellung gemütlich »er-fahren«. 2017, in der Saison des »Zerbrochnen Krugs«, geht es über die Rosalia, eine der wenigen Höhenstraßen des ansonsten brettlebenen Bundeslandes.

Böck setzt zu einem kurzen Rückblick an, den er mit einem pointierten Bonmot ausklingen lässt: »Heut dürfen wir den tausendsten Oldtimer auf unserer Tour begrüßen. Da wir keine Startnummern vergeben, darf sich aber jeder von euch als der tausendste Fahrer fühlen.« Ein Raunen geht durch die Anwesenden, dem befreiendes Lachen folgt. Ein stimmiger Auftakt zu einem Nachmittag im Zeichen automobiler Nostalgie.

Karl Hatzigmoser, der Organisator der Tour, übernimmt und gibt einen kurzen Abriss zum Ablauf. Es gäbe auf der hoteleigenen Terrasse eine kleine Erfrischung »und a bissl was zum Beißen«. Währenddessen erfolge die Ausgabe des Roadbooks, der detaillierten Routenbeschreibung. Außerdem erhalte jeder Fahrer eine eigene Nummerntafel als Andenken. Zu seiner Linken gehe es zum Teich, rechter Hand, am Parkplatz, können die Fahrzeuge besichtigt werden. Wer also flanieren wolle, biege links, wer gustieren wolle, rechts ab. Einige wenige folgen nach dieser Verortung dem Hinweis auf den Teich, das Gros stürmt zum Parkplatz.

»Wo is’ denn dem Herrn Böck sein Auto?«, fragt eine untersetzte Rothaarige.

»Irgendwo wird’s scho sein«, erwidert ihr stämmiger Begleiter.

Der Parkplatz gleicht einem Oldtimer-Museum mit Schwerpunkt angelsächsischer Raum, durchsetzt mit deutschen Fabrikaten. Jaguar reiht sich an Morgan. Dazwischen ein Opel Kadett, ein Mercedes 170. Dann wieder ein bordeauxroter Jaguar 420 neben einem knallroten Ford Mustang. Ein BMW Automatic 2002 steht neben einem Steyr Puch 500. Dann wieder teilen sich, noblesse oblige, ein schwarzer und ein grüner Morgan den Stellplatz. Als Kontrast ein Pinzgauer in Tarnfarbe in direkter Sichtweite zu einem Alfa Romeo Milano. In der Windschutzscheibe eines Opel HELLA steckt eine Juxtafel: »Finger weg! Sonst: Finger weg!«

Wolfgang Böck posiert mit einer jungen Frau vor ihrem gelben 2CV, besser bekannt unter dem volkstümlichen Kosewort Ente. Erinnerungen werden in ihm wach, war doch eine dieser Enten sein erstes Auto. Der Gesichtsausdruck beim Selfie verrät das Déjà-vu: durch die Gegend watscheln, ohne sich Gedanken über Geschwindigkeitsbeschränkungen machen zu müssen – ließ das Cabrio für den schmalen Geldbeutel doch nur gemächliches Fahren zu.

Gemächlich beginnt auch die Fahrt von Lanzenkirchen nach Kobersdorf. Böck steigt in seinen Jaguar MK-2, einen komfortablen Viersitzer, metallicfarben mit roten Ledersitzen. Das Armaturenbrett ist in Mahagoni gearbeitet. Ich nehme auf dem Beifahrersitz Platz, blättere im Roadbook. Beim Kreisverkehr verlassen wir die Ortschaft Richtung Pitten. Wir fahren durch Walpersbach, die Rosaliastraße entlang. Bei einer Tankstelle in Bad Erlach biegen wir links ab und erreichen das angesteuerte Pitten. Hier machen wir aufgrund einer Einbahn eine Ehrenrunde um das Gemeindeamt, halten uns bei der Ortsausfahrt Richtung Bromberg. Ab da geht es bergauf. Eben noch beidseitig flankiert von Kukuruzfeldern, führt die kurvenreiche Strecke nun durch Waldgebiet. Böck deutet mit dem Kopf zu einem im Wald versteckt liegenden Gehöft: »Dort oben wohnt der Murnberger.« – Der Regisseur der Erfolgstrilogie »Brüder«, in der Böck neben Erwin Steinhauer und Andreas Vitásek agiert hat.

Vorbei an der Backhendlstation Stupfenreith führt der Weg durch Bromberg. Die Ortschaft beherbergt einen Traktoroldtimerhof. Am Stickelberg, einer Anhöhe mit traumhaftem Panoramablick über die Weite des Rosaliengebirges, hält Böck den Wagen an. Die Kolonne, die er anführt, hat sich im Nichts verflüchtigt. Es ist eine Stunde vergangen seit Beginn der Tour. Die Hälfte der 70 ausgeschilderten Fahrkilometer ist absolviert. Böck flucht laut vor sich hin. Im Wageninneren ist es, Ende Juli, stickig heiß. Das Anführen einer Kolonne von Wagen mit unterschiedlich antriebsstarken Motoren kostet Nerven, eine enorme Konzentrationsanstrengung. Es ist 17:00 Uhr am Nachmittag. Noch drei Stunden bis zur Aufführung. Eine kräftezehrende Bühnenperformance als Dorfrichter Adam liegt vor Böck.

Er wuzelt sich eine Zigarette, während wir auf die anderen Fahrer warten, bläst den Rauch durchs schräg gestellte Seitenfenster. Dann fixiert er mich unvermittelt: »Ich bin selber schuld.« Das allerdings sagt er schon wieder mehr für sich. Jammern ist das Seine nicht. Organisator Hatzigmoser tritt ans Auto. Böck kurbelt das Fenster herunter. Er schüttelt den Kopf: »Karl, heuer hast es wirklich gut g’meint. Nächstes Jahr: halbe Strecke – ich hab schließlich noch a Hack’n.« Und setzt nach: »Okay?« Die ersten Autos tauchen in unserem Windschatten auf. Langsam schließt die Kolonne auf. Die Fahrt geht weiter.

Blick in den Rückspiegel. Zwei Monate zuvor im Mai, in der Messehalle beim Prater, einem hellen, von Sonnenlicht gefluteten Mehrzweckraum. Sichtbeton. Holz. Glas. Das mit dem Boden abschließende Panoramafenster gibt den Blick frei auf eine der riesigen Ausstellungshallen am Messegelände. Hier finden die Proben zu »Der zerbrochne Krug« von Heinrich von Kleist statt.

Kleist, zu seinen Lebzeiten (1777–1811) ein am Unverständnis der Umwelt Gescheiterter. Mit 34 Jahren schied er »mit unaussprechlicher Heiterkeit« aus dem Leben, »weil mir auf Erden nichts mehr zu lernen und zu erwerben übrig bleibt«. Die Nachwelt feiert ihn neben Shakespeare und Molière als Komödiendichter von Weltrang. In den kommenden sechs Wochen setzen sich Wolfgang Böck und sein Team mit den fein ziselierten Worten des Sprachjongleurs auseinander. Seine Kriminalkomödie »Der zerbrochne Krug« dreht und windet sich um einen alternden Glatzkopf mit Klumpfuß und stattlicher Leibesfülle, einen Dorfrichter mit biblischem Vornamen: Adam. Einen typischen Vertreter der Vitalkomik: verfressen, versoffen, geil bis zur Lächerlichkeit. Mir kommt spontan der einstige Skandalfilm »Das große Fressen« in den Sinn.

Schlossspiele Kobersdorf: Adam in »Der zerbrochne Krug« (2017)

Die Handlung des Stückes ist schnell erklärt, in den Worten des Richters selbst, der seinem Schreiber Licht einen nächtlichen Traum anvertraut:

Mir träumt’, es hätt ein Kläger mich ergriffen

Und schleppte vor den Richtstuhl mich; und ich,

Ich säße gleichwohl auf dem Richtstuhl dort,

Und schält’ und hunzt’ und schlingelte mich herunter,

Und judicirt den Hals ins Eisen mir.

Vorarlberger Landestheater: Ruprecht in »Der zerbrochne Krug« (1977)

Ein Krug ist zerbrochen. Ein Krug, der seiner Besitzerin die Welt bedeutet. Was zur Anklage kommt, ist nichts weniger als der zweite Sündenfall der Menschheit. In der pointierten Umkehrung des Situationskomikers Kleist sieht die Schlange Adam sich konfrontiert mit Eve, einer Unschuld vom Lande. Das ehrbare Bauernmädchen und der durchtriebene Lustmolch. Weltgericht in einem Dorf, dessen Name den ganzen Sprachwitz Heinrich von Kleists auf den Punkt bringt: Huisum. Was so viel heißt wie: »Ei, ich bin’s!« Doch statt Selbstanzeige zu erstatten und reumütig den Tathergang aufzuklären, redet sich dieser Adam um Kopf und Kragen. Wissend, dass das Objekt seiner nächtlichen Begierde, Eve, machtlos gegenüber seiner in den Grenzen des Ortes grenzenlosen Macht ist. Er bietet alle Tricks der Lüge, Drohung, Schmeichelei auf, um seinen Hals aus dem von ihm erträumten Eisen zu ziehen. Unverfroren und blitzschnell erfindet er aus dem Augenblick heraus Finte um Finte.

Adam – eine Rolle als anspruchsvolle Charakterstudie. Eine Figur, die jedem Menschendarsteller abverlangt, das Innerste nach außen zu holen. Einer, dessen Wesen erst Schicht für Schicht offengelegt werden muss, den man sich erarbeiten muss, über den man sich nicht drüberschwindeln kann. Denn da weiß einer um seine Schuld und tut alles, um seine Unschuld zu beweisen. Da ist einer privat und agiert gleichzeitig öffentlich.

Bereits bei den Proben zeigt sich: Eigentlich steht der Schauspieler Böck auf der Bühne, doch gleichzeitig muss er, um in dieser schwierigen Rolle glaubhaft zu sein, in jeder Spielsekunde im Leben stehen. So lebensprall ist dieser Adam gezeichnet. So lebensnah ist sein mit schwarzer Feder niedergeschriebener Witz.

Im Probenraum markieren Stellwände die Bühnendimensionen. Ein roter und ein grüner Siebzigerjahre-Fauteuil dienen als Bühnenrequisiten. Auf einem kleinen Podest steht des Richters Amtspult, ein wuchtiger Bauerntisch mit Brotlade. Der zerbrochne Krug selbst ist eine durchlöcherte grüne Plastikgießkanne. Ein Spielrequisit wie der Motorradstiefel, den Wolfgang Böck während der Probe anbehält: sein Klump-Fuß. Praktisch, einfach, gut. Der Stiefel zwingt Böck regelrecht in den gewollten Humpelgang. Ein wichtiges körperliches Detail, um sich der Figur des Adam zu nähern.

Böck zeigt enorme Präsenz. Er steht am Buffet mit Knabbereien und aufgestapelten Mineralwasser-Trays. Während er eine PET-Flasche aufschraubt, beginnt er ansatzlos zu akklamieren. Das volle Timbre des Bassbaritons schwingt im Raum. Die Sprache klar, bis in die Nuancen verständlich.

Seine Kollegin Hannah Hohloch, die neben dem Buffet in einem Plastiksessel sitzt, steigt in den Dialog ein. Es wirkt wie eine private Plauderei, so selbstverständlich agieren die beiden. Hohloch nascht Apfelspalten.

Hannes Gastinger, der den Schreiber Licht spielt, sitzt am Bauerntisch und blättert scheinbar in seinem Manuskript. Das Blättern entpuppt sich als szenische Handhabe. Es gehört bereits zur Rolle des Amtsdieners.

Alexander Strömer, der den Amtsrichter Walter gibt, der in der Provinz nach dem Rechten sieht, fläzt sich ansatzlos in einen der beiden Fauteuils.

Etwas abseits meditiert ein hagerer junger Mann im Lotussitz: Béla Bufe. Er wartet auf seinen Auftritt als Ruprecht, den Verlobten von Eve.

Diese wird verkörpert von Saskia Klar. Sie hat sich hinter einer der Stellwände zurückgezogen. Klar blendet das Geschehen, das sich von ihr aus gesehen am anderen Ende des Raumes abspielt, bewusst aus. Sie konzentriert sich ganz auf ihre Rolle, wirkt wie ihr junger Kollege – auf sich selbst zurückgeworfen, verloren in der Weite des Raumes.

Regisseur Werner Prinz sitzt, Beine überschlagen, auf einem der Plastiksessel, die entlang der Sichtbetonwand aufgereiht sind. Rechts von ihm seine Frau, links die Regieassistentin. Ebenfalls anwesend: Bühnenbildner Erich Uiberlacker, Kostümbildnerin Gerti Rindler-Schantl und die Assistentinnen der beiden. Prinz hat die Augen halb geschlossen. Er horcht hinein in den Dialog der Schauspieler. Nach einer Weile steht er auf, reibt sich die Hände und eröffnet umgangssprachlich: »Tua’ ma wos!«

Böck humpelt hinter den Bauerntisch. Er trägt eine karierte Pyjamahose. Über der Brust spannt ein weißes Feinrippleiberl. Das Kostüm von Saskia Klar blitzt hinter der Stellwand hervor: ein roter Mantel, eine rot-weiße Strickmütze mit Wollwuschel, ein orangefarbener Minirock, weißes T-Shirt und ein bordeauxroter Schal. Sie ist barfuß, zieht sich fürs Spielen aber die kniehohen, hochhackigen Stiefel über – ebenfalls in einem Vintage-Rot. Eine Lady in Red, entstiegen den 1970er-Jahren. Gleichermaßen Femme fatale wie Unschuld vom Lande. Böck verharrt hinter dem Tisch. Augenzwinkernd überspielt er die merkbare Aufgeregtheit. Die Probe beginnt und rollt routiniert ab. Prinz legt sie als ein harmonisches Trial and Error an. Er lässt die Schauspieler aufeinander los, fordert sie auf, Situationen zu improvisieren. Er beobachtet, verwirft hie, spitzt da zu. Seine Leitung wirkt lebensnah, ohne dabei die Theaterpraxis aus den Augen zu verlieren. Gerade die jungen Talente bekommen den Bühnenpraktiker Prinz zu spüren.

Die Oberlichte, ein technisches Bollwerk aus Holz, Beton und Glas, kontrastiert mit dem leichtfüßig wirkenden Spiel darunter. Sie wird später auf der Bühne durch ein Glasdach ersetzt. Böcks jahrzehntelanger Wegbegleiter, Erich Uiberlacker, schafft den Akteuren damit Raum in Form eines in Originalgröße gebauten Gewächshauses. Vorerst allerdings ist es die durch die Oberlichte steil einfallende Sonne, die das schlohweiße Haar von Regisseur Prinz akzentuiert. Er wuselt zwischen den Schauspielern herum und dröselt die kunstvolle Poesie in Alltagssprache auf. Mit großer Ernsthaftigkeit bringt er den geschriebenen Wortwitz auf den Boden der gesprochenen Realität. Werner Prinz trägt ein T-Shirt, dessen WortBild-Marke sein Bestreben unterstreicht. »Nothing Runs Like A Deere«, steht da. Darunter zeigt die Grafik einen Traktorreifen. Prinz wirkt wie einer dieser antriebsstarken amerikanischen Deere-Traktoren. Er zieht die Ackerfurche, in der die Saat der Probe aufgeht.

Prinz und Böck kennen einander eine halbe Ewigkeit. Als Böck 1989 gemeinsam mit Harry Gugenberger das nachmalige Wald4tler Hoftheater gründete, war sein Kollege aus dem Wiener Volkstheater mit von der Partie. Prinz inszenierte an diesem Theater am Bauernhof Friedrich Dürrenmatts »Die Physiker«. Böck stand auf der Bühne. Man merkt den beiden die jahrzehntelange Arbeitsfreundschaft an.

Die Schauspieler konzentrieren sich auf die Umsetzung der wortreichen Regieanweisungen. Böck bringt sich knapp und pointiert in den Probenprozess ein. Als intensiv Suchender, Fragender, als immer wieder Hinterfragender. Regisseur und Hauptdarsteller verstehen einander blind. Innerhalb der Gruppe, die sich erst im Verlauf der Proben findet, führen die beiden ein Zwiegespräch.

Die Schlüsselszene des Stücks: Richter Adam verhört die Landmaid Eve. Eine irrwitzige Spiegelung des biblischen Sündenfalls. Sie geht einher mit einem Perspektivenwechsel des Bühnenpersonals. Gerichtsrat Walter, der es sich bis dahin neben dem vor sich hin tuckernden Kanonenofen gemütlich gemacht hat, nimmt Platz hinter dem wuchtigen Bauern-, dem eigentlichen Gerichtstisch. Ihm zur Seite, sich anbiedernd, der Schreiber Licht. Richter Adam, raumgreifend die Bühne durchmessend. Eine Dampflokomotive.

Die Arme von Böck sind wie Schienen nach vorn gerichtet. Seine Augen leuchten wie Scheinwerfer in der Nacht. Er schwitzt. Er wirkt im Augenblick tatsächlich wie auf Schiene: ein pfeilgerade das Ziel ansteuerndes Dampfross. Gleichzeitig ist sein Zugang ein spielerischer. Ein Dampfross, das auf der Schiene zu tänzeln scheint, das Risiko des Entgleisens bewusst in Kauf nehmend.

Regisseur Prinz spielt die Szene vor, ohne sie vorzugeben. Es ist die Lust des gelernten Schauspielers, Positionen mit vollem Körpereinsatz zu markieren, die Wegstrecke hin zur Bühnenreife in Stationen einzuteilen. Rechts der Richter Adam, links die Witwe Marthe, in der Mitte, eingekeilt von den Kalibern der beiden Erwachsenen, das »twatsche Kind«, wie es bei Kleist heißt. Eve. Ihr Verlobter Ruprecht als Zaungast, am Rande des Geschehens und der Bühne. Hinter dem Tisch thronend, als Beobachter und Kommentator, der Unheil ahnende Gerichtsrat und der um das Unheil wissende Schreiber.

Adam nimmt Eve frontal ins Visier: »Sagst du, dass es Ruprecht war: gut! Doch willst du hier von einem anderen trätschen, nimm dich in acht, in Huisum glaubt dir’s keiner.« Und nach kurzem Geplänkel, nachsetzend: »Die Jungfer weiß, ich wette, was ich will.«

Eve wird ins Eck gedrängt, körperlich wie seelisch. Ihre Mutter Marthe ist dem hohen Amte hörig und hat ohnedies den Jüngling Ruprecht in Verdacht, mehr als nur den Krug zerbrochen zu haben. Wirft sie ihm doch vor, das Ansehen der Tochter und damit auch das ihre in tausend Scherben zerschlagen zu haben. Sie spielt damit dem Richter geradezu in die Hände. Er hat mit dem Jüngling das willkommene Opfer, das ihm, dem Mann ohne Skrupel, mehr als recht kommt in einer ausweglosen Situation.

Einziges Problem: die vom Gerichtsrat geradezu eingeforderte Befragung der Zeugin Eve. Eine Forderung, der er sich nicht einmal durch ein Glanzstück der Commedia dell’arte entschlagen kann. In einer Art Zitatwut versucht er sich im Vorfeld des Verhörs schlangengleich aus der Affäre zu winden: »Titolo: Wenn Krüge sind zerschlagen, so haften Töchter ihren Müttern nicht als Zeugen«, dabei blättert er wie irr in seinem zerfledderten Paragrafen-Schmöker.

Gerichtsrat Walter wischt den fadenscheinigen Einwand mit lässiger Handbewegung einfach vom Tisch. Es ist also die Anklägerin, mit der der Richter sich gemein machen muss, um ans Ziel zu gelangen. Und das tut er. Er sucht den Gleichschritt mit der hysterischen Furie. An seiner statt weist sie Ruprecht, Eves Verlobten, in die Schranken, als dieser sich verteidigt: »Du, mach mir kein Spektakel!« – Um in einer Mischung aus weinerlichem Sentiment und marktschreierischer Unbotmäßigkeit sich selbst zu bemitleiden.

Regisseur Prinz lässt die Suada von Hannah Hohloch immer und immer wiederholen. Mal ist ihm die Hysterie zu aufgesetzt, zu theatralisch, mal zu verhalten. Er treibt Hohlochs Emotionen auf die Spitze, fordert lebenspralles Agieren ein. Und bringt damit Spiel und Leben zueinander, bis das eine das andere zu überdecken scheint. Die Luft im Probenraum ist zum Schneiden, die Emotionen nähern sich dem Höhepunkt.

Prinz beendet die Probe mit dem Aufschrei der Witwe Marthe Richtung Ruprecht: »Hör, dir zerschlag ich alle Knochen!«

Hohloch, erschöpft von der anstrengenden Probe, macht sich unmittelbar nach Probenende auf den Heimweg. Die anderen plaudern noch kurz, Prinz erzählt Theateranekdoten, Böck wuzelt sich im Raucherbereich der Messehalle eine Zigarette.

Anderntags beginnt die Probenarbeit wieder mit dem Spiel-im-Spiel des Adam: ein perfides Verhör, changierend zwischen Schuld und Unschuld. Eine Irrfahrt auf dem Abstellgleis des Dorfes Huisum. Eve, in die Enge gedrängt, geht aus sich heraus, um schließlich, ihre Aussichtslosigkeit erkennend, völlig zu verstummen.

Werner Prinz erklärt den Moment zwischen Tragik und Komik, der dem Stück seine Tiefe verleiht. Nie sei das Publikum der Wahrheit so nahe wie bei Adams Verhör der Eve. Zwei Menschen stünden sich da gegenüber, aus Fleisch und Blut, die beide etwas zu verbergen hätten. Macht und Ohnmacht würden da offengelegt und bloßgestellt. »Ihr müsst den Moment aus dem Inneren heraus verstehen«, schließt der Regisseur, um sich im weiteren Probenverlauf selbst in Äußerlichkeiten zu verlieren. Outrierend bemängelt er angebliches Outrieren in diesem geradezu als Schmierenkomödie angelegten Verhör. Kurz, aber leidenschaftlich redet er sich in Rage.

Wolfgang Böck stellt sich vor die Kollegen, beschwichtigt den alten Weggefährten: »Werner, du musst uns Luft zum Atmen lassen.«

Die Probe kommt stotternd wieder auf Schiene, im gewohnten Plauderton geht es weiter.

Schauspiel ist das Freilegen von Nervenbahnen. Nervöse Schauspieler jedoch igeln sich ein, ziehen sich in sich zurück. Um befreit spielen zu können, müssen die Nerven auch frei liegen dürfen. Und so überträgt sich die Explosion des Spielleiters auf die Spielenden. Die Leidenschaft und Energie von Prinz geht auf das Dreigestirn Böck, Hohloch und Klar über. Letztere rotzt als Eve den zentralen Satz des Stückes regelrecht heraus: »Ei, was, Richter! Wert, selbst vor dem Gericht, als armer Sünder, dazusteh’n.«

Die negative Energie am Rande der Probe wandelt sich in positive Energie innerhalb der Probe und entlädt sich wie ein Energiestoß, als Alexander Strömer, der Gerichtsrat, Eve auffordert, mit der Wahrheit herauszurücken: »Sei dreist, mein Kind, sag, wer den Krug zerschlagen.«

Doch Eve verstummt, und das Dampfross Adam nimmt wieder volle Fahrt auf. Wolfgang Böck überträgt die Energie des Augenblicks auf sich selbst. Die rein körperliche Anschlussszene an diesen Satz, die erst am nächsten Probentag ansteht, gibt ihm die Möglichkeit, Dampf abzulassen. Er pflockt zwei Tischböcke in die Mitte der Bühne und wuchtet die Tafel, eine halbe Tischtennisplatte, auf die Böcke. Anderntags werden auf dieser Tafel Richter und Gerichtsrat saufen, fressen und sich gegenseitig belauern. So simpel die Handhabe, so ist sie doch Ausdruck einer psychologischen Befindlichkeit. Gehört also glaubhaft dargestellt und somit penibel geprobt. Böck arbeitet sich im Wortsinn auf beim Wiederholen dieses Ablaufs. Der Befreiungsschlag nach einer emotionalen Probe.

Im Hintergrund blödelt Saskia Klar. Lasziv und mit verführerischem Zungenschlag tanzt sie an einer Garderobe, als wäre diese eine Go-go-Stange.

Werner Prinz erklärt sich gegenüber Béla Bufe: »Wenn’s nicht von innen kommt, ist es scheiße.«

»Es ist von innen gekommen.«

»Drum war’s gut.«

Noch fünf Wochen bis zur öffentlichen Generalprobe.

Fünf Wochen später, Generalprobe in Kobersdorf. Der Tag vor der Premiere. Ein altes Schauspieler-Sprichwort besagt: Geht die Generalprobe schief, wird die Spielserie ein Erfolg. Die Vorstellung vor vollem Haus wird begeistert akklamiert. Ich spreche im Anschluss daran Böck auf das Sprichwort an. Er grinst: »Schau’ma mal.« Geschäftsführer Thomas Mersich assistiert: »Wir haben schon jetzt über 90 Prozent der Karten verkauft.«

Drei Wochen nach der Generalprobe. Der Jaguar von Wolfgang Böck. Unser Blick ist nach vorn gerichtet. Die Windschutzscheibe bildet den Rahmen für eine sich in Serpentinen durch den Wald windende Abfahrt in Richtung Naturpark Landsee. Böck schweigt. Er wirkt nun hoch konzentriert. In knapp zwei Stunden muss er auf die Bühne. Ein Kraftakt. Geistig wie körperlich. Während er Kilometer macht, geht er die Bühnenabläufe durch. Wie geht er mit der Doppelbelastung als Aushängeschild – repräsentierender Intendant und omnipräsenter Schauspieler – um? »Was ich vor Jahren selber eing’führt hab, geht mit den Jahren immer mehr an meine Substanz«, gesteht er. Ohne mich dabei anzublicken, huscht ein Lächeln über seine Lippen. Mein Eindruck verstärkt sich: Jammern ist nicht das Seine.

Und wie um die Erkenntnis wegzublasen wie eine Rauchwolke, lüftet er den Strohhut bei einer Wegbiegung: »Da ist einer meiner Kollegen von uns gegangen. Motorradunfall.« Wir schweigen von nun an bis zur Ortseinfahrt Kobersdorf.

Das typisch burgenländische Straßendorf richtet sich ganz zum dominanten Wasserschloss hin aus: der Spielstätte der Schlossspiele Kobersdorf. Die Fahrt dorthin gleicht dem Gang des Schauspielers über den roten Teppich einer Filmpremiere. An den Straßenrändern Schaulustige.

Entlang der Strecke Posten der Freiwilligen Feuerwehr. Vor der steinernen Brücke über den ehemaligen Wassergraben der Anlage stehen bereits Mitglieder des Ensembles. Daneben wieder Feuerwehr, Polizei, Publikum.

Der Großteil der Vorstellungen ist zu diesem Zeitpunkt über die Bühne gegangen, mit beinahe hundertprozentiger Auslastung. Zuschauer und Ensemble: mehr als zufrieden. Am Fuß der Brücke, auf einem kleinen Rasenstück neben dem Kassenhäuschen, ist der Parkplatz des Intendanten. Hier stehen die altbekannten Gesichter aus dem Probenraum: Saskia Klar, Alexander Strömer, Hannah Hohloch. Böck wird unmittelbar nach dem Einparken umringt. Selfies werden geschossen. Dann erst kann er sich für kurze Zeit in sein Arbeitszimmer zurückziehen: ein halbe Stunde der Konzentration.

Dieser Kontemplation folgt – die Explosion. Ein während der Oldtimer-Fahrt teilweise abgeschlagen wirkender Wolfgang Böck läuft als Dorfrichter Adam zu einer Höchstform auf, die selbst bei einem ausgeruhten Schauspieler nicht selbstverständlich ist. Er humpelt, trampelt, schnauft, irrlichtert, züngelt komplizierteste Wortkaskaden, zündet Pointen – und windet sich massig wie ein Schraubstock in die Herzen seines Publikums. Kurzum: Er gibt alles. Und das hundertprozentig.

Die Zuseher toben vor Begeisterung. Der Applaus hält lange an. In alter Tradition nehmen sich die Schauspieler an den Händen, verbeugen sich. Die Anspannung vor der Vorstellung weicht befreiender Genugtuung. Entspannt geht Böck nach der Vorstellung durch den Gastronomiebereich. Er trägt einen hellen Sommeranzug aus Leinen. Er bleibt an jedem Tisch stehen, grüßt, wechselt ein paar Worte.

Ich trinke an einem der Stehtische ein kühles Bier. Er stellt sich mit einem weißen G’spritzten dazu: »Gut is’ ’gangen.«