Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
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  18. 16
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  21. 19
  22. 20
  23. 21
  24. 22
  25. 23
  26. 24
  27. 25
  28. 26
  29. 27
  30. 28
  31. 29
  32. 30
  33. 31
  34. 32
  35. 33
  36. 34
  37. 35
  38. 36
  39. 37
  40. 38
  41. 39
  42. 40
  43. 41
  44. 42
  45. Danksagung
  46. Die Autorin
  47. Weitere Bücher von Annika Martin bei LYX
  48. Impressum

ANNIKA MARTIN

Wild Mafia Prince

Ins Deutsche übertragen
von Anita Nirschl

Zu diesem Buch

Er wurde von Wölfen großgezogen und von Menschen gefoltert. Er ist der verlorene Bruder, und er ist in Gefahr …

Obwohl es nicht ihr erster Undercover-Einsatz als Journalistin ist, macht Ann dieser Job im Fancher-Institut für Geisteskrankheiten und Kriminelle zu schaffen. Und das nicht nur wegen des penetranten Antiseptikumgeruchs. Als Krankenschwester verkleidet, erregt vor allem Patient 34 ihre Aufmerksamkeit. So verloren, so wild, so animalisch … und ohne jegliche Informationen über seinen Namen oder seine Vergangenheit. Ann wittert, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht und gerät direkt ins Kreuzfeuer der Mafia. Ihre einzige Chance ist der Patient, dessen animalisches Verlangen sie mehr und mehr in seinen Bann zieht.

1

Ann

Randall ist ein Mann mit freundlichen Augen, rosigen Wangen und einem langen grauen Bart. Er sitzt auf einer am Boden festgenieteten Bank in der Ecke seines Zimmers im Fancher-Institut, früher bekannt als Fancher-Institut für kriminelle Geisteskranke.

Vor dreißig Jahren tötete Randall in einem Linienbus drei Menschen, danach versuchte er, mehrere Büroangestellte durch mit Arsen versetzte Kekse zu vergiften. Fünf seiner Opfer erkrankten schwer.

Heute steht er unter starken Medikamenten und ist zweiundzwanzig Stunden täglich in diesem kleinen Raum eingesperrt. Rechts von ihm befindet sich ein großes Fenster, durch das ein Pfleger hereinschaut, einer von zwei Pflegern, deren einzige Aufgabe es ist, im Flur zu sitzen und Randall während seiner wachen Stunden zu beobachten. Randalls einziges brennendes Ziel im Leben ist es, sich gut genug zu benehmen, um seine Zeit in der Zelle auf einundzwanzig Stunden täglich zu reduzieren.

Ich beschließe, meine Story so anzufangen, würde ich sie als Human-Interest-Artikel über die Patienten des Fancher-Instituts schreiben, die in der Abteilung für gefährliche Geisteskranke (GG) untergebracht sind. Man hängt die Story immer am Schicksal eines einzelnen Menschen auf und versucht, ein besonderes Detail zu finden. Das ohne Unterlass starrende Gesicht ist so ein besonderes Detail.

Storys über Menschen haben Macht. Sie bringen Menschen einander näher, verbinden sie miteinander. Aber ich bin nicht hier, um eine Story über einen Menschen zu schreiben.

Ich bin hier, um eine Story über Dinge zu recherchieren. Eine Story über eine Lieferkette. Die langweiligste Sorte von Story überhaupt.

Eine Story über eine Lieferkette mitten im Nirgendwo Minnesotas ist die Quittung dafür, weinend im Schutt Kabuls zu knien und ein Kätzchen im Arm zu halten, während man das wichtigste Treffen seiner Karriere versäumt.

Alle nannten es einen Nervenzusammenbruch. Dieses Wort trifft es so gut wie jedes andere.

Bring den Auftrag einfach zu Ende, sage ich mir. Konzentrier dich und mach deinen Job.

Denn ich kann von Glück sagen, dass ich diesen Auftrag überhaupt bekommen habe. Kein seriöser Redakteur will heutzutage noch mit mir zu tun haben. Dieser Auftrag wurde mir von einem Redakteur bei Stormline zugeschanzt, was kein seriöses Druckwerk ist.

Eine Schwester namens Zara stellt mir die Patienten vor, die ich betreuen soll. Sie hält mich für eine Krankenschwester, und das bin ich tatsächlich. Ich war Krankenschwester, bevor ich beschloss, dass ich eigentlich nur Journalistin sein will.

Ich trage einen Gesichtsschutz aus Plastik und Handschuhe, und ich mache etwas mit jedem Patienten, damit Zara sich davon überzeugen kann, dass keiner von ihnen schlecht auf mich reagiert. Sie will sich auch vergewissern, dass ich mit diesen GG-Jungs klarkomme.

Die GG-Jungs werden kein Problem sein. Der Geruch nach Desinfektionsmittel allerdings schon. Er ist so überwältigend, dass ich das Gefühl habe, darin zu schwimmen. Ich komme zurzeit mit Desinfektionsmittelgeruch nicht gut klar.

Schwester Zara will mich nicht hierhaben, und damit hält sie nicht hinterm Berg. »Schwester Ann wird Ihnen jetzt den Blutdruck messen, Randall«, sagt sie. »Sie werden sie in nächster Zeit oft sehen.«

Der Typ von der Personalabteilung hat mich gewarnt, dass die Belegschaft sich gegen meine Anwesenheit sträuben würde. Eigentlich hätte eine Freundin von Schwester Zara auf diese Stelle befördert werden sollen. Alle im Team dachten, sie würde sie bekommen. Und dann kam ich daher und schnappte sie ihr weg. Also behandeln sie mich ein bisschen wie eine Aussätzige.

Ich bin schon mit Schlimmerem klargekommen.

»Hallo, Randall«, sage ich sanft. Randalls Gesicht ist affektflach – das ist Psychiatrie-Sprache für ohne Ausdruck. Seine Augen sind leer, als ich die Blutdruckmanschette um seinen schlaffen Bizeps lege. Randall ist auf einem Drogencocktail, den sie B-52 nennen, und der tut genau das, was man sich darunter vorstellen würde – er sediert ihn und verlangsamt sein Denken so sehr, dass er mehr Matschbirne als Mensch ist. Nachts bekommt er zusätzliche Medikamente. Das ist die einzige Zeit, in der er nicht von einem Pfleger bewacht werden muss.

Ich notiere seine Fortschritte in einem Tablet, indem ich Kästchen anklicke und Zahlen eingebe. »Gut gemacht! Sieht so aus, als dürfen Sie drei Stunden in den Gemeinschaftsraum, wenn Sie sich auch noch den Rest der Woche gut machen«, sage ich zu ihm.

Randall grunzt und murmelt etwas, das wie Zustimmung klingt.

Zara brummt vor sich hin. Ich würde sie auf etwa doppelt so alt wie meine neunundzwanzig Jahre schätzen, also fast sechzig. Sie hat kurzes, blondiertes Haar, das von einem hellen Haarreifen mit farbigen Punkten aus dem Gesicht gehalten wird. Sie hat mir gesagt, dass die Jungs es mögen, wenn die Farbe der Punkte von Haarreifen zu Haarreifen wechselt. Die Jungs liegen ihr am Herzen, aber sie will, dass ich verschwinde.

Zusätzlich zu der Feindseligkeit bekomme ich allmählich das Gefühl, dass Zara meine Lüge wittert, aber vielleicht spürt sie auch nur mein Unbehagen. Krankenschwestern können eine ziemlich scharfe Wahrnehmung haben, was den Gemütszustand von Menschen angeht, und Zara ist gut. Wenn man drei Jahrzehnte in einer Psychiatrie verbringt, dann entwickelt man recht feine Antennen. Sie weiß natürlich nichts von meinem Zusammenbruch.

Aber Zara wird nicht mein größtes Problem sein.

Mein größtes Problem wird Donny sein, der bullige stellvertretende Stationsleiter. Dem Mann steht »kranker Wichser« ins Gesicht geschrieben. Soweit ich das beurteilen kann, ist das Einzige, was Donny von diesen ans Bett geschnallten Männern unterscheidet, ein richterliches Urteil und eine Unterbringungsanordnung.

Der nächste Patient ist ein Schizophrener Anfang zwanzig. Als Collegestudent hat er eine Highway-Tankstelle in die Luft gesprengt und dabei drei Menschen getötet. Er liegt in einer Dreipunkt-Fixierung, was bedeutet, dass seine beiden Handgelenke an einen Gurt um seine Taille gefesselt sind. Auch er bekommt den B-52-Cocktail, und er hat die gleichen ausdruckslosen B-52-Augen.

Zara steht an der Tür und simst mit ihrem Handy, während sie mir mit halbem Auge dabei zusieht, wie ich seinen Blutdruck messe und ihm Blut abnehme. Er scheint den Nadelstich nicht einmal zu bemerken. Ich frage mich, ob er weiß, dass ich da bin. Ich rufe seine Patientenkurve auf. Er arbeitet darauf hin, die Hände zum Schlafen losgemacht zu bekommen. »Wenn Sie sich den Rest der Woche über gut machen, dann können Sie mit unfixierten Händen schlafen«, sage ich ihm munter.

»Danke«, murmelt er.

Nach jedem Patienten legen wir im Flur einen Zwischenstopp ein, um über ihn zu sprechen. Zara beobachtet meine Augen ein bisschen zu aufmerksam während dieser Besprechungen.

»Sie können diesen Job nicht machen, wenn Sie sich von diesen Jungs Angst einjagen lassen«, blafft sie.

Sie nimmt wahr, dass ich nicht hierher gehöre, oder registriert vielleicht auch meinen zerbrechlichen, kaputten Geisteszustand. Jedenfalls nimmt sie etwas wahr.

Ich bemühe mich um ein gelassenes Lächeln. »Diese Jungs sind in Ordnung. Alles okay bei mir.«

Bei der ganzen Fixierung und Sedierung, von den wachsamen Pflegern auf Abruf ganz zu schweigen, könnte ich vor diesen Männern nicht sicherer sein, besonders im Vergleich zu vielen der Subjekte, die ich in meinen längst vergangenen Tagen als seriöse Journalistin im Außeneinsatz interviewt habe.

Ein paar dieser Interviewpartner waren ebenso unausgeglichen wie diese Männer, nur dass sie üblicherweise noch Sturmgewehre hatten. Und die einzigen Drogen, auf denen sie waren, waren Kaffee und vielleicht noch Alkohol, nicht gerade die tollste Kombi, wenn man ein gefährlicher Irrer ist.

Und ja, Donny, der kranke König der Pfleger, wird wahrscheinlich versuchen, mich zu drangsalieren, so gut er kann. Aber mein Kryptonit ist der Geruch nach Desinfektionsmittel.

Vor sechs Monaten hätte ich herzlich gelacht, wenn jemand versucht hätte, mir einen solchen Auftrag aufzuhalsen. Ich war die unerschrockene Reporterin, die man nach Bhutan oder Somalia oder Syrien schickte. Ich war diejenige, die in Jeep und Hummer durch die Gegend fuhr, mit Fixern in miesen kleinen Cafés darauf wartete, ein paar der interessantesten Menschen der Welt zu treffen, immer auf der Jagd nach der verdammten Story. Ich lebte für die Story.

Und wenn sie mit dem Underdog zu tun hatte oder dem verrückten Milizführer oder jemandem, der das Unmögliche versuchte? Dann war ich dabei!

Jetzt zähle ich medizinisches Bedarfsmaterial für einen Redakteur mit einer Verschwörungstheorie, der glaubt, die Cops würden die Sache ignorieren. Ich hatte Glück, dass Stormline jemanden mit einer Krankenschwesternausbildung brauchte.

Aber so werde ich mich aus dem geschwärzten, verbrannten Krater meiner Karriere wieder herausbuddeln. Ich werde die Scheiße aus dieser Lieferketten-Geschichte herausrecherchieren. Ich werde diesen Job erledigen, als wäre es der beste, wichtigste Auftrag, den ich je bekommen habe. Beim nächsten Auftrag wird sich der Redakteur von Stormline für mich verbürgen, und dann werde ich aus dem die Scheiße herausrecherchieren und -schreiben und so weiter.

Ich werde mich auf jede Story vor mir konzentrieren, als wäre es die wichtigste Story aller Zeiten – so werde ich mich wieder freischaufeln.

Mit klopfendem Herzen schließe ich die Augen. Der Desinfektionsmittelgeruch setzt mir noch immer zu, sogar sechs Monate später. Ich dachte, ich wäre bereit.

Ich wusste, der Geruch würde da sein, aber ich hätte nicht gedacht, dass er ein Problem sein würde. Dieses Krankenhaus steht nicht unter Beschuss. Niemand wird hier drin in der Falle sitzen. Es ist eine ganze Welt von jedem Kriegsschauplatz entfernt.

Was noch schlimmer ist: Der Geruch bringt mich dazu, an das Kätzchen zu denken. Ich verdränge es aus meinen Gedanken. Ich rufe mir in Erinnerung, dass es dem Kätzchen gut geht. Du bist eingeschritten und hast das Kätzchen gerettet. Du bist knallhart.

Na ja, ich war mal knallhart.

Ich fühle mich nicht knallhart. Der Desinfektionsmittelgeruch macht mich ernsthaft fertig. Ich werde ihn die ganze Nacht lang riechen – das weiß ich jetzt schon. Ich werde nicht schlafen können.

Mir braucht man nicht zu sagen, wie sexy eine gute Abwärtsspirale ist – ich bin Journalistin. Ich weiß es.

Es gibt nichts Herrlicheres als den reichen Schneeballsystem-Betrüger in Handschellen. Den arroganten Rockstar, der in die Drogensucht abrutscht. Die Highschool-Schönheit, die gemein zu dir war und die jetzt dein Klo schrubbt.

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal selbst in einer Abwärtsspiralen-Story die Hauptrolle spielen würde. Schätze, niemand tut das.

Wir gehen weiter den Flur entlang. Ich lerne einen Hippie-Pfleger kennen, der vier Jungs von einer Zentrale aus überwacht. Mir wird sofort klar, dass er ein interessantes Thema abgeben würde, aber so eine Geschichte schreibe ich nicht. Meth. Lieferkette. Stormline.

Donny, kranker König der Pfleger, kommt herbei. Er hat neonfarbene Laufschuhe, mehrere leere Piercinglöcher in den Ohren und eine Strategie, dir zu zeigen, wer der Boss ist, indem er dir intensiv auf die Brüste starrt. Seine Augen sind klein und eng stehend. Raubtieraugen.

»Die Jungs sind bereit für 34«, verkündet Donny.

»Dann komm«, sagt Zara.

»Was ist 34?«

»Patient 34«, antwortet Zara. »Komm schon.«

Er bekommt keinen Namen? Ich nehme den Visitenwagen und schiebe ihn den Flur entlang zu der Stelle, wo sich drei Pfleger versammelt haben und sich mit gedämpfter Stimme unterhalten. Sie alle haben Elektroschocker.

»Was ist los?«

»Für die Höllenbestie nehmen wir drei zur Unterstützung«, sagt Donny und sieht mich dabei ein bisschen zu eindringlich an. Er ist so ein Typ, der immer was im Schilde führt und deshalb spüren kann, wenn du selbst was im Schilde führst.

Ich stufe ihn vom Problem zu eindeutiger Gefahr hoch. Und ich sehe, wie die Sache laufen wird, eine Verkettung unglücklicher Umstände – der gefährlich lüsterne Donny, der eine Schwachstelle in meiner Rüstung spürt; Zaras Feindseligkeit mir gegenüber; die Gleichgültigkeit der anderen Teammitglieder, denen ich begegnet bin; die Tatsache, dass ich noch in der Probezeit bin, und schlimmer noch, nicht die bin, die ich zu sein vorgebe.

Komm damit klar.

Donny öffnet die Tür. In den Zimmern ist der Desinfektionsmittelgeruch jedes Mal schlimmer. Unvermittelt ist mir heiß.

Ich hatte gedacht, ich wäre bereit.

Wenig hilfreich führt Donny mich hinein, eine Hand auf meinem Rücken, nur ein bisschen zu tief. Ich bleibe stehen und fahre herum. »Ich hab das im Griff.«

Abwehrend hebt er die Hände, als sei ich übertrieben aggressiv.

Ich drehe mich wieder um und schiebe den Wagen in das winzige Zimmer. Die Tür fällt ins Schloss und sperrt uns alle ein. Donny bezieht Position in der Ecke.

»Wir machen das schon«, sagt Zara. Sie will mich auch nicht hierhaben. Donny starrt sie nur an mit seinen Furcht einflößenden, eng stehenden Augen.

Scheiß drauf, denke ich, und drehe mich zu dem Patienten um.

Und mir bleibt die Luft weg.

Patient 34 hat einen wilden Heiligenschein dunkler Locken und einen kurzen, widerspenstigen Bart. Kohlschwarze Wimpern säumen seine bernsteinfarbenen Augen. Seine Energie ist … intensiv, wild, als wäre er in einer Art strahlendem Höllenfeuer geschaffen worden. Etwas an ihm zieht mich an. Er ist schön, auf eine wütende Weise. Er ist schön auf eine atemberaubende Weise, die dich einsaugt und wieder ausspuckt.

Der höchste Fixierungsgrad ist normalerweise eine Fünfpunkt-Fixierung, aber bei Patient 34 sind es eher acht Punkte, die Arme am Bauchgurt, und Bauch, Handgelenke, Knöchel und Hals am Bett.

Mit leerem Blick starrt er auf einen Fleck an der Decke wie die anderen B-52-Patienten, aber er fühlt sich für mich völlig anders an. Er fühlt sich wirklich lebendig an.

Als ich aufblicke, stelle ich fest, dass Zara mich streng ansieht, als habe sie mich dabei erwischt, wie ich etwas falsch mache. Habe ich Patient 34 zu lange angestarrt?

Ich ziehe meinen Gesichtsschutz herunter und nehme meinen Platz neben seinem Bett ein, bereit, seine Werte zu messen, obwohl ich gute Lust hätte, mich nach einem versteckten Kamerateam umzusehen, als wäre das hier eine dieser aufwendigen Shows, bei sie den Leuten Streiche spielen, um zu sehen, wie sie reagieren. Er ist einfach … ganz und gar nicht wie die anderen. Wie kein Mann, den ich je gesehen habe.

Laut seiner Kurve ist 34 auf B-52, dazu noch ein paar Muskelrelaxanzien und etwas, das ich nicht kenne. Genug Medikation, um einen Elefanten umzuhauen.

Ich lege die Blutdruckmanschette um seinen erstaunlich muskulösen Arm. Erstaunlich, weil das hier ein Typ ist, der genau zweimal täglich von diesem Bett losgemacht wird – um auf die Toilette zu gehen und um zu essen. Und er ist so stark sediert. Wann und wie trainiert er? Und was hat er getan, um sich einen solchen Grad der Fixierung einzuhandeln?

Ich scrolle zu dem Teil seiner Kurve mit der Krankengeschichte. Leer. Ich will wirklich wissen, was er getan hat, um hier zu landen. Es ist kein Alter angegeben, aber ich würde schätzen, dass er jünger ist als ich – zwanzig oder einundzwanzig. Ich kann nicht einmal die Tabelle mit seinen Therapiezielen finden. »Wo sind seine Therapieziele?«

Donny lacht in der Ecke. »Er bekommt keine. Er wird nie seine Medikamente reduziert bekommen, er wird nie die Fixierung reduziert bekommen, und die einzige Möglichkeit, wie 34 aus diesem Zimmer wieder rauskommt, ist mit den Füßen zuerst.« Wenn es nach mir geht, lautet der unausgesprochene Teil. Er wendet seine Aufmerksamkeit wieder seinem iPhone zu.

Dieser Typ – so schwer sediert und fixiert, mit einem Mann wie Donny, der ihn hasst. Wie hält er das aus? Ich lege eine Hand auf seinen Arm und spüre seine Wärme durch meinen Latexhandschuh hindurch.

»Ausbrecherkönig«, murmelt Zara, ohne von ihrem Handy aufzublicken. Die Leute, die hier in diesem Flügel arbeiten, sollen ihre Handys nicht dabeihaben, aber alle tun es. Sie wissen, wie sie den Kameras aus dem Weg gehen müssen, wenn sie sie benutzen.

»Was ist denn seine Ausbruchstechnik?«, frage ich. »Verwandelt er sich in den Unglaublichen Hulk?« Keiner von beiden reagiert. Na ja, ich fand es witzig.

Ich ziehe die Manschette um den Arm von 34 fest, lege meine behandschuhte Hand auf seinen Unterarm und fange an zu pumpen. Die Patienten hier tragen alle blaue, pyjamaähnliche Hemden und Hosen. Die Hemden sind kurzärmlig und haben Druckknöpfe an den Seiten für besseren Zugang.

Wieder werfe ich einen Blick auf sein Gesicht.

Und die Welt steht still.

Denn 34 ist da – wirklich da. Er beobachtet mich mit Intelligenz, die Lippen gekräuselt, als habe er meine Hulk-Bemerkung witzig gefunden.

Mein Herz klopft wie verrückt. »Hey, ich werde Ihren Blutdruck messen, und dann nehmen wir ein bisschen Blut ab, okay?«

»Er kriegt nicht mit, was du sagst«, blafft Zara aus der Ecke, als wäre ich eine Riesenidiotin. »Er wird nicht antworten. Lies seine Kurve.«

Ich hab die verdammte Kurve gelesen, schnauze ich sie in Gedanken an. Warum schaust du dir nicht sein verdammtes Gesicht an? Aber als ich wieder hinsehe, sind seine Augen wieder leer, und der Schatten eines Lächelns ist verschwunden. Hatte ich Halluzinationen? »Es kam mir so vor, als wäre er eine Sekunde lang da gewesen.«

»Der hatte seit Monaten keinen zusammenhängenden Gedanken mehr«, sagt Donny. »Und das wird er auch nie wieder haben.« Und wieder dieses unausgesprochene Ende des Satzes: Wenn es nach mir geht.

Arschloch, denke ich.

Wieder sehe ich auf den Mann hinunter. Seine Augen sind auf die Decke gerichtet. Dann ist er also wieder ein heftig betäubter Löwe. Habe ich es mir nur eingebildet? Ich messe seinen Blutdruck. Er ist hoch, dafür dass er so stark sediert ist. »Hundertzwanzig zu achtzig.«

Genervt stößt sich Zara jetzt von der Wand ab. »Das kann nicht stimmen. Aus dem Weg.«

Ich ziehe mich zu der Stelle zurück, wo Donny steht, während sie 34 den Blutdruck misst. Ich fange an, mich verschwitzt und ein wenig im Irrtum zu fühlen.

Zara ruft mir die Blutdruckwerte zu, die jetzt niedriger sind – genau da, wo sie bei einem Mann auf all diesen Medikamenten sein sollten. Ich trage sie in seiner elektronischen Patientenkurve ein. Sie glaubt, ich habe es aus Nervosität verbockt.

»Keine Sorge, wir passen auf dich auf«, sagt Donny. Und wie man sich vorstellen kann, lässt er es wie eine Drohung klingen.

Ich nicke nur. Keine Worte, nur ein Nicken. Einem Widerling wie Donny gibt man nie einen Ansatzpunkt.

Zara legt die Blutdruckmanschette zurück in den Wagen und sieht mich fest an. »Bist du bereit, ihm Blut abzuzapfen?«

»Natürlich«, sage ich und trete von Gruselmeister Donny weg, um meinen Platz am Bett von 34 wieder einzunehmen, und Zara widmet sich wieder ihrem Handy, sicher außerhalb der Reichweite der Kameras.

Die Augen von Patient 34 sind so leer wie eine nackte Wand. Habe ich mir diese stumme Interaktion nur eingebildet? Falls ja, ist das schlecht.

Falls ich es mir nicht eingebildet habe, dann bedeutet das, dass er simuliert. Ich nehme an, das ist nicht wirklich von Bedeutung, wenn man bedenkt, dass sie ihn verschnürt haben, als wäre er eine Kreuzung zwischen King Kong und Hannibal Lecter.

Ich nehme ihm Blut ab. Wahrscheinlich hatten sie dafür mal eine auf Blutabnahmen spezialisierte Pflegekraft, aber Etatkürzungen haben diesen Sektor hart getroffen, und diese Pflegekraft wird weggekürzt worden sein. Ich bemühe mich, sein Gesicht überhaupt nicht zu beachten.

Dabei denke ich an Donnys krönende Worte – nie wieder einen zusammenhängenden Gedanken. Als wäre Donny der Sieger über 34 in irgendeinem eingebildeten und unfairen Wettkampf zwischen ihnen. Das ist so typisch Donny, eine Vendetta mit den Patienten zu führen, für die er eigentlich sorgen sollte. Was hat 34 getan?

Als ich fertig bin, drücke ich einen Wattebausch auf die Einstichstelle und lege 34 eine behandschuhte Hand auf den Arm, der wirklich erstaunlich muskulös ist. Ich weiß, dass ich mir das nicht einbilde.

Ich sehe in seine goldenen Augen, die auf nichts und alles starren. Wahrscheinlich hat er schreckliche Dinge getan – man endet nicht wie Patient 34, wenn man ein braver Pfadfinder war. Aber in jedem steckt immer noch ein Funken Menschlichkeit. Hoffnungen, Träume, Dinge, die einen unerwartet berühren.

Das ist etwas, das man lernt, wenn man die Geschichte anderer Menschen erzählt.

»Fertig.« Beruhigend drücke ich seinen Arm, weil jeder etwas Mitgefühl verdient und Zara und Donny mich am Arsch lecken können.

2

Kiro

»Fertig«, sagt sie leise und drückt meinen Arm. Hitze durchflutet meinen Körper. Mein Herz schlägt unkontrolliert.

Sie hat durchdringende grüne Augen und erdnussfarbenes Haar. Sie versucht, es zu verstecken, indem sie es zurückbindet, aber ihr Haar ist dick und lockig und lässt sich nicht verstecken. Sie spitzt die rosigen Lippen. Es gefällt mir, ihre Lippen anzusehen. Sie ist die schönste Frau, die ich je gesehen habe.

Wieder drückt sie meinen Arm. Sie wirkt wie ein Traum mit ihrer sanften Berührung und ihrem Gerede vom Unglaublichen Hulk, als greife sie zurück in ein anderes Leben.

Ist das ein Trick? Wieder eine ihrer endlosen Foltern? Ich kämpfe um Beherrschung, wünsche mir inbrünstig, sie würde gehen. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn sie hier ist.

Ich hätte mich heute von den Medikamenten betäuben lassen sollen – das hätte ihre Macht gedämpft. Manchmal lasse ich mich von den Medikamenten betäuben, als Pause von der erdrückenden Langeweile dieses toten Ortes mit seinen Summern und Alarmtönen und der Uhr, die nie zu ticken aufhört.

Und der aufreibenden Einsamkeit.

Und jetzt ihr, die meine Konzentration zerstört. Man darf hier niemals Leben zeigen, sonst betäuben die einen nur noch mehr.

Sie arbeitet für die. Sie ist auch nur eine von ihnen. Ich werde sie töten, wenn es sein muss. Ich werde sie alle töten, wenn es sein muss. Alles, was zählt, ist, nach Hause zu kommen. Dahin zurück, wo ich hingehöre.

Woher wissen sie überhaupt vom Unglaublichen Hulk? Ich habe nicht mehr an ihn gedacht, seit ich ein kleines Kind war, eingesperrt in diesem Wurzelkeller.

Sie verschwindet aus meinem Blickfeld. Der Abstand macht es mir leichter, mich wieder unter Kontrolle zu bringen.

Ich brauche drei Bedingungen, um zu fliehen. Erstens – einen klaren Kopf. Den habe ich. Zweitens – die Möglichkeit, aus meiner Fixierung auszubrechen. Das ist der kleine Nagelknipser, den ich in der Matratze versteckt habe. Drittens – irgendeine Art von Chaos oder Ablenkung, um die Wachen an der Einzäunung auszuschalten. Ich brauche eine Katastrophe, jemand anderes, der ausbricht, einen Stromausfall – irgendetwas. Die Wachen an der Einzäunung waren beim letzten Mal mein Verhängnis.

Ich werde denselben Fehler nicht zweimal machen.

Also warte ich. Ich werde meine Chance bekommen. Das ist nur eine Frage der Zeit.

Sie dürfen nicht herausfinden, dass ich den Nagelknipser habe. Sie dürfen nicht herausfinden, dass ich in der Lage bin, die Medikamente zu verarbeiten. Der Professor, der mich in diesem Käfig gefangen gehalten hat, meinte, ich habe einen hohen Stoffwechsel. Vielleicht stimmt das. Aber die Übungen helfen mir, klar zu bleiben. Das weiß ich. »Isometrische Übungen« hat der Professor sie genannt, wenn ich sie in meinem Käfig gemacht habe.

Ich dachte, das Jahr, in dem der Professor mich im Käfig gehalten hat, wäre schlimm gewesen. Falsch.

Der Professor hat mir wenigstens vorgelesen, versucht, mich zu bilden. Ich tat so, als würde ich nicht zuhören, nicht verstehen, aber die Dinge, die er mir sagte und vorlas, waren immer interessant. Ich hörte genau zu und dachte über die Dinge nach, wenn er schlief.

Er hoffte, mich zu unterrichten und dazu zu bringen, angeblich wichtige Konzepte zu verstehen, damit wir uns darüber unterhalten könnten, wie ich in der Wildnis überlebt hatte, und hauptsächlich, wie ich ein Rudel Wölfe dazu gebracht habe, mir zu vertrauen. Er hatte – zu Recht – angenommen, dass sie mich in ihrem Bau leben ließen.

Aber ich habe ihm das nicht bestätigt. Ich habe ihm gar nichts gesagt.

Ich fühlte mich so einsam, eingesperrt wie ein Wilder. Voller Sehnsucht nach dem Rudel. Meinen einzigen Freunden. Hier ist es viel schlimmer.

Sie betäuben mich alle zwölf Stunden. Ich kämpfe gegen meine Fesseln, sobald sie wieder gehen – heftig genug, um mein Blut pumpen zu lassen, um in Schweiß auszubrechen. Heftig genug, um klar im Kopf zu bleiben, bereit, jeden zu töten.

Sie fährt mit dem Finger auf der glänzenden Vorderseite ihres Tabletcomputers herum. Der Bildschirm leuchtet auf. Dann sind ihre Finger wieder zurück, ein Hauch auf meinem Arm. Ich bemühe mich, meine Miene leer und leblos zu lassen.

Sie drückt meinen Arm. Niemand berührt mich je so. Ich glaube, mein Herz könnte explodieren.

Schwester Zara: »Komm schon.«

Sie ist fort. Ich verfolge ihre Schritte den Flur entlang, spüre dem Quietschen der Wagenräder nach.

Man entwickelt ein scharfes Gehör in der Wildnis. Es ist eine Art des Achtgebens, des Disziplinierens des Geistes. Das ist etwas, was der Professor oft sagte, und ich hatte immer das Gefühl, dass er recht hatte, obwohl ich ihm das nie sagte.

Damals, als er mich in diesem Käfig hielt, stellte er heimlich mein Gehör und meinen Geruchssinn auf die Probe. Sobald ich merkte, dass er das tat und dass überentwickelte Sinne mich von den Leuten unterschieden, die nicht wild aufgewachsen waren, tat ich so, als würde ich nicht so gut hören oder riechen.

Man darf den Leuten nie irgendetwas geben. Sie verletzen einen nur damit.

Wenn ich angestrengt genug lausche, kann ich Vögel jenseits dieser Wände singen hören. Vogelgesang kann das Einsamste von allem hier drin sein. Aber an manchen Tagen, an den guten Tagen, helfen mir diese Lieder, in Gedanken wieder dorthin zurückzugehen, und ich kann mir fast einreden, dass ich durch Wiesen und Wälder laufe mit der Sonne auf meinem Gesicht.

Räder quietschen. Ihr Herzschlag wird schwächer. Zimmer 39.

Mitchell DesArmo ist in diesem Zimmer. Ein gefährlicher Mann. Ich verfolge ihre Unterhaltung. Ich bleibe den ganzen Rest ihrer Runde über bei ihr.

Je weiter sie sich mit der Macht ihrer Schönheit und ihrer sanften Berührung entfernt, desto mehr Kontrolle verspüre ich wieder.

Das ist ein Trick – das muss es sein.

Alles hat einen Rhythmus, einen Puls. Dieses Krankenhaus ist ein System, genau wie der Wald. Die Dinge bewegen sich. Löcher erscheinen. Ich werde bereit sein. Niemand sonst wird bereit sein, aber ich werde bereit sein. Reglosigkeit ist eine effektive Art zu jagen.

Mit Reglosigkeit habe ich den Professor getötet. Er dachte, er könnte ein Buch über mich schreiben. Er dachte, er könnte eine Freakshow aus mir machen. Er dachte, er würde den Wilden Adonis unterrichten – das war der Name, den die Reporter mir gaben, als ich aus der Wildnis geholt wurde, sagte er mir.

Der Professor dachte, wenn er den Kopf des Wilden Adonis genug mit Worten und Ideen vollstopfte, dann würde ich sein treuer Helfer sein.

Der Professor wollte die Geheimnisse des Wilden Adonis. Stattdessen bekam er die Hände des Wilden Adonis um seinen Hals.

Ich wartete auf meinen Moment, genau wie ich hier warte. Bald.

Das Quietschen der Räder.

Schwester Ann verlässt den Flügel. Eine Tür. Eine weitere Tür. Fort.

Ich sollte mich erleichtert fühlen. Stattdessen nagt Kummer an meinen Eingeweiden.

Wenn ich die Langeweile und den Schmerz dieses Ortes ertragen kann, dann kann ich auch ihre sanfte Berührung ertragen.

Ich schließe die Augen, um die Gefühle auszusperren. Drei Dinge, um zu entkommen. Der Weg, den ich mir zurück nach Hause schlage, wird von dem Blut aller triefen, die versuchen, mich aufzuhalten.

Verwandelt er sich in den Unglaublichen Hulk, um zu entkommen?

Es ist Zufall, dass sie vom Hulk geredet hat. Es ist so lange her, dass ich an meine Kindheit vor dem Wald gedacht habe. An die Klaviersaite. Den Baum. Den Wurzelkeller.

Sie ist nur eine neue Folter, das ist alles.

Eine neue Folter, die mehr schmerzt als Donnys Elektroschocker.