»Wollen Sie mir unter die Schminke schauen? Wollen Sie wissen, was ich von Geld, Glamour, Gott und Gottschalk halte? Dann folgen Sie mir hinter die Kulissen meines Lebens. Dieses Buch ist mein Dank dafür, dass Sie mich fast vierzig Jahre in Ihr Wohnzimmer gelassen haben.«
Thomas Gottschalk brachte frischen Wind ins Radio und prägte einen neuen Stil der Fernsehunterhaltung. Als Kinostar und Werbefigur wurde er Kult, als Showmaster ist er Legende – zwei ganze Generationen sind mit ihm aufgewachsen. Aber auch wenn 98 Prozent der Deutschen sagen, dass sie Thomas Gottschalk kennen, hat sich doch nur ein winziger Teil seines Lebens im Licht der Scheinwerfer abgespielt, und vieles, was backstage abgelaufen ist, war spannender, lustiger und ehrlicher als das, was die Kameras eingefangen haben.
Zum ersten Mal erzählt Thomas Gottschalk jetzt aus seinem Leben: von der Kindheit und Jugend im fränkischen Kulmbach, von seinem Aufstieg zum Medienstar und seinen Begegnungen mit den Großen dieser Welt, von Rückzugsorten und Glücksvorstellungen, von Familie und Freunden, tragischen und glanzvollen Momenten.
So nah wie in diesem Buch ist Thomas Gottschalk uns noch nie gekommen: nachdenklich, selbstironisch, lebensklug und ehrlich.
Thomas Gottschalk wurde am 18. Mai 1950 in Bamberg geboren. Nach einer Jugend in der fränkischen Provinz startete er seine Karriere beim Bayerischen Rundfunk. Mit der Sendung Na so was! gelang ihm der Durchbruch im Abendprogramm des ZDF. 1987 übernahm er das Unterhaltungs-Flaggschiff Wetten, dass..? und moderierte bis 2011 151 Sendungen. Er ist der einzige deutsche TV-Moderator, der für alle großen Sender gearbeitet hat.
Gottschalk ist seit 1976 mit Thea verheiratet. Er hat zwei Söhne und einen Enkel und lebt in Berlin und Malibu. Herbstblond ist sein erstes Buch.
THOMAS GOTTSCHALK
HERBSTBLOND
DIE AUTOBIOGRAPHIE
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6. Auflage
Copyright © 2015 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion: Barbara Imgrund
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur,
Zürich, Dominic Wilhelm
Umschlagfoto: © Frank Bauer, München
Herstellung: Helga Schörnig
Satz: Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-15307-6
V003
www.heyne.de
Meinem Freund und Förderer Udo Reiter
1944–2014
INHALT
FROM ME TO YOU (Beatles)
Teil 1
GREEN, GREEN GRASS OF HOME (Tom Jones)
PARADISE LOST (The Herd)
SCHOOL’S OUT (Alice Cooper)
RADIO GAGA (Queen)
VIDEO KILLED THE RADIO STAR (The Buggles)
ROAD TO NOWHERE (Talking Heads)
Teil 2
MONEY (Pink Floyd)
OLD MAN (Neil Young)
SPIRIT IN THE SKY (Norman Greenbaum)
FAME (David Bowie)
FAMILY MAN (Fleetwood Mac)
CALIFORNIA DREAMIN’ (Mamas & Papas)
DIRTY LAUNDRY (Don Henley)
REFLECTIONS OF MY LIFE (Marmalade)
GLAUBE
HOFFNUNG
LIEBE
P.S. I LOVE YOU (Beatles)
FROM ME TO YOU
Beatles
Dies ist der dritte Versuch eines Einstiegs. Im ersten hatte ich Ihnen erklärt, warum ich nie ein Buch schreiben wollte, was ziemlich unsinnig ist. Im zweiten hatte ich alles zusammengefasst, was in diesem Buch steht, und damit jede weitere Lektüre überflüssig gemacht. Auch nicht sehr sinnvoll. Jetzt habe ich beschlossen, dass weder Sie noch ich ein Vorwort brauchen. Was wir brauchen, ist ein Warm-up. Vor meinen Sendungen gibt es das auch immer: Dabei habe ich noch zwei Kleenex oben im Hemd stecken wie ein Lätzchen, damit das Make-up den Kragen nicht schon verschmiert, bevor es losgeht. Ein Jackett trage ich noch nicht, damit sich mein Publikum Gedanken darüber machen kann, ob es zu der Hose, die ich immerhin bereits anhabe, tatsächlich eine passende Jacke gibt.
Das Warm-up brauche ich, um die Zuschauer im Saal auf meine Seite zu ziehen. Sie sollen mich ja durch die ganze Show begleiten, so wie Sie mich durch dieses Buch. Ein bisschen Applaus zwischendurch wäre auch nicht schlecht. Ich weiß, das ist unbescheiden, aber einer meiner wenigen Albträume ist, dass ich die Showtreppe runterkomme und keiner klatscht. Genauso wenig will ich, dass Sie beim Lesen einschlafen – das wäre mein Bankrott als Entertainer. Deshalb ist das Warm-up eine wichtige Übung zu meiner und Ihrer Sicherheit.
Das Schöne an diesem inoffiziellen Teil der Show ist die Tatsache, dass die Kameras noch nicht besetzt sind. Und wenn die nicht laufen, hat man auch noch keine Schere im Kopf und legt nicht jedes Wort auf die Goldwaage. Statt dort zu stehen, wo es für Licht und Kameras am besten ist, kann ich zwischen den Zuschauern herumirrlichtern und dummes Zeug erzählen, ohne mir damit gleich die Kritik oder die Quote zu versauen. Mir hat das immer großen Spaß gemacht, obwohl es mittlerweile Profis gibt, die das übernehmen. Beruf: Warm-upper. Nicht bei mir – ich mache das immer noch selber, so wie jedes Wort in diesem Buch von mir stammt und nicht von einem professionellen Hilfsdichter. Die gibt es nämlich auch. Beruf: Ghostwriter. Brauchen wir nicht. Ich schreibe, Sie lesen.
Manchmal habe ich von meinem Publikum einen Kommentar gehört, der vielleicht nicht schmeichelhaft für die anschließende Show war, aber ein Kompliment für mich: »Das Warm-up war das Beste. Da waren Sie echt!« Das stimmt. Und man kann es auch gar nicht verhindern: Sobald die Kameras laufen, wird das, was eben noch Wirklichkeit war, zur Optimierung der Wirklichkeit – und damit zur Show.
Echtsein ist heute in. Kein Wort wird in Castingshows so inflationär verwendet wie »Authentizität«. Vor Jahren, als ich beim Radio anfing, gab es »Ansager«, »Sprecher« und »Conférenciers«. Die einen haben gelesen, was ihnen andere vorgeschrieben hatten, die anderen haben sich vorher aufgeschrieben, was sie sagen wollten. Ich hab einfach drauflosgeredet. Und das mache ich auch in diesem Buch. Allerdings bemühe ich mich gleichzeitig um eine gewisse Ordnung in meinen Gedanken. Das ist neu. Ich beschäftige mich sozusagen mit dem Phänomen, das ich für andere, aber auch für mich selbst bin.
Wollen Sie mir unter die Schminke schauen? Wollen Sie wissen, was ich von Geld, Glamour, Gott und Gottschalk halte? Auch ein Showmaster lebt sein Leben nur zu einem winzigen Teil im Licht der Scheinwerfer, und vieles, was backstage abgelaufen ist, war spannender, lustiger und ehrlicher als das, was die Kameras eingefangen haben. Wenn Sie Lust haben, dann stehe ich jetzt mit zwei Kleenex im Kragen und ohne Glitzerjacke vor Ihnen, und Sie folgen mir hinter die Kulissen meines Lebens. Ich werde an meinem eigenen offenen Herzen operieren und lasse Sie dabei über die Schulter schauen. Dieses Buch ist mein Dank dafür, dass Sie mich fast vierzig Jahre in Ihr Wohnzimmer gelassen haben.
Teil 1
GREEN, GREEN GRASS OF HOME
Tom Jones
In meinem Alter wäre es töricht, mir einzureden, dass die beste Zeit meines Lebens noch vor mir liegt. Man mag darüber streiten, ob ich schon durchs Ziel bin oder kurz davor, aber ich habe nicht die Absicht, mich an dieser Diskussion zu beteiligen, solange ich selber noch nicht weiß, wo ich hinwill. Was ich dagegen genau weiß, ist, woher ich komme.
Hätte ich die Wahl gehabt, wäre ich gern zur Hochblüte der Romantik oder im Zeitfenster des Sturm und Drang unterwegs gewesen. Mit dem romantischen Dichter Joseph von Eichendorff verbindet mich nicht nur Aus dem Leben eines Taugenichts – eine Biographie, der ich schon früh zu folgen beabsichtigte –, sondern auch eine gewisse schlesische Noblesse.
Die Blaublütigkeit meiner Mutter verliert sich zwar im Nebel diverser »Rittergietl«, also: Rittergüter, von denen bei uns in jeder zweiten Flüchtlingsgeschichte gefaselt wurde, aber ansonsten ist die Herkunft meiner Eltern unstrittig. Mein Vater kam aus dem niederschlesischen Örtchen Kaulwitz und kaufte mir später einen riesigen Atlas nur deswegen, weil er diesen Flecken darin gefunden hatte. Meine Mutter stammte aus dem oberschlesischen Oppeln, genauer gesagt aus Groschowitz. Ich verstand mich also nicht nur als Schlesier, sondern ich verstand auch Schlesisch. Der Schemel war bei uns zu Hause eine »Ritsche« und die Pfütze eine »Lusche«, ich sollte weder »rumgameln« (trödeln) noch auf dem Eis »kascheln« (rutschen). Es gab manchmal Buttermilchsuppe, die »Polifka« hieß, und ein Weihnachten ohne »Mohnkliese« (Mohnklöße) war sowieso undenkbar.
Der Oberschlesier neigt zum Maulheldentum, was dafür spricht, dass man gewisse genetische Konditionierungen bei mir nicht außer Acht lassen darf. Meine Großmutter soll die jüdischen Weinhändler, die das Restaurant ihrer Eltern, die »Villa Nova«, belieferten, und die polnischen Zugschaffner, denen sie auf dem Weg zur Schule begegnete, treffsicher imitiert haben. Hildegard, die Schwester meiner Mutter, trat schon im zarten Alter von zwölf Jahren als Nachwuchspianistin im Rundfunk auf. Mein Vater hingegen trat nirgendwo auf; er fiel auch nie auf, auch dann nicht, als er als »Extranier« mit zäher Selbstdisziplin das Abitur nachholte, das ihm als Bauernsohn auf normalem Wege verwehrt geblieben war. Von ihm habe ich nur die Nase geerbt. Das flusige Haupthaar und die große Klappe kamen von Mutti, der man bereits in einem frühen Schulzeugnis bescheinigte: »Rutila neigt zum Widerspruch.«
Völlig mittellos hatten sich meine Eltern 1945 im Auffanglager Hof wiedergefunden – 30 Kilometer von Kulmbach entfernt. Sie hatten mitten im Krieg in Karlsbad geheiratet und sich danach in den Kriegswirren aus den Augen verloren. Warum sie gerade in Oberfranken gelandet waren, wusste bei meiner Ankunft niemand mehr, aber ich hatte auch nie Anlass, diese Wahl zu beklagen. Meine Eltern hatten das ebenso wenig, denn die wackeren Kulmbacher, die auf Nachnamen wie Murrmann oder Dörnhöfer hörten, mussten sich damit abfinden, dass nach Kriegsende die Trzcezioks oder Kosytorzs schwarmartig in die Kleinstadt am Zusammenfluss des Roten und des Weißen Mains einfielen.
Kulmbach war der Zerstörung weitgehend entgangen. Die Naziorganisation Todt hatte zwar auf der Plassenburg über der Stadt ein Trainingslager betrieben, und Adolf Hitler hatte es – achtundsechzig Jahre vor mir übrigens – zum Kulmbacher Ehrenbürger gebracht, aber es gab wohl wichtigere Bombenziele als die paar Mälzereien und Brauereien, die Kulmbach dem Feind zu bieten hatte. Den Flüchtlingen, die gerade mit nichts als ihrem Leben »dem Russen« entkommen waren, steckte der Krieg doch wesentlich tiefer in den Knochen als den Kulmbachern die eher freundliche »Befreiung« durch die Amerikaner.
Ich verbrachte viel Zeit bei unserem Nachbarn, dem Schuster Heinrich Witzgall, der immer einen Bürstenhaarschnitt und meistens eine Schürze trug. In seiner Werkstatt roch es wunderbar nach Leder und Klebstoff, und der vierschrötige Meister erzählte in seinem bräsigen oberfränkischen Dialekt beim Besohlen unserer Schuhe die wundersamsten Geschichten. Zum Beispiel vom Kriegsende in Kulmbach. Als »a Banzer« durch die Wolfskehle in die Kleinstadt rollte, sei diesem ein dunkelhäutiger GI entstiegen: »Des wor mei erschter Neecher.«
In meiner frühen Kindheit begegneten mir immer noch die Nachwehen des Krieges. Es gab diverse »Kriegerwitwen«, ein »Ausgleichsamt« und einen »Versehrtenkiosk«. An dem bekam man fränkische Bratwürste, die auf einem Holzkohlengrill brutzelten und von einem einarmigen Kriegsheimkehrer mit einer Zwickzange gewendet wurden, die er virtuos mit seiner einen Hand bediente. Der andere Ärmel seiner weißen Dienstjacke steckte fein gebügelt in der Tasche, was ich – sehr zum Missfallen meiner Mutter – mit meinem Kinderblazer gern nachstellte. Mein von der Großmutter ererbter Hang zur Imitation kam nicht immer gut an. Es gab da noch einen armen Kulmbacher, von dem man wusste, dass er im Krieg verschüttet worden war, was mich aber nicht davon abhielt, das Zittern seines Arms immer dann am Mittagstisch vorzuführen, wenn es Spinat gab.
Aber auch in meinem unmittelbaren Umfeld hatte der Krieg Spuren hinterlassen. Meine Tante Hildegard hatte es vom Piano- zum Orgelspiel gebracht und war Nonne geworden – man munkelte hinter vorgehaltener Hand von »schlimmen Erfahrungen im Krieg«. Hans Seifert, ein katholischer Priester und der beste Freund meines Vaters aus Vorkriegszeiten, war mit seinen drei Schwestern ebenfalls in Kulmbach gelandet. Zehn Jahre nach dem Krieg finanzierte und baute er gemeinsam mit meinem Vater ein Doppelhaus, in das wir 1957 alle einzogen. »Onkel Hans« fand eine Anstellung als Kaplan in der Pfarrei zu Unserer Lieben Frau und wurde für mich zu einer lebensbestimmenden Figur. Im vorkonziliaren Weihrauchnebel der späten Fünfzigerjahre hangelte ich mich als sein Ministrant von Mai- zu Rosenkranzandachten, von Früh- zu Spätmessen und von Kirchweihfesten zu Fronleichnamsprozessionen. Offenbar konnte ich den Hals nicht vollkriegen, denn ich fing an, zu Hause von Ohrensesseln aus zu predigen und huldvoll profane Dinge wie meinen kleinen Bruder zu segnen. Zu Wundern hat es leider nicht gereicht.
Meine Kindheit war friedlich. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Eltern sich jemals gestritten hätten, und die schlesische Sippschaft umgab uns wie eine wohlige Plazenta. Onkel Jakob, der Apotheker, Tante Marianne, eine Freundin meiner Mutter, unter den Schlesiern als Ostpreußin nur geduldet, und Onkel Robert, Muttis klapperdürrer Cousin, der einen Job als Architekt suchte – sie alle hockten ausgehungert bei uns in der Küche. Meine Mutter kochte ständig, um den Nachholbedarf zu decken: »Wir hatten ja alle nüscht zu fressen!«
Eher selten war Konrad, Onkel Roberts Bruder, zu Besuch. Er weckte bei mir früh das Fernweh, denn er arbeitete in der Deutschen Botschaft in Bagdad; in meiner Fantasie war er Geheimagent. Für meine Spießigkeit sorgten die Schwestern von Onkel Hans: Tilla, Minke und Grete. Alle drei blieben zeit ihres Lebens unverheiratet, wurden also zu dem, was man damals »alte Jungfern« nannte. Sie verwöhnten mich mit Russisch Brot oder mit Marzipan, das ich hasste, aber aus Höflichkeit schluckte. An der Wand ihrer Dreizimmerwohnung hing ein gesticktes Bild mit dem Satz: »Glücke kennt man nicht, drinnen man geboren, Glücke kennt man erst, wenn man es verloren.«
Um nicht schon jetzt der Verdrängungsgefahr zu erliegen, muss ich an dieser Stelle die beiden frühkindlichen Psychoschocks einfügen, von denen mich einer ausgerechnet bei den frommen Schwestern ereilte. In ihrem Kleinen Brockhaus suchte und fand ich immer wieder unter J wie »Jüngstes Gericht« ein Bild von Lucas Cranach dem Älteren, in dem ein schnabelbewehrtes Ungeheuer einen armen Sünder in einen Henkelkorb packte, um ihn ins ewige Höllenfeuer zu transportieren. Vielleicht stand es im Lexikon auch unter H wie Hölle, ich weiß es nicht mehr genau, aber meine Angst vor einer solchen Zwangsverschleppung hat sich bis heute nicht ganz gelegt.
Mein zweites frühkindliches Trauma wurde durch einen pädagogischen Missgriff der Ordensschwestern hervorgerufen, zu denen ich im Caritashaus in den Kindergarten ging. Der bei Katholiken alleingültige Nikolaus mit seiner hohen Mitra war einst der gütige katholische Bischof von Myra gewesen und in seinem prächtigen Ornat ohne Schrecken für uns. Deswegen stellte man ihm einen furchterregenden, zerlumpten Gesellen zur Seite, der bei uns zu Hause Knecht Ruprecht hieß, in Oberfranken aber als Krampus unterwegs war. Diesem »Grambus« – so wird das in Kulmbach ausgesprochen, mit rollendem »r« und weichem »b« – hatten die unsensiblen Nonnen einen Sack umgehängt, aus dem ein kleines Bein ragte. Das Schicksal des »verschleppten« Kindes hat mich über Jahre in meinen Träumen verfolgt. Ich wusste nicht, ob ich es in der Hölle, im Fegefeuer oder im ewigen Eis vermuten musste – im Himmel (und nur dort war man glücklich, wenn man sich nicht zu Hause befand) war das arme Wesen auf jeden Fall nicht.
Das war’s dann auch an frühen Schockerfahrungen. Gut, einmal habe ich meinen Vater nach einem Umzug des Schützenvereins im Vollrausch auf dem Sofa liegen sehen, aber das zählt nicht, ich wurde sofort aus dem Zimmer eskortiert, als läge dort ein Mordopfer auf der Bahre.
Ich wuchs in einer behüteten Sorglosigkeit auf, die mich heute noch anspringt, wenn ich die Fotoalben meiner Kindheit durchblättere. Ich gehöre zur letzten Generation, die in Schwarz-Weiß groß geworden ist. Farbfotos von mir existieren erst ab meiner Pubertät, und es gibt nur eine wackelige Filmaufnahme vom Richtfest unseres neuen Hauses am Galgenberg. Meine Mutter frisch vom Friseur, mein Vater als Bauherr im feinen Zwirn, der über dem Bauch spannt. Ich bin zehn Sekunden im Bild und verstecke mich zum ersten und letzten Mal in meinem Leben vor der Kamera.
Deutlich erinnere ich mich auch an ein Fotoalbum, das leider irgendwann verloren ging. Die Pappe war schwarz, die Fotos steckten in Klarsichtecken. Meine Tante Hildegard hatte in Schönschrift mit einem weißen Stift launige Kommentare daruntergemalt. Es gab darin eine kleine Fotoserie mit mir im Freibad, wo man mich früh zum Helden stilisiert: Mein erster, furchtsamer Schritt ins kühle Nass ist noch mit »Brrr … ist das kalt« untertitelt, aber dann folgt sofort ein furchtloses: »Aber forsch hinein!«, und man glaubt es nicht – ich stehe bereits bis zum Bauch im Wasser!
Auf allen Fotos meiner Kindheit sieht man Menschen, die lachen. Was bei anderen eine Sonntagslaune gewesen sein mag, bestimmte bei uns den Alltag. Meine Mutter lacht meinen Vater an, mein Vater lächelt milde zurück und sieht dabei wie alle Männer seiner Generation älter aus, als er ist. Ich lache sowieso, grundsätzlich und überall. Zu etwas anderem hatte ich auch keinen Grund. Alles wurde aus dem Weg geräumt, was mein kindliches Glück hätte gefährden können. Das ging so weit, dass man den Lesezirkel aus dem Wartezimmer entfernte, wenn ich in der Anwaltskanzlei meines Vaters auftauchte. Eine Mordgeschichte in der Quick oder der Ansatz eines Busens in der Neuen Revue hätten bei mir ja frühkindliche Spätschäden auslösen können, also weg damit. Vielleicht wurde da zu viel des Guten getan, aber ich habe in dieser Zeit wohl ein solches Übermaß an Lebensvertrauen entwickelt, dass ich heute noch davon zehren kann.
Mein Vater hat mir beigebracht, auf Menschen zuzugehen; manchmal habe ich das wohl übertrieben. Warum ich dem Kinderbuchautor Otfried Preußler mit sieben Jahren einen Brief schrieb, in dem ich mich altklug für sein Kinderbuch Der kleine Wassermann bedankte, ist mir heute schleierhaft. Aber ich verfasste den Brief im Krankenbett nach einer Mandeloperation und hatte wohl von der Strickliesel die Schnauze voll, die mir irgendeine Tante ins Spital gebracht hatte. Dass ich dort strickend im Bett gelegen haben muss, ist mir heute noch peinlich.
Meine Mutter stärkte unser Selbstvertrauen, indem sie immer wieder betonte: »Ihr müsst euch vor niemandem verstecken«, und mein Vater erklärte mir früh seine pädagogischen Absichten: »Ich kann dich auf den richtigen Weg stellen. Gehen musst du ihn allein.« An dieser häuslichen Harmonie – und an nichts anderes kann ich mich erinnern – kommen mir heute manchmal leise Zweifel. Kann es so etwas überhaupt geben? Ist das eine späte Verklärung früher Missverständnisse?
Wir pflegten das überkommene Familienbild der Fünfzigerjahre: Der Vati ging ins Büro, die Mutti war für Kinder und Haushalt zuständig, und wir hatten eine Hausangestellte, Rosemarie, weshalb meine Mutter wahrscheinlich keine größeren Aufstände gegen ihre eigene »missliche« Lage veranstaltete (die sie nach meiner Beobachtung auch durchaus nicht als verzweifelt empfand). Nach dem frühen Tod meines Vaters wurde ein paar Gänge zurückgeschaltet, meine Mutter fing an, »günstig« zu kaufen, und der Job des Dienstmädchens ging an mich. Aber auf die Idee, dass meine Mutter arbeiten gehen müsste, kam keiner. Sie war immer da, wenn wir sie brauchten, und leider auch, wenn wir sie überhaupt nicht brauchten. Mutti war omnipräsent.
Ich kannte ein anderes Familienmodell nur von den Kindern, die in einer Siedlung der Arbeiterwohlfahrt in der Stettiner Straße gleich um die Ecke lebten. Während ich schon mit Penatencreme am Hintern im Bett lag, fuhren die Ständners und die Weisflogs noch mit scheppernden Seifenkisten den Galgenberg hinunter oder bauten sich Burgen in den riesigen Kastanienbäumen, die ihn säumten. Tagsüber hing ihnen der Hausschlüssel um den Hals, damit sie in die Wohnung konnten, während beide Eltern in der Fabrik arbeiteten, und am Abend mussten sie nicht ins Bett. Um beides beneidete ich sie.
Mein Vater war zwanzig Jahre älter als meine Mutter. War sie das Dummchen mit dem Vaterkomplex? Nichts, was ich in späteren Jahren mit ihr erlebt habe, spricht dafür. Hat sie die Rolle gespielt, die für Frauen jener Zeit im Drehbuch stand? Zu leiden schien sie nicht an diesen furchtbaren drei Ks: Kinder, Küche, Kirche, sie hat sie täglich genussvoll durchbuchstabiert. Mir ist ein bezeichnender Satz von ihr in Erinnerung: »Der Vati hat nie gewusst, wo die Kaffeelöffel sind!« Sie meinte das als Kompliment für ihn und sich selbst. Es gab keinen Anlass für meinen Vater, die Kaffeelöffel zu suchen, weil sie sie bereits dorthin gelegt hatte, wo er sie brauchen würde; er hatte schließlich wichtigere Dinge im Kopf. Würde diesen Satz heute meine Frau über mich sagen, hätten wir beide etwas falsch gemacht. Damals ging er in Ordnung, so wie vieles in Ordnung ging, was heute gar nicht mehr geht.
Jedes Mal, wenn ich an den Selleriestücken herumwürgte, die in der Graupensuppe schwammen, musste ich mir anhören: »Ihr habt eben nicht gehungert.« Auf dem Dachboden stand als Denkmal der Entbehrung noch die Rübenpresse, und dauernd war von der »schweren Zeit« die Rede. Erst später wurde mir klar, was mir Helmut Kohls »Gnade der späten Geburt« erspart hatte. Ich entstamme einer Generation, wie sie es in Deutschland nicht oft gegeben hat: Wir sind sechzig geworden, ohne einen Krieg im eigenen Land erlebt zu haben.
Und ich komme aus der tiefsten Provinz. Kulmbach, in Nordoberfranken weitab von jeder Großstadt gelegen, war, solange ich dort gelebt habe, Zonenrandgebiet; bei Sonntagsausflügen geriet man immer wieder in den Sichtbereich des Stacheldrahtes. Für uns waren die Grenzsoldaten, die auf ihren Wachtürmen ständig durch ihre Ferngläser glotzten, interessante Vertreter einer fremden Macht. An jedem 17. Juni, dem Tag der deutschen Einheit, standen wir, als Schulklasse geschlossen angetreten, vor dem Kriegerdenkmal im Stadtpark und gedachten pflichtschuldig unserer »Brüder und Schwestern hinter dem Eisernen Vorhang«. Die von Provinzpolitikern heruntergeleierten Sonntagsreden – keiner glaubte damals an eine Wiedervereinigung – wurden nur dadurch spannender, dass man dabei einer Fackel, die man in der Hand hielt, beim Abbrennen zuschauen konnte. Zu Weihnachten stellten wir, weil sich das gehörte, für die Menschen in der Zone Kerzen in die Fenster, obwohl sie das hinter ihrem Eisernen Vorhang gar nicht sehen konnten. Meine Mutter fand die Sache mit den Kerzen eher bedenklich, weil sie befürchtete, das Haus könne in Flammen aufgehen.
Ich kann mich nur an verschneite Weihnachtstage erinnern – ein Eindruck, der keiner Statistik standhält, aber ich lasse es mir trotzdem nicht nehmen: Im Winter hat’s zuverlässig geschneit, und im Sommer war immer Badewetter. Das Kulmbacher Schwimmbad, so wie ich es von früher in Erinnerung habe, ist heute noch ein Fluchtort für meine Fantasie, an den ich mich gedanklich zurückziehe, wenn ich mich von der Wirklichkeit bedrängt fühle. Wenn man entlang der Flutmulde mit dem Fahrrad – damals mein einziges Fortbewegungsmittel – dorthin fuhr, war schon von fern das dumpfe Brausen eines Wehrs zu hören; denn das Freibad lag am Weißen Main, der an dieser Stelle gestaut war. Das Geräusch niederprasselnden Wassers vermischte sich beim Näherkommen mit dem Stimmengewirr lärmender Kinder und dem Plumpsen vom Sprungturm fallender Körper. In meiner Erinnerung ist das heute noch ein symphonisches Klangerlebnis. Wann immer ich will, höre ich das Trampeln nackter Füße auf den hölzernen Lattenrosten, die das Becken einrahmten, und habe das Gemisch aus Sonnenöl, Chlor und Schweiß in der Nase.
Diese jederzeit abrufbaren Erlebnisfetzen habe ich im Ordner »Heimat« mental abgeheftet. Wenn ich heute im Flugzeug sitze und nicht mehr genau weiß, woher ich komme und wohin ich will, dann rufe ich solche Erinnerungen ab: das »Transeamus« des schlesischen Komponisten Joseph Ignaz Schnabel, das Herr Krömer – ein Mitarbeiter des Kulmbacher Arbeitsamtes und begabter Bass – jedes Jahr zu Weihnachten im Hochamt sang und dabei die Damen des Kirchenchores mit ihrem »Glohohohohooria« abhängte. Den Geruch in der Sauermannschen Fleisch- und Wurstfabrik, in der ich in den Ferien arbeitete. Ich steckte dort Schaschlik auf Spieße und habe mich vor den Nierenstücken derart geekelt, dass ich sie einfach weggelassen habe. Meine Schaschliks waren hochwertiger als die anderen, aber abends musste ich heimlich eine Wanne voller Nieren entsorgen.
Diese DNA einer oberfränkischen Kleinstadt ist ein Teil von dem, was mich ausmacht, und sie wird es auch immer bleiben. Es wäre ein Armutszeugnis, wenn ich inzwischen nichts dazugelernt hätte, aber ich behaupte ernsthaft, dass damals ein Koordinatensystem geschaffen wurde, auf dem ich seitdem die senkrechte Achse nur noch in verschiedenen Richtungen hin- und hergeschoben habe. Wahrscheinlich habe ich mich mit diesem Bild aus der Geometrie verhoben – denn wenn ich eine Form von Bildung besitze, dann ist es keine naturwissenschaftliche, sondern eine humanistische. Und eine solche schließt alle mathematischen Kenntnisse aus, die über das kleine Einmaleins hinausgehen.
Ich erinnere mich sogar noch an entsprechende Diskussionen in meinem Elternhaus. Es gab auf dem Kulmbacher Markgraf-Georg-Friedrich-Gymnasium, das erst während meiner Schulzeit den Namen des fränkischen Hohenzollerngrafen erhielt, einen naturwissenschaftlichen und einen humanistischen Zweig. Während jeder vernünftige Mensch die Tatsache, dass man auf dem »Realgymnasium« Englisch und Französisch lernen würde, zur Grundlage einer realitätsnahen Entscheidung gemacht hätte, war mein Vater anderer Meinung. Ich bin ihm heute noch dankbar für diesen Anachronismus und teile mit allen Humanisten aus dieser Epoche eine durch nichts begründete Arroganz. Man löst die Probleme des Lebens sine ira et studio, also ohne Zorn und Eifer, benutzt komplizierte Fremdworte, die man auf ihren lateinischen oder griechischen Ursprung zurückzuführen weiß, und vermittelt unaufhörlich den Eindruck, sich die Gedankentiefe eines Sokrates und die Redekunst eines Cicero auf dem schulischen Dienstweg ganz nebenbei erworben zu haben.
Allerdings war der Pfad zum humanistischen Abitur damals noch ein schmerzlicher – eine via dolorosa, wie der Lateiner sagt. Zum großen Latinum mit neun Jahren Latein kam das große Graecum mit sechs Jahren Altgriechisch. Zwischendurch geriet ich ins Schleudern, da ich durch wiederholtes Sitzenbleiben in die eine oder andere Reform des schulischen Systems schlitterte und dadurch eine sehr eigenwillige Laufbahn nahm.
Aber der Reihe nach. Neben der häuslichen Idylle und der provinziellen Umgebung war auch meine Schulzeit im unaufgeklärten, unaufgeregten Lehrbetrieb der Sechzigerjahre eine Wanderung durch arkadische Landschaften, trotz einer erschreckenden Erkenntnis, die mir erst sehr viel später gekommen ist. Es geht gar nicht anders: Mein gesamter Lehrkörper hat seine Jugend und Ausbildung in der Nazizeit hinter sich gebracht. Nicht, dass mir oder uns das zu dieser Zeit ins Bewusstsein gedrungen wäre. Aber die kauzigen älteren Herren, die damals Mitte bis Ende fünfzig waren, müssen an der Front, in der Hitlerjugend, in der SA oder im günstigsten Fall beim Sanitätsdienst das Dritte Reich durch- oder mitgemacht haben. Es hat sich zumindest keiner von ihnen als Widerstandskämpfer geoutet.
Das Kriegsende war bei meiner Aufnahmeprüfung ins Gymnasium gerade mal fünfzehn Jahre her. Ich bin aus jener Generation, die in der Schule Hannibals strategische Leistungen im Zweiten Punischen Krieg wesentlich ausführlicher im Lehrplan stehen hatte als Hitlers verbrecherische Feldzüge. Die Hermannsschlacht im Teutoburger Wald, im neunten Jahre des Herrn, wurde in Geschichte ausführlich besprochen, Stalingrad nicht. Wollte die Vätergeneration sich aus der Verantwortung schleichen? Wollte man den Kindern das Trauma und sich selbst jede Form von Eingeständnis ersparen? Ich habe diese Fragen weder meinen Lehrern noch meinen Eltern gestellt.
Meine Mutter war bei der Kapitulation vierundzwanzig Jahre alt und hatte den Krieg als Lazarettschwester miterlebt. Ihre Erzählungen von eitrigen Verbänden, die sie aufschneiden musste, wenn die Verwundeten zerschossen von der Front heimkamen, waren für uns Halbwüchsige, die wir gerade die Beatles entdeckten, das Signal, auf Durchzug zu stellen. Heute schäme ich mich dafür, aber damals war da nicht der Ansatz eines Problembewusstseins. Mein Vater war Jahrgang 1902, hatte also als Jugendlicher den Ersten Weltkrieg erlebt und war einer der jungen Männer, die gerade ins Leben treten wollten, als der Kriegswahn erneut begann. Hat er mitgemacht? War er Opfer eines mörderischen Systems oder war er Täter? Fast muss ich in diesem Fall von der Gnade des frühen Todes sprechen, denn als ich alt genug war, ihm diese Fragen zu stellen, hat er nicht mehr gelebt. Ich gab mich gern mit den Beschwichtigungen meiner Mutter zufrieden, nach denen mein Vater natürlich kein Nazi war: Er hatte erst in einem Kosakenregiment gedient, was auch immer das gewesen sein mag, und wurde später als Lastwagenfahrer eingesetzt, weil er eine Fahrerlaubnis für Traktoren und Zugmaschinen hatte. Das Wort »Führerschein« habe ich mir gerade verkniffen.
Es ist mir heute selbst ein Rätsel, warum ich die zeitliche Nähe zu dieser dunklen Epoche nie als Auftrag begriffen habe, Fragen zu stellen. Muss ich mir deshalb vorwerfen, ein unpolitischer Mensch zu sein? Denn so wenig ich meinen Lehrern eine mögliche, wenn nicht sogar wahrscheinliche Nazivergangenheit vorwarf, so wenig roch ich an ihnen den »Muff von tausend Jahren«, der angeblich unter ihren Talaren hing. Die Außerparlamentarische Opposition erhob gerade ihr langhaariges Haupt; es gab sie auch in Kulmbach, aber ich wusste nichts mit ihr und sie nichts mit mir anzufangen.
Lieber legte ich mir eine Mao-Bibel zu und auch gleich noch das optisch ähnlich aufgemachte Bändchen mit den Worten des Vorsitzenden Heinrich, eine Verarsche des an Alzheimer erkrankten Bundespräsidenten Heinrich Lübke. Von dieser Krankheit wusste man damals noch nicht viel und lachte den ersten Mann im Staate aus, weil er auf dem Marktplatz von Helmstedt stand und ihm bei der Begrüßung der Bürger der Name des Ortes nicht mehr einfiel. Dass er bei einem Staatsbesuch in Afrika auch die »lieben Neger« begrüßte, ist zwar eine unfromme Legende, aber dass »die Leute dort auch mal lernen müssen, dass sie sauber werden«, hat er leider wirklich gesagt. Wir fanden das lustig, und ich mochte das grüne Büchlein mit den Lübke-Aussetzern mehr als die rote Mao-Bibel. In meiner Klasse war damals auch ein Trotzkist. Aber was immer das war, es schien ihm bei den Mädchen keinen großen Vorteil zu verschaffen.
Nun wird mich der Verdacht des Lesers treffen, dass ich nicht nur unpolitisch, sondern schlichtweg oberflächlich bin. Es wäre hilfreich, könnte ich zu meiner Ehrenrettung anführen, dass ich eben ein Träumer war, ein weltentrücktes Seelchen, das tief betrübt die Leiden des jungen Werther gelesen hätte. Aber nichts dergleichen. Während der optimistische Deutschlehrer Josef Heim uns eine Interpretation von Kafkas Schloss abnötigte, an dem schon ganze Generationen von Germanisten gescheitert sind, begnügte ich mich in meiner Freizeit mit einer Form von Literatur, die ich nicht nur verstand, sondern im Notfall auch hätte selbst schreiben können.
»Schmutz und Schund«, zürnte meine Mutter jedes Mal, wenn sie wieder eines der rot-schwarzen Jerry-Cotton-Hefte aus einem Versteck zog oder einen Kommissar X in meiner Schultasche fand. »Groschenhefte«, stieß sie angewidert hervor, während sie diese in Fetzen riss – was mich nicht nur jedes Mal 70 Pfennige kostete, sondern auch meine Kombinationsgabe förderte, denn nun musste ich den Kriminalfall selbst lösen. Ich gab den braven Sohn, zeigte mich einsichtig und versprach, an Jerry Cotton keinen Pfennig mehr zu verschwenden. Zur Abwechslung las ich dann eben die Abenteuer der Schwarzen Fledermaus, in denen sich ein blinder, aber heimlich längst wieder sehender Anwalt der New Yorker Verbrecherszene annahm, wobei er eine Fledermausmaske trug. Dass er ein billiges Batman-Plagiat war, wurde mir erst Jahre später klar; das Phantom aus Gotham hatte es damals noch nicht bis nach Kulmbach geschafft.
Comics interessierten mich nicht, ich reiste mit Karl May durchs Wilde Kurdistan oder ins Land der Apatschen. Die Bilder zu den Abenteuern meiner Helden malte ich mir im Kopf aus, und der internationale Kult um Superman und Co. blieb mir fremd. Der einzige Comic mit internationalem Flair, den ich kannte, war Tarzan. Ansonsten gab es mit Falk und Sigurd zwar ein paar edle deutsche Comic-Ritter, die allerdings mit ihren Pferden (»Ho, Brauner«) oder Feinden (»Nimm dies!«) nur relativ kurze Dialoge pflegten und zu Selbstgesprächen neigten (»Himmel … ich bin geblendet!«).
Was meine Mutter in diesen Machwerken an Gewaltverherrlichung und sittlicher Verrohung vermutete, entsprach nicht ansatzweise ihren Befürchtungen. Es waren moralinsaure Schwarz-Weiß-Geschichten, in denen es meist ein Opfer, einen Täter und ungefähr drei Verdächtige gab – mehr hätten die Fans dieser Literaturgattung geistig gar nicht verkraftet. Am Ende siegte das Gute, und dem chronisch überlasteten Vertreter des Rechts – sei er Privatdetektiv, FBI-Agent oder scheinblinder Anwalt – blieb nie die Zeit, sich um die schmachtenden Frauen am Wegesrand zu kümmern.
Mit meiner literarischen Grundausstattung made in Kulmbach bin ich ganz gut über die Runden gekommen. Ich hatte nie den Ehrgeiz, mit Dostojewski der ganz großen Frage nach Schuld und Sühne nachzugehen oder mit Nietzsche das Elend der eigenen Existenz auszuloten. Ich war immer, mit Mörike, ein Mann der Mitte: »Herr, schicke, was du willst, / ein Liebes oder Leides; / ich bin vergnügt, dass beides / aus deinen Händen quillt. / Wollest mit Freuden / und wollest mit Leiden / mich nicht überschütten, / doch in der Mitten / liegt holdes Bescheiden.«
Wenn ich mich einer Figur aus dem großen Welttheater verbunden fühle, dann entstammt sie nicht den Dramen Shakespeares oder der Gedankenwelt eines deutschen Dichterfürsten. Es wäre ein Fabelwesen aus dem Kopf von Emanuel Schikaneder, der das Libretto für Mozarts Zauberflöte verfasst hat. Dem Vogelfänger Papageno habe ich mich verbunden gefühlt, seit ich ihm mit siebzehn im Landestheater Coburg zum ersten Mal begegnete. Sein schlichtes Lebensmotto »Stets lustig, heißa, hopsassa« ist kein schlechtes. Dagegen war mir Tamino, dieser alte Streber und angestrengte Tenor, der sich durch diverse Prüfungen quält, um am Ende in den Besitz der Weisheit zu gelangen, immer ein Gräuel. Wo Papageno – wie ich ein entspannter Bariton – entgegen der Götterweisung, die Klappe zu halten, diese weiterhin munter aufreißt, um nach Speis’ und Trank zu rufen, schickt Tamino sich schweigend in sein Los. Der »Weisheitslehre« gilt sein Streben, während sich der Vogelfänger nur das wünscht, was ich auch wollte: »ein Mädchen oder Weibchen«.
Mädchen oder Weibchen konnte man in Kulmbach am besten mit einem orangefarbenen Plastikbomber der Marke NSU Prinz auf sich aufmerksam machen; ein eigenes Auto hatte in meiner Klasse allerdings nur die Tochter des Zahnarztes. Es handelte sich beim Markgraf-Georg-Friedrich-Gymnasium zwar um eine Knabenschule, jedoch waren einzelne humanistische Jungfrauen als Vestalinnen zugelassen. In meiner Klasse waren es drei: Ilse, Elke, und später kam die sehr ansehnliche Zahnarzttochter Dagmar dazu. Die anderen Damen blieben im »Lyzeum« unter sich, was bereits die fortschrittliche Bezeichnung der ehemaligen höheren Töchterschule war.
Mein Schulweg war gegenläufig zu dem der Oberschülerinnen und ich dadurch täglich auf Brautschau. Die höheren Töchter waren mir zu wohlerzogen, es zog mich eher zu Fleischfachverkäuferinnen und Friseusen. Meine Mutter sah das mit Sorge, und ich tat ihr deshalb den Gefallen, wenigstens öffentlich Anstand und Würde zu zeigen. So führte ich beim Abschlussball meines Tanzkurses wunschgemäß die Tochter des Krankenhaus-Chefarztes am Arm, aber verknallt habe ich mich dann doch in eine Friseuse. Ich erwähnte dies meiner Mutter gegenüber nicht und Ihnen gegenüber nur, weil ich den entsprechenden Familienanschluss heute noch für bemerkenswert halte.
Brigitte wohnte in Höferänger, was nicht die feinste Ecke Kulmbachs war. Man nannte sie dort »Gittla«. Ihr Vater war Maurer, und er bot mir bei Hausbesuchen Bier an – ein Getränk, das bei uns zu Hause wenn überhaupt nur aus Gläsern getrunken wurde. Brigittes Vater schnalzte routiniert den Bügel vom Kopf der Flasche und gluckerte das Bier direkt aus der Pulle weg. Kulmbach war zu dieser Zeit noch die »Weltstadt des Biers«, und der Fachmann trank Reichelbräu. Gittlas Vater war einer.
Nach der zweiten Flasche griff er zum Akkordeon. Auch das war ein für mich neues Instrument. Ich ging bei Frau Noll zur Klavierstunde, und zu Weihnachten, wenn meine Mutter am Piano saß, übernahm ich die Blockflöte. Soweit ich mich erinnere, spielte der Maurer besser Akkordeon als meine Mutter Klavier und definitiv besser als ich Blockflöte. Wenn er leicht beschwipst eine Akkordeonfassung des »Klarinettenmuckl« hinlegte, war das für mich eine virtuose Vorstellung. Zum einen, weil es gut klang, zum anderen, weil er nicht in Gittlas Zimmer auftauchen würde, solange er unten die Ziehharmonika quetschte. Trotz des musikalischen Vaters hat die Sache nicht lange gehalten, ich wandte mich kurz darauf einer rothaarigen Metzgereiangestellten zu, die Mona hieß. Um Mona zu verschleiern, erzählte ich meiner Mutter von der reizenden Friseuse. Gittla hat ihr dann jahrelang die Haare gemacht.
Ich hatte nichts, was Mädchen hätte beeindrucken können. Kein Auto, nicht mal ein Moped – und Letzteres galt zu jener Zeit als nicht zu unterschätzendes Statussymbol. Das lag daran, dass unserer Familie relativ früh der Ernährer und damit auch unser komfortabler Mittelklassewohlstand weggebrochen war. Mein Vater hatte sich in einem vornehmen Bürgerhaus in der Langgasse 6 eine gutgehende Anwaltskanzlei aufgebaut, war zum Stolz meiner Mutter auch am Landgericht in Bayreuth zugelassen und saß außerdem als Mitglied der CSU-Fraktion im Stadtrat. Ein geachteter und gefragter Mann also – was nicht verhindern konnte, dass ihm die Ärzte eines Tages eine furchtbare Diagnose stellten: Bauchspeicheldrüsenkrebs.
So wurde ich mit zwölf Jahren hilfloser Zeuge eines zweijährigen Martyriums. Mein Vater war jünger, als ich es heute bin, als ihm zwei Drittel seines Magens entfernt wurden. Als die Metastasen nach einem Jahr wiederkehrten, wusste meine Mutter, dass es keine Rettung gab. Ich war dreizehn, als sie mich in die Arme nahm und schluchzte: »Der Vati wird sterben.« Das war das einzige Mal in meinem Leben, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Es war schon deswegen nicht einfach für mich, mit dieser Situation umzugehen, weil ich mich mit einschneidenden Änderungen in meinem Leben schwertue. Das gilt bis heute. Ich will, dass alles in geordneten Bahnen verläuft – und zwar möglichst »normal«, wie bei anderen Leuten auch.
Großväter sterben. Väter führen die Braut ihres Sohnes zum Altar und entschlafen irgendwann als alte Männer friedlich im Kreise ihrer Enkel und Urenkel. So hatte ich mir das vorgestellt, wenn ich jeden Abend die Hände gefaltet und gebetet hatte: »Die Eltern mein empfehl ich dir, behüt, o lieber Gott, sie mir!« Ich liebte meinen Vater und rätselte, warum uns der liebe Gott das antat, aber ich kam nicht auf die Idee, ihn dafür zu hassen, dass er mir den Vater nahm. Der übrigens auch nicht. Irgendjemand brachte ihm geweihtes Wasser aus Lourdes, und ich sehe ihn noch heute vor mir, wie er kurz vor seinem Tod mit großem Ernst das Fläschchen leerte. Doch das Wunder blieb aus. Wir standen alle an seinem Bett, als er starb. Sein letzter Satz war: »Haltet alle fest zusammen.«
PARADISE LOST
The Herd