Inhalt

  1. Cover
  2. Über den Autor
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Widmung
  6. Kapitel 1
  7. Kapitel 2
  8. Kapitel 3
  9. Kapitel 4
  10. Kapitel 5
  11. Kapitel 6
  12. Kapitel 7
  13. Kapitel 8
  14. Kapitel 9
  15. Kapitel 10
  16. Kapitel 11
  17. Kapitel 12
  18. Kapitel 13
  19. Kapitel 14
  20. Kapitel 15
  21. Kapitel 16
  22. Kapitel 17
  23. Kapitel 18
  24. Kapitel 19
  25. Kapitel 20
  26. Kapitel 21
  27. Kapitel 22
  28. Kapitel 23
  29. Kapitel 24
  30. Kapitel 25
  31. Kapitel 26
  32. Kapitel 27
  33. Kapitel 28
  34. Kapitel 29
  35. Kapitel 30
  36. Kapitel 31
  37. Kapitel 32
  38. Kapitel 33
  39. Kapitel 34
  40. Kapitel 35
  41. Kapitel 36
  42. Kapitel 37
  43. Kapitel 38
  44. Kapitel 39
  45. Kapitel 40
  46. Danksagung

Über den Autor

Simon Spurrier wurde 1981 geboren. Er hat den Studiengang Film und Fernsehen am S.I.A.D. absolviert, Stipendien für Drehbuchschreiben sowohl von der National Academy of Writing als auch von der Met Film School erhalten und für BBC als künstlerischer Leiter gearbeitet. Seither ist er preisgekrönter Comicautor, schreibt für Marvel, DC und 2000AD und hat mehrere lizenzierte Romane verfasst.

Er lebt in Nord-London und ist in diversen Communities aktiv. Besuchen Sie ihn auf www.simonspurrier.blogspot.com, oder folgen Sie ihm auf Twitter unter @sispurrier.

Simon Spurrier

Der Biss der Schlange

Roman

Aus dem Englischen
von Michael Krug

BASTEI ENTERTAINMENT

Für Ciz

(meine)

Kapitel 1

London hustete sich die Lunge aus dem Leib und lag glänzend da.

Der Novembernieselregen hatte zum ersten Mal seit drei Nächten aufgehört, trotzdem blieb die Luft erstickend schwer. Sie war erfüllt von einer klammen Feuchtigkeit, die an glatten Ziegelsteinen und grauen, blattlosen Bäumen haftete. Auf Mauersimsen in Soho schmollten Tauben in stumpfsinniger Verwahrlosung vor sich hin, während tapfere Raucher vor dampfenden Pubs in Smogwolken standen und über diese demütigende Notwendigkeit murrten. An Häusereingängen entlang der Oxford Street klammerten sich Obdachlose an träumenden Hunden fest, um sich zu wärmen. In Camden gingen sogar die – anfangs wegen der Unterbrechung des Regens noch optimistischen – Dealer dazu über, sich in der Nähe von Kebabläden und Warteschlangen vor Klubs herumzudrücken, aus denen überschüssige Wärme sickerte, um dort ihre Mantras zu murmeln:

»Gras, Hasch, Pillen … Gras, Hasch, Pillen …«

Im Osten rollten unter einem trostlosen Himmel Busse mit beschlagenen Fenstern brüllend wie Löwen durch alte Pfützen, wichen hinkenden Füchsen und gleichmütigen Katzen aus.

Und in Hackney schrie eine junge Frau, bis ihre Stimme kippte.

Die Busse fuhren weiter. Die Füchse zuckten kaum.

Der Schrei verkam zu abgehackter Stille, dann holperte er über mehrfache, spitze Töne und wurde zu einem einzigen, ausgelaugten Stöhnen. Die Nachbarn drehten die Fernseher lauter.

Nur ein Mann lauschte aufmerksam, seufzte dabei und zog seinen Mantel mit den vielen Taschen enger um sich. Sogar in seinem verdreckten Van, der allein unter einer Straßenlaterne parkte, die pissegelbes Licht abstrahlte, bildete sein Atem mit jedem Zug kleine Wölkchen.

Er lauschte Sex und beklagte seine mangelnde Erregung.

Da rührt sich gar nichts.

Die junge Frau stieß eine Salve japsender Laute aus wie ein Zug, der durch Wasser rattert, dann stöhnte sie in Oktaven, die allein Wölfen und Walen vorbehalten sind. Sie kläffte wie ein Chihuahua, sie brabbelte in einer fremden Sprache – und die begleitenden Schmatzgeräusche verlangsamten sich dabei nie.

Der lauschende Mann rieb sich die Stirn. Da ihm die teuren Kopfhörer die Laute direkt ins Hirn hämmerten, fiel es ihm leicht, sich vorzustellen, die Frau rede in fremden Zungen. Bei dem Gedanken musste er grinsen.

Der Heilige Geist ist über sie gekommen, dachte er.

Genau auf die Titten, möchte ich wetten – der versaute alte Penner.

Der Name des Mannes lautete Dan Shaper. Er spürte, dass sich Kopfschmerzen anbahnten, rückte die Kopfhörer zurecht und betätigte einen Schalter an dem mattschwarzen Empfänger auf seinem Schoß: Kanal B. Eine weitere raffiniert versteckte Wanze, ein weiterer abgehörter Raum, ein weiterer Sturmangriff auf die Trommelfelle. Diesmal, so stellte er mit der Überzeugung eines wahren Kenners fest, ging es gerade erst los. Vorläufig zeigte sich der männliche Teilnehmer enthusiastischer.

»Oh ja, Miststück«, keuchte die rasselnde Raucherstimme, die nach mindestens vierzig Glimmstängeln täglich klang. »Oh ja, Miststück, ja, oh ja …«

Shaper hatte das starke Gefühl, ins Ohr gefickt zu werden.

Er seufzte erneut und kramte in den unzähligen Taschen nach dem Reißverschlussende seines Medikamentenordners. Äußerlich sah das Ding ganz wie ein dicker Terminplaner aus; ein Relikt aus den 1980ern, verpackt in Lederimitat und Nylon. Im Inneren jedoch befanden sich statt ordentlicher Seiten Dutzende Tablettenstreifen in Metallfolie, jeder mit seinem eigenen Gummiband befestigt. Studentenfutter fürs Hirn.

Wie ein Künstler auf der Suche nach dem richtigen Farbton fuhr er mit den Fingern die bunten Reihen entlang und regelte am Empfänger die Lautstärke herunter. Schon bald – mit etwas Glück nach dieser Nacht – würde er sich eine Auszeit nehmen müssen, das wusste er: einen Entgiftungsurlaub, um sich zu regenerieren und die Batterien aufzuladen. Selbst nach jahrelanger Übung und Selbstmedikation, um sein Gehirn in die Schranken zu weisen, blieb seine mentale Kost ein ständiges Wandeln am Rande der Katastrophe. Das Blut ließ sich nur bis zu einem gewissen Grad verunreinigen, bevor es unwiderruflich vergiftet war, und die Psyche ließ sich nur bis zu einem gewissen Grad stauen, bevor die Dämme brachen.

Alles unter Kontrolle.

Zwei Phenotropil diesmal – dicke russische Aufputschmittel –, um den Schimmer beginnender Paranoia zu vertreiben. Und vielleicht eine halbe Tablette Benzodiazepin – Zoloft stand zur Auswahl, steuerfrei mit US-Aufklebern –, um die Amphetaminschatten aufzuhellen. Um schön locker zu bleiben.

Er schluckte die Pillen mit dem Rest seines Kaffees und schaltete auf Kanal C.

»Oh Gott, oh Gott, oh Gott, oh Goooooooott «

Wieder seufzte er, absolut unerregt. Melanie in Zimmer 3 täuschte ihre Orgasmen immer am gottesfürchtigsten vor.

Vermutlich hätte er diesen traurigen, zwielichtigen kleinen Auftrag zu jedem anderen Zeitpunkt als Quell schuldbewusster Erregung empfunden. Aber nach einer Woche, in der er verdrießlich zwischen Schmatzlauten, Gekreisch, Grunzen, Gottesanrufungen und vereinzelten unprofessionellen Mösenfürzen hin und her geschaltet hatte, war er in einen bedauerlichen Zustand von Abgestumpftheit verfallen.

Außerdem gab es in dieser Nacht einen weiteren Stolperstein für seine Libido, der in diesem Augenblick in einer Zigarettenrauchwolke auf dem Beifahrersitz lümmelte, sich ein weiteres Bier griff und mit zusammengekniffenen Augen zur schmucklosen Terrasse auf der gegenüberliegenden Straßenseite spähte.

»Sieht für mich nich’ wie ’n richtiger Puff aus«, meinte er leicht lallend.

Shaper, der schon sein Leben lang Pissoirs ohne Trennwände mied, gehörte nicht zu der Sorte von Kerlen, die in männlicher Gesellschaft unbeschwert geil werden konnten. Schon gar nicht, wenn die besagte Gesellschaft eins achtundneunzig groß war, pures Testosteron ausschwitzte und angeblich wie ein Elefant bestückt war.

»Sei nicht albern, Vince«, murmelte er. »Wie soll ein Puff schon aussehen?«

Vince – zu groß, zu breit und zu besoffen, um mehr zu tun, als einen gewaltigen Satz aufgeschürfter Knöchel zum Fenster hinauszuschwenken – unterdrückte ein Rülpsen. »Ich dachte bloß … na ja, du weißt schon. Offensichtlicher.«

»Rote Lichter, Neonreklame, Titten an den Fenstern?«

»Na ja …«

»Wir sind hier nicht im verfluchten Amsterdam, Kumpel. Bei uns ist Diskretion gefragt.«

Melanie wählte mit untrüglicher Präzision just diesen Moment, um zu explodieren – mit einem schrillen, flugsaurierähnlichen Aufschrei, der das Quietschen der Bettfedern überlagerte. Shaper musste die Kopfhörer von den Ohren ziehen und ignorierte Vinces Grinsen.

»Diskret«, sagte der Schläger. »Genau.«

Vince war Shapers bester Freund – was in ihrem Fall bedeutete, dass sie gegenseitig ihre Gesellschaft länger als die der meisten anderen ertrugen. Und trotz des ersten Eindrucks, den Vince unweigerlich vermittelte, verkörperte er einen der interessantesten Menschen, die Shaper kannte. Gut, der Mann ging verschiedensten miteinander verwandten Gelegenheitsjobs nach, für die er stets bar auf die Kralle bezahlt wurde und zu denen in der Regel gehörte, dass er auf Menschen eindrosch, bis ihm jemand sagte, dass er aufhören solle. Und doch wusste er beispielsweise aus unerfindlichem Grund unheimlich viel über edle Weine. Er las Literatur von toten Schriftstellern, von denen Shaper noch nie gehört hatte. Außerdem war er erklärtermaßen schwul, in Wirklichkeit jedoch – und seit seinem aktuellsten Freund insgeheim – bi. Er hatte eine sonderbare Phobie gegen Tomaten und behauptete, ihre Beschaffenheit erinnere ihn an Babyhaut. Vince war ein Mensch mit mehr überraschenden, unerklärlichen Facetten, als sie irgendjemandem zustanden; nur war er eben auch ein bezahlter Schläger, der Beine für fünfhundert Ocken das Stück brach. Wahrscheinlich entschuldigte er sich hinterher sogar dafür.

Auf seine chaotische und widersprüchliche Weise stellte Vince den Inbegriff eines Vertreters der konfusen Welt dar, in der Shaper schon lebte, so lange er zurückdenken konnte. Und Shaper merkte dem Mann an, dass er im Augenblick unerträglich gelangweilt war.

Damit ging automatisch einher, dass er betrunken, anfällig für Rülpsen und Furzen und reizbar war. Es hatte schon seinen Grund, warum Shaper ihn noch nie zuvor zu einem Auftrag mitgenommen hatte.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stahlen sich zwei Gestalten, auf deren fast kahlen Schädeln sich der Lampenschein wie auf blassen Eiern spiegelte, aus dem Lichtkegel einer Tür und eilten davon. Eine dritte Gestalt traf gerade ein, ein gebrechlicher Mann, der sich über einen Stock gebeugt ins Haus schleppte und aus dem Licht verschwand. Die zierliche Mrs. Swanson geriet in Sicht, um die Tür zu schließen. Ihre dick umrandete Brille beschlug in der Kälte, und sie musste sich sichtlich zurückhalten, um Shaper nicht über die Straße hinweg zuzuwinken. Sie hatte drei Nächte gebraucht, in denen sie ihm Tee und Kuchen zum Van gebracht hatte, bis sie endlich das Konzept einer »verdeckten« Überwachung begriff, und sie hielt trotzdem noch Plätzchen für den Fall bereit, dass ihm kalt würde und er hineinkäme. Sie war die untypischste Puffmutter, der Shaper je begegnet war.

Obendrein waren es gute Plätzchen.

»Wie kommt’s, dass sich die Nachbarn nicht beschweren?«, brummte Vince, womit er Shapers Gedankengänge unterbrach. Seufzend rieb sich Shaper den Nasenrücken und stellte fest, dass seine Kopfschmerzen mittlerweile voll in Fahrt gekommen waren. Genau wie Melanie in seinen Ohren.

»Sie werden dafür bezahlt.«

»Woher weißt du das?«

Er warf dem Mann fürs Grobe einen Blick zu. »Weil es mein verfluchter Job ist, so was zu wissen, oder?«

Beobachter. Spanner.

Problemlöser. Streitschlichter.

Zwielichtiger Mittelsmann.

Shaper sah es so, dass all die Männer und Frauen, die in seinem Fleckchen Dreck herumwühlten – all die weitgehend anständigen Leute, die sich mit ein paar Gelegenheitskröten aus Gelegenheitseinkunftsquellen durchschlugen –, wie alle anderen Menschen jemanden brauchten, den sie in schwierigen Zeiten rufen konnten.

Für Shapers Leute stellten die Bullen keine Option dar.

Zum Beispiel Mrs. Swanson. Eine reizendere alte Dame konnte man sich kaum vorstellen, sie betrieb nur eben zufällig auch den erfolgreichsten Bumsschuppen westlich von Stratford. Als bestimmte »wertvolle Produkte« in ihrem Haus zu verschwinden begannen, war für sie ein Anruf bei Shaper so natürlich gewesen wie für konventionellere Geschäftsbesitzer ein Anruf bei der Polizei.

»Gehört das zu den Dingen, die Sie tun?«, hatte sie quengelig gefragt.

Oh ja.

Ein weiterer vorfreudiger Kunde klopfte an die Vordertür. Die eingefallenen Lippen ließen auf einen zahnlosen Mund schließen. Shaper ertappte Vince dabei, dass er den Mann mit zusammengekniffenen Augen betrachtete, und konnte förmlich hören, wie die inneren Rädchen seines Gefährten klickten.

»Bild ich mir das bloß ein«, sagte der große Mann, »oder sind diese Freier ein bisschen … du weißt schon.«

»In die Jahre gekommen?«

»Wie verfluchte Dinosaurier, ja.«

Shaper spendete der Bemerkung halbherzig Beifall. »Es ist ein spezialisiertes Etablissement.«

Mrs. Swansons Geniestreich hatte darin bestanden, zu erkennen, dass Freier eines gewissen Alters nicht nur weit weniger Ärger verhießen als ihre jüngeren Pendants, sondern dass sie sich auch erheblich bereitwilliger von ihren – wie sie es ausdrückte – »gereiften« Ersparnissen trennten. Indem sie ausschließlich eine Klientel empfing, die schon mit einem Bein im Grab stand, hatte sich ihr Laden als einer von Hunderten wenig überzeugenden Massagesalons in eine veritable Melkkuh verwandelt.

»Früher mal«, erklärte Shaper, »kreuzten bei ihr gelegentlich alte Säcke auf, die ihn … nur noch auf Halbmast brachten.«

Um zu zeigen, dass er verstand, krümmte Vince einen hochgestreckten Finger halb durch, was er mit einer Comics entlehnten Lautuntermalung begleitete. Shaper, dem die eigene schwächelnde Manneskraft unangenehm bewusst wurde, nickte.

»Genau. Und niemand will mit einer mitleidigen Rückerstattung nach Hause geschickt werden, oder? Also fing der alte Herr Schlaffschwanz an zu fragen: ›Haben Sie vielleicht etwas, das dagegen hilft?‹ Und Mrs. Swanson dachte sich: ›Hm, vielleicht sollte ich so was anbieten.‹«

Vince grinste breit, als er kapierte. »Also hat sie angefangen, Viagra zu verkaufen?«

»Anfangs, ja. Vor allem Cialis, Revatio, Levitra. Bessere Margen. Leicht verdientes Geld.«

»Genial!«

»Nein, katastrophal.«

Vinces Miene verdüsterte sich. »Wieso?«

Shaper stellte die Kopfhörer noch eine Stufe breiter, da seine Kopfschmerzen nach wie vor anschwollen. »Weil Herr Schlaffschwanz einen Enkel hatte, der wusste, wie man das Zeug online um den halben Preis bestellt. Und die Stammkunden reden in der Umkleide miteinander. Eh man sich versah, kreuzten sie schon einsatzbereit bei ihr auf.«

Vince hob sein Bier zu einem schäumenden Toast auf die Rentnerschaft. »Na dann, Schwanz hoch!«

Zwischen ihnen dröhnte Melanies auf einen zweiten Höhepunkt zuschrillende Stimme aus den Kopfhörern. Shaper wusste aus zu vielen Nächten, in denen er nur hier rumgesessen und seine Konzentration unter narkotischen Extremen aufrechterhalten hatte, dass sie pro Freier zwei Orgasmen zuließ – nicht mehr, nicht weniger –, die sie mit gespenstischer Präzision taktete. Jedes der Mädchen hatte eine eigene kleine Routine, und mittlerweile kannte er sie alle. Ruth mit ihrer postkoitalen Analyse, bei der sie dem Freier vorgaukelte: Ehrlich, das sag ich nicht oft, ich mein das echt ernst, das war toll. Oder Ksenia, die in Zungen Sprechende, deren Ekstase, wie sie ihre Kunden glauben ließ, solche Ausmaße erreichte, dass nur ihre Muttersprache sie auszudrücken vermochte. Oder Vicky, die ihre Freier geradezu darum anflehte, die Lippen auf ihren Busen zu drücken und Furzgeräusche zu blasen, woraufhin sie wie ein Güterzug abging. Im Vergleich zu den meisten anderen empfand er Melanies atemloses Zusteuern auf den Höhepunkt noch mit Abstand am angenehmsten.

»Oh Gott, oh Gott …«

Er verdrehte die Augen und verringerte erneut die Lautstärke.

Und runzelte abrupt die Stirn. Eine seiner Hände hatte zu zittern begonnen.

»Und?«, hakte Vince nach, ohne die plötzliche Angst zu bemerken, die Shaper beschlich. »Was hat die Chefin gemacht?«

»Was? Wann?«

Nicht ausgerechnet jetzt, nicht jetzt, nicht jetzt.

Wahrscheinlich, so redete er sich ein – und ignorierte dabei den trockenen Mund, die zur Faust geballte Hand, den leisen Takt, den seine Füße im Fußraum unwillkürlich klopften –, lag es nur an der Kälte. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.

Oder …

Oder eine Warnung. Ein schrille Sirene, die ankündigte, dass die Aufputschmittel ihre Wirkung verfehlten und sein Gehirn Schlagseite bekam.

Entspann dich, du Idiot 

Vince, der im Bierrausch und ungeduldig neben ihm saß, bekam natürlich nichts mit. »Sag schon«, bohrte er weiter. »Was hat sie gemacht, als die aufgehört haben, Viagra zu kaufen?«

»Ach, das meinst du.« Shaper rieb sich die Schläfen und konzentrierte sich. »Was konnte sie schon tun? Sie hat sich nach einer Alternative umgesehen.«

Beim anfänglichen Informationsgespräch hatte ihm die alte Dame taktvoll mitgeteilt, dass ihr Etablissement einen kühnen Schritt in exotischere Gefilde gewagt hatte. Sie hatte behutsam die Fühler ausgestreckt, und nach ein, zwei Monaten trafen über die zwielichtigsten Versorgungswege die ersten Lieferungen ein.

»Also was?«, beharrte Vince.

Shaper wandte den Blick ab. »Zerriebener Tigerpimmel«, murmelte er.

»Was?«

Er seufzte. »Na ja, das ist … ein traditionelles östliches Heilmittel. Die Freier können es nicht selbst besorgen, und es kostet ein verdammtes Vermögen. War ein kluger Schachzug.«

»Zerriebener Tiger… Aber … Was?«

»Ich weiß.«

»Aber das ist …«

»Ich weiß, Vince, okay? Tatsache ist, die Freier stehen wieder Schlange.« Resigniert zuckte er mit den Schultern und kam sich albern vor. »Und jetzt stiehlt jemand das Zeug. Und ich bin hier, um herauszufinden, wer.«

»Tigerschwanz«, brummte Vince, bevor er kopfschüttelnd verstummte. »Scheiße.«

Shaper musste zugeben, dass es eigenartig war.

Die Ware traf in exotischen kleinen Bechern mit aufwendiger Papierverpackung und Tintenzeichnungen von Tigern und nackten Frauen ein. Das Zeug wurde von den Mädchen selbst direkt am »Verrichtungsort« – ein weiterer Spezialausdruck von Mrs. Swanson – verteilt und strotzte geradezu vor obskuren Versprechungen. Alles ein Bestandteil des Placeboeffekts, hatte Shaper seine feste Überzeugung kundgetan. Er hatte daran gezweifelt, dass die Ware jemals weniger als tausend Kilometer an einem echten Tiger dran gewesen war.

Diese Vorstellung hatte Mrs. Swanson zunichtegemacht, als sie ihm zutiefst schuldbewusst gestanden hatte, dass sie, als »das Produkt« zu verschwinden begann, den Bestand mit einem Gemisch aus verbranntem Zucker und Mehl aufgefüllt hatte. »Wir mussten allen ihr Geld zurückerstatten«, hatte sie gemurmelt. »Keiner der armen Teufel konnte seinen Mann auch nur ansatzweise stehen.«

Mit dem echten Pulver misslang es den Freiern nie, einen Gegenwert für ihr Geld zu bekommen. Ganze Scharen schüchterner alter Männer ohne Charisma oder Selbstvertrauen erzielten dadurch nicht nur die körperliche Bereitschaft, sondern auch die rechte Gesinnung.

Es war in der Tat eigenartig.

Vince, der das breite Kinn vorstreckte, schien wenig davon zu halten.

»Deshalb sind wir hier? Um auf magische Katzenpimmel aufzupassen?« Er schniefte durch die klobigen Überreste dessen, was mal eine Nase gewesen war. »Warum können wir dann nicht einfach drinnen sitzen und das verfluchte Zeug im Auge behalten?«

»Hausordnung. Die Ware wird von den Mädchen direkt verkauft. Eine ›intime‹ Transaktion – es ist niemand sonst im Raum, der den Vorgang beobachten könnte. Und vorher bekommt das Zeug niemand. Die einzige Chance besteht darin, sich zusammenzureimen, wer es klaut, und denjenigen dann auf frischer Tat zu ertappen.« Er biss die Zähne zusammen. Ihm fiel auf, dass sich das Zittern auf die andere Hand ausgebreitet hatte. »Und es muss heute Nacht passieren.«

Vince schnippte Asche durchs Fenster hinaus und brummte: »Tigerschniedel … Das is’ nicht grade ein Fall für den verfluchten Columbo, Mann. Wie schwierig kann das schon sein?«

»Erheblich schwieriger, als ich dachte, in Ordnung?« Shaper versuchte, sich die Krämpfe aus den Händen zu massieren. »Pass auf, wir reden hier von einem Bordell, klar? Da geht es um Diskretion und Vertrauen. Die Kunden sollen ja wiederkommen. Die alte Dame wäre mir fast aus den Latschen gekippt, als ich vorgeschlagen hab, Kameras zu installieren. Und Kundendurchsuchungen kommen auch nicht infrage. Anfangs waren sogar die Mädchen pampig zu mir, als ich ihre Handtaschen durchsuchen wollte.«

»Jetzt nicht mehr?«

»Nein. Weniger von dem Produkt bedeutet auch weniger Trinkgeld. Ein paar Tage mit dem Schild ›Ausverkauft‹ an der Tür haben gereicht, und schon standen sie Schlange, um mir zu helfen.«

»Und hat’s geholfen?«

»Einen Scheißdreck hat’s geholfen.«

Vince zuckte mit den Schultern: Fall erledigt. »Also ist es einer der Freier.«

»Nee. Ich bin eine Woche lang jeden Tag im Umkleideraum gehockt. Hab jede verdammte Tasche durchwühlt, die’s gab. Hab die Kerle sogar in der Dusche beobachtet.«

Vince grinste. »Heiß.«

»Nicht annähernd. Und ich sag dir, Kumpel, kein Einziger hat etwas aus den Verrichtungszimmern mitgenommen.« Diskret atmete er einen Zug gestohlenen Rauchs ein. »In derselben Woche ist Ware im Wert von fünf Riesen verschwunden.«

Vince verschlug es den Atem. »Wie bitte?«

»Genau.«

»Fünf Riesen?«

»Ja.«

»Aber … wir reden hier von Katzenpimmeln!«

Der Mann fürs Grobe warf eine leere Dose ins Seitenfach des Vans und verfiel in angewidertes Schweigen. Shaper hatte es längst aufgegeben, ihn zu ersuchen, das zu unterlassen.

»Wie auch immer«, sagte er, mehr um sich selbst als Vince zu bestärken. »Heute ist die Nacht der Nächte. Sonst wärst du nicht hier. Im Grunde genommen ein einfacher Fall von Querverweisen. Man vergleicht, welche Mädchen Dienst haben, wenn Vorräte verschwinden. Dann verbindet man die Punkte miteinander.« Mit einer Zuversicht, die er nicht wirklich empfand, klopfte er auf das Empfangsgerät. »Es ist eine dieser drei. So schlau bin ich inzwischen.«

Es muss heute Nacht sein.

Die zitternden Hände. Das Kribbeln in seinen Zehen. Die klebrigen Schatten von Übelkeit. All das kannte er nur allzu gut.

Nach zwei Wochen an diesem Auftrag, nach sieben Nächten im Van, nach zu vielen Stunden, in denen er angestrengt versucht hatte, etwas Ungewöhnliches aus dem Geschrei geheuchelter Ekstase herauszuhören, durfte er sich darüber kaum wundern. Kein Schlaf, keine Erholung, keine Ruhe; nur dank Narkotika zum Zerreißen gespannte Konzentration, die mit jedem Atemzug mehr Sprünge bekam.

Entgiften oder explodieren, Kumpel.

Gegen Ende der vorigen Woche, als er bereits gespürt hatte, dass sich das nächste Burn-out mit rasenden Schritten näherte, hatte er darauf gepfiffen, die Dinge umständlich zu erledigen. Eines Morgens war er in das Bordell eingebrochen und hatte Wanzen in Rauchmeldern und Steckdosen installiert, während Mrs. Swanson ein Nickerchen gehalten hatte. Still und heimlich – Fähigkeiten, die er sich vor langer Zeit bei der Verfolgung weniger ehrenwerter Ziele angeeignet hatte. Er war zu dem Entschluss gelangt, dass Respekt vor den Kunden sowie dem Vertrauen des Personals zwar schön und gut war, aber was Mrs. Swanson nicht wusste, konnte ihr auch nicht schaden.

Oder seinem Honorar.

»Es ist eine dieser drei«, murmelte er erneut. »Definitiv.«

Fast überzeugend.

»Fein. Ganz toll.« Vince nickte mit einem neuen Anflug von Ungeduld in Richtung des Empfängers. »Und welche? Weil, je schneller du das rauskriegst, desto schneller kann ich den Judge-Dredd-Part übernehmen.« Er ahmte einen türzerschmetternden Tritt nach, und sein Bein prallte von der Windschutzscheibe zurück. »Und desto schneller können wir in den Pub abdampfen. Wie wirst du’s dir zusammenreimen?«

Shaper spürte, wie sich das Zittern seine Arme hinauf ausbreitete, und tat so, als hätte er es nicht bemerkt.

»Indem ich aufmerksam lausche.«

»Worauf?«

»Keine Ahnung. Irgendwas, das nicht ins normale Bild passt.«

Vinces Augen weiteten sich. »Kumpel, da drüben ist ein Haus voll Geriatriepatienten, die sich den zerriebenen Schwengel eines verfluchten Raubtiers reinziehen. Was genau ist denn daran überhaupt normal?«

Shaper ignorierte ihn und schaltete missmutig durch die Kanäle. In Zimmer 1 herrschte mittlerweile Stille – Ksenias Transaktion war abgeschlossen. In Zimmer 2 ließen feuchte Furzlaute erahnen, dass Vicky ihren Freier letztlich dazu überredet hatte, auf ihrem Busen zu prusten, und indem er rasch zu Zimmer 3 weiterwechselte, gelangte er zur frommen kleinen Melanie, die einem weiteren Höhepunkt entgegensteuerte.

Nichts.

Es musste heute Nacht sein. Er konnte bereits fühlen, dass sich die narkotischen Wickel lösten wie Salz in einem Bach; seine Toleranz gegenüber den Drogen wurde stärker. Unter ihrer Wirkung spürte er schon die Krankheit, die Freiheit witterte und vorfreudig zitterte …

»Kumpel«, brummte Vince, der blind für Shapers wachsende Panik blieb. »Ich sag dir was: Dein Job ist wesentlich interessanter als meiner.«

»Ach ja?«

»Jeden Tag was anderes, oder? Tigerschwanz … meine Fresse.« Der Mann fürs Grobe warf seine Kippe aus dem Fenster und bemühte sich, nicht zu lallen. »Ich meine – ich? Ob man einmal oder zweimal auf ’nen Kerl einschlägt, is’ dasselbe, wie wenn man tausendmal auf ihn einschlägt. Und vom Job als Rausschmeißer vor Klubs will ich gar nicht reden, das ist erst ’ne eintönige Kacke …«

Shaper hörte ihm nicht mehr zu. Der Atem stockte ihm in der Kehle, etwas Heißes stieg hinter seinen Augen auf.

Ob man einmal oder zweimal auf ’nen Kerl einschlägt 

Einmal, zweimal, drei…

»Scheiße!« Seine Hand schnellte zur Tür des Vans.

Vince, der durch den Alkoholnebel aufschaute, wurde erst nach und nach bewusst, dass er allein im Auto saß, dann nahm er vage wahr, dass eine abgerissene Gestalt über die Straße rannte.

»Kumpel?«, fragte er.

Als sich Shaper an Mrs. Swanson vorbeigedrängt hatte, die verdattert an der Tür stand, begannen die Dinge in seinem Gehirn allmählich auszufransen.

Scheiße.

Das Bordell präsentierte sich ihm als glänzendes rosa Band, das er wie durch eine Fischaugenlinse wahrnahm. Mittlerweile hatte das Zittern, geschürt vom Adrenalin, seine Schultern erreicht, und als er durch den Umkleideraum stolperte, war er davon überzeugt, dass sein Kopf wie eine Tesla-Spule Funken sprühte, während seine Füße schlotternd durch statische Frequenzen wateten. Kein Wunder, dass ihn alle anstarrten.

Narkotischer Zusammenbruch in zehn, neun, acht 

»Platz da, ich komme!«, brüllte er. Dann grinste er.

Ich komme. Kicher.

Reiß dich zusammen, reiß dich zusammen …

Irgendwo hinter sich hörte er, wie Mrs. Swanson Entschuldigungen verteilte, während sie hinter ihm herhetzte. Wahrscheinlich mit den Händen über den Augen – die gute Seele. Er schenkte ihr keine Beachtung und steuerte auf Zimmer 3 zu.

An der Tür hielt er inne, um sich zu sammeln. Sein Gehirn lotete die Mauern seines Amphetamingefängnisses aus und verzerrte die Welt mit jedem hammerähnlichen Herzschlag ein wenig mehr. Shaper hielt den Atem an, um den Lärm zu dämpfen, dann drückte er das Ohr ans Holz der Tür.

Drinnen stieß jemand keuchend spitze Schreie aus, die Bettfedern quietschten, und eine männliche Stimme grunzte im Takt dazu. Präzisionsficken.

Schmatz-schmatz-schmatz.

Melanies Stimme schwoll zu einem neuen Refrain an: »Oh Gott, oh Gott …« Und wie von einem speziellen Geheimnis wurde alles vom gespenstischen Läuten von Kirchenglocken, vom Gestank verwesenden Fleisches und von einem Schwarm blutroter Fliegen unter der Tür überlagert.

Die kranken Empfindungen eines kranken Gehirns, wie Shaper wusste, unsichtbar und stumm für alle anderen. Seine eigenen, unausgesprochenen Ängste, verpackt in dramatische Sinneseindrücke.

Die Krankheit, die ihm zusetzte.

Die Tür erwies sich als abgesperrt. Shaper grinste, als er einen Schritt zurückwich und die Schulter senkte. Nur vage nahm er die innere Stimme wahr, die ihn daran erinnerte, dass er für genau diesen Moment eigentlich jemanden mitgebracht hatte.

Scheiß drauf.

Er spannte den Körper für den Angriff.

Und …

»Hören Sie sofort damit auf.« Mrs. Swanson kam in Sicht gelaufen, rüstiger, als man ihr ansah. Jeglicher Anschein freundlicher Nachsicht war verpufft. Ihre an Fischgläser erinnernden Augen feuerten Rasiermesserblicke auf ihn ab. »Das hier ist ein diskretes Etablissement, Mr. Shaper. Ich dulde nicht, dass sie einfach so …«

»Drei Orgasmen.«

Sie geriet ins Stocken. »W-wie bitte?«

»Drei Orgasmen, Mrs. S.! Melanie macht immer nur zwei!«

Über der Schulter der Puffmutter ging das »Oh Gott!«-Geschrei durch die Tür gedämpft in abgehacktes, ekstatisches Japsen über, durchbrochen von Keuchlauten. Die Bettfedern behielten ihren Takt bei.

»Hören Sie das? Sie schindet Zeit!«

Mrs. Swanson errötete doch tatsächlich angesichts der Melodie und schrak von der Tür zurück. In sicherer Entfernung erlangte sie die Fassung wieder und schwenkte einen Finger. »Also, jetzt hören Sie mal …«

Aber Shaper hatte sich bereits in Bewegung gesetzt.

Das Schloss brach mit einem enttäuschenden Mangel an Splittern und umherfliegenden Schrauben auf. Die Tür kippte fast verlegen zur Seite, und bevor der Schreck der plötzlichen Störung die Personen im Zimmer erstarren ließ, setzte sich das Geschehen eine Sekunde lang ungebrochen fort.

Shaper glotzte hinein.

Melanie hüpfte in Dessous auf dem Bett auf und ab wie ein Schulkind im Zuckerrausch. Quietsch, quietsch, quietsch. Ihr straffer, zierlicher Körper war vor Anstrengung gerötet. Mit den Händen zupfte sie die nassen Innenseiten ihrer Wangen vom Zahnfleisch. Schmatz-schmatz-schmatz. Dazu stöhnte sie, grunzte sie, quiekte sie.

Überzeugend.

Das Mädchen hörte auf. Einen Moment lang stand Melanie nur da und starrte zur Tür – auf Shaper, auf Mrs. Swanson, auf die anderen Kunden, die aus dem Umkleideraum dahinter zu ihr spähten. Dann senkte sie schuldbewusst den Blick auf den Boden neben dem Bett.

Wo sich ein nackter Achtzigjähriger mit Schuppenflechte ein doppelt zugeknotetes Kondom voll zerriebenem Tigerpenis in den Arsch stopfte.

Und dazu grunzte.

Melanie sackte mit untergeschlagenen Beinen aufs Bett zusammen wie ein elektronisches Spielzeug, das jemand ausgeschaltet hatte. Der alte Mann rappelte sich mit knackenden Gelenken und verbissener Miene auf die Beine. Das verräterische Päckchen, dessen geduldige Einführung unterbrochen worden war, klatschte wie die schimmernde Kackwurst eines Wolpertingers gegen seine Oberschenkel.

Hinter Shaper gab Mrs. Swanson einen zierlichen Laut von sich, der an ein schlafendes Baby erinnerte.

Der Raum schien sich mit Wasser zu füllen, das sich allen Naturgesetzen zum Trotz an der Decke sammelte. Er spürte, wie sich das Zittern in seinen Hals hocharbeitete. Einfach weiteratmen.

»Sind Sie ein Bulle?«, fragte der Greis mit überraschend tiefer Stimme.

Der Raum verschwamm. Ein Brummen schwoll in Shapers Ohren an und erfüllte ihn mit der wachsenden Panik, dass es schon immer vorhanden gewesen war und nun, da er es bemerkt hatte, nie wieder verschwinden würde.

Paranoia. Na super.

»Nicht so richtig.«

»Prima.« Und damit schlug ihn der Geriatriepatient.

Später, als seine Nase zu bluten aufhörte, erklärte Shaper mit einiger Überzeugung, dass er die Fäuste nicht gegen einen potenziell gebrechlichen Mann erheben wollte und es als ehrenwerter empfand, den Schlag einzustecken. Mrs. Swanson und die Mädchen, die sich versammelt hatten, um ihn mit stärkenden Plätzchen zu füttern, nickten dazu pflichtbewusst.

Zum Glück hatte Vince, der ihn letztlich eingeholt hatte, keine solchen Vorbehalte, und als Shaper wie ein Sack Kartoffeln zu Boden ging, trat der große Tölpel entschlossen an ihm vorbei und versetzte dem Tattergreis einen kräftigen Kopfstoß zwischen die Augen. Dabei hielt Vince immer noch sein Bier in der Hand.

Shaper genoss einige Momente süßer Bewusstlosigkeit, und als er – zu spät – mit ninjaähnlicher Anmut, die jedoch niemanden überzeugte, wieder aufsprang, stellte er fest, dass sich das Zittern gelegt hatte.

Ein toller Job.

Kapitel 2

Alice Colquhoun, von jeher eine scharfsinnige Frau, folgerte, schon lange bevor die Klinge des Mörders ihre Haut durchstieß, dass sie sterben würde. Wie ein Insasse des Todestrakts, dem beim fernen Geruch seines Lieblingsgerichts gedankenlos das Wasser im Mund zusammenläuft, entschlüsselte sie die Hinweise auf ihre bevorstehende Ermordung, bevor ihr klar wurde, was sie tat, und sie genoss sogar einen perversen Schauder der Befriedigung über ihre eigene Klugheit.

Allein in einer Dunkelheit voll glänzendem Plastik und ländlichen Gerüchen, gefesselt und mit schmerzendem Kiefer wegen des Ballknebels aus Gummi in ihrem Mund, folgerte sie ihr verhängnisvolles Schicksal mit derselben nüchternen Logik, mit der sie sich die steile Karriere aufgebaut hatte, mit der sie so gern prahlte. Ihr gesamtes Leben war dermaßen von gewinnsüchtigem Selbstvertrauen und eisernem Willen gekennzeichnet, dass ihr dritter Ehemann scherzhaft gemeint hatte, sie könne eine Kugel mit ihrem finsteren Blick ablenken. Und dennoch zitterte sie nun in einem rosa Gymnastikanzug inmitten der Trümmer ihrer vernichteten Würde.

Und wusste, dass sie sterben würde.

Durch eine in der Düsternis kaum erkennbare Eisentür drangen die weinerlichen Klänge einer schlecht aufgenommenen Sitar, deren durchdringend hohe Töne vom weichen, fleischigen Trommeln einer Tabla begleitet wurden. Vereinzelt konnte sie zwischen der an- und abschwellenden Musik aus dem Raum nebenan ein leises Rascheln und ein feuchtes, vorfreudiges Glucksen hören.

Ihr Killer, der sich auf den Mord vorbereitete.

Letztlich hatte die Art ihrer Fesselung den Ausschlag gegeben. Bevor sie während all der Traumata, all der Schrecken und Erniedrigungen des Abends eingehender darüber nachgedacht hatte, hatte sie eine Fassade der Unverwüstlichkeit aufrechterhalten können, hatte an ihrer Weigerung zu verzweifeln festgehalten. Der Mann mit der Kapuze, der in ihr Heim eingebrochen war, die Klinge geschwenkt und sie mit stummen Gesten gezwungen hatte, in ihren knalligen Jogginganzug zu schlüpfen …

Und dann die Haube über ihrem Kopf, die Fahrt in einem gepolsterten Van, das endlose Rütteln und Schütteln und Grauen. In jeder Phase hatte sie sich die Verzweiflung vom Leib gehalten, indem sie sich auf die Bandbreite der Möglichkeiten konzentriert hatte, die noch immer hinter diesem Rätsel stehen konnten. Die Chance, dass beispielsweise Lösegeldforderungen unterwegs zu Exehemännern und Großaktionären waren oder dass sich in diesem Augenblick vielleicht sogar noch nicht zu hörende Sirenen näherten. Oder auch nur die in der verhassten Grube ihrer Seele lauernde Hoffnung, ihr Entführer könnte sich lediglich als degenerierter, etwas umständlicher Vergewaltiger entpuppen, dessen Gelüste befriedigt oder zumindest hinausgezögert werden konnten.

Aber nein. Die Art ihrer Fesselung hatte all das vom Tisch gewischt. Im Kontext all dessen, was in dieser Nacht bisher geschehen war, stachen sie für Alice wie Leuchtfeuer aus dem Morast der Verwirrung hervor, die letzten fehlenden Daten zur Vervollständigung der Gleichung. Die Art ihrer Fesselung hatte ihr Schicksal so unwiderruflich besiegelt, wie die Klinge sie zweifellos töten würde.

Jede ihrer Hände steckte in einem Boxhandschuh, der mit weichen Bändern und Schaum so angepasst worden war, dass er ihre Arme bis zu den Ellbogen umhüllte. Durch Haken an den Knöcheln verliefen Lederriemen, die sie an dem gepolsterten Sitz hinter ihrem Rücken sicherten. Auf ähnliche Weise waren Steppdeckenstreifen mit Zwangsjackenschnüren um ihre Fußgelenke gewickelt, reichten bis zu den Knien hoch und wurden von gummibeschichteten Ketten am Stuhlrahmen gehalten. Alles präsentierte sich tadellos genäht und abgedichtet, sauber und ohne Flicken.

Dass die Anordnung dazu diente, eine Flucht zu verhindern, war von Anfang an offensichtlich, wenngleich Alice trotzdem jede Naht methodisch getestet hatte. Was ihr aber erst langsam bewusst wurde, war die geradezu zwanghafte Sanftheit, die davon ausging. Es gab keine harten Kanten, keine reibenden Schnüre, die ihr rötliche Linien um die Knöchel oder um die Knie ins Fleisch schnitten. Es handelte sich um eine sanfte Art der Dominanz, um einen milden, gepolsterten Druck, und die abartige, vermeintliche Harmlosigkeit der Vorrichtung hatte ihre wahre Bedeutung allzu lang verschleiert.

Nun hatte Alice sie durchschaut.

Die Anordnung diente eigens dazu, keine Male auf ihrer Haut zu hinterlassen. Keine Anzeichen von Gefangenschaft, keine Spur des Grauens dieser Nacht.

Warum sollte jemand solch penible Sorgfalt walten lassen, wenn die Gefangenschaft nur vorübergehender Natur wäre – die einer Geisel, die auf das Eintreffen ihres Lösegelds wartete, etwa? Warum solche an Besessenheit grenzende Schonung, wenn Folter und Vergewaltigung die einzigen Ziele wären?

Nein. Nein, Alice war zu intelligent, um sich an leere Hoffnungen zu klammern. Was immer als Nächstes geschehen würde, die Art ihrer Fesselung hatte sie davon überzeugt, dass nur eines je die Entführung aus ihrem Haus und die erlittenen Schrecken belegen könnte: ihre eigene Zeugenaussage. Und sie musste davon ausgehen, dass sie keine Gelegenheit erhalten würde, sie zu Protokoll zu geben.

Mit einem kalten Knurren blinzelte sie einsetzende Tränen zurück, weigerte sich, aufzugeben, und sah sich erneut prüfend in ihrem Kerker um. Auf derben Gemälden in Hängerahmen zu beiden Seiten, kaum erkennbar unter den Kunststofffolien, die jede Fläche bedeckten, ließen Gestalten mit blauen Gesichtern die Hüften kreisen, verschlangen zahlreiche Arme ineinander und streckten rote Zungen heraus. Unter ihrem irren Blick standen auf einem Holztisch eine Reihe beschlagener Marmeladengläser und eine einsame, flackernde Kerze, deren Schein die einzige Beleuchtung darstellte. Am merkwürdigsten empfand Alice, dass sich auf dem Boden rings um sie, angeordnet wie eine UFO-Flotte, ein Dutzend verchromter Hundenäpfe befanden. Durch die Folie darunter zeichneten sich leichte Ansätze von Stroh und Sägemehl ab.

Im Lichte Alices verheerender Prognose passte aber sogar diese bizarre Konfiguration ins Bild.

Es würde wie ein Unfall aussehen, vermutete sie. Vielleicht auch wie ein Raubüberfall. Etwas Hässliches und Sinnloses; ein unpersönliches, chaotisches Ende, was auch das Drängen des Mörders erklärte, dass sie ihren Jogginganzug tragen musste. Alice stellte fest, dass sie sich die Szene mit erschreckender Deutlichkeit ausmalen konnte: ihr Körper, zum Verbluten zwischen den Nesseln des Naturlehrpfads im Queen’s Park zurückgelassen, wo sie ausnahmslos jeden Abend joggte.

Erst da, als sich der Ablauf ihres Todes so perfekt herauskristallisierte, als selbst der leiseste Anschein einer Überlebenschance verpuffte und sich der Takt der Tabla beschleunigte, kapitulierte Alice Colquhoun und begann, leise zu weinen. Da sie um den Ballknebel herum ohnehin nichts Verständliches von sich geben konnte, verkniff sie sich jedes Stöhnen und entwürdigende Grunzen, wodurch sie sich nur mit Geifer besabbert hätte. Solche alten Konferenzraumgewohnheiten – stilles Leiden, kein Zeigen von Schwäche – waren nicht so einfach totzukriegen wie …

Nun, wie sie es gleich sein würde.

Und dennoch, als sich die Tür öffnete und die Klänge der Sitar deutlicher hereindrangen, platzte aus einem geheimen Winkel in ihr ein Stöhnen hervor – unwillkürlich, unerwünscht. Sie hasste sich dafür, und das sengende Aufflammen ihrer Wut hätte beinah ihr Elend verdrängt.

Bis der Mörder ins Licht geriet. Bis sich die Gestalt mit der Kapuze in den Raum bewegte und langsam, mit gemessenen Schritten zu tanzen begann, den Kopf wie ein neugieriges Tier schief gelegt.

Seine Arme baumelten wie gebrochene Schwingen schlaff an den Seiten herab, während er im Takt der Musik einen geheimen Sprechgesang flüsterte.

Die Töne der Sitar beschleunigten sich, die Trommeln wirbelten einem hektischen Höhepunkt entgegen, und als die Verrenkungen der Gestalt zunehmend wilder wurden, drehte sie sich Alice zu und schob die Kapuze zurück.

In jenem Moment floss aus Alice ab, was noch an Mut in ihr verblieben war. Der angehaltene Atem entrang sich ihr mit einem Keuchen, und nur ihre innere Wut – wie konnte ihr Körper es wagen, sie zu verraten? – verhinderte, dass sich ihre Blase entleerte.

Das Gesicht unter der Kapuze erwies sich als eine vorwiegend blaue, von Hass verzerrte Maske. Es bewegte sich durch Schatten und Licht wie eine saphirblaue, goldene und glänzend rote Vision. In den Tiefen der schwarzen Höhlen konnte Alice weiße, nach oben gerollte Augen erkennen, die sich feucht und ekstatisch hinter der Maske abzeichneten.

Der Mörder, den sie durch den Schleier ihrer Tränen nur verschwommen wahrnahm, beugte sich dicht zu ihr und hob zur Überprüfung eine behandschuhte Hand. Das im Latexgriff gehaltene Messer, das sie töten würde, reflektierte das Licht.

Die Maske flüsterte: »Ram

Und Alice verstand.

Und als das Messer zum ersten Mal in sie eindrang, als es in ihre Bauchhöhle glitt und langsam – liebevoll – seitwärtsschnitt, als sich ihr Blut prasselnd wie ein perverser Trommelwirbel in die wartenden Futternäpfe ergoss, erfuhr Alice Colquhoun die dürftige Genugtuung, das eine Rätsel zu lösen, das sie bisher noch nicht durchschaut hatte: Warum.

Kapitel 3

Wann, so fragte sich Shaper, während er auf einem Kissen kaute, war das Universum eigentlich so boshaft geworden?

Es lag nicht daran, dass sich sein Bett etwa so gemütlich anfühlte wie ein mit Stacheldraht überzogenes Brett – auch wenn es das tat. Auch nicht daran, dass er fand, die Hersteller seiner Verdunkelungsvorhänge sollten nach dem Betrugsgesetz strafrechtlich verfolgt werden – obwohl ihm dies durch den Kopf ging. Nein, im Augenblick ging er völlig darin auf, mit einem an die Ohren gepressten Kissen stumm jede geflügelte, geschnäbelte oder zwitschernde Kreatur inständig zu hassen.

Verfickte Vögel.

Er suhlte sich in der Launenhaftigkeit des Morgens danach, schaffte es nicht, den Chor der Flügelträger draußen zu ignorieren, während er auf einem ausklappbaren Futon lag und gänzlich erfolglos versuchte zu schlafen. Seine Wohnung schwärte in der viktorianischen Hölle zwischen Camden und Kentish Town vor sich hin – eine für ihre Farbenpracht berühmte Gegend, die dennoch unter einem ironischen Mangel an Grün litt. Er konnte einfach nicht verstehen, was die gefiederten kleinen Scheißer in der Nähe seines Fensters zu suchen hatten.

Manchmal scheuten ganze Schwadronen von Sittichen – unterwegs zu einem Tagesausflug aus Hampstead Heath, wo sie die heimischen Arten fest im Würgegriff hatten – keine Mühen, um sich auf seiner Dachrinne zu versammeln und ohrenbetäubende Pieptöne auszutauschen wie eine Horde von Teenagern, die Klingeltöne ihrer Handys miteinander verglichen.

Das taten sie eindeutig mit Absicht.

Seufzend rollte er sich herum und schaltete in seiner Verzweiflung den Fernseher ein. Er brauchte nur durch zwei Kanäle zu zappen, bis seine Abscheu überkochte und er es aufgab. Auf einem leitete ein provokanter Moderator mit gegeltem Haar – ein Wichser – im Studio eine Diskussion mit dem Titel »Meine Frau hasst meinen Mann«, auf dem anderen lief eine bescheuerte Regionalsendung über einen experimentellen Künstler namens Merlin – einen Wichser –, der Londons Skyline benutzte, um »Echolotungsdioramen« zu erzeugen. Die Welt, so folgerte Shaper, hasste ihn, und das Gefühl beruhte voll und ganz auf Gegenseitigkeit.

Drei solche Tage.

Scheiße.

Das Zittern hatte ihn seit dem Abenteuer der vergangenen Nacht verschont. Sein Gehirn hatte ihm einen uncharakteristischen Aufschub gewährt, und er hatte nicht vor, diese Großzügigkeit zu missbrauchen. Seit seiner letzten Entgiftungspause vor einigen Monaten hatte er seine verkackte Suchtmittelroutine an die Belastungsgrenzen getrieben, und er wusste aus bitterer Erfahrung, dass es mehrerer Tage eremitenhafter Eintönigkeit bedurfte, um die verdichteten Schichten psychoaktiver Sedimente in seinem Schädel abzutragen. Sein Blut und sein Körper verlangten nach einer Pause, teils, um das Risiko einer Überdosis zu lindern, teils, um halbherzigen Protest gegen die Abhängigkeit auszudrücken; vorwiegend jedoch, um die Bedrohung, die von der stetig steigenden Toleranzgrenze ausging, zu verringern. Liefe alles gut, würden die Drogen nach der Entgiftung wieder ihre volle Wirkung entfalten, und die Krankheit – die Erinnerung, die Schuld, die Vergangenheit – konnte weggesperrt werden, wie es sich gehörte.

Die Kehrseite der Medaille bestand natürlich darin, dass all das Grauen während dieser Reinigungsintervalle aus seinem Käfig hervorschleichen und die Muskeln spielen lassen konnte. Shaper wusste nur allzu gut, dass er sich so harmlose Ablenkungen wie Vögel und Blödsinn im Fernsehen herbeisehnen würde, wenn es so weit wäre – vielleicht später an diesem Tag, vielleicht irgendwann am nächsten.

Er kapitulierte vor der Schlaflosigkeit und stand auf. Er tat so, als fühle er nicht, wie gerötet seine Züge sein mussten, und machte sich auf die Suche nach etwas Essbarem, solange seine Eingeweide noch funktionierten. Shaper wusste, dass sich das bevorstehende Elend nur ertragen ließ, indem er sich weigerte, die Wohnung zu verlassen – indem er mit einer geballten Ladung Untätigkeit und Einsamkeit gegen die Traumata anging. Deshalb hatte er die Schränke dermaßen mit Konserven vollgepackt, dass selbst der paranoideste Überlebensneurotiker vor Neid erblasst wäre. Ausschließlich schlichte, geschmacklose Kost.

Ein Blubbern ging durch seine Gedärme.

Wahrscheinlich gut so.

Dabei genoss er die Drogen gar nicht besonders. Im täglichen Gebrauch hatten sie wenig Entspannendes. Die seltenen Gelegenheiten, wenn die eine oder andere Wirkung hervorstach, beispielsweise als Anflug von Selbstvertrauen nach einer Ladung Speed oder als träger Augenblick der Selbstwahrnehmung nach einem Joint, empfand er eher als Warnhinweis denn als Quell des Genusses. Er interpretierte sie stattdessen als Zeichen dafür, dass er aus dem Gleichgewicht geraten war, dass die Wahnvorstellungen und Realitätsverzerrungen jeden Moment zurückkehren konnten und eine weitere Anpassung der Dosis erforderlich würde. Oder dass er, so wie jetzt, einen Urlaub von der ganzen verfluchten Geschichte brauchte und sich mit den Unbilden abfinden musste, die damit einhergingen.

Wie um ihn auf die Probe zu stellen – Mistkerle –, rasten draußen einige unnötig laute Sirenen vorbei und brachten seinen Schädel zum Pochen. Shaper ertappte sich dabei, dass er, ohne nachzudenken, die Hand nach dem Medikamentenordner ausstreckte. Mit finsterer Miene hielt er sich davon ab.

Je mehr du nimmst, desto weniger erreichst du damit.

Es war unfair.

Er schob den Ordner weg und sah sich nach einer anderen Beschäftigung um, nach etwas, womit er sich ablenken konnte, während sein Gehirn in den freien Fall überging.