»Eine außerordentliche Reise durch Musik, Exil und Landschaft.« (Edmund de Waal) —
Sophy Roberts‹ außergewöhnliche Spurensuche in die Vergangenheit und Gegenwart Sibiriens
Sibirien, das ist unerbittliche Kälte und enorme Weite. Sibirien, dieses Gefängnis
ohne Dach, ist aber ebenso von verblüffender Schönheit. Welch bedeutende Rolle ausgerechnet
hier Klaviere als Symbol europäischer Kultur spielen, zeigt die Britin Sophy Roberts
auf ihrer extravaganten Spurensuche. Dabei gelingt es ihr nicht nur, zahlreiche einst
berühmte Instrumente zwischen dem Ural und der Insel Sachalin ausfindig zu machen,
sondern auch ihre Geschichten zu rekonstruieren: von der Pianomanie der Zarenzeit
bis zur Leidenschaft des Lotsen der Aeroflot, von der sowjetischen Manufaktur »Roter
Oktober« bis zur jungen mongolischen Pianistin Odgorel, die in ihrer Jurte Bach spielt.
Sophy Roberts‹ Erkundungen führen tief in das Herz der Geschichte und erzählen uns
nicht weniger von der Gegenwart.
Sophy Roberts
Sibiriens vergessene Klaviere
Auf der Suche nach der Geschichte, die sie erzählen
Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer
Paul Zsolnay Verlag
Vorbemerkung
Teil Eins: Pianomanie
Teil Zwei: Zerrissene Saiten
Teil Drei: Wer weiß, wo
Epilog
Dank
Kurzer historischer Abriss
Ausgewählte Literatur
Anmerkungen
Bildnachweis
Quellenangaben
Register
Für John, Danny und Jack
Hat sich erst einmal eine bestimmte Vorstellung einer Landschaft, eines Mythos, einer Vision an einem tatsächlichen Ort festgesetzt, so hat sie eine eigentümliche Art, die Kategorien zu verwirren, Metaphern realer zu machen als ihre Referenz, wird tatsächlich Teil einer Szenerie.
Simon Schama, »Der Traum von der Wildnis«
Objekte sind immer herumgetragen, verkauft, getauscht, gestohlen, wiedergefunden und verloren worden. Menschen haben immer Geschenke gemacht. Es geht darum, wie man ihre Geschichte erzählt.
Edmund de Waal, »Der Hase mit den Bernsteinaugen«
Mein Klavier ist für mich, was dem Seemann seine Fregatte, dem Araber sein Pferd — mehr noch, es war ja bis jetzt mein Ich, meine Sprache, mein Leben — ihm hinterlasse ich alle meine Wünsche, meine Träume, meine Freuden und Leiden. Seine Saiten erbebten unter meinen Leidenschaften, und seine gefügigen Tasten haben jeder Laune gehorcht!
Franz Liszt, aus »Gazette Musicale de Paris«
Nimm den Zug von Moskau ostwärts, und das Scheppern von Eisen auf Schienen schlägt den Takt zum Rhythmus deiner Annäherung an das Uralgebirge. Diese Bergkette trennt das westliche Russland von Sibirien, steigt auf in Kasachstan und folgt einer beinahe direkten Linie durch Russland bis an das Nördliche Eismeer. Vorüber fährt der Zug an trägen Spuren von Kaminrauch, goldverzierten Kirchen und Schichten von Schnee, gestapelt wie Seidenballen, und der Rhythmus der Reise — die träge Gangart, die knirschenden Halte an öden Bahnsteigen, in zusammengekuschelten Städtchen — ist etwa so, wie frühe Reisende russische Züge in den damals modischen Eisenbahnskizzen aus Sibirien beschrieben hatten. Heutzutage allerdings sind Mitreisende spärlich; die meisten Russen fliegen nach und von Sibirien, statt die Eisenbahn zu nehmen.
Zur Zeit des letzten Zaren berichteten die Reisenden im symbolträchtigsten Zug des Landes — dem Train de luxe Siberien, der in beinahe gerader Linie von Moskau nach Wladiwostok an der russischen Pazifikküste fuhr — von beinahe überschwänglichem Luxus, von Passagierinnen, über und über mit Diamanten behängt, »die einem die Augen schmerzen machten«, von Musik auf einem Bechstein-Klavier. Die sibirische Eisenbahn war schwindelerregend ambitiös: »Von den Küsten des Pazifik und den Gipfeln des Himalaya aus wird Russland nicht nur die Angelegenheiten Asiens beherrschen, sondern auch jene Europas«, erklärte Sergei Witte, der Staatsmann und Ingenieur, unter dessen Ägide Ende des 19. Jahrhunderts die Bahnstrecke angelegt wurde. Neben den noblen Waggons für die Touristen gab es auch noch einen gutbesuchten, mahagonigetäfelten Speisewagen und eine Raucherlounge im chinesischen Stil; dem Zug präsidierte ein stark parfümierter, beleibter Schaffner mit rosaseidenem Taschentuch. Französisch sprechende Kellner eilten hin und her mit Rotwein von der Krim und Beluga-Kaviar, zwängten sich durch mit Spiegeln und Wandmalereien geschmückte Waggons, in denen es eine Bibliothek gab, eine Dunkelkammer, wo die Passagiere ihre Filme entwickeln konnten, und laut Annoncen, die Sibirien den Touristen anpriesen, einen Frisiersalon sowie einen Turnraum mit einem einfachen Zimmerfahrrad. Geträller kam aus dem Speisewagen, als wäre er ein Varieté, und das Klavier diente als Anrichte, auf dem die schmutzigen Teller gestapelt wurden.
Nirgendwo auf dieser langen eurasischen Zugreise fand sich, damals wie heute, ein Schild mit der Aufschrift »Willkommen in Sibirien«. Nur der von den Kartographen eingezeichnete dunkle Fleck, der das Uralgebirge anzeigte — eine Linie, die etwas vage Monumentales heraufbeschwört. In der Realität fühlt sich der Ural eher wie ein geographisches Hmmpf an, als wäre das Land irgendwie gelangweilt, die Berge präsentieren sich als Beulen und Höcker und verstreute Kuppen. Es gibt kein dramatisches Vorhangaufziehen am Rand Sibiriens, keine bedeutungsschwangere Schwelle zu einem besonderen Ort, nur schweres Wetter, das über einer abstrakten Vorstellung hängt.
Sibirien ist schwer festzumachen, seine losen Grenzen erlauben es allen Besuchern, ihm jegliche Gestalt zu geben, die ihnen beliebt. Der Einfachheit halber, um diese undeutlichen Grenzen irgendwie in eine Ordnung zu bringen, folgen hier ein paar Anmerkungen, die meine geographischen Parameter erklären. Die Breite Russlands wurde in den vor den Kapiteln eingefügten Karten zusammengequetscht und -gestaucht, damit das riesige Territorium auf eine Seite passt. Was es noch schwieriger macht, ist der Umstand, dass dieses Land, abgesehen von China, mehr internationale Grenzen hat als jedes andere. Ich liefere auch Erklärungen über Zeitzonen und Terminologie, die in Russland kompliziert sein kann. Falls meine Definitionen irgendwie simplifizierend sind, dann deshalb, weil ich keine Historikerin bin. Falls eurozentrisch, dann, weil ich Britin bin; jede Reise nach Sibirien ist eine, die ich von West nach Ost unternehme — kulturell, physisch, musikalisch. Dieses Buch — für den normalen Leser geschrieben, über eine Jagd, bei der es im sogenannten »Land des endlosen Geredes« manchmal mehr um das Suchen als um das Finden geht — ist ein persönliches, ein literarisches Abenteuer. Eingehendere wissenschaftliche Untersuchungen und weiterführende Literatur sind in den Quellenangaben und in einer Liste ausgewählter Literatur angeführt.
Mein Sibirien umfasst das gesamte Territorium östlich des Uralgebirges bis zum Pazifik; das ist das »Sibirien«, wie es auf den kaiserlich-russischen Landkarten bis in die Sowjetzeit definiert war. Es ist eine äußerst weit gefasste Interpretation Sibiriens, die auch den Hohen Norden und den Fernen Osten Russlands und zudem Gebiete einschließt, die im 18. und 19. Jahrhundert gewonnen und wieder verloren wurden. Ich entschuldige mich deshalb im Voraus in dem Wissen, dass ich mich nicht an die modernen Verwaltungsgrenzen oder an die vorherrschende politische Korrektheit gehalten habe, wer oder was sibirisch ist. Stattdessen folge ich Anton Tschechows Erklärung: »Die sibirische Ebene beginnt, so scheint es, direkt hinter Ekaterinburg und endet der Teufel weiß wo …«
Es gab drei bedeutende Revolutionen im Russland des frühen 20. Jahrhunderts. Die erste fand im Januar 1905 statt, nachdem Regierungssoldaten am später so genannten »Blutsonntag« das Feuer auf friedliche Demonstranten eröffnet hatten. Wladimir Iljitsch Uljanow, bekannt unter seinem Tarnnamen Lenin, und Leo Trotzki wurden die beiden Hauptarchitekten der zwei sozialistischen Revolutionen 1917 — der Februarrevolution und der Oktober- oder bolschewistischen Revolution. Falls nicht anders angegeben, nenne ich die Ereignisse von 1917 allgemein Russische Revolution.
Da in den letzten paar Jahrzehnten in Archiven Belege aufgetaucht sind, konnten die Historiker mehr belastbares Zahlenmaterial über die Verbannung nach Sibirien in der Zarenzeit und zur Zahl der Gefangenen in den Gulags1 zusammenstellen. Die verlässlichsten neueren Statistiken2, um das Ausmaß im Großen und Ganzen ermessen zu können, sehen so aus: Von 1801 bis 1917 wurden mehr als eine Million Untertanen im zaristischen Strafexilsystem nach Sibirien verbannt. Von 1929 bis 1953 starben 2.749.163 Zwangsarbeiter im sowjetischen Gulag.3 Es gibt noch viel mehr Zahlen und ein unfassbares Ausmaß an Leiden, doch ich werde kaum noch Statistiken über die Todesraten und die Zahl der Gefangenen anführen. Offizielle Angaben sind unverlässlich und andere Zahlenangaben nach wie vor grobe Schätzungen.
Mit dem Wort »Russland« bezeichne ich das Land vor dem Ende des Bürgerkriegs, der von 1918 bis 1922 dauerte, als die »Roten« (die Kommunisten) gegen die »Weißen« (Antikommunisten, einige Fraktionen hegten Sympathie für den Zaren) kämpften. UdSSR bezieht sich auf die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken oder Sowjetunion, gegründet 1922; sie umfasste das Gebiet Russlands und vierzehn Nachbarrepubliken. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR in der turbulenten Zeit des ökonomischen Umbaus, der sogenannten Perestroika, änderte Russland seinen Namen. Am 31. Dezember 1991 wurde es zur Russischen Föderation, die ich der Einfachheit halber zu Russland verkürze. Einen Überblick über diese politischen Umstürze sowie über Schlüsselmomente der sibirischen Geschichte bietet die kurze Chronologie am Ende des Buches.
Bis zum 31. Januar 1918 richtete sich die russische Zeitrechnung nach dem Julianischen Kalender (oder Kalender im alten Stil), der dem Gregorianischen Kalender elf bis dreizehn Tage nachhinkte. Ich verwende die alte Datierung für Ereignisse, die innerhalb Russlands vor der Revolution stattfanden, die neue für jene nachher.
Manchmal bin ich selbst asynchron. Obwohl dieses Buch aus Gründen des erzählerischen Zusammenhangs als fortlaufende Reise dargestellt ist, wurden meine diversen Recherchereisen nicht immer in dem zeitlichen Ablauf unternommen, wie er hier erscheint. Manchmal musste ich an einen Ort zurückkehren, um meine Recherchen zu vertiefen. Ich hatte es auch mit unzuverlässigen Hinweisen, schlechtem Wetter und unvorhersehbaren Kontrollen durch den russischen FSB zu tun, dem Inlandsgeheimdienst, direkter Nachfolger des KGB. Ich bereiste Sibirien meist im Winter, nicht im Sommer. Hauptgrund dafür war eine gefährliche allergische Reaktion auf die dortigen Mücken; sie sind so bösartig, wie die sibirische Legende, sie seien aus der Asche eines Kannibalen geboren, vermuten lässt.
Den Begriff »Großer Vaterländischer Krieg« gebrauchen viele Russen für die sowjetische Beteiligung am Zweiten Weltkrieg. Bei bekannten Personen habe ich die verbreitetste westliche Version ihrer Namen verwendet, keine Vatersnamen. Auch die im Russischen übliche weibliche Form des Familiennamens habe ich nicht gebraucht. Nikolaus II. ist der Name, unter dem die meisten Leserinnen und Leser den letzten Zaren kennen werden. Die anderen Nikolais, die ich getroffen habe, auch die Andreis, Marias und Kostjas, habe ich nicht anglisiert. Ich mag den Klang ihres Russentums, obwohl das idiosynkratische Entscheidungen sind. (In der deutschen Übersetzung wurde die Umschrift laut Duden verwendet; Anm. d. Ü.)
Bei allen Interviews habe ich auf die Hilfe von Übersetzerinnen zurückgegriffen, die nach dem Ratschlag des ungarischen Komponisten Franz Liszt über die Transkription von Orchesterwerken für Klavier so nahe wie möglich am Geist des Gesagten geblieben sind: »Was Übertragungen betrifft, so gibt es einige Genauigkeiten, die der Untreue gleichwertig sind.« Viele meiner Interviews wurden digital aufgenommen. Originale direkte Zitate wurden nach den Quellen überprüft und manchmal leicht verändert, um das Gemeinte deutlicher herauszuarbeiten.
Auf eine Übersetzerin habe ich mich mehr gestützt als auf alle anderen: Elena Wojtenko, deren Standhaftigkeit mir durch so manches sibirische schwarze Loch geholfen hat. Auf etlichen Reisen durch Russland wurde ich zudem von dem amerikanischen Fotografen Michael Turek begleitet. Ich nahm die unterschiedlichsten lokalen Führer in Anspruch, von Musiklehrern bis zu Bergrettern. Ich reiste spontan, wo immer mich eine Spur hinführte, per Flugzeug, Eisenbahn, Hubschrauber, Schneemobil, Rentier, Amphibienfahrzeug, Schiff, Tragflügelboot und Taxi. Ich war auch per Anhalter mit Öl- und Gasarbeitern unterwegs. Falsche Hinweise machten ein gewisses Maß an Umwegen nötig, das war ein weiterer Grund für neuerliche Besuche.
Die sibirische Region Altai (Hauptstadt Barnaul) grenzt an die Autonome Republik Altai (Hauptstadt Gorno-Altaisk); Letztere ist abgelegener und gebirgig. Der Einfachheit halber benutze ich den Ausdruck Altai für beide. Ich habe mich an die modernen russischen Ortsnamen gehalten (seit 1991 haben die Städte meist wieder die Namen aus der Zeit vor der Revolution angenommen). Ich beziehe mich auf St. Petersburg mit seinem gegenwärtigen Namen ebenso wie Petrograd (von 1914 bis 1924) und Leningrad (seit Lenins Tod bis zum Ende der Sowjetunion 1991). Auch hier ist meine Entscheidung idiosynkratisch. Die Ereignisse, die sich während der Belagerung von 1941 bis 1944 dort zutrugen, waren so monumental, dass sich der Name schwer von spezifischen historischen Umständen trennen lässt. Für Nowo Nikolajewsk, jetzt als Nowosibirsk bekannt, gilt das weniger. Bevor ich dieses Buch begann, hatte ich weder von dem einen noch von dem anderen gehört.
Teil Eins
1762 bis 1917
Liszt. Es ist erst Mittag. Wohin fahren jene glänzenden Kutschen, die zu dieser ungewöhnlichen Stunde mit solcher Geschwindigkeit aus jeder Richtung herbeisausen? Vielleicht zu irgendeiner Festlichkeit? Mitnichten. Doch was ist der Grund für solche Eile? Eine ganz kleine Notiz, kurz und schlicht. Und das steht darin: Ein Virtuose gibt bekannt, dass er an einem bestimmten Tage um zwei Uhr im Saal des Gebäudes der Adelsversammlung auf seinem Klavier spielen wird, ohne Begleitung des Orchesters, ohne das übliche Gepränge eines Konzerts … fünf oder sechs Piècen. Als sie diese Nachricht vernahm, herrschte Aufruhr in der ganzen Stadt. Seht! Eine ungeheure Menge strömt zusammen, die Leute drängen sich, rempeln einander mit den Ellbogen, treten ein.
»Journal de St-Pétersbourg«, August 1842
1
Ich war noch nicht lange in Sibirien unterwegs gewesen, als mir ein in Kamtschatka, einer abgelegenen Halbinsel, die aus dem östlichen Rand Russlands in den Nebel des Nordpazifik vorstößt, lebender Musiker eine Fotografie schickte. Auf dem Bild ragen Vulkane aus der Ebene, die Buckel und Höhlungen von einem A-förmigen Kegel beherrscht. In kleinen Gruben in der Landschaft hält sich noch Eis. Im Vordergrund steht ein Klavier. Der Fokus liegt auf der Musik, sie hat Publikum angelockt, zehn Personen.
Zu Füßen des Pianisten kauert ein junger Mann in einem amerikanischen Eishockeyshirt. Sein Gesicht ist von der Kamera abgewandt, und so ist es schwer zu sagen, was er denkt, ob er die Musik des Klavierspielers fesselnd findet oder die Seltsamkeit des Ortes, an dem das Instrument aufgetaucht ist. Der junge Mann lauscht, als gehöre er zu einer vertrauten Gruppe, die sich um ein Klavier in einem Salon geschart hat, ein Szene, die wie ein Motiv aus einem russischen Roman des 19. Jahrhunderts aufleuchtet, statt um ein gewöhnliches, in einem Lavafeld in einer der wüstesten Landschaften der Erde gestrandetes Pianino. Es gibt keinen Begleitdialog zu der Fotografie, keine aufblühende Romanze, wie es bei Instrumenten in Tolstois epischen Romanen der Fall ist. Und keine Erklärung dafür, wie oder warum das Klavier überhaupt hier gelandet ist. Das Bild kam ohne Erwähnung dessen, was gespielt wird, Musik, die das Bild ohnehin nicht einfangen kann. Doch alle möglichen Intonationen liegen in dem Wort »Sibirien«, das in der Betreff-Zeile der E-Mail steht.
Sibirien. Das Wort lässt alles, mit dem es in Berührung kommt, auf einer anderen Tonhöhe vibrieren. Die frühen arabischen Händler nannten Sibirien Ibis-Schibir, Sibir-i-Abir und Abir-i-Sabir. Die moderne Etymologie vermutet, die Wurzel liege im tatarischen Wort sibir, was »schlafendes Land« bedeutet. Andere vertreten die These, Sibirien stamme vom mythischen Berg Sumbyr aus der sibirischen und Turkvölker-Mythologie. Sumbyr, wie Schlummer. Oder Wissibur, Flüstern, der Name, den der bayerische Reisende Johann Schiltberger diesem rätselhaften leeren Fleck in der Kartographie des 15. Jahrhunderts gab. Wie immer die Herkunft des Wortes sein mag, der Klang ist passend. Sibirien rollt von der Zunge mit einem zischenden Frösteln. Es ist ein Wort voller Poesie und alliterativer Anspielung. Aber durch die Andeutung von Schlaf wird die Etymologie der realen wie imaginierten Kraft Sibiriens nicht gerecht.
Sibirien ist viel bedeutsamer als eine bloße Region auf der Landkarte. Es ist ein Gefühl, das haften bleibt wie eine Klette, eine Temperatur, das Geräusch schläfriger Flocken, die auf Schneekissen sinken, und das Knirschen von hinten kommender unregelmäßiger Schritte. Sibirien ist ein Problem der Garderobe — zu kalt im Winter, zu heiß im Sommer —, mit hölzernen Hütten und Rauchfängen, die leichengrauen Rauch in den weiten weißen Himmel rülpsen. Es ist Melancholie, eine in klaren Mondschein getauchte Kinoromanze, gemächliche Zugfahrten, mit Sackleinen umwickelte Rohrleitungen und eine an quietschenden Ketten hängende zerbrochene Schaukel. Man kann Sibirien in den großen, weichen Akkorden der russischen Musik hören, die das Schweigen des Waldes heraufbeschwören und die Schneewogen des Winters.
Sibirien, das ein Elftel der Landmasse der Erde bedeckt, wird im Norden vom Nördlichen Eismeer und im Süden von der mongolischen Steppe begrenzt. Der Ural markiert die Westgrenze, der Pazifik die östliche. Es ist das ultimative Land jenseits des »Großen Steins«, wie man den Ural früher genannt hat, ein ungeschriebenes Register der Vermissten und der Entwurzelten, ein Beinahe-Land, in der Wahrnehmung so weit weg von Moskau, dass sich sogar noch nach 1908, als im berühmten »Tunguska-Ereignis« eine Art herabstürzender Stern eine Waldfläche von der doppelten Größe der russischen Hauptstadt zerstörte, zwanzig Jahre lang niemand die Mühe einer Nachforschung machte. Bevor Flugreisen die Entfernungen verkürzten, war Sibirien zu entlegen, als dass irgendjemand Nachschau gehalten hätte.
So erwies sich die sibirische Wildnis also im 17. Jahrhundert als ideal, um Verbrecher, Abweichler und »Unerwünschte« dorthin abzuschieben; damals begannen die Zaren Sibirien in die gefürchtetste Strafkolonie der Welt umzugestalten. Manchen Verbannten wurden die Nasenflügel aufgeschlitzt, um sie als Ausgestoßene zu brandmarken. Anderen schnitt man die Zunge heraus. Die Hälfte ihres Kopfes wurde geschoren, darunter kam glatte, blaugetönte Haut zum Vorschein. Unter ihnen waren gewöhnliche, unschuldige Menschen, die man auf der europäischen Seite des Ural »Sträflinge« nannte, in Sibirien »Unglückliche«. Daher der Brauch bei anderen Verbannten, Brot auf das Fensterbrett zu legen, um heruntergekommenen Neuankömmlingen zu helfen. Empathie, so scheint es, wurde von Anfang an in die sibirische Psyche eingebrannt, und diese kleinen Handlungen der Güte konnten in einem unvorstellbar riesigen Reich den Unterschied bedeuten zwischen Leben und Tod. Die Riesenhaftigkeit Sibiriens ist auch ein Zeugnis für unsere menschliche Fähigkeit zur Gleichgültigkeit. Wir können uns nur schwer mit Orten identifizieren, die zu entlegen sind. Das ist es, was angesichts grenzenloser Dimensionen geschieht. Sie lassen einen schwindeln, bis es schwer ist, Wahrheit von Fakten zu unterscheiden, ob nun Sibirien ein Albtraum ist oder ein Mythos voller undurchdringlicher Wälder und grenzenloser Ebenen, die mörderischen Weiten durchsetzt von knarzenden Ölbohrtürmen und durchhängenden Drähten. Sibirien ist das alles und noch mehr.
Es ist ein modernes Wirtschaftswunder mit natürlichen Öl- und Gasreserven, die heftige Verwerfungen in die Geopolitik des nördlichen Asien und des Eismeers bringen. Es ist der Geschmack wilder Erdbeeren, süß wie Zuckerwürfel, und in Marmelade gedünsteter winziger Fichtenzapfen. Es ist hausgemachte Hecht-Pilz-Pastete, saubere Luft und reine Natur, das scharfe Klatschen der Wellen am Baikalsee, Winterlicht, gesprenkelt mit pulvrigem Eis. Es ist ein Land, durchzogen von Schichten einer reichen Geschichte einheimischer Kultur, in der immer noch eine Art magisches Glaubenssystem vorherrscht. Trotz der weitverbreiteten ökologischen Zerstörung, darunter »schwarzer Schnee« vom Kohleabbau, toxische Seen und Waldbrände, aus denen Rauchwolken aufsteigen, größer als das Gebiet der Europäischen Union, überzeugt einen die üppige sibirische Natur, immer noch an alle möglichen Petroglyphen und in Höhlen geritzte Mysterien zu glauben. Aber die untergründige Geschichte Sibiriens lässt auch erkennen, wie kurz angesichts der rauen tektonischen Dimension der Landschaft unsere Menschengeschichte ist.
In der Mitte Sibiriens verläuft eine geologische Bruchlinie, der Baikal-Graben, senkrecht durch Russland bis hinauf zum Nördlichen Eismeer. Jedes Jahr bewegen sich die Ufer des Baikalsees — des tiefsten Sees der Erde, der ein Fünftel des weltweiten Süßwasservorrats enthält — zwei Zentimeter auseinander; der See birgt die kinetische Energie einer riesigen, kurz vor dem Zerbersten stehenden lebendigen Landschaft. Es ist geduckte Gewalt, eine zunehmende Anspannung, eine Kraft, die direkt unter dem Sichtbaren hockt. Die schwarze Iris des »Heiligen Sees« Russlands weitet sich, der Spalt ist so bedeutend, dass, wenn dieses Auge irgendwann in ferner Zukunft zwinkert, der Baikalsee die Linie markieren könnte, wo sich die eurasische Landmasse in einer kataklysmischen Spaltung in zwei Teile trennt: Europa auf der einen Seite, Asien auf der anderen. Und vor allem unterstreicht die Großartigkeit des Baikalsees die Verwundbarkeit des Menschen. Unter der winterlichen Schneedecke des Sees liegt ein Mosaik von Eistafeln, und jede brüchige Ader dient als Erinnerung daran, dass die Seeoberfläche jeden Moment nachgeben könnte. Sprünge im Eis sehen aus wie die Oberfläche eines zerborstenen Spiegels. Andere Spalten reichen tiefer hinunter, wie im wässrigen Blau hängende Diamanthalsketten. Das Eis täuscht einen mit seiner Festigkeit, wo doch der Baikalsee in Wahrheit tödlich sein kann. Man sehe sich nur an, wie er die Ertrunkenen verschlingt. Im Baikalsee lebt ein winziges Krustentier, kleiner als ein Apfelkern, mit atemberaubendem Appetit. Diese gierigen Kreaturen sind der Grund dafür, warum das Wasser des Sees so klar ist: Sie filtern bis zu dreimal im Jahr die oberste, fünfzig Meter tiefe Schicht — eine weitere sonderbare endemische Abweichung, so wie die glotzäugigen Baikalrobben, geformt wie ein Rugbyball, deren Vorfahren etwa zwei Millionen Jahre zuvor im See festsaßen, als die Kontinentalplatten ihre letzte große Verschiebung erfuhren. Entweder ist das so abgelaufen, oder die Nerpa genannten Robben sind eine Fortentwicklung der Ringelrobben, die von der Arktis in das Flusssystem Sibiriens hinunterschwammen und dann dort festsaßen — wie so viele in Sibirien konnten sie nicht mehr in ihre Heimat zurück und mussten aufs Neue das Überleben lernen.
Denn Sibirien kommt nicht zur Ruhe. Seine Ressourcen stehen unter enormem Druck durch eine gefräßige Ökonomie. Auch der Klimawandel trifft Sibirien hart. Im hohen Norden schmilzt der Permafrost. Mehr als die Hälfte Russlands balanciert auf dieser instabilen Schicht aus gefrorenem Boden, und Sibiriens Labilität zeigt sich in Rissen, die durch verlassene Gebäude schneiden, und riesigen Pfropfen Tundra, die ohne warnendes Ächzen einbrechen. Methanblasen bilden sich, platzen auf und sacken dann wie Soufflés in sich zusammen. Aber niemand nimmt davon Notiz — darunter Russen, die nie hier waren, deren Lebensqualität aber Sibiriens Reichtum etwas verdankt —, denn trotz des modernen Luftverkehrs leben Sibirier in Städten, wo man das europäische Russland immer noch »das Festland« nennt. Genauso gut könnten sie auf Inseln gestrandet sein. Man nehme Kolyma im fernen Nordosten Russlands, am Rand einer eisigen Sackgasse aus Wasser, des Ochotskischen Meers. Diese schaurige Region, wo sich einige der schrecklichsten Zwangsarbeitslager oder Gulags des 20. Jahrhunderts befanden, konnte außer auf dem Luft- oder Wasserweg nicht erreicht werden. Selbst heute noch sind die 1900 Kilometer Autobahn, die Kolyma mit Jakutsk, einer der kältesten Städte der Erde, verbinden, oft unpassierbar. In seinem erbarmungslosen Bericht über die Geschehnisse in den Lagern ist also Alexander Solschenizyns Wortwahl — Der Archipel Gulag — auf Fakten begründet, auch wenn die Worte zudem immenses metaphorisches Gewicht besitzen.
Der auf das gesamte Russland, nicht nur auf Sibirien verteilte Gulag unterschied sich vom zaristischen Exilsystem vor der Revolution von 1917, auch wenn die beiden oft verwechselt werden. Unter den Zaren konnten Menschen mit fortwährender Verbannung nach Sibirien, aber auch mit Zwangsarbeit bestraft werden. Im Gulag lag die Betonung auf Zwangsarbeit, verbunden mit eigenartigen Methoden der »Kulturerziehung«. War die Strafe verbüßt (falls man sie überlebte), konnte man normalerweise nachhause zurückkehren, es gab allerdings Ausnahmen. Gemeinsam war den beiden Systemen ein großes Ausmaß an Brutalität, eigenartig, wenn man bedenkt, dass das zaristische Exilsystem Sibirien zu einer gewaltigen Brutstätte für revolutionäres Gedankengut gemacht hatte. Trotzki, Lenin, Stalin, sie alle verbrachten vor der Revolution als aus politischen Gründen Verbannte einige Zeit in Sibirien. Ebenso einige der größten russischen Schriftsteller, etwa Fjodor Dostojewski: Er beschrieb an die Gefängnismauern gekettete Sträflinge, die bis zu zehn Jahre lang nur einen Bewegungsspielraum von etwa zwei Metern hatten. »Hier war eine eigene Welt, die keiner anderen ähnlich sah«, schrieb Dostojewski, »ein Haus für lebende Tote.«
Doch unter dem Zauberbann des Winters verflüchtigen sich auch Erzählungen über die Geschichte der Unterdrückung durch den Staat. Die sommerlichen Sümpfe Sibiriens verwandeln sich in frostige Spitzendeckchen und Fichtennadeln in Halskrausen aus flämischer Spitze. Der Schnee bestäubt und verhüllt den Erdboden, dreht sich in Dunstwirbeln, wenn der Wind auf die Erdoberfläche trifft, und verbirgt die Knochen nicht nur von Russen, sondern auch von Italienern, Franzosen, Spaniern, Polen, Schweden und vielen anderen, die an diesem Ort des Exils zugrunde gingen und in namenlosen Gräbern liegen. In Sibirien fühlt sich alles mehrdeutig an, sogar finster ironisch angesichts der Worte, die verwendet wurden, um seine Extreme zu benennen. Bei den Gefangenen des 19. Jahrhunderts hießen die Fesseln »Musik«, wahrscheinlich wegen des Kettengeklirrs der Verbannten. In Solschenizyns Archipel Gulag bedeutete »Klavierspielen« das Abnehmen der Fingerabdrücke bei der Ankunft im Lager.
Aber Sibirien hat noch eine andere Geschichte zu erzählen. Im ganzen Land verstreut finden sich Klaviere, wie das bescheidene Pianino aus sowjetischer Produktion auf dem Foto vom Lavafeld in Kamtschatka, und ein paar importierte moderne. Es gibt eine Menge schöner Flügel in einer bitterkalten Stadt namens Mirny, einer sowjetischen Ansiedlung aus den 1950er Jahren, reich geworden durch den größten Diamantentagbau der Welt, und mehr als fünfzig Steinways in einer Schule für begabte Kinder in Chanty-Mansijsk, im Herzen der westsibirischen Ölfelder. Solche Extravaganzen allerdings sind rar. Bemerkenswerter sind die Flügel aus der Zeit der Hochblüte der Pianomanie im 19. Jahrhundert. Verlorene Symbole der westlichen Kultur in einem asiatischen Reich, kamen diese Instrumente nach Sibirien und trugen die Melodien aus den Musiksalons Europas weit fort vom kulturellen Kontext ihrer Geburt. Wie solche Instrumente überhaupt in diese verschneite Wildnis kamen, das sind Geschichten über die innere Stärke von Gouverneuren, Verbannten und Abenteurern. Dass sie überlebt haben, ist Zeugnis des Bedürfnisses nach Trost im menschlichen Geist. »Es gäbe wahrhaft Grund, verrückt zu werden, gäbe es nicht die Musik«, sagte der russische Pianist und Komponist Pjotr Iljitsch Tschaikowsky.
Die Beziehung Russlands zum Klavier begann unter Katharina der Großen, der im 18. Jahrhundert regierenden Kaiserin mit einer Sammelleidenschaft für neue Technologien, von Musikinstrumenten bis zu einer Automatenuhr, die aus drei lebensgroßen Vögeln bestand: einer Eule, die den Kopf dreht, einem Pfau, der sein Rad schlägt (man kann beinahe sehen, wie sich die Brust unter einem Atemzug hebt), und einem Hahn, der jede Stunde kräht.1 Katharina hatte auch das am Westen orientierte Vermächtnis Peters des Großen übernommen, dessen Gründung von St. Petersburg im Jahr 1703 »ein Fenster nach Europa« auftat. Sechzehn Jahre nach Peters Tod kam Zarin Elisabeth, eine weitere Modernisiererin, die mit ihrer Liebe zur italienischen Oper ein musikalisches Goldenes Zeitalter einleitete. Elisabeths exorbitante Ausgaben für italienische Tenöre und französische Operntruppen wirkten sich auf den Musikgeschmack der Oberschicht aus, ein Trend, der nach 1762 weiterwirkte, als Katharina Zarin wurde und Elisabeths Einfluss und ihr großzügiges Mäzenatentum noch ausbaute. Die europäische Kultur erlebte in St. Petersburg eine Blüte, auch wenn die zugrunde liegenden Ideen, die im westlichen Europa an die Oberfläche kamen — etwa in den Büchern Jean-Jacques Rousseaus, jenes Philosophen, dessen Theorien über die Suche nach individueller Freiheit und die naturgegebene Gleichheit der Menschen eine ganze Generation von Romantikern inspirierten —, am russischen Hof keinen Platz fanden.
Während sich in Frankreich die Revolution zusammenbraute, blieb Katharina vollkommen taub gegenüber Kritik am russischen Unterdrückungssystem der Leibeigenschaft, das eine solch bedeutende Quelle des kaiserlichen Reichtums war. In Leibeigenschaft geborene russische Männer, Frauen und deren Kinder waren nicht nur Lehensleute, die die Felder bearbeiteten, sondern wurden auch als Sänger und Tänzer ausgebildet, um die Trübsal auf den Landsitzen zu vertreiben. Mit der Entwicklung der Instrumentalmusik wurden Orchester aus Leibeigenen ein genuin russisches Phänomen; ein bekannter Musikfanatiker zu Katharinas Zeiten etwa wies seine gesamte Dienerschaft an, sich nur singend an ihn zu wenden. Andere wurden zum Musikstudium ins Ausland geschickt, eine Mode, die sich bis ins 19. Jahrhundert hinein fortsetzte. Als zwei dieser Leibeigenen-Musiker 1809 zu ihrem Unglück von ihrer Ausbildung in Leipzig nach Russland zurückberufen wurden, nahmen sie Rache. Sie ermordeten ihren Herrn in seinem Schlafzimmer und zerhackten ihn in Stücke. In Leipzig hatten sie nicht nur schöne Musik gehört; sie hatten auch von der Freiheit gekostet.
Die Strafe war Sibirien, wohin unglückselige Leibeigene routinemäßig ohne Prozess schon für weit geringere Vergehen — von Aufmüpfigkeit bis Tabakschnupfen — verbannt wurden. Nachdem der Dissident Alexander Radischtschew in seinem Buch Reise von St. Petersburg nach Moskau (1790) die Schrecknisse des russischen Systems feudaler Sklaverei beschrieben hatte, zog Katharina die Daumenschrauben noch fester an.2 Sie verbannte ihren prominentesten Kritiker in die Strafkolonie Sibirien, deren barbarische Dimension rasch zunahm. Als Österreich, Preußen und Russland Polen und die später sogenannten Westprovinzen — eine Region, die grob gesprochen Litauen, die Ukraine und Weißrussland umfasste — aufzuteilen begannen, sickerten in Sibirien allmählich gebildete polnische Rebellen ein.3 Über ihr Schicksal als Verbannte wachten Katharinas Gouverneure, von denen einige Tasteninstrumente an die Orte im russischen Hinterland mitnahmen, wohin sie versetzt worden waren.
Es war eine Zeit, als die Technologie des Instruments noch im Entwicklungsstadium war, als sogar die Namen von Tasteninstrumenten ein Identitätsproblem verrieten. Das deutsche Wort »Klavier« bezeichnete manchmal ein Cembalo, ein Spinett, ein Virginal oder ein Clavichord. Das Wort »Clavichord«, korrekt verwendet, meinte ein Instrument, bei dem wie beim Klavier Hämmer Saiten anschlagen (beim Cembalo hingegen zupft ein Plektron die Saiten). Manchmal als »Tasteninstrument des armen Mannes« bezeichnet, war es ein Instrument, das auf die Finger des Spielers reagierte, ihre vibrierenden, einfühlsamen Pausen und gefühlvollen Intentionen: »Kurz gesagt, das Clavichord war das erste Tasteninstrument mit einer Seele.« Verwirrenderweise allerdings bedeutete das Wort »Clavichord« manchmal auch ein »Fortepiano«, das »Laut-leise«-Instrument, das vom italienischen Instrumentenbauer Bartolomeo Cristofori um die Wende zum 18. Jahrhundert für die Medici entwickelt worden war. Was Cristoforis Erfindung bahnbrechend machte, war nicht nur (anders als bei der Orgel) die relativ leichte Transportierbarkeit: Bessere Dynamik und musikalischer Ausdruck schufen die Illusion, es befinde sich ein ganzes Orchester im Raum.
»Bis um 1770 waren Klaviere mehrdeutige Instrumente, vorläufig in der Konstruktion und unsicher im Status«, schreibt einer der wichtigsten Historiker des Klaviers im 20. Jahrhundert. Katharinas hochgeschätztes Tafelklavier oder piano anglais ist das perfekte Beispiel dieses evolutionären Fortgangs. 1774, als das Klavier allmählich populär zu werden begann, bestellte die Kaiserin dieses neumodische Tasteninstrument aus England, hergestellt vom ersten Klavierbauer Londons, einem deutschen Zuwanderer namens Johann Zumpe. Es war das Instrument du jour, das jedermann besaß, von Katharinas großem Freund, dem französischen Philosophen und Lexikographen Denis Diderot, in dessen Encyclopédie das Spiel auf einem Tasteninstrument zur maßgeblichen Fertigkeit bei der Erziehung moderner Frauen erklärt wurde, bis zu Angehörigen der englischen Königsfamilie. Binnen zehn Jahren nach seiner Erfindung wurden in England, Frankreich, Deutschland und Amerika Versionen dieses Instruments hergestellt. Laut einem zeitgenössischen britischen Komponisten konnte Zumpe seine Instrumente gar nicht rasch genug produzieren, um den Bedarf zu befriedigen.
Katharinas piano anglais von 1774 mit seiner dekorativen Einlegearbeit, so hübsch wie ein Fabergé-Ei, steht heute hinter einer roten Absperrkordel in Pawlowsk, einem zaristischen Lustschloss aus dem 18. Jahrhundert, eines der bedeutendsten Zentren des Musiklebens außerhalb von St. Petersburg. Es ist neben einer Toilettengarnitur aus Sèvres-Porzellan ausgestellt, die der russischen Kaiserfamilie von Marie Antoinette zum Geschenk gemacht wurde. Das Zumpe, damals eine Neuheit, besitzt eine gewisse Lieblichkeit, wenn darauf ein langsames Adagio gespielt wird, doch es zeigt auch ein älteres, höfischeres Näseln und einen blechernen Tastenanschlag. Erst als die Mechanik der Hämmer einen kraftvolleren Anschlag erlaubte, dickere Saiten stärker gespannt und die Pedale vervollkommnet wurden, um eine noch bessere Differenzierung zwischen laut und leise zu ermöglichen, erweiterte sich das Potenzial zu dem Instrument, wie wir es heute kennen. Diese nächste dramatische Phase in der Klaviertechnologie, die in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ihre Hochblüte erlebte, brachte das Instrument in Konzertsäle in ganz Europa, da die robustere Mechanik nun besser an das Temperament der Virtuosen angepasst war. 1821 ließ die französische Klavierfabrik Erard die »doppelte Repetition« patentieren, eine Mechanik, die eine schnellere Wiederholung einer Note erlaubte, ohne dass die Taste losgelassen werden musste. Nun begann sich auch das Klavier weiter zu verbreiten, hinaus aus dem kaiserlichen Hof und in die russische Gesellschaft ganz allgemein, ein Trend, den James Holman miterlebte, ein blinder Engländer, der 1823 Sibirien bereiste, aus keinem anderen Grund, wie es scheint, als um sich mit einer Reihe Anekdoten zu versorgen, die er dann in den Salons wiedergeben konnte. In seinem Bericht schrieb er: »Eine Dame meiner Bekanntschaft hatte an diesen Ort ihr liebstes Piano-forte aus St. Petersburg am Boden ihres Schlittens mitgeführt, und das, ohne dass selbiges auch nur den geringsten Schaden nahm.«
Brutal. Kalt. Aufregend schön. Dass an einem so abgründig rätselhaften Ort wie Sibirien noch immer edle Instrumente existieren, ist bemerkenswert. Es wird nichts weniger als ein Wunder, wenn man erfährt, dass nicht nur Katharinas Zumpe-Tafelklavier von 1774 im 20. Jahrhundert einen kriegsbedingten Aufenthalt in der russischen Terra incognita überlebte, sondern auch andere historische Klaviere in verschlafenen sibirischen Dörfern nach wie vor Musik erzeugen. Wo Holzhäuschen sich der Wärme wegen zusammenzukuscheln scheinen, dort wurden von der Flutlinie der europäischen Romantik des 19. Jahrhunderts Klaviere angeschwemmt und zurückgelassen. Es war eine der wichtigsten Zeiten für die Popularisierung des Klaviers, damals, als eine neue Art Virtuose sein überzeugendster Befürworter wurde.
Bald nach seiner Ankunft in Russland im Jahr 1802 konnte der irische Pianist John Field — der Erfinder der Nocturne, eines kurzen, träumerischen Liebeslieds für das Klavier — in den Salons von Moskau und St. Petersburg als ausübender Künstler wie als Lehrer jeden Preis verlangen. Field hat sozusagen den ersten Ton im russischen Klavierkult angeschlagen, doch es war der Ruhm des ungarischen Pianisten Franz Liszt, der in den 1840er Jahren die Liebe der Russen zu diesem Instrument in ein Fieber verwandelte.
Frauen haschten nach Strähnen von Liszts legendärem kinnlang geschnittenen Haar, um sie in Medaillons am Herzen zu tragen. Bewunderer stritten sich um seine seidenen Taschentücher, Kaffeereste (die sie in Ampullen mit sich trugen) und Zigarettenstummel. Mädchen fertigten sich Armbänder aus den Klaviersaiten, die er zum Zerreißen gebracht hatte, und Amulette aus von ihm ausgespuckten Kirschkernen. In Wien, einer der großen Hauptstädte der europäischen Musik, verkauften Konditoren Kekse in Klavierform, auf denen in Zuckerguss sein Name stand. Als Liszt im Frühjahr 1842 aus Berlin nach Russland abreiste, wurde seine Equipage von sechs weißen Pferden gezogen, gefolgt von einer Prozession aus dreißig Kutschen. Und als er im April in St. Petersburg spielte, lockte der berüchtigte »Klavierzertrümmerer« — ein Ruf, den er sich durch die demolierten Instrumente erworben hatte, die er zurückließ — das größte Publikum an, das St. Petersburg bei einem solchen Anlass je erlebt hatte.
Liszt sprang mehr auf die Bühne, als über die Stufen hinaufzusteigen. Er schleuderte seine weißen Ziegenlederhandschuhe zu Boden, verbeugte sich dann tief vor dem Publikum, das von Stillschweigen zu donnerndem Applaus taumelte, der Saal bebte vor Bewunderung, während er zuerst auf einem, dann auf einem anderen, in die Gegenrichtung aufgestellten Klavier spielte. Bei einem Auftritt vor der Zarin in Preußen zwei Jahre zuvor hatte Liszt auf seinem gemarterten Klavier eine Saite nach der anderen zum Zerreißen gebracht. In St. Petersburg war sein Vortrag erfolgreicher, eine spektakuläre Demonstration des Tonumfangs des Instruments, plätschernde Noten in mit wilder Schönheit erfüllte Musik gehämmert. Als John Field ihn spielen hörte, beugte er sich angeblich zu seinem Begleiter und fragte: »Beißt er?« Liszt galt als »Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Klaviers«, schrieb ein Zeitgenosse, sein Solovortrag vor einer Menge von dreitausend Russen war »etwas Unerhörtes, vollkommen neuartig, sogar irgendwie dreist … dieser Einfall, in der Mitte des Saals eine Bühne aufbauen zu lassen, wie ein Inselchen inmitten des Ozeans, einen Thron hoch über den Köpfen der Menge«, so ein anderer. Liszts Talent konnte laut Wladimir Stassow, einem russischen Kritiker, der ihn bei seinem Debüt in St. Petersburg spielen hörte, eine musikalische Raserei entzünden. Stassow war mit seinem Freund Alexander Serow, ebenfalls Kritiker, hingegangen, der schrieb:
Wir wechselten bloß einige Worte und eilten dann nachhause, um einander so rasch wie möglich unsere Eindrücke, unsere Träume, unsere Ekstasen mitzuteilen … Zur selbigen Stunde legten wir ein Gelübde ab, dass dieser Tag, der 8. April 1842, uns heilig sein und wir keine Sekunde davon vergessen würden bis zum Tag unseres Todes. … Nie in unserem Leben hatten wir Derartiges gehört, niemals waren wir eines solch brillanten, leidenschaftlichen, dämonischen Temperaments ansichtig geworden, das im einen Augenblick raste wie ein Wirbelwind, im anderen Kaskaden von zarter Schönheit und Anmut hervorquellen ließ.
Liszts Russland-Tournee hatte bedeutende Auswirkungen auf die sich verändernde Musikkultur des Landes; nicht zuletzt diente sie als Anschub für die nun aufblühende Klavierbauindustrie, da er in einem wichtigen Jahr für die Musik auf einem in St. Petersburg gebauten Lichtenthal-Klavier spielte. 1842 fand die Uraufführung von Michail Glinkas Ruslan und Ludmilla statt, die wegen ihres nationalen Gepräges und ihrer Melodien als erste wahrhaft »russische« Oper galt. Liszt, der eine große Zuneigung zur russischen Volksmusik entwickelte, fand die Oper wunderbar.
Glinkas Oper war einflussreich; dennoch waren es nach wie vor das Klavier und das Glamouröse am Virtuosen, welche die Aristokratie in ihren Bann zogen, und nun, da die Instrumente keine technische Neuheit mehr waren, gingen sie reißend weg. »Ein Klavier oder irgendeine Art Kasten mit Tastatur findet man überall«, hieß es in einer Zeitung um die Mitte des Jahrhunderts. »Befinden sich in einem Gebäude in St. Petersburg hundert Wohnungen, dann kann man 93 Instrumente und einen Klavierstimmer erwarten.« Dasselbe galt für ganz Europa. 1842 war der in London beheimatete Klavierhersteller Broadwood & Sons einer der zwölf größten Arbeitgeber der Stadt. Reisende auf der Grand Tour — junge Männer der Oberschicht, die beim Übergang zum Erwachsenwerden Europas Kultur erkundeten — konnten im Ausland nicht ohne Klavier existieren. Laut einem abgegriffenen Reiseführer, Wie man 1842 Paris genießt, wollten die meisten englischen Familien, die für einen längeren Aufenthalt in die Stadt kamen, ein Klavier mieten oder kaufen. Allein in Großbritannien wurden in den fünf Jahren nach 1842 sechzehn Patente für neue Klaviertechnologien ausgestellt.
Nach jeder Entwicklung in der Funktionsweise des Instruments hatte die zunehmende Ausdruckskapazität des Klaviers einen Schwall neuer Kompositionen zur Folge. Eine sich entwickelnde Kaufmannsschicht, begierig nach neuen Luxuswaren, und staatliche Subventionen hielten die Preise niedrig und förderten damit eine heimische Industrie. Der russische Klavierbau blühte, ein früher Salonflügel aus russischer Produktion kostete nicht viel mehr als ein paar Reihen Sitzplätze bei Liszts Auftritt 1842 in St. Petersburg.