eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2020
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Titel der Originalausgabe: The Doll's Alphabet
by Camilla Grudova © Fitzcarraldo Editions, 2017
We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts.
Übersetzung: Zoë Beck
Redaktion: Jan Karsten
Korrektorat: Christina Wengorz
Umschlaggestaltung: Carolin Rauen
Coverabbildung: Maurizio Anzeri: ARIANNA; 2011
Embroidery on found phothograph; 70 x 40 cm
www.maurizioanzeri.com
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: September 2020
ISBN 9-783-95988-175-3
Camilla Grudova entführt uns in ein schaurig-magisches und grotesk-humorvolles Universum, bevölkert von Puppen, Nähmaschinen, Konservenbüchsen und Spiegeln, bestimmt von absurden Ideologien und eigenartigen Regeln.
Aus der Ferne grüßen Margaret Atwood, Angela Carter, Edgar Allan Poe und eine Vielzahl literarischer und künstlerischer Traditionen, aber Grudovas mal schöne, mal verstörende und oft unheimliche Geschichten sprengen alle Genregrenzen. Ihre wache Intelligenz und ihr scharfsinniger Witz finden immer neue, überraschende und originelle Wege, gesellschaftliche Zwänge und Pflichten in moderne dystopische Fabeln zu verpacken.
»Wenn Märchen träumen könnten, wären diese unheimlichen Geschichten das Resultat … Sehr effizient spinnt Grudova ihr verführerisches literarisches Netz.« The Times Literary Supplement
Camilla Grudova lebt in Toronto und Edinburgh. Sie hat Kunstgeschichte und Germanistik an der McGill University in Montreal studiert, und ihre Prosa wurde in The White Paper und Granta veröffentlicht. Ihr Debüt Das Alphabet der Puppen (The Doll’s Alphabet, 2017) erschien fast gleichzeitig in Kanada, den USA und Großbritannien, wurde ins Französische und Spanische übersetzt, sorgte international für Aufsehen und stand auf der Shortlist für den Danuta Gleed Literary Award und den Shirley Jackson Award.
Camilla Grudova
Das Alphabet der Puppen
Storys
Aus dem Englischen von Zoë Beck
CulturBooks Verlag
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»Mit dichter Prosa und messerscharfem Witz erschafft Grudova unverwechselbare Welten … unheimlich und äußerst modern.« The Edinburgh Book Review
»In Grudovas Werk scheint eine breite Palette von Einflüssen auf: Kafka, Surrealismus, Schauerliteratur, Freud, de Sade, Grimms' Märchen, Angela Carter, Poe, Margaret Atwood und viele andere literarische und künstlerische Traditionen … Ein bemerkenswertes Debüt«. The Glasgow Review of Books
»Eine kluge Erkundung von Feminität und dem, was in der Dunkelheit lauert.« The Riveter
»Grudovas Stil ist ein exotischer Cocktail: drei Teile magischer Realismus, zwei Teile Dystopie und ein Spritzer Feminismus. Eine ausgelassene, verspielte Intelligenz treibt diese seltsamen Geschichten voran … ein echtes Talent.« Daily Mail
Eines Nachmittags, nachdem sie einen Kaffee im Wohnzimmer getrunken hatte, fand Greta heraus, wie sie sich auftrennen konnte. Kleidung, Haut und Haare fielen von ihr ab wie die Schale vom Obst, und ihr wahrer Körper trat hervor. Greta war sehr reinlich, also fegte sie ihr altes Ich zusammen und entsorgte es im Abfalleimer, noch bevor sie sich ihres neuen Äußeren bewusst wurde, und die Mühe, ihre neuen Glieder zu bewegen, tat ihrer Entschlossenheit, das Haus sauber zu halten, keinen Abbruch.
Sie ähnelte nicht unbedingt einer Nähmaschine, vielmehr war sie die ideale Grundform für eine Nähmaschine. In der Natur ähnelte sie am ehesten einer Ameise.
Sie betrachtete sich kurz im Spiegel, dann ging sie zu ihrer Nachbarin Maria, die im selben Gebäude in der Wohnung gegenüber wohnte. Als Maria sie sah, erschrak sie nicht, weil sie sich mit einem Mal selbst erkannte. Sie wusste, dass sie innen drin genauso aussah und sich ebenfalls auftrennen konnte, was sie gleich darauf ohne Scheu vor Greta tat.
Sie begutachteten einander wohlwollend und aßen wie jeden Nachmittag ihren Mandelkuchen, aber jetzt mit ihren neu entdeckten echten Mündern, die von stählernen, scharfen schwarzen Kinnladen umrandet waren und sich wie eine angenehme Kreuzung aus Zähnen und Schnurrbart anfühlten.
Als Gretas Ehemann nach Hause kam, war er entsetzt. Er hatte nie zuvor ihre Nähmaschine auch nur berührt – sie jagte ihm Angst ein –, und er würde ganz sicher nicht Gretas neu entdeckten Körper anfassen.
Sie zog gegenüber bei Maria ein, die verwitwet war und keinen Ehemann mehr hatte, dem man Angst einjagen konnte. Sie nahm ihre Nähmaschine mit.
Ihre Nähmaschinen wurden nicht mehr benutzt, aber sie behielten sie als Dekoration, so wie sie früher Heiligenfigürchen aus Porzellan und Puppen auf die Wohnung verteilt hatten, oder wie reiche Leute Marmorbüsten von sich selbst aufstellten.
Als sie zum ersten Mal das Haus verließen, um einzukaufen, sorgten sie für Aufsehen. Nachdem die anderen Frauen aus der Nachbarschaft sie aufgetrennt gesehen hatten, konnten sie nicht anders, als es auch zu tun, und bald schon häuteten sich alle.
Sich aufzutrennen brachte große Erleichterung, so wie das Öffnen des BHs vorm Schlafengehen oder das Leeren der Blase nach einer langen Reise.
Die Männer unterteilten sich in jene, die »schon immer wussten, dass Frauen etwas Hinterlistiges an sich hatten«, weshalb sie sich zufriedenstellend bestätigt fühlten, und solche, die den »Verlust weiblicher Formen« beklagten. Es gab auch eine kleine Minderheit unter den Männern, die versuchte, sich mithilfe von Rasierklingen und Messern aufzutrennen, was allerdings nur zu Verwundung und Enttäuschung führte. Sie hatten kein »wahres, geheimes« Ich in sich, nur das, was schon allseits bekannt war.
An den aufgetrennten Körpern der Frauen befanden sich mehrere kleine Creolen, fast wie an durchstochenen Ohren, durch die unablässig ein roter Faden floss, mal schneller, mal langsamer, abhängig von der jeweiligen Stimmung des Individuums. Es handelte sich um einen dicken, festen Faden, den eine wachsartige Substanz umgab.
Die Creolen befanden sich bei jeder Frau an etwas anderen Stellen und waren unterschiedlich groß, aber ansonsten sahen alle Frauen gleich aus.
Nach dem Auftrennen waren Nähmaschinen nicht mehr in Gebrauch; sie zu benutzen und etwas zusammenzunähen wurde als Form der Unterdrückung betrachtet, als eine rückständige Ablenkung, der sich Frauen zuwandten, um sich selbst das Auftrennen zu versagen, und so erfüllten Nähmaschinen nur noch eine formelle, ästhetische Funktion und waren in ihrer frommen Stille wunderschön anzusehen.
Ausstellungen über das Nähen und Nähmaschinen »im Wandel der Epochen« wurden eröffnet und fanden reichlich Zuspruch; sie erinnerten die Frauen an ihre Evolution hin zum aufgetrennten Bewusstsein.