Das Buch

»In diesem Spiel lügen alle, Dorian. Einfach alle.«

Lejla glaubt, verrückt zu werden. Immer wieder erscheint vor ihren Augen eine andere Welt – kalt, düster und vollkommen zerstört. Während sie verzweifelt herauszufinden versucht, was mit ihr geschieht, tritt Dorian in ihr Leben – schroff, unnahbar und mit dem Auftrag, sie zu töten. Auf der Suche nach der Wahrheit geraten beide in ein gefährliches Versteckspiel, bei dem nicht nur das Schicksal der Welten, sondern auch Lejlas Herz auf dem Spiel steht …

Die Autorin

© privat

Katja Ammon wurde 1977 in Basel geboren, wo sie nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Edinburgh heute mit ihrer Familie lebt. Schon als Kind hat sie gern Geschichten erfunden. Nach Studium und Promotion widmete sie sich aber zunächst komplett der Wissenschaft, bis der Drang zu schreiben wieder an die Oberfläche gekommen ist. Seither wurde neben einigen Kurzgeschichten in Anthologien auch ihr Debütroman »Herz aus Gold und Asche« veröffentlicht.

Katja Ammon auf Facebook: www.facebook.com/katja.ammon

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

  Kapitel 1  

LEJLA

Zusammen mit Endra verließ ich das Klassenzimmer. Wieder einen Tag geschafft. Zumindest den schulischen Teil davon.

»Hey Mädels«, tönte es von hinten.

Ich schaute mich um. Mein Ex löste sich von der Wand neben der Tür. Hatte er da gewartet?

»Wir gehen noch zum Rhein – bisschen chillen, Musik hören und so.« Er zwinkerte mir zu, als er auf uns zukam.

Auch Endra drehte sich um. Bestimmt lag der gleiche dämliche Ausdruck auf unseren Gesichtern.

»Ähm …« Ich räusperte mich und folgte ihm mit dem Blick, als er an uns vorbeiging und sich zwischen uns und der Treppe aufbaute, die in die Eingangshalle führte.

»O nein, richtig …« Er holte mit dem Arm aus und fasste sich theatralisch an die Stirn. »Lejla kann ja gar nicht, sie muss Wände schrubben.« Er trat zur Seite und verbeugte sich tief, um uns den Weg zum Treppenabgang zu weisen.

»Sehr witzig«, fauchte ich und ging an ihm vorbei. Natürlich stand seine Clique schon an der obersten Stufe versammelt und beobachtete das Schauspiel. Allen voran Zacharias, oder Zecke, wie Endra ihn nannte, weil er ihr krankhaft nachgestellt hatte, als Lars und ich noch zusammen gewesen waren. Nun war die große Liebe verflogen, genau wie bei Lars.

Marie war natürlich auch da. Sie hielt sich in letzter Zeit immer in Lars’ Nähe auf.

»Tja, Babe, nächsten Sommer vielleicht.«

Abrupt blieb ich stehen und drehte mich wieder zu ihm um. Sein fieses Grinsen brannte sich in mein Gedächtnis. »In der Gruppe bist du stark was?«, sagte ich und zwang mich, ihm in die Augen zu schauen. »Das ist echt armselig, Lars. Ich habe dich anders kennengelernt.«

Er verzog den Mund, während sein Blick finster wurde. »Deine Aktion war auch ganz schön armselig, Lejla«, sagte er, meine Stimme nachäffend.

Dem wusste ich leider wenig entgegenzusetzen, außer einem noch armseligeren: Ich war das nicht. »Punkt für dich«, murmelte ich.

Endra stand mit zusammengepressten Lippen neben mir. Ich berührte sie am Arm, zum Zeichen, dass es Zeit wurde zu gehen. Den Blick stur geradeaus gerichtet, ging ich an der Meute vorbei, die Stufen hinunter. In der großen Halle angekommen, ging das Gelächter in unserem Rücken allmählich in der Geräuschkulisse der nach Hause strebenden Schülerschar unter, in der wir nun auch vor den Blicken der Gruppe abtauchten.

»Ich würde ihm ja den Kopf so was von waschen. Du brauchst nur was zu sagen«, sagte Endra.

»Das würde doch nichts bringen.«

Meine Freundin seufzte. »Ich weiß. Das Karma wird es auf seine Weise regeln.«

»Richtig«, gluckste ich.

Endra stieß die Eingangstür der Schule auf und frische Luft kühlte mein heißes Gesicht. Toll, ich war also zu allem Übel auch noch rot geworden. Jetzt konnten sie den ganzen Abend über mich lachen.

Wir gingen die paar Stufen vor dem Haupteingang hinunter Richtung Fahrradunterstand.

»Wenn ich jemals herausfinde, wer mir das alles eingebrockt hat – ich werde ihn …« Ich schüttelte den Kopf.

»Was auch immer dir Wüstes durch den Kopf geht, ich bin dabei.« Meine Freundin grinste mich an, was die aufkeimende Wut sogleich milderte.

Ich umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Du bist die Beste.«

Mit einer routinierten Kopfbewegung warf Endra die langen schwarzen Haare über die Schulter zurück. »Hast du eigentlich schon mal daran gedacht, dass es vielleicht Lars selbst gewesen sein könnte?«

»Das glaube ich nicht. Warum sollte er? Ich meine …«

»Ich sage nur, es könnte sein. Jemandem, der per Textnachricht Schluss macht, traue ich alles zu.«

Ich stöhnte auf. Es tat noch immer weh, und das ärgerte mich am meisten.

»Oder es war Marie«, überlegte ich laut. »Die hat es schon so lange auf Lars abgesehen. Sie hasst mich, weil ich ihn ihr weggeschnappt habe.«

»Aber wie kam sie zu der Spraydose mit deinen Fingerabdrücken drauf?« Endra schürzte die Lippen. »Das klingt für mich eher nach Lars. Du hast doch bestimmt schon viele seiner Dosen in der Hand gehabt.«

»Marie könnte sie bei ihm mitgenommen haben.«

»In der Hoffnung, dass da deine Abdrücke drauf sind?«

»Ach, keine Ahnung.« Ich seufzte. »Seine Graffitis sind ihm heilig. Und das war sein erster legaler Auftrag. Er war so stolz drauf. Hat wochenlang an den Entwürfen gebastelt …« Ich biss mir auf die Unterlippe. »Ich glaube nicht, dass er da selbst drübergesprayt und damit sein eigenes Kunstwerk zerstört hat. Und warum sollte er mir überhaupt etwas anhängen wollen? Er hat doch Schluss gemacht.« Unnötigerweise schnürte mir der Gedanke die Kehle zu. »Wie auch immer, nach der Geschichte kommen wir auf jeden Fall ganz sicher nie mehr zusammen.«

»Sei froh«, kam es postwendend von der Seite.

Ich schaute zu meiner Freundin.

»Er hat per WhatsApp Schluss gemacht«, wiederholte sie und schloss ihr Fahrrad auf.

»Ich weiß«, jammerte ich. »Ich war dabei.«

»Sorry!« Endra ließ die Schultern sinken. Sie kam zu mir hinüber und zog mich in die Arme. »Es macht mich nur so wütend, wie er mit dir umgeht. Ich will nicht, dass du ihm nachtrauerst, das hat er nicht verdient.«

»Ich trauere ihm nicht nach.«

»Deine Aura sagt was anderes.«

Ich zog den Moosachat aus der Hosentasche. Einen Heilstein gegen Liebeskummer, den Endra mir gegeben hatte. »Ich habe ihn immer dabei. Da wird nicht getrauert. Glaub mir.«

Endra seufzte. »Der Stein stellt das nicht automatisch ab. Er hilft dir nur, damit klarzukommen.«

»Ja, ich weiß. Und es geht mir ja auch schon viel besser. Ehrlich!«

Sie lächelte, ging zu ihrem Rad zurück und zog es zwischen den anderen hervor. »Ich bin froh, wenn er dir hilft.«

Auch ich holte mein Rad und stellte die Tasche in den Korb. »Jetzt brauche ich nur noch etwas, das mir die Graffitis von alleine wegputzt. Gibt es dafür auch Steine?«

Endra kicherte. »Mach dich nur lustig.«

»Na ja, hätte ja sein können. Dann wenigstens etwas gegen Muskelkrämpfe und Schwielen? Oder gegen Kopfschmerzen wegen der giftigen Dämpfe?«

»Ja sicher, gegen das gibt es bestimmt was. Zum Beispiel kann ich Magnesium gegen Muskelkrämpfe empfehlen – ist auch ein Mineral«, fügte sie grinsend an.

Ich lachte auf, bevor ich wieder ernst wurde. »Danke.«

»Wofür jetzt?«

»Dass du immer für mich da bist. Und dass du mir glaubst. Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet.«

»O Mensch, Lejla.« Meine Freundin stellte das Rad nochmals hin und umarmte mich erneut. »Das ist doch selbstverständlich. Die ganzen Behauptungen machen doch überhaupt keinen Sinn. Ich kenne dich. Du würdest so was nie tun.«

Ich drückte sie an mich.

»Wir hören uns später, ja?«, sagte sie und löste sich dann von mir.

»Auf jeden Fall.«

Nachdem Endra davongefahren war, machte ich mich auf den Weg zur Zweigstelle »Spray-Ex« vom Tiefbauamt Basel-Stadt. Dort musste ich die Sozialstunden ableisten, während Lars mit Marie Eis essen ging oder am Rhein chillte. Meine Finger krampften sich um den Lenker und ich trat kräftiger in die Pedale.

Das Schlimmste war nicht mal, dass ich unschuldig verurteilt worden war, damit hätte ich mich abfinden können. Immerhin war ich schon so viele Male mit einem blauen Auge davongekommen. Was wirklich an mir nagte, war der Ruf der rachsüchtigen Verlassenen, der mir nun anhaftete und den ich in all den Augen sah, die mir viel zu auffällig überallhin folgten.

Mit Schwung bog ich in das Dreispitz-Areal ein und hielt auf den grauen quadratischen Bau mit den ebenso quadratischen Fenstern zu. Das Rad stellte ich im Hof vor dem Eingang ab, nahm die Tasche aus dem Korb und stürmte die Treppe hoch.

Als ich das Büro meines Betreuers betrat, saß ein schlanker Mann, der mir hier noch nie begegnet war, auf dessen Stuhl. Seine Haut war blass, fast grau, was ihn in der dunklen Kleidung krank aussehen ließ.

»Lejla Sander?«, fragte er, den Blick auf mich gerichtet. Ich stand in der Tür und konnte nichts anderes tun als zurückstarren.

»Mein Name ist Validin Dunahr, ich vertrete heute Herrn Ammer. Er ist leider krank.« Seine Stimme vibrierte in mir, als wäre mein Körper ein Resonanzboden. Was für ein ungewöhnlicher, scheppernder Klang. Als er sich erhob und auf mich zukam, wich ich instinktiv einen Schritt zurück.

»Dann wollen wir mal«, sagte er und schaute auf das Notizboard in seiner Hand. Er hob die oberste Seite an und nickte. »Genau«, kommentierte er das Gelesene. »Wir haben heute einen Auftrag in einem privaten Gebäude.«

Wie ein Schatten huschte die lange Gestalt an mir vorbei und ich war unschlüssig, ob er komisch, unheimlich oder einfach durchgeknallt war. Auf jeden Fall hoffte ich, er würde nicht den ganzen Nachmittag an meiner Seite kleben.

Ich folgte ihm die Treppe hinunter, über den Hof bis zum orangefarbenen Lieferwagen des Tiefbauamtes. Der war schon vollbeladen mit Reinigungsutensilien und Schutzkleidung. Ich kletterte neben Validin auf den Sitz und schnallte mich an.

Mein Aushilfsbetreuer schwieg während der gesamten Fahrt, genau wie das Radio. An den Ampeln ertappte ich mich immer wieder, wie ich die Luft anhielt, weil mir der eigene Atem in den Ohren dröhnte. Wir fuhren Richtung Bruderholz, den Hügel hinauf und raus aus dem Zentrum. Vor einer halb zerfallenen, von Unkraut umwucherten Villa hielt er an. Ich blieb noch sitzen, ungläubig, dass es sich um das richtige Haus handeln sollte.

Doch kurz darauf zog Validin Dunahr die Beifahrertür auf und zerstreute meine Zweifel. »Kommst du dann?«

»Ähm – ja«, sagte ich und löste den Gurt.

Wer zum Henker wollte dieses baufällige Gebäude reinigen? Ich schob mich aus dem Sitz und schlug die Tür des Wagens zu. Egal, es ging mich am Ende nichts an. Auftrag war Auftrag.

Ich packte ein Paar Plastikhandschuhe sowie den Eimer mit den Bürsten, Schwämmen und Tüchern und eilte meinem Aushilfsbetreuer hinterher. Durch ein eisernes Tor gelangte ich in den Vorgarten. Junge Äste mit frischen, hellgrünen Blättern dran ragten aus den Hecken weit auf den Weg hinaus. Ich schob sie mit dem Arm zur Seite, damit ich am Ende nicht über eine der zerbrochenen Steinplatten stolperte, die den Weg zum Haus wiesen.

Wir traten durch ein klaffendes Loch, das einst durch die Eingangstür verschlossen gewesen sein musste. Drinnen roch es modrig. Zögerlich schaute ich mich um. Die Mauern, die die Räume voneinander trennen sollten, waren zum großen Teil eingerissen oder zerfallen. Um ehrlich zu sein, war das Haus kaum mehr als eine überdachte Ruine, in der die Natur nicht nur durch die scheibenlosen Fenster, sondern auch durch die Risse im nackten Betonboden drängte. Auf einer der Wände sah ich drei Tags in roter Farbe. Die Schriftzüge waren alle gleich. Sie bestanden aus mehreren ineinandergreifenden Buchstaben – »HORAX« oder so ähnlich – unterstrichen mit einem Pfeil. Da hatte wohl einer seine Unterschrift geübt.

Validin stellte den Zweitritt und den Eimer mit den Putzmitteln ab und winkte mich zu sich. »Was meinst du? Aus welchem Material besteht diese Mauer?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Stein?«

»Du kannst sie ruhig anfassen.«

Ich runzelte die Stirn.

Mein Aushilfsbetreuer versuchte sich an einem Lächeln. »Stell doch mal das Zeug ab.«

Ich schluckte und setzte den Eimer neben mir auf dem Boden. »Na?«

Langsam ging ich auf die Wand zu und legte eine Hand drauf. Aber das machte mich auch nicht schlauer.

»Und?« Validin zog die Brauen hoch.

»Ziegel?«

»Nicht raten, Lejla. Die Oberfläche, was spürst du? Stein? Eher nicht, oder?«

Ich strich mit der Hand die Wand hoch und runter. »Es ist verputzt. Aber was drunter ist, kann ich nicht sagen.«

»Na also, geht doch«, nickte er und legte nun seinerseits die Hand auf die Mauer, während ich meine wegzog und die Arme vor mir verschränkte.

»Darunter ist Stein, das ist richtig, aber so tief wird unser Mittel nicht eindringen. Für uns ist nur die Oberfläche wichtig.« Er rieb die Hände gegeneinander und wandte sich zu dem Eimer mit den Chemikalien um. »Da können wir gut mit dem Gel arbeiten.« Er griff nach einer Tube und reichte sie mir. »Keine aufwändige Sache, das bekommst du allein hin, oder?«

»Denke schon«, stimmte ich zu. Und obwohl ich mir zuvor gewünscht hatte, allein zu arbeiten, war mir nun doch unbehaglich zumute. Dieser Ort war unheimlich.

»Auftragen, gut einreiben, abwischen und mit Wasser abwaschen. Du kennst es ja. Wasser gibt es dort drüben.«

Mein Blick folgte dem Handzeichen und ich entdeckte einen Gartenschlauch, der von außen durch die fehlende Tür zu uns ins Innere führte.

Validin packte den Eimer mit den überzähligen Putzmitteln und wandte sich zum Gehen. »Falls du fertig bist, bevor ich zurückkomme, musst du nicht warten. Lass die Sachen einfach hier, ich hol sie dann ab.«

»Aber hier können doch alle …«, ich brach ab, denn mein Aushilfsbetreuer war schon verschwunden. Ich sollte dieses giftige Zeug einfach hier herumliegen lassen? Da konnte doch jeder rein und raus! Das war verrückt. Selbst wenn ich alles aufbrauchte, was ich sicher nicht tat, waren da noch die vollgesogenen Schwämme und Tücher. Das würde ich ganz bestimmt nicht einfach liegen lassen.

Kopfschüttelnd drehte ich mich zur Wand, zog die Trittleiter unter den ersten Tag, streifte die Handschuhe über und begann mit dem Pinsel Gel auf die Farbe zu streichen. Mit der Bürste massierte ich es ein, aber der Lack löste sich nur zäh vom Untergrund. Mein Arm schmerzte schon nach wenigen Minuten von der blöden Stellung, während mir die ätzenden Dämpfe in die Nase stiegen. Meine Gedanken schweiften wieder ab zu Lars, dem Ausdruck, mit dem er mich angesehen hatte – eine Mischung aus Abscheu und Mitleid. Automatisch schrubbte ich kräftiger und kräftiger. Ich wollte nicht daran denken, was mir natürlich umso weniger gelang, je mehr ich es versuchte.

Dennoch verging die Zeit erstaunlich rasch, und ich war mittlerweile beim dritten und letzten Tag angekommen. Es war noch nicht wirklich spät, dennoch warf das schummrige Licht des trüben Tages schon lange Schatten zwischen die Mauern. Das Gestrüpp vor den Fenstern raschelte leise im Wind und malte bizarre Figuren an die Innenwände. Eine Gänsehaut kroch mir den Nacken hoch. Ich schaute mich um und entdeckte den Scheinwerfer, den Validin mir dagelassen hatte. Ich wollte gerade vom Zweitritt steigen, als ich ein erneutes Rascheln hörte. Diesmal war es aber eindeutig nicht der Wind. Vielmehr klang das rhythmische Knacken, als ob jemand über die Zweige durch den Garten schlich.

»Hal…?«, fiepste ich und räusperte mich sogleich. »Hallo!«, wiederholte ich. »Ist da jemand?«

  Kapitel 2  

LEJLA

Ich bekam keine Antwort, also stieg ich von der Trittleiter und schlich zum Fenster, um nach draußen zu schauen. Ein Klacken gefolgt von einem leisen Quietschen ertönte und ließ mich zusammenzucken. Vorsichtig spähte ich in den Garten hinaus. Unter dem Fenster des Zimmers nebenan, etwa drei Meter von mir entfernt, stand ein Motorrad. Der Fahrer legte den Helm auf den Sattel, fuhr sich durch die halblangen Haare und zog eine Art Tablet, oder eher ein etwas groß geratenes Handy, aus der Jackentasche. Der Bildschirm leuchtete blau auf und erhellte kurz sein Gesicht, das bis über die Nase von einem Motorradschal verdeckt war.

Ruckartig wandte der Typ den Kopf zu mir um und schaute mich direkt an.

»Ähm, hi«, sagte ich ertappt.

»Was tust du hier?«, fuhr er mich an, ohne den Gruß zu erwidern.

»Die Wand putzen«, antwortete ich artig und verfluchte mich sogleich dafür. »Auch wenn Sie das eigentlich nichts angeht«, fügte ich schnell hinzu.

Er reagierte nicht, ging um seine Maschine herum, erklomm mit einem Satz den Fenstersims zum Nebenraum und verschwand aus meinem Sichtfeld im Innern der Ruine.

Mein Herz pochte schneller. Instinktiv tastete ich nach dem Handy in der Gesäßtasche. Hinter der halb zerfallenen Trennwand hörte ich nun Schritte und löste mich von dem Fenster. Wie gebannt starrte ich auf die Mauerreste, hinter denen sich nun eine dunkle Gestalt abzeichnete. Sand und Kieselsteine knirschten unter den Sohlen des Fremden, als er zu mir hinüberstieg. In den Stiefeln, die mit einer Reihe von Schnallen besetzt waren, steckten enge Hosen, die sich über dem Knie leicht weiteten. Sein Gesicht war nun zusätzlich unter einer Kapuze verborgen, die zu einem Hoodie gehörte, den er unter einer Lederjacke trug.

»Was wollen …«

»Pack dein Zeug zusammen und verschwinde!«, unterbrach er mich und kam noch einen Schritt näher.

Ich wich zurück, stolperte dabei rücklings über den Zweitritt und verlor das Gleichgewicht. Alles in mir verkrampfte sich in Erwartung des Aufpralls, doch der kam nicht. Stattdessen schnürte mir der feste Griff des Typen die Blutzufuhr im Oberarm ab, als er mich im Sturz packte und mich so auf den Beinen hielt. Dabei rutschte ihm die Kapuze vom Kopf.

Meine Augen weiteten sich, als ich die daumendicke Narbe erblickte, die von der Stirn über die Nasenwurzel verlief und auf der linken Wange unter dem Schal verschwand. Shit! Was war denn da passiert? Ich ballte die Fäuste. Mit den Fingerkuppen ertastete ich die Narben auf meinen Handflächen, die mir immer als schlimm – als verunstaltend – vorgekommen waren. Jetzt kam ich mir blöd vor deswegen. Es waren nur die Handflächen! Für kaum jemanden sichtbar. Nicht so wie bei ihm! Und er war noch jung – höchstens ein paar Jahre älter als ich.

Sein Blick schien mich einen Moment lang zu durchbohren, bevor er mich abrupt losließ und die Kapuze wieder hochzog, um sein Gesicht darunter zu verbergen. »Verschwinde jetzt!«, zischte er und trat zurück. »Ich sag’s nicht nochmal.«

Ich atmete tief durch. Ich wusste nicht, ob es das Alter war, oder die Narbe, oder das Verhalten, das mir seine Verletzlichkeit offenbarte, auf jeden Fall wurde ich mutiger. »Wow!«, sagte ich. »Du hast mir gar nichts zu sagen, oder gehört das Haus etwa dir?«

»Nein, ich bin hier nur der Gärtner!«, imitierte er meinen schnippischen Tonfall. »Entweder du gehst freiwillig oder ich schaff dich hier weg, ganz einfach.«

»Okay«, stellte ich klar, »als Gärtner kannst du das vielleicht nicht wissen, aber ich habe den Auftrag des Besitzers, diese Wand zu reinigen.«

Er lachte auf. »Ja klar. Schau dich mal um.«

»Ja, und?«

»Das Haus ist eine Ruine. Wer sollte bitte Geld dafür ausgeben, Wände zu reinigen, die man sowieso einreißen muss?«

»Das ist mir doch egal.« Ich ging zum Scheinwerfer hinüber. »Es tut mir ja leid, wenn ich deine Tags wegmachen muss. Übe deine Unterschrift gefälligst woanders.« Damit schaltete ich das Licht ein. »Mein Leben hängt nun mal davon ab, dass diese Wand …«

Der Typ hechtete auf mich zu, entriss mir den Strahler und trat die Birne kaputt. Es puffte, dann klirrten Scherben auf den Boden.

»Bist du wahnsinnig geworden?«, fuhr er mich an.

Ich starrte auf den Elektroschrott. Sekunden vergingen, ehe ich mich wieder gefangen hatte: »Bin ich – ICH – wahnsinnig geworden?«, rief ich und schnappte nach Luft. Was meinte der eigentlich, wer er war? Der Kleidung nach zu urteilen vermutlich ein Ninja Krieger oder so. »Du hast gerade meine Lampe …«

Er trat so nahe an mich heran, dass ich die Wärme seines Körpers spürte. Ein Duft aus Leder und Waschmittel schmeichelte meiner geschundenen Nase, bevor er mir eine Hand auf den Mund legte. Mit der anderen hielt er mich am Oberarm fest, sodass ich nicht zurückweichen konnte.

»Dein Leben«, sagte er betont, aber leise, »hängt davon ab, dass du jetzt verschwindest!« Er ließ mich los und ich strauchelte zurück.

Einen Moment lang schauten wir uns an, dann zückte ich mein Handy. »Ich rufe jetzt meinen Betreuer an.« Ich wandte mich von ihm ab und erweckte das Gerät zum Leben.

Von hinten legte er die Hand auf das Display, das mir ein paar verpasste Anrufe meines Großvaters anzeigte, und entriss mir das Telefon.

»Hey!« Blitzschnell drehte ich mich zu ihm um, aber er war schon außer Reichweite. »Gib das sofort wieder her!«

»Du bekommst es, wenn du gehst, oder ich trete es auch noch kaputt.«

»Du hast sie ja nicht alle!« Die Situation begann mir nun doch Respekt einzujagen. Der war doch nicht normal. »Also gut«, sagte ich, »ohne Licht kann ich das jetzt eh vergessen, also …« Ich packte die Sachen zusammen und hielt sie wie ein Schutzschild vor mir, als ich auf ihn zuging. »Mein Handy!«, sagte ich und streckte die Hand danach aus.

Er gab es mir tatsächlich zurück, was meinen Herzschlag etwas beruhigte.

»Und den«, sagte ich und wies auf den kaputten Scheinwerfer, »kannst du dem Tiefbauamt übrigens ersetzen.«

Ich ging an ihm vorbei zur Tür. Seinen Blick spürte ich noch im Rücken, bis ich mich durch das Gestrüpp zum Gartentor vorgearbeitet hatte. Dort ließ ich alles fallen und setzte mich auf die kniehohe Mauer, die das Grundstück zur Straße hin abgrenzte. Zweige pikten mich in den Rücken, aber ich ignorierte es.

Von Validin war weit und breit nichts zu sehen. Sollte ich jetzt wirklich das ganze Zeug nach Hause schleppen oder konnte ich es tatsächlich einfach stehen lassen, so wie er gesagt hatte? Dummerweise besaß ich seine Nummer nicht und konnte ihn somit auch nicht anrufen.

Die Stille, die über dem Quartier lag, wurde plötzlich von einer Stimme durchschnitten. »Was ist hier los?«

Ich schaute mich um. Die Straße war menschenleer.

»Nichts. Was soll los sein?«

Die Stimmen kamen aus der Villa. Ich kniff die Augen zusammen und spähte vorsichtig durch das Gestrüpp, konnte aber zwischen all den Zweigen nichts erkennen. Also schlüpfte ich durch das Tor und schlich zurück zum Haus. Durch die ehemalige Haustür erblickte ich schemenhaft die Umrisse von zwei Typen. Einer war mit Sicherheit der Ninja. Ich erkannte ihn an der Statur. Auch der andere war dunkel gekleidet und verbarg sein Gesicht unter einer Kapuze.

Scheiß Sprayer! Wenn die mir jetzt wieder die ganze Wand verschmierten! So vermummt wie die rumrannten, führten die ja sicher nichts Legales im Schilde. Verdammt!

»Das Signal ist weg«, sagte der Neuankömmling und schob ein Gerät in die Innentasche der Jacke, das dem zu groß geratenen Handy des Ninja glich.

»Nein, echt?« Die Stimme des Ninja triefte vor Sarkasmus.

Die zwei mochten sich wohl nicht besonders. Das konnte ja lustig werden.

»Wer war die Tussi, die hier rumgelungert hat?«

»Keine Ahnung, was du meinst. Das hier ist ein Wohnviertel. Da gibt es hin und wieder Leute.«

Jedem Schritt, den der andere Typ auf den Ninja zuging, wich dieser mit einer Bewegung zur Seite aus.

»Sie ist aus diesem Haus gekommen, Dorian. Das kann man nicht gerade bewohnt nennen. Also, war sie das?«

Dorian? Hieß der Ninja etwa so?

»Was soll sie gewesen sein?«

»Stell dich nicht blöd, Mann! Du weißt ganz genau, was ich meine!«

Ja, was sollte ich gewesen sein? Sprach er von den Tags? Oder besser gesagt davon, dass einige nicht mehr da waren?

Im Versuch, die zwei nicht aus den Augen zu verlieren, wollte ich einen Schritt nach vorne gehen. Dabei verhedderte ich mich in den Efeuranken, die nicht nur die Außenmauer, sondern auch den Boden überzogen, und fiel beinahe hin, was die Blätter laut rascheln ließ.

»Was war das?«

Ich hörte, wie sich jemand näherte. Mit einem Satz sprang ich auf die Hausmauer zu, presste mich dagegen und duckte mich tief zwischen die wuchernden Blätter. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich ein Oberkörper aus dem türlosen Eingang lehnte. Instinktiv schloss ich die Augen und hielt die Luft an.

»Angst vor Geistern?«, hörte ich den Ninja fragen.

»Geister trampeln nicht wie Elefanten durch die Gegend.«

»Siehst du denn einen Elefanten?«

»Du kommst dir wohl sehr witzig vor, was?«

»Du solltest an deiner Schreckhaftigkeit arbeiten, Ash.«

»Und du an deiner Unvorsichtigkeit!«

Die Schritte entfernten sich wieder und verhallten im Innern der Villa.

Das war der Moment abzuhauen. Ich konnte nicht länger auf Validin warten. Was immer die vorhatten, ich wollte damit nicht in Verbindung gebracht werden. Und noch weniger wollte ich von ihnen erwischt werden.

Ich schlich auf die Straße hinaus und packte den Putzkram zusammen. Dann machte ich mich auf den Weg zur Tramhaltestelle.

DORIAN

Ich schaute Ash unverwandt an. »Unvorsichtigkeit? Ich? Du brüllst doch herum, als ob du hier zu Hause wärst.«

»Ich frag dich nochmals: Wer war die Tussi, die so fluchtartig das Haus verlassen hat? Was hat sie hier gemacht?«

»Gib mir eine Glaskugel.«

Ashs Gesicht verkrampfte sich immer mehr. »Wer hat sie beauftragt? Wo ist sie hin? Was hast du vor, dagegen zu unternehmen?« Er zählte die einzelnen Punkte an den Fingern ab.

»Wärst du rechtzeitig gekommen, hättest du die ominöse Person selbst fragen können.«

»Du kannst so gut und so schnell sein, wie du willst«, spuckte Ash die Worte aus, »du hast bis ganz oben hin verkackt. Lern endlich, damit zu leben und mach deinen Job.«

»Oh, ich lebe sehr gut damit. Immerhin habe ich meine eigenen Gedanken, bilde mir meine eigene Meinung. Und was meinen Job angeht, das hier«, sagte ich und beschrieb einen Kreis mit Zeige- und Mittelfinger, »ist nicht mehr mein Distrikt. Du hast jetzt die Verantwortung.«

»Da hast du wohl was falsch verstanden. Ich überwache dich nur. Die Arbeit machst du und erstattest mir regelmäßig Bericht darüber. So sieht es aus, mein Freund.«

»Tja, dann solltest du erst recht schneller werden. Am Ende denkt der Meister noch, ich tanze dir auf der Nase herum.«

Ash lachte auf. »Du bist ein schlechter Verlierer, Dorian. Das warst du schon immer.«

»Ach ja?« Ich zuckte mit den Schultern. »Das liegt vermutlich am Mangel an Erfahrung. Da hast du mir einiges voraus. Und jetzt entschuldige bitte, ich habe noch zu tun.« Über den Mauersockel stieg ich in den angrenzenden Raum zurück.

»Ach ja? Was denn?«

Ich ignorierte sein Gezeter und sprang mit einem Satz aus dem Fenster.

»Hey!«

Meine Füße landeten weich auf dem Blätterwerk, direkt neben dem Motorrad.

»Dorian! – Das glaub ich jetzt nicht!«

Ohne zurückzublicken setzte ich den Helm auf und wuchtete die Ducati aus dem Gestrüpp Richtung Straße. Dort schwang ich ein Bein über den Sattel und startete den Motor. Langsam fuhr ich an, schaltete die Gänge hoch und durch die Beschleunigung spürte ich einen sanften Druck auf meiner Brust. Ich klappte das dunkel getönte Visier runter, schmiegte mich an die Maschine und gab Gas.

Straßenlichter zerflossen zu Streifen, die an mir vorbeischossen. Ich versuchte an nichts zu denken, aber sosehr ich mich auch auf das Nichts konzentrierte, das Mädchen ging mir nicht mehr aus dem Kopf. War es Zufall, dass sie gerade jetzt, gerade dort aufgetaucht war, oder hatte sie etwas mit all dem zu tun? Die Aktivität war real gewesen, auch wenn das Signal nur kurz angeschlagen hatte. Fast zu kurz, um eine wirkliche Bedeutung zu haben. Das Problem war nur, dass solche kurzen Signale nicht das erste Mal aufgetreten waren, und wenn sich Dinge häuften, bedeuteten sie meistens etwas, und selten etwas Gutes. Energisch wischte ich die Gedanken weg. Sollte Ash sich darum kümmern. Ganz ehrlich, was ging mich das alles noch an? Ich musste nur schauen, dass ich den Schein einigermaßen wahrte. Das war alles.

Vor meinem Haus bremste ich ab und bog auf den Vorplatz ein. Während ich den Motor ausschaltete, ließ ich den Blick an der mit Efeu überwucherten Mauer emporwandern, die ohne das Gewächs vermutlich langsam in sich zusammengefallen wäre. Eine düstere Atmosphäre umgab mein Heim. Es spiegelte den ganzen Abgrund meines Seins wider und ich hasste es. Ich hätte schon längst etwas daran machen sollen, aber ich konnte nicht, genauso wenig, wie ich meine Situation – mein Leben – ändern konnte.

Mit einem tiefen Atemzug stieg ich von der Maschine und schob sie in die Garage. Dort zog ich den Helm aus und legte ihn auf den Sattel. Mit der Hand rieb ich mir über den Nacken und ließ die Wirbel knacken. Die Narben schmerzten leicht und ich wölbte den Rücken, um die Haut zu dehnen, aber das machte es nur schlimmer. Ich trat unter dem Garagentor hindurch nach draußen, zog es zu und ging über den Hof zur Einfahrt zurück. Es war schon wieder Monatsende und somit Zeit, den überquellenden Briefkasten zu leeren, um allfällige Rechnungen zu bezahlen. Ansonsten interessierte es mich einen Scheiß, was da drin landete. Aber heute zog ein farbiger Umschlag – der Marke nach zu urteilen aus Kanada – meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich riss ihn auf, während ich zurück zum Haus ging.

Es war eine Geburtstagskarte, mit ein paar farbigen Ballons drauf. Ich schlug sie auf und betrachtete die ausladende, schnörkelige Schrift, die meiner eigenen glich.

Alles Gute zum 22. Geburtstag, Dorian.

Liebe Grüße von deiner Mutter.

Ich biss die Zähne zusammen. Vater hatte wieder nicht unterschrieben. Vermutlich wusste er nicht mal davon. Geschweige denn, dass er selbst an meinen Geburtstag denken würde. Für ihn war ich vor knapp zwei Jahren gestorben – oder vielleicht auch nie geboren worden.

Ich schloss die Haustür auf und trat in den Flur. Dunkle Leere empfing mich. Ich warf Post, Schlüssel und DarcPad auf die Kommode und ging in die Küche. Auch der Kühlschrank war leer. Ich schloss ihn wieder und lehnte die Stirn dagegen. »Ja«, sagte ich zu mir selbst, »Happy Birthday, ich.«

  Kapitel 3  

LEJLA

»Lejla!« Die Stimme meines Großvaters kam mir vom obersten Stockwerk entgegen, noch bevor ich einen Fuß auf die erste Stufe setzen konnte. Er musste in der Wohnung am Fenster gestanden und die Straße beobachtet haben.

»Ja!«, rief ich hoch.

Es war spät geworden, denn ich hatte ja mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren müssen. Ohne einen Rappen in der Tasche sah ich mich dann auch noch gezwungen, eine Tram auszulassen, weil ein paar unauffällig auffallende Typen eingestiegen waren, die mir zu sehr nach Kontrolleur gerochen hatten.

Ich hievte die Putzsachen die knarrende Treppe zu unserer Dachwohnung hoch. Das würzige Aroma des Pfeifenrauchs waberte mir auf den letzten Tritten entgegen.

»Wo warst du?« Tata kniff den Mund zusammen, während er mich musterte. »Und warum nimmst du dein Telefon nicht ab?«

»Ich war putzen. Wie immer. Da kann ich nicht dauernd telefonieren.«

»Putzen, ja?«

Ich stellte die Sachen demonstrativ vor seinen Füßen ab. »Wo sollte ich sonst gewesen sein mit diesem Zeug?«

»Und warum habe ich eine Nachricht auf dem Band, dass dein Betreuer krank ist und du erst morgen wiederkommen sollst?«

»Was weiß ich! Da war eine Aushilfe und der hat mich am Abend nicht abgeholt. Ich musste den ganzen Weg allein nach Hause gehen.«

Tatas Gesicht verzog sich noch mehr. »Ich mach das nicht zum Spaß, Lejla. Ich will doch nur …«

»Hier«, ich nahm die Lappen und Schwämme aus dem Eimer und hielt sie ihm unter die Nase. »Riech!«

»Das beweist doch nichts, Kind.« Jetzt klang er müde.

»Ich war da. In einem alten Haus. Ruf beim Tiefbauamt an. Der Typ hieß Validin Dunahr.«

Unter uns klickte eine Tür ins Schloss. Dieses Haus hörte mit. Das nervte! Und wir gaben unserer Nachbarin, Trudi, auch noch regelmäßig Stoff für die nächste Klatschrunde.

Tata zog mich in die Wohnung und schloss die Tür hinter mir. »Wo genau?«

»Auf dem Bruderholz«, sagte ich und nannte ihm die Adresse.

»Ich gehe dem nach. Aber …« Er brach ab und schüttelte langsam den Kopf. »In der Küche gibt es Pizza.« Damit ließ er mich stehen und ging ins Wohnzimmer.

Meine Schultern sackten nach unten und ich schloss kurz die Augen. Seit der Gerichtsverhandlung artete jedes zweite Gespräch in Streit aus, dabei wollte ich das gar nicht. Tata war der wichtigste Mensch in meinem Leben. Und doch stieß ich ihn immer wieder von mir.

Tränen drückten hinter meinen Augen. Und der Hunger, der sich gerade noch tief in den Magen gebohrt hatte, verwandelte sich in Übelkeit. Ja, ich hatte Mist gebaut, Dinge gestohlen, Gras geraucht – ja, auch Wände besprüht, wiederholte Male. Aber ich war immer ehrlich zu ihm gewesen. Es schmerzte mich, dass er mir nicht mehr vertraute.

Nachdem Eimer und Trittleiter auf dem winzigen Balkon vor der Küche deponiert waren, schloss ich mich im Bad ein und stellte mich unter die Dusche. Das Wasser lief mir übers Gesicht und allmählich wurde ich den Geruch nach Lösungsmittel los, der mir nun allabendlich in der Nase haftete. Drei Monate noch. Drei Monate, in denen ich meine Freizeit mit dem Schrubben von Wänden verbringen durfte. Bei dem Gedanken zog sich alles in mir zusammen. Ich fühlte mich missverstanden und in solchen Momenten fehlte mir meine Mutter besonders. In meiner Vorstellung hatte sie für alles Verständnis. Das war natürlich Blödsinn, Eltern waren selten verständnisvoll – zumindest, wenn man Endra glauben konnte –, aber ich kannte das Gefühl, welche zu haben, nun mal nicht. Aus Tata war auch kaum etwas über meine Mutter oder die Zeit vor ihrem Tod herauszubekommen. Geschweige denn, dass wir jemals über meinen Vater sprachen, den er selbst nicht mal kannte. Aber wenn wir auf Mum zu sprechen kamen, betonte er immer wieder, wie sehr sie mich geliebt hatte. Und so war sie in meiner Fantasie zu jemandem geworden, der immer auf meiner Seite war und mich gegen alle verteidigte. Und das gab mir Halt.

»Lejla?« Die Stimme meines Großvaters drang zwischen die Musik der fallenden Tropfen und riss mich aus den Gedanken. »Ich muss noch kurz weg – aber du hast noch immer Hausarrest.«

Ich biss die Zähne zusammen.

Als ob ich das nicht wüsste.

Es klopfte an der Tür. »Hast du gehört?«

»Ja! Kann ich jetzt bitte in Ruhe zu Ende duschen?«

»Entschuldige, Liebes. Es ist nur …«

»Ich werde nächsten Monat achtzehn«, platzte es aus mir heraus. »Den Hausarrest könntest du dir echt sparen. Abgesehen davon …«

»Nächsten Monat, ja«, schnitt Tata mir das Wort ab. »Und solange bestimme ich, was du tust. Ich will nicht, dass dir am Ende der Staat Hausarrest gibt. Dann mache ich das lieber selbst.«

Ich schluckte die Wut hinunter. Jedes weitere Wort würde nur wieder alles zum Eskalieren bringen.

»Du weißt, dass ich nur dein Bestes will, nicht wahr?«

»Ja. Schon klar.«

Einen Moment verharrte ich und lauschte, ob noch mehr kam. Doch ich hörte nur noch seine Schritte, die sich von der Tür entfernten.

Verdammt! Ich stieß den Atem aus und schaute zur Decke. Warum gelang es mir nicht, normal zu antworten? Abrupt drehte ich den Hahn zu, zog das Frottiertuch von der Stange und schlang es um mich. Am liebsten hätte ich meinen Sturkopf gegen die Wand geschlagen, aber das hätte ja leider auch nichts gebracht. Also stieg ich aus der Wanne, trocknete mich ab, schlüpfte in eine schwarze Leggings und zog mir den ebenfalls schwarzen Hoodie über. Ich mochte Schwarz. Es passte zu allem. Ganz besonders zu mir.

Zurück im Zimmer ließ ich mich aufs Bett fallen. Auf dem Nachttisch tastete ich nach dem Handy und scrollte zu Endras Nummer. Ich musste wenigstens ihre Stimme hören. Die Kopfhörer in den Ohren lauschte ich dem Summton.

Endras Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Hey«, grinste sie, bevor ihr Lachen sogleich erstarb. »Was ist los?«

Ich erzählte ihr alles, von Validin, über den Ninja bis zur Überraschung zu Hause und dem obligatorischen Streit, der gefolgt war.

»Autsch«, sagte sie nur.

Ich verzog den Mund. »Warum reden die mir zu Hause aufs Band, dass ich nicht kommen muss, und dann sitzt da dieser Validin? Wer heißt überhaupt so? Und dann lässt er mich einfach da versauern. Was soll denn das?«

»Ja, das ist echt bescheuert. Vielleicht haben sie den Typen kurzfristig beauftragt, deine Betreuung zu übernehmen, weil sie dich nicht erreicht haben. Und da das bei ihm so gar nicht auf dem Schirm war, hat er dich dann am Abend total vergessen.«

»Na ja, vielleicht hat er auch Alzheimer oder wurde von Außerirdischen entführt.«

Endra lachte auf und es tat gut, das Leuchten ihrer tiefblauen Augen zu sehen. »Auch das ist möglich. Es gibt so viele Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir nicht verstehen.«

Ich grinste. Das war ihr Lieblingsspruch. Er stammte von ihrer Oma, von der sie die ganze Faszination für die Esoterik geerbt hatte.

»Und der andere Typ? Dieser Ninja?«, hakte Endra nach. »Was wollte der eigentlich?«

»Ich habe keinen Schimmer. Nach eigenen Angaben ist er ja Gärtner.«

Endra prustete los und ich musste auch lachen.

»Ich denke, dass er ein Sprayer ist, so vermummt, wie er war. Und eins sage ich dir: Wenn ich morgen da hinkomme und die Wand ist wieder beschmiert, werde ich ihn anzeigen. Mit dieser Narbe im Gesicht kann er sich kaum verstecken. Noch einmal lasse ich mir nicht den Dreck anderer anhängen.«

Ich mochte es nicht, Leute zu verpfeifen, aber es war einfach zu viel passiert und ich musste jetzt an mich und an Tata denken. Er war meine einzige Familie und die gedrückte Stimmung, die seit Längerem zwischen uns herrschte, bekam mir nicht.

»Ja, unbedingt«, bestärkte mich meine Freundin. »Am Ende meinen die noch, du hast das gemacht.«

Ich stöhnte auf. »Dieser Gedanke macht mich wahnsinnig, seit ich vorhin in die Tram gestiegen bin. Morgen stehe ich einfach ganz früh auf und fahre noch vor der Schule dorthin. Tata schläft eh länger und wird das nicht merken.«

»Hmm«, machte Endra und betrachtete mich mit diesem Ich-weiß-nicht-ob-das-eine-gute-Idee-ist-Blick, der ihre Augenbrauen über der Nase zu einem Dreieck zusammenschob.

»Ich versuche jetzt besser mal zu schlafen«, sagte ich und schickte ihr eine Kusshand. »Wir sehen uns dann morgen, ja?«

»Okay.« Endra knutschte den Bildschirm ab. »Bis morgen dann.«

»Bis dann.«

»Und wenn du Hilfe brauchst, ruf mich an, okay?«

»Mach ich, danke.« Noch einmal schickte ich ihr eine Kusshand und sie tat es mir gleich.

Irgendwann gab ich das Hin- und Herwälzen auf. Ich hatte kaum ein Auge zugetan und wenn, suchten mich Albträume von monströsen, mehrfarbigen Graffitis heim. Mit ausgestrecktem Arm tastete ich unter der Decke hervor nach dem Lichtschalter. Gleich daneben erfühlte ich das Handy. Mit gerümpfter Nase betrachtete ich das Display. Halb sechs Uhr morgens.

Ächzend krümelte ich mich aus den Federn, schlüpfte in eine zerrissene Jeans und eine Bluse und schlich ins Bad, um mir kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Ich hoffte, es würde helfen, die Augen wenigstens halbwegs offen zu halten. Als ich in die hohlen Hände schaute, in denen sich das Wasser sammelte, stutzte ich. Langsam streckte ich die Finger aus, sodass ich die Narben auf den Handflächen besser betrachten konnte. Bildete ich mir das ein, oder waren die weißen kreisförmigen Linien deutlicher geworden? Tata behauptete, dass ich mich als Kind mit beiden Händen an einem Campingkocher verbrannt hatte. Ich konnte mich zum Glück nicht daran erinnern. Aber Narben veränderten sich nach so langer Zeit doch nicht mehr, oder? Ich ballte die Fäuste, um die Durchblutung anzuregen. Vermutlich war das nur das eiskalte Wasser, das mir etwas vorgaukelte. Ich hielt die Hände wieder unter den Strahl und tauchte das Gesicht in das kühle Nass. Danach zog ich die schwarzen Linien um die Augen nach und fuhr mit den Fingern durch meine Haare. Die natürlichen Strähnen waren über den Winter dunkler geworden, dennoch stachen sie deutlich zwischen dem Braun hervor. Von wem ich die wohl hatte? Ich wandte den Blick ab und griff nach einer Haarspange. Es spielte keine Rolle.

Da mein Fahrrad noch auf dem Dreispitzareal stand, musste ich wiederum die Tram nehmen. Aber mit dem Rad wäre es sowieso schwierig geworden, die ganzen Putzsachen zu transportieren, daher machte es keinen Unterschied. Zum Glück war so früh am Morgen nicht viel los und so war ich erstaunlich schnell bei der Villa.

Im Innern der Ruine war es einiges dunkler als draußen und meine Augen stellten sich nur langsam auf die neuen Lichtverhältnisse ein. Nachdem ich die Sachen abgestellt hatte, schaute ich mich um. Kein monströses, mehrfarbiges Graffiti! Meine Muskeln entspannten sich und ich zog die Trittleiter unter den letzten roten Tag. In einer Hand das Gel und die Bürste, stützte ich mich mit der anderen an der Mauer ab, um hochzukommen, nur um zu merken, dass die Handschuhe noch immer im Eimer lagen. Also stieg ich wieder hinunter und wollte mich schon zu den Hilfsmitteln umdrehen, als ich stockte. Ich trat ein paar Schritte weg von der Wand. Das konnte doch nicht wahr sein! Das war doch eben noch nicht da gewesen: Ein Bild in feinen Grau- und Blautönen, kaum vom Putz zu unterscheiden, überspannte die gesamte Wand. Es zeigte eine zerfallene Stadt. Perspektivisch korrekt und total detailgetreu. Und – das war Basel, mit der Mittleren Brücke, deren Steinbögen den Rhein überspannten, und dem Münster mit den zwei Türmen. Aber die meisten Häuser waren zerstört, wie nach einer Apokalypse. Ich stand einfach da und staunte. Eigentlich hätte ich den Ninja ja anzeigen wollen, aber das hier war eine andere Liga von Graffitis. Von wegen üben. So etwas hatte ich noch nie gesehen und eigentlich wollte ich das auch gar nicht wegmachen. Das war ein Kunstwerk. Ich spürte beinahe Ehrfurcht vor seinem Können. Bis mir bewusst wurde, was das nun für mich bedeutete! Schrubben, schrubben, schrubben und das schnell, wenn ich nicht wieder einen Eintrag im Absenzenheft riskieren wollte. Mir blieb also maximal eine halbe Stunde und die ganze verdammte Wand war voll!

Hätte er sich nicht einen anderen Ort suchen können? Idiot!

Resigniert streifte ich mir die Handschuhe über und machte mich erst mal an den Tag. Ich ließ das Gel etwas länger einwirken, so ging das rote Zeug mit der Bürste einigermaßen gut ab. Doch dann kam ich zu der graublauen Farbe, und da ging gar nichts mehr. Ich ließ das Gel einwirken, massierte, bürstete, nahm noch mehr Gel und fing von vorne an, aber die Farbe ging nicht mal in homöopathischen Dosen ab. Am Ende versuchte ich es aus lauter Verzweiflung einfach mit Wasser, aber nichts half. Dieser Lack, oder was immer das war, saß fest wie die Maserung des Putzes selbst. Ich stieg von der Trittleiter hinunter und musterte die Mauer. Erst das Klingeln des Handys holte mich aus der Starre. Endra!

»Er hat es getan!«, rief ich in den Lautsprecher. »Und ich bekomme das Zeug nicht runter. Was soll ich denn jetzt tun?«

»Shit! Echt? Wo bist du denn?«

»Noch immer in der Villa.«

»Ich komm dir helfen.«

»Die Schule beginnt glei–«

»Adresse!«

»Endra, du musst das nicht mach–«

»Gib mir die Adresse!«

Ich lächelte, typisch meine Freundin, Widerrede war zwecklos. Also gab ich ihr die Straße durch und setzte mich auf die Treppe vor dem Eingang. Wenig später kam sie den Hügel hinaufgeradelt. Ich erhob mich und ging auf sie zu. Sie lehnte ihr Rad gegen einen Busch.

»Du bist so ein Schatz! Danke, dass du gekommen bist.«

»Ist doch klar.«

»Nein«, betonte ich, »ist es nicht.«

Sie lächelte und zog mich in die Arme. »Jetzt zeig mir mal das Übel.«

Ich führte sie in den vorderen Raum der zerfallenen Villa.

Endra schaute sich um. »Okay – wo ist nun dieses Bild?«, fragte sie und grinste mich an, während ihre Augen die Wände absuchten.

»Na da«, sagte ich und zeigte auf die fensterlose Mauer vor ihr.

Endra schaute mich mit großen Augen und einem entrückten Grinsen im Gesicht an, als ob sie darauf wartete, dass ich in Gelächter ausbrach. Aber das tat ich nicht und ihr Grinsen erstarb. »Du meinst das ernst«, stellte sie fest.

»Aber …« Ich schaute von Endra zum Bild und zurück. »Siehst du das nicht? Das graublaue Zeug da?«

»Da ist nichts, Lejla.« Sie schüttelte den Kopf. »Da ist alles sauber.« Sie ging ein paar Schritte daran entlang auf und ab. »Okay, hier sieht man, dass du was weggemacht hast, aber das kann man wohl nicht vermeiden. Meinst du das?«

Ich schluckte, konnte meine Augen nicht von dem Bild nehmen, von den zerstörten Häusern, die mir eine Gänsehaut bereiteten. Sie sah es nicht. Warum sah sie das nicht?

»Lass uns gehen, Lejla. Hier ist es unheimlich.«

»Aber …«, ich wies auf die Wand.

»Du hast deinen Job gemacht. Ich sehe, dass da mal was war, und das ist nun sauber. Wer immer etwas mit dem Haus vorhat, wird eh neu streichen müssen – also eigentlich hilft hier sowieso nur noch Abreißen, aber egal.«

Ein kühler Wind raschelte am verdorrten Efeu vor dem Fenster und wehte mir um den Kopf.

»Lass uns bitte gehen, Lejla. Mit dem Ort stimmt etwas nicht.«

»Wie meinst du das, es stimmt was nicht?«

Sie hielt mir den Arm hin, von dem alle Härchen abstanden. »Siehst du das? Grusel! Pack dein Zeug.«

Wie fremdgesteuert folgte ich ihren Anweisungen, aber in meinem Kopf herrschte Stillstand. »Und du siehst absolut nichts?«

»Rein gar nichts. Ehrenwort.«

Meine Freundin half mir, die Lappen einzusammeln, und schob mich beinahe aus dem Haus. Vor dem Gartentor nahm sie mir den Eimer ab, hing ihn über den Lenker und wies mich an, auf den Gepäckträger zu sitzen. Den Zweitritt hängte ich mir, wie auch die Tasche, um die Schulter.

Ein leises Brummen ließ mich den Kopf drehen. Aus dem Augenwinkel sah ich hinter uns ein Motorrad, das am Straßenrand stand. Der Fahrer war komplett schwarz gekleidet, das Visier des Helms war dunkel getönt. Aber der Ninja Style verriet ihn und ich spürte, dass er mich anschaute.

»Warte mal«, sagte ich zu Endra. »Ich glaube, da ist wieder der Typ von gestern, der Ninja.«

Aber meine Freundin hörte nichts mehr. Sie trat in die Pedale, als ob der Teufel hinter ihr her wäre. Es ging den Hügel hinab und ich betete, es möge kein Ast oder Stein im Weg liegen, so dass wir heil unten ankamen.

  Kapitel 4  

LEJLA

Natürlich war die erste Stunde schon vorbei, als Endra und ich in der Schule eintrafen. Wir kassierten unseren Eintrag im Klassenheft und, besonders ich, ein hämisches Grinsen von Lars.