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Inhaltsverzeichnis

Widmung
PROLOG
ERSTES BUCH
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWEITES BUCH
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
DRITTES BUCH
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
SIEBENUNDZWANZIG
VIERTES BUCH
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
DREISSIG
EINUNDDREISSIG
Copyright

EINS

»Ja«, sagte Suparwita, »das ist der Ring, den Holly Marie Moreau von ihrem Vater bekommen hat.«

»Dieser Ring?« Jason Bourne hielt ihn hoch – es war ein einfacher Goldring mit einer Gravur an der Innenseite. »Ich kann mich nicht daran erinnern.«

»Du kannst dich an vieles aus deiner Vergangenheit nicht erinnern«, sagte Suparwita, »auch nicht an Holly Marie Moreau.«

Bourne und Suparwita saßen mit überkreuzten Beinen auf dem Fußboden im Haus des balinesischen Schamanen tief im Dschungel von Karangasem im Südosten von Bali. Bourne war auf die Insel zurückgekehrt, um Noah Perlis zu finden, jenen Angehörigen einer privaten Sicherheitsfirma, der Holly vor Jahren ermordet hatte. Er hatte Perlis den Ring abgenommen, nachdem er ihn nur wenige Kilometer von hier getötet hatte.

»Holly Maries Eltern kamen aus Marokko hierher, als sie fünf war«, erzählte Suparwita. »Sie sahen aus, als wären sie auf der Flucht.«

»Wovor sind sie denn geflüchtet?«

»Das ist schwer zu sagen. Wenn die Geschichten, die ich gehört habe, stimmen, dann wurden sie aus religiösen Gründen verfolgt.« Suparwita war ein Mangku, ein Priester, Schamane und einiges mehr, was sich in westlichen Begriffen nicht ausdrücken ließ. »Sie haben Schutz gesucht.«

»Schutz?«, fragte Bourne stirnrunzelnd. »Wovor?«

Suparwita war ein gut aussehender Mann von unbestimmtem Alter. Seine Haut hatte einen haselnussbraunen Farbton, sein Lächeln war breit und strahlend. Er war für einen Balinesen groß und kräftig gebaut und strahlte eine Art übernatürliche Macht aus, die Bourne faszinierte. Sein Haus war von einem üppigen Garten und hohen Mauern umgeben und lag im tiefen Schatten, sodass es drinnen auch jetzt um die Mittagszeit angenehm kühl war. Der Fußboden war aus gestampftem Lehm und mit einem Sisalteppich bedeckt. Hier und dort standen Töpfe mit irgendwelchen Kräutern, Schüsseln mit fremdartigen Wurzeln und getrocknete Blumen, die fächerförmig gepresst waren. Die Schatten in den Winkeln waren ständig in Bewegung, wie fließendes Wasser.

»Vor Hollys Onkel«, sagte Suparwita. »Von ihm haben sie den Ring genommen.«

»Hat er gewusst, dass sie ihn gestohlen haben?«

»Er dachte, er hätte ihn verloren.« Suparwita legte den Kopf auf die Seite. »Da sind Männer draußen.«

Bourne nickte. »Um die kümmern wir uns gleich.«

»Bist du nicht besorgt, dass sie hereinplatzen könnten, mit gezogenen Waffen?«

»Sie werden nichts tun, bis ich rauskomme; sie wollen mich, nicht dich.« Bourne strich mit dem Zeigefinger über den Ring. »Erzähl weiter.«

Suparwita neigte den Kopf. »Sie haben sich vor Hollys Onkel versteckt. Er hatte geschworen, Holly zum Familiensitz im Atlasgebirge zurückzubringen.«

»Sie sind Berber. Natürlich, Moreau ist ja mit den Wörtern ›Maure‹ und ›Mohr‹ verwandt«, sinnierte Bourne. »Warum wollte Hollys Onkel sie nach Marokko zurückholen?«

Suparwita sah Bourne lange an. »Ich glaube, du hast es einmal gewusst«, sagte er schließlich.

»Noah Perlis hatte den Ring als Letzter, also muss er Holly ermordet haben, um ihn zu bekommen. Warum hat er ihn gewollt? Wie kann ein einfacher Ehering so wichtig sein?«

»Das«, sagte Suparwita, »ist ein Teil der Geschichte, die du herausfinden wolltest.«

»Das ist schon einige Zeit her. Jetzt wüsste ich nicht mehr, wo ich anfangen soll.«

»Perlis hatte Wohnungen in vielen Städten, aber sein Hauptwohnsitz war in London. Und dort war auch Holly oft, bevor sie nach Bali zurückkehrte. Perlis muss ihr hierher gefolgt sein, um sie zu töten und ihr den Ring abzunehmen.«

»Woher weißt du das alles?«, fragte Bourne.

Suparwita sah ihn mit seinem strahlenden Lächeln an. In diesem Moment sah er aus wie der Geist, der von Aladin gerufen wurde. »Ich weiß es«, erklärte er, »weil du es mir erzählt hast.«

 

Soraya Moore sah, kaum dass sie die CI-Zentrale in Washington betreten hatte, die Unterschiede zwischen der alten Central Intelligence unter der gestorbenen Veronica Hart und der neuen CI unter M. Errol Danziger. Das Erste, was ihr auffiel, war, dass die Sicherheitsvorkehrungen dermaßen verstärkt worden waren, dass man das Gefühl hatte, in eine mittelalterliche Festung einzudringen, wenn man die verschiedenen Checkpoints passierte. Das Zweite war, dass sie keinen einzigen Angehörigen des Sicherheitsteams kannte. Jedes Gesicht hatte diesen harten, starren Blick, den man nur bei den US-Streitkräften bekommt. Sie war im Grunde nicht einmal überrascht. Schließlich war Danziger, bevor er zum DCI, zum Direktor der Central Intelligence, ernannt wurde, Abteilungsleiter für Funkaufklärung bei der NSA, der National Security Agency, gewesen. Er hatte eine lange Laufbahn bei den Streitkräften und dann im Verteidigungsministerium hinter sich. Außerdem stand er im Ruf, ein beinharter Hund zu sein. Was sie jedoch überraschte und auch erschreckte, war das Tempo, in dem der neue DCI seine eigenen Leute in der CI platzierte.

Seit den Zeiten ihres Vorläufers aus dem Zweiten Weltkrieg, des Office of Strategic Services, war die Agency stets unabhängig gewesen. Nie gab es irgendeinen Einfluss durch das Pentagon oder seinen Geheimdienst, die NSA. Nun aber hatte Verteidigungsminister Bud Halliday sein Ziel erreicht, die CI in seinen Machtbereich einzugliedern und mit der NSA zu verschmelzen  – denn er war es, der dem neuen Direktor M. Errol Danziger vorgab, was er zu tun hatte.

Soraya, die ihrerseits Leiterin von Typhon war, einer vorwiegend mit Muslimen besetzten CI-Sonderabteilung zur Terrorbekämpfung, überlegte nun, welche Änderungen Danziger in den Wochen, die sie in Kairo verbracht hatte, vorgenommen haben mochte. Sie war froh, dass Typhon weitgehend unabhängig operierte. Sie war direkt dem DCI unterstellt, ohne irgendeinem der Abteilungsleiter Rechenschaft über ihre Aktivitäten geben zu müssen. Sie war zur Hälfte Araberin und kannte ihre Leute gut, weil sie sie zum größten Teil selbst ausgesucht hatte. Sie würden mit ihr durch die Hölle gehen, wenn es sein musste. Aber was war mit den Freunden und Kollegen innerhalb der CI selbst? Würden sie bleiben oder gehen?

Sie stieg im Stockwerk, in dem der DCI sein Büro hatte, aus dem Aufzug und trat in den Flur, der in ein gespenstisches grünes Licht getaucht war, das durch kugel- und bombensichere Fenster hereinströmte. Direkt vor sich sah sie einen Schreibtisch, hinter dem ein dünner junger Mann mit stahlharten Augen und Bürstenschnitt saß und einen Stapel Papiere durchsah. Auf dem Namensschild auf seinem Schreibtisch stand: LT. R. SIMMONS READE.

»Guten Tag, ich bin Soraya Moore«, sagte sie. »Ich habe einen Termin beim DCI.«

Lieutenant R. Simmons Reade blickte auf und sah sie mit einem neutralen Blick an, der jedoch etwas leicht Spöttisches zu haben schien. Er trug einen blauen Anzug, ein gestärktes weißes Hemd und eine Krawatte mit rot-blauen Regimentsstreifen. Ohne auf seinem Computer nachzusehen, sagte er: »Sie hatten einen Termin bei Director Danziger. Das war vor fünfzehn Tagen.«

»Ja, ich weiß«, sagte sie. »Ich war im Einsatz und musste noch ein paar Dinge klären, nach der Operation in Nordiran, die …«

In dem grünlichen Licht wirkte Reades Gesicht länger und kantiger und irgendwie gefährlich, fast wie eine Waffe. »Sie haben einen ausdrücklichen Befehl von Director Danziger missachtet.«

»Der neue DCI war noch so kurz im Amt«, rechtfertigte sie sich. »Er konnte unmöglich wissen, dass …«

»Und doch weiß Director Danziger alles über Sie, was er wissen muss, Ms. Moore.«

»Was zum Teufel soll das heißen?«, erwiderte Soraya ungehalten. »Außerdem … Director Moore, wenn ich bitten darf.«

»Sie sind nicht auf dem neuesten Stand, Ms. Moore«, gab Reade in nüchternem Ton zurück. »Sie sind nicht mehr in der CI.«

»Was? Sie machen Witze. Ich kann doch nicht …« Soraya hatte das Gefühl, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. »Ich will sofort den DCI sprechen!«

Reades Gesicht wurde noch härter. »Sie sind mit sofortiger Wirkung Ihrer Befugnisse enthoben. Bitte geben Sie Ihren Dienstausweis, Ihre Firmenkreditkarten und Ihr Mobiltelefon ab.«

Soraya beugte sich vor, die Fäuste auf den glatten Schreibtisch gestützt. »Wer zum Teufel sind Sie, dass Sie mir sagen, was ich tun soll?«

»Ich bin die Stimme von Director Danziger.«

»Ich glaube Ihnen kein Wort.«

»Ihre Karten sind gesperrt. Es gibt für Sie nur einen Weg: hinaus.«

Sie richtete sich wieder auf. »Sagen Sie dem DCI, ich bin in meinem Büro, wenn er irgendwann Zeit hat, mit mir zu reden.«

R. Simmons Reade griff neben seinen Schreibtisch hinunter, hob einen kleinen offenen Karton auf und hielt ihn ihr hin. Soraya sah hinein und hielt den Atem an. Da drinnen lagen, fein säuberlich geschichtet, alle persönlichen Dinge, die sie in ihrem Büro gehabt hatte.

 

»Ich kann nur das wiederholen, was du selbst mir gesagt hast.« Suparwita stand auf, und Bourne ebenso.

»Dann war ich also damals schon beunruhigt wegen Noah Perlis.« Es war keine Frage, und der balinesische Schamane fasste es auch nicht so auf. »Aber warum? Und was hatte er mit Holly Marie Moreau zu tun?«

»Wie immer es gewesen sein mag«, antwortete Suparwita, »es sieht jedenfalls so aus, als wären sie sich in London begegnet.«

»Und was ist mit der seltsamen Inschrift an der Innenseite des Rings?«

»Du hast sie mir schon einmal gezeigt, weil du hofftest, ich könnte dir helfen. Aber ich habe keine Ahnung, was sie bedeutet.«

»Es ist irgendeine alte Sprache«, sagte Bourne, während er sich immer noch das Hirn zermarterte, um irgendetwas aus seinem eingeschränkten Erinnerungsvermögen hervorzuholen.

Suparwita machte einen Schritt auf ihn zu. »Du musst wissen«, sagte er fast im Flüsterton und doch mit durchdringender Stimme, »du bist im Dezember zur Welt gekommen, das ist Sivas Monat.« Er sprach den Namen des Gottes Shiva so aus, wie alle Balinesen es taten. »Außerdem wurdest du an Sivas Tag geboren – dem letzten Tag des Monats, der gleichzeitig Ende und Anfang ist. Verstehst du, was ich meine? Es ist dir bestimmt, zu sterben und wiedergeboren zu werden.«

»Das ist mir schon vor ein paar Monaten passiert, als Arkadin auf mich geschossen hat.«

Suparwita nickte ernst. »Hätte ich dir nicht vorher einen Tee der Auferstehungslilie zu trinken gegeben, dann wärst du wahrscheinlich an den Verletzungen gestorben.«

»Du hast mich gerettet«, stimmte Bourne zu. »Warum?«

Suparwita sah ihn wieder mit seinem strahlenden Lächeln an. »Wir sind miteinander verbunden, du und ich.« Er zuckte mit den Schultern. »Wer kann schon sagen, wie oder warum?«

Bourne wusste, dass draußen vor dem Haus ein Problem auf ihn wartete, dem er sich widmen musste. »Es sind zwei Männer draußen. Ich habe mich vergewissert, bevor ich hereinkam.«

»Und doch hast du sie hierher geführt?«

Jetzt war es an Bourne zu lächeln. »Das gehört alles zum Plan, mein Freund«, sagte er mit leiser Stimme.

Suparwita hob eine Hand. »Bevor du deinen Plan ausführst, gibt es noch etwas, das du wissen musst.«

Er schwieg eine Weile, sodass Bourne sich schon fragte, was er auf dem Herzen haben mochte. Er kannte den Schamanen gut genug, um zu wissen, wann er etwas Ernstes zu sagen hatte. Diesen Gesichtsausdruck hatte er auch an ihm gesehen, als Suparwita ihm vor einigen Monaten hier in diesem Raum den Tee der Auferstehungslilie zu trinken gegeben hatte.

»Hör zu«, sagte der Schamane ungewöhnlich ernst. »Bevor ein Jahr vergangen ist, wirst du sterben – du musst sterben, um die zu retten, die du liebst und die dir etwas bedeuten.«

Trotz der mentalen Disziplin, die er sich antrainiert hatte, spürte Bourne, wie ein kalter Hauch durch ihn hindurchging. Es war eine Sache, sich immer wieder in Gefahr zu begeben und den Tod zu überlisten, oft nur um Haaresbreite – aber etwas ganz anderes war es, wenn einem klipp und klar gesagt wurde, dass man nicht einmal mehr ein Jahr zu leben hatte. Sicher, er hätte darüber lachen können – schließlich kam er aus der westlichen Welt, und es gab so viele Glaubensrichtungen, dass man vieles davon ganz einfach nicht ernst nehmen musste. Und dennoch – wenn er in Suparwitas Augen sah, dann erkannte er die Wahrheit darin. Wie schon früher hatte Suparwita mit seinen außerordentlichen Fähigkeiten die Zukunft vorhergesagt, oder zumindest Bournes Zukunft. Wir sind miteinander verbunden, du und ich. Er hatte Bourne zuvor das Leben gerettet, es wäre dumm gewesen, jetzt an ihm zu zweifeln.

»Weißt du auch, wie, oder wann?«

Suparwita schüttelte den Kopf. »So funktioniert es nicht. Meine kurzen Blicke in die Zukunft sind wie Wachträume, in denen ich die Vorzeichen sehe, aber keine Bilder, keine Details, nichts Deutliches.«

»Du hast mir einmal gesagt, dass Siva auf mich aufpassen würde.«

»Das stimmt.« Das Lächeln kehrte in Suparwitas Gesicht zurück, und er führte Bourne in ein anderes Zimmer, das dunkel war und vom Duft der Frangipani-Räucherstäbchen erfüllt. »Und die nächsten Stunden werden wieder einmal beweisen, wie er dir hilft.«

 

Valerie Zapolsky, Rory Dolls Assistentin, überbrachte DCI M. Errol Danziger die Nachricht persönlich, weil, wie sie sagte, ihr Chef die Mitteilung nicht dem Computersystem anvertrauen wollte, auch wenn das System der CI gegen Hacker besonders gut abgesichert war.

»Warum ist Doll nicht selbst gekommen?«, fragte Danziger stirnrunzelnd, ohne aufzublicken.

»Der Leiter der Operationsabteilung ist anderweitig beschäftigt«, antwortete die kleine dunkelhaarige Frau. »Vorübergehend.«

Verärgert, weil Doll seine Assistentin geschickt hatte, warf Danziger einen Blick auf den Bericht, den sie mitgebracht hatte. »Jason Bourne lebt? Was zum Teufel …!« Er sprang auf, als würde er auf einem elektrischen Stuhl sitzen. Während er den Bericht überflog, der nur sehr kurz war und keine nennenswerten Details enthielt, rötete sich sein Gesicht zusehends. Sein Kopf zitterte richtig.

Dann machte Valerie den schweren Fehler, hilfsbereit sein zu wollen. »Director, kann ich irgendetwas tun?«, fragte sie.

»Tun, tun?« Er blickte auf, als würde er aus einer tiefen Benommenheit auftauchen. »Sicher können Sie was tun: Sagen Sie mir sofort, dass das ein schlechter Witz von Rory Doll ist. Wenn nämlich nicht, dann sind Sie auf der Stelle gefeuert.«

»Das wäre alles, Val«, sagte Rory Doll, der hinter ihr in der Tür erschien. »Gehen Sie ins Büro zurück«, fügte er nicht ohne schlechtes Gewissen hinzu, weil er sie ins Feuer geschickt hatte.

»Verdammt«, sagte Danziger. »Ich schwöre Ihnen, ich werde sie feuern.«

Doll schlenderte ins Büro und blieb vor Danzigers Schreibtisch stehen. »Wenn Sie das tun, dann haben Sie Stu Gold am Hals.«

»Gold? Wer zum Teufel ist Stu Gold, und was geht mich der Typ an?«

»Er ist der Anwalt der CI.«

»Dann feuere ich ihn auch.«

»Unmöglich, Sir. Seine Firma hat einen hieb- und stichfesten Vertrag mit der CI.«

Die Hand des DCI durchschnitt die Luft mit einer energischen Geste. »Glauben Sie, ich finde keinen Grund, um sie völlig rechtmäßig zu feuern?« Er schnippte mit den Fingern. »Wie heißt sie doch gleich?«

»Zapolsky. Valerie A. Zapolsky.«

»Genau – was ist das für ein Name, ein russischer? Ich will, dass sie auf Herz und Nieren überprüft wird, bis hin zur Marke des Zehennagellacks, den sie benutzt, verstanden?«

Doll nickte diplomatisch, doch seine blauen Augen funkelten. »Absolut, Sir.«

»Und gnade Ihnen Gott, wenn an dem Bericht hier auch nur eine Kleinigkeit nicht stimmt.«

Seit Peter Marks die CI verlassen hatte, war der DCI ausgesprochen schlecht gelaunt. Es war noch kein neuer Leiter der Operationsabteilung ernannt worden. Marks war Dolls Chef gewesen, und Doll wusste, dass er gute Chancen hatte, Marks’ Posten einzunehmen, wenn er seine Loyalität gegenüber Danziger unter Beweis stellen konnte. Er knirschte mit den Zähnen in stillem Zorn und wechselte das Thema. »Wir müssen über diese neue Information reden.«

»Das ist kein Foto aus irgendeiner Akte? Das Ganze ist nicht vielleicht ein Scherz?«

»Ich wünschte, es wäre so«, antwortete Doll kopfschüttelnd. »Nein, Sir. Jason Bourne wurde am Flughafen Denpasar fotografiert, auf Bali, Indonesien …«

»Verdammt, Doll, ich weiß, wo Bali liegt.«

»Ich wollte nur genau sein, Sir, wie Sie es uns am ersten Tag nahegelegt haben.«

Der DCI kochte zwar immer noch innerlich, sagte aber nichts. Er hielt den Bericht mit dem körnigen Schwarz-Weiß-Foto von Bourne in seiner Faust – seiner eisernen Faust, wie er sich ausdrückte.

»Wie Sie an der Datumseinblendung in der rechten unteren Ecke sehen können, wurde das Foto vor drei Tagen aufgenommen, um vierzehn Uhr neunundzwanzig Ortszeit. Unsere Abteilung für Funkaufklärung hat so lange gebraucht, um sicherzustellen, dass kein Fehler und keine Fälschung vorliegt.«

Danziger atmete tief ein. »Er war tot – Bourne galt als tot. Ich bin davon ausgegangen, dass wir ihn ein für alle Mal los sind.« Er zerknüllte das Foto und warf es in den Reißwolf. »Dann ist er also immer noch dort – so viel werden Sie ja wohl wissen, oder?«

»Ja, Sir.« Doll nickte. »Im Moment ist er auf Bali.«

»Wird er überwacht?«

»Rund um die Uhr. Er kann keinen Schritt tun, ohne dass wir’s mitbekommen.«

Danziger überlegte einen Augenblick. »Wer ist unser Mann fürs Grobe in Indonesien?«, fragte er schließlich.

Doll war auf diese Frage vorbereitet. »Coven. Aber Sir, wenn ich darauf hinweisen darf – in ihrem letzten schriftlichen Bericht aus Kairo hat Soraya Moore betont, dass Bourne großen Anteil daran hatte, dass die Katastrophe im Nordiran abgewendet werden konnte, die Black River fast verursacht hätte.«

»Wir wissen ja, dass Bourne über die gefährliche Fähigkeit verfügt, Frauen zu beeinflussen. Moore gehört sicher auch dazu, darum wurde sie auch gefeuert.« Der DCI nickte. »Aktivieren Sie Coven, Mr. Doll.«

»Wird gemacht, Sir, aber er wird einige Zeit brauchen, um …«

»Haben wir jemanden näher dran?«, wandte Danziger ungeduldig ein.

Doll sah in seinen Unterlagen nach. »Wir haben ein Einsatzteam in Jakarta. Ich kann dafür sorgen, dass die Jungs in einer Stunde in einem Militärhubschrauber sitzen.«

»Tun Sie das, und schicken Sie Coven als Reserve hinterher«, befahl der DCI. »Der Befehl lautet, dass sie Bourne heimbringen sollen. Ich möchte ihn einer eingehenden … äh … Befragung unterziehen. Ich will alles wissen, seine ganzen Geheimnisse, wie er es anstellt, uns immer wieder zu entkommen, wie er ein ums andere Mal dem Tod entwischt.« Danzigers Augen funkelten boshaft. »Wenn wir mit ihm fertig sind, jagen wir ihm eine Kugel in den Kopf und sagen, dass es die Russen waren.«

ZWEI

Die lange Nacht von Bangalore ging dem Ende zu. Überall roch es nach dreckigen Abwässern, Krankheiten und menschlichem Schweiß. Man spürte regelrecht die allgegenwärtige Gewalt, die mühsam unterdrückte Wut, die vereitelten Wünsche und die Verzweiflung, und das blasse Licht der Morgendämmerung vermochte der Stadt auch keine Farbe zu verleihen.

Arkadin fand eine Arztpraxis, verschaffte sich Zutritt und nahm sich, was er brauchte: Nähfaden, Jodtinktur, sterile Wundauflagen, Verbandszeug und Antibiotika. Er streifte durch die nächtlichen Straßen und wusste, dass er die Blutung an seinem Oberschenkel irgendwie stillen musste. Die Wunde war nicht lebensbedrohend, aber tief, und er wollte nicht noch mehr Blut verlieren. Vor allem aber brauchte er einen Platz, wo er sich verstecken konnte. Oserow saß ihm im Nacken, und Arkadin verfluchte sich selbst dafür, dass er sich von seinem Feind auf dem falschen Fuß hatte erwischen lassen. Ihm war klar, dass der nächste Schritt entscheidend war; wenn er jetzt etwas Falsches tat, dann würde er das wahrscheinlich mit dem Leben bezahlen.

Da Maslow ihn nun einmal aufgespürt hatte, war klar, dass er seinen Kontaktpersonen hier in der Stadt nicht länger vertrauen konnte. Damit blieb ihm nur noch ein Ausweg: der Ort, an dem er die absolute Kontrolle hatte. Unterwegs wählte er eine verschlüsselte Nummer, über die er mit seinen Vertrauensleuten verbunden wurde  – Stepan, Luka, Pawel, Alik und auch Ismael Bey, der als sein Strohmann die Östliche Bruderschaft leitete, während Arkadin selbst im Hintergrund die alleinige Macht in den Händen hielt.

»Wir werden von Maslow und Oserow angegriffen, von der ganzen Kazanskaja«, teilte er jedem von ihnen ohne Umschweife mit. »Ab sofort befinden wir uns im Kriegszustand.«

Er hatte sie gut ausgebildet, sie stellten keine überflüssigen Fragen, sondern nahmen einfach nur den Befehl zur Kenntnis. Dann begannen sie sofort mit den Vorbereitungen, die Arkadin schon vor Monaten geplant hatte. Jeder seiner Hauptmänner hatte seine ganz bestimmte Aufgabe, jeder trug seinen Teil zu einer Operation bei, die sich buchstäblich über den ganzen Erdball erstreckte. Maslow wollte den Krieg, also würde er ihn bekommen, und das nicht nur an einer einzigen Front.

Arkadin schüttelte den Kopf und lachte grimmig. Dieser Augenblick hatte schon länger in der Luft gelegen, so unvermeidlich wie der nächste Atemzug. Jetzt, wo es endlich so weit war, fühlte er sich fast erleichtert. Er brauchte nicht mehr mit knirschenden Zähnen zu lächeln und Freundschaft zu heucheln, wo es nichts als erbitterte Feindschaft gab.

Du bist ein toter Mann, Dimitri Iljitsch Maslow, dachte Arkadin. Du weißt es nur noch nicht.

Ein Hauch von Pink hatte den Himmel verfärbt, und er war fast bei Chaaya angekommen. Zeit, den heiklen Anruf zu machen. Er tippte eine elfstellige Nummer ein. »Antidrogenbehörde«, meldete sich ein Beamter auf Russisch. Der mittlerweile berüchtigte FSB-2 unter seinem Direktor Viktor Tscherkesow war heute die mächtigste und gefürchtetste russische Behörde und übertraf sogar den Inlandsgeheimdienst FSB, den Nachfolger des KGB.

»Oberst Karpow, bitte«, verlangte Arkadin.

»Es ist vier Uhr nachts. Oberst Karpow ist nicht zu sprechen«, sagte der Beamte mit einer Stimme, die Arkadin an einen Untoten in einem Film von George Romero erinnerte.

»Ich auch nicht«, erwiderte Arkadin sarkastisch, »aber ich nehme mir trotzdem die Zeit, um mit ihm zu sprechen.«

»Und wer sind Sie?«, fragte die emotionslose Stimme.

»Mein Name ist Arkadin, Leonid Danilowitsch Arkadin. Und jetzt holen Sie Ihren Chef.«

Der Beamte hielt kurz den Atem an. »Bleiben Sie dran«, sagte er schließlich.

»Sechzig Sekunden«, erwiderte Arkadin und sah auf seine Uhr, »keine Sekunde länger.«

Achtundfünfzig Sekunden später klickte es einige Male, ehe sich eine tiefe, schroffe Stimme meldete. »Oberst Karpow hier.«

»Boris Iljitsch, wir sind uns in den vergangenen Jahren schon oft beinahe begegnet.«

»Ich wollte, ich könnte das beinahe streichen. Woher weiß ich, dass ich mit Leonid Danilowitsch Arkadin spreche?«

»Sie sind doch immer noch hinter Dimitri Maslow her, nicht wahr?«

Karpow schwieg, und so fuhr Arkadin fort: »Oberst, wer sonst könnte Ihnen die Kazanskaja auf dem Silbertablett servieren?«

Karpow lachte schroff. »Der richtige Arkadin würde sich nie gegen seinen Mentor wenden. Wer immer Sie sind – Sie verschwenden meine Zeit. Gute Nacht.«

Arkadin nannte ihm eine Adresse in einem Industrieviertel in Moskau.

Karpow schwieg einige Augenblicke, doch Arkadin hörte das scharfe Geräusch seines Atems. Alles hing von diesem Gespräch ab; Karpow musste ihm unbedingt glauben, dass er wirklich Leonid Danilowitsch Arkadin war und die Wahrheit sagte.

»Was soll ich mit dieser Adresse?«, fragte der Oberst nach einer Weile.

»Dort ist ein Lagerhaus. Von außen sieht es genauso aus wie die hundert anderen, die links und rechts davon stehen. Innen übrigens auch.«

»Sie langweilen mich, Gospodin – wer immer Sie sind.«

»Durch die dritte Tür auf der linken Seite kommen Sie in eine Toilette. Gehen Sie am Pissoir vorbei zur letzten Kabine rechts. Da ist keine Toilette drin, sondern eine Tür in der Rückwand.«

Karpow zögerte einen Moment. »Und dann?«, fragte er.

»Gehen Sie schwer bewaffnet rein«, antwortete Arkadin.

»Sie meinen, ich soll mit einem Trupp …«

»Nein! Sie müssen allein gehen. Außerdem dürfen Sie niemandem sagen, wo Sie hingehen. Sagen Sie, dass Sie zum Zahnarzt müssen oder dass Sie kurz weggehen, um eine kleine Nummer zu schieben – was immer Ihre Genossen Ihnen am ehesten glauben.«

Es folgte wieder eine Pause, die etwas Bedrohliches hatte. »Wer ist der Maulwurf in meinem Büro?«

»Ach, kommen Sie, Boris Iljitsch, jetzt seien Sie nicht so undankbar. Sie wollen mir doch nicht den Spaß verderben, nachdem ich Ihnen gerade ein so schönes Geschenk gemacht habe.« Arkadin wartete einen Augenblick; der Oberst hatte angebissen, deshalb beschloss er, noch etwas nachzulegen. »Aber ich würde an Ihrer Stelle nicht von einem Maulwurf in der Einzahl reden – Maulwürfe ist eher zutreffend.«

»Was …? Also, jetzt hören Sie mir mal zu …!«

»Sie machen sich besser auf den Weg, Oberst, sonst werden Sie Ihre Zielpersonen nicht mehr antreffen«, sagte er lachend. »Hier ist meine Nummer – ich weiß, dass Sie sie nicht auf dem Display haben. Rufen Sie mich an, wenn Sie zurück sind, dann reden wir über die Namen, die Sie interessieren, und über vieles mehr.«

Er trennte die Verbindung, bevor Karpow noch etwas sagen konnte.

 

Der Arbeitstag war schon fast zu Ende, als Delia Trane an ihrem Schreibtisch saß und ein dreidimensionales Computermodell einer teuflisch raffinierten Bombe betrachtete. Sie suchte einen Weg, sie zu entschärfen, bevor sie gezündet wurde. Es würde einen Signalton geben, wenn sie einen Fehler machte – wenn sie den falschen virtuellen Draht kappte. Das Programm, das die virtuelle Bombe geschaffen hatte, war von ihr selbst, doch das bedeutete nicht, dass es ihr leichtfiel, einen Weg zu finden, sie zu entschärfen.

Delia war eine unauffällig aussehende Frau Mitte dreißig mit blassen Augen, kurz geschnittenem Haar und einer goldbraunen Haut – ein Erbe ihrer kolumbianischen Mutter. Trotz ihrer relativ jungen Jahre und ihres oft aufbrausenden Temperaments war sie eine angesehene Sprengstoffexpertin beim ATF, der amerikanischen Sicherheitsbehörde für Alkohol, Tabak, Schusswaffen und Sprengstoff. Sie war außerdem Soraya Moores beste Freundin, und wenn einer der Sicherheitsleute aus der Eingangshalle ihr mitteilte, dass Soraya da war, dann ließ sie sie sofort nach oben kommen, egal wie beschäftigt sie gerade war.

Die beiden Frauen hatten sich über die Arbeit kennengelernt und schnell erkannt, wie viel sie gemeinsam hatten. Mit der Zeit entstand eine enge Freundschaft, wie sie innerhalb der hermetisch abgeschlossenen Welt der Regierungsbehörden im Beltway sehr selten war. Da sie sich bei einem von Sorayas geheimen Einsätzen getroffen hatten, gab es auch keine Notwendigkeit, einander zu verheimlichen, womit sie sich beruflich beschäftigten, was schon viele Beziehungen in Washington D.C. zerstört hatte. Keine der beiden konnte sich ein Leben ohne ihre heiklen beruflichen Aufgaben vorstellen. Ihre Arbeit bot ihnen außerdem die Gelegenheit, sich in einem Umfeld zu beweisen, in dem es immer noch jede Menge Vorurteile gegenüber dem weiblichen Geschlecht gab. Zusammen nahmen sie es, Amazonen gleich, Tag für Tag mit dem männlichen Establishment von Washington auf.

Delia wandte sich wieder ihrem Modell zu, das für sie wie eine ganze Welt im Miniaturformat war. Binnen Sekunden war sie völlig in ihr Problem versunken, und so fragte sie sich keinen Moment lang, was ihre Freundin zu dieser Tageszeit hier machte. Als ein Schatten auf ihre Arbeit fiel, blickte sie zu Soraya auf und sah sofort, dass etwas nicht stimmte.

»Um Himmels willen, setz dich, bevor du umfällst«, sagte sie und zog einen Stuhl herüber. »Was ist denn passiert? Ist jemand gestorben?«

»Nur mein Job.«

Delia sah sie verdutzt an. »Ich versteh nicht…«

»Sie haben mich gefeuert – vor die Tür gesetzt – entlassen«, erklärte Soraya grimmig.

»Was zum Teufel ist denn passiert?«

»Ich bin Ägypterin, Muslimin, eine Frau. Mehr Gründe braucht unser neuer DCI nicht.«

»Mach dir keine Sorgen. Ich kenne einen guten Anwalt, der …«

»Vergiss es.«

Delia runzelte die Stirn. »Du lässt ihnen das doch nicht durchgehen. Ich meine, das ist Diskriminierung, Raya.«

Soraya winkte ab. »Ich werde nicht die nächsten zwei Jahre damit zubringen, mich mit der CI und Secretary Halliday herumzustreiten.«

Delia lehnte sich zurück. »Es geht so hoch hinauf?«

»Wie konnten sie mir das antun?«, sagte Soraya.

Delia stand auf, ging um den Tisch herum und umarmte ihre Freundin. »Ich weiß, es ist, wie wenn man von einem Geliebten verlassen wird, jemand, den man zu kennen glaubte, aber der einen in Wirklichkeit nur benutzt hat und, was noch schlimmer ist, der einen die ganze Zeit betrogen hat.«

»Jetzt weiß ich, wie sich Jason gefühlt haben muss«, sagte Soraya niedergeschlagen. »Wie oft hat er für die CI die Kastanien aus dem Feuer geholt! Und was hat er dafür bekommen? Gejagt haben sie ihn wie einen Hund.«

»Dann würd ich sagen, sei froh, dass du die CI los bist!« Delia küsste ihre Freundin auf die Stirn. »Zeit für einen Neuanfang.«

Soraya sah sie an. »Meinst du? Und was genau soll ich anfangen? Diese Schattenwelt ist alles, was ich kenne, alles, was ich will. Und Danziger ist so sauer, weil ich nicht zurückgekommen bin, obwohl er es angeordnet hat, dass er mich für den ganzen Geheimdienstbereich auf die schwarze Liste gesetzt hat. Es gibt keine Behörde, die mir noch einen Job gibt.«

Delia sah sie nachdenklich an. »Ich sage dir was – ich muss schnell ein paar Dinge erledigen, einen Anruf machen, dann gehen wir auf ein paar Drinks und ein Abendessen raus. Und danach habe ich noch etwas Besonderes für dich, wo wir hingehen werden. Na, wie klingt das?«

»Besser als nach Hause zu gehen, mir tonnenweise Eiscreme reinzustopfen und in den Fernseher zu glotzen.«

Delia lachte und wedelte mit dem Finger. »So gefällst du mir, Mädchen. Mach dir keine Sorgen – wir werden so viel Spaß haben heute Abend, dass du ganz vergisst, dass du mal traurig warst.«

Soraya sah sie mit einem schmerzlichen Lächeln an. »Hilft das auch gegen Verbitterung?«

»Ganz bestimmt, verlass dich drauf.«

 

Bourne eilte aus Suparwitas Haus, ohne nach links und rechts zu schauen. Für die Männer, die ihn beobachteten, sah er wie jemand aus, der etwas Dringendes zu erledigen hatte. Er nahm an, dass sie ihm zu seinem nächsten Ziel folgen wollten.

Während er durch den Wald lief, hörte er ihre schnellen Schritte hinter sich. Er wollte, dass sie möglichst nah herankamen und sich aus der Deckung wagten. Sein Leben war nicht in Gefahr, jedenfalls solange sie ihn nicht verhört hatten. Sie wollten herausfinden, was er über den Ring wusste. Zweifellos dachten sie, dass sie sich unauffällig verhielten, aber auf Bali blieb nichts geheim. Bourne hatte gehört, dass sie in Manggis nach ihm und dem Ring gefragt hatten. Als er erfuhr, dass sie Russen waren, hatte er kaum noch Zweifel, dass sie für Leonid Arkadin arbeiteten. Er hatte seinen Feind, der vor ihm das Treadstone-Ausbildungsprogramm zur perfekten Kampfmaschine absolviert hatte, zuletzt auf dem Schlachtfeld im Norden des Iran getroffen.

Und jetzt lockte er Arkadins Leute immer tiefer in den grünen Dschungel von Bali. Er wandte sich abrupt nach rechts und gelangte zu einem riesigen Beringin-Baum, im Westen als Banyanbaum bekannt, der auf Bali als heiliger Dorfbaum verehrt wird. Er kletterte schnell im Labyrinth der Äste hinauf, bis er hoch genug war, um einen Überblick über die Umgebung zu haben. Die Vögel riefen einander manches zu, und die Insekten summten. Hier und dort drangen Sonnenstrahlen durch das vielschichtige Blätterdach und färbten den weichen Waldboden schokoladebraun.

Nach wenigen Augenblicken sah er einen der Russen durch das dichte Unterholz schleichen. In der linken Armbeuge hielt er ein AK-47-Gewehr, den Zeigefinger der rechten Hand am Abzug, jederzeit bereit, einen Kugelhagel loszulassen, sobald sich etwas regte. Er kam langsam auf Bournes Beringin-Baum zu. Immer wieder blickte er suchend in die Baumkronen hinauf.

Bourne kletterte leise ein Stück weiter und suchte sich einen passenden Platz auf einem Ast. Er wartete, bis sein Verfolger direkt unter ihm war, ehe er wie ein Sonnenstrahl zur Erde fiel. Mit den Fersen traf er den Mann an der Schulter, die sofort aus dem Gelenk sprang, und warf ihn zu Boden. Bourne rollte sich über die Schulter ab und sprang auf, bevor sein Verfolger wieder zu Atem kam. Der Mann bewies jedoch, dass er nicht ganz unerfahren war; er ließ sein Bein hochschnellen und traf Bourne am Brustbein.

Einen Moment lang hatte Bourne ein Gefühl, als würde die Zeit stillstehen, so als würde der Urwald um sie herum den Atem anhalten. Während der Russe die Zähne zusammenbiss und auf die Beine zu kommen versuchte, schlug Bourne mit der Handkante zu und brach ihm die Knochen in der ausgekugelten Schulter. Der Russe stöhnte vor Schmerz, doch gleichzeitig schmetterte er seinem Gegner den Gewehrkolben in die Seite.

Auf sein AK-47 gestützt, rappelte er sich hoch und stolperte zu den Büschen hinüber, in denen Bourne lag. Er richtete seine Waffe auf ihn, doch Bourne traf ihn mit einem blitzschnellen Tritt gegen das Knie. Im Fallen drückte der Mann ab, doch die Kugeln gingen in die Baumkronen hinauf, und im nächsten Augenblick regneten Blätter und Zweige auf sie herab. Der Russe holte erneut mit dem Gewehr aus, doch Bourne war schon bei ihm und brach ihm mit einem kräftigen Handkantenschlag das Schlüsselbein. Mit der anderen Hand traf er ihn mit solcher Wucht im Gesicht, dass er ihm das Nasenbein ins Gehirn rammte. Als der Mann tot zu Boden ging, riss ihm Bourne das Sturmgewehr aus den Händen. Er sah die Tätowierung an seinem Hals – eine Schlange, die sich um einen Dolch wand. Dieses Tattoo hatte sich der Mann mit Sicherheit im Gefängnis machen lassen, was wiederum bewies, dass er für die Mafia arbeitete.

Bourne befreite sich aus den Lianen, in denen er sich verfangen hatte, als er eine kehlige Stimme hinter sich hörte.

»Lass die Waffe fallen«, sagte der Mann in typischem Moskauer Russisch.

Bourne drehte sich langsam um und sah sich seinem zweiten Verfolger gegenüber.

»Fallen lassen, hab ich gesagt«, knurrte der Russe. Er war ebenfalls mit einem AK-47 bewaffnet, das er auf Bournes Bauch richtete.

»Was willst du?«, sagte Bourne.

»Du weißt genau, was ich will«, erwiderte der Russe. »Und jetzt lass die Waffe fallen und gib ihn mir.«

»Was soll ich dir geben? Sag mir einfach, was du willst, dann gebe ich es dir.«

»Ich will den Ring. Aber zuerst lässt du das Gewehr meines Partners fallen.« Er zeigte mit dem Lauf seiner Waffe kurz zu der Stelle, wo der andere lag. »Komm schon, du Scheißkerl. Sonst schieße ich dir zuerst ein Bein weg, dann das andere, und wenn das immer noch nicht reicht … nun, du weißt ja, was das für Schmerzen sind, wenn man eine Kugel in den Bauch bekommt und langsam verblutet.«

»Das mit deinem Partner, das tut mir leid«, sagte Bourne, während er das AK-47 fallen ließ.

Es war ein reiner Reflex – der Russe konnte nicht anders, als kurz zu seinem toten Kameraden hinüberzublicken. Gleichzeitig senkte sich sein Blick kurz, als Bourne das Gewehr fallen ließ. In diesem Augenblick schleuderte Bourne die Liane, von der er sich gerade befreit hatte, nach vorne – sie schlang sich dem Russen um den Hals, und Bourne zog ihn mit einem kräftigen Ruck zu sich und rammte ihm die Faust in den Solarplexus. Der Russe krümmte sich, und Bourne hämmerte ihm beide Fäuste in den Nacken.

Der Mann ging zu Boden, und Bourne hockte sich zu ihm und drehte ihn auf den Rücken. Immer noch benommen, rang der Russe nach Luft, und Bourne schlug ihm mehrmals mit der Hand ins Gesicht, um ihn ganz zu sich zu bringen. Dann drückte er ihm mit seinem ganzen Gewicht ein Knie gegen das Brustbein.

Der Mann starrte ihn mit weit aufgerissenen blauen Augen an. Sein Gesicht war unnatürlich gerötet, und Blut lief ihm aus dem Mundwinkel.

»Warum hat dich Leonid geschickt?«, fragte Bourne auf Russisch.

Der Mann blinzelte. »Wer?«

»Stell dich nicht dumm.« Bourne drückte noch fester zu, und der Mann stöhnte vor Schmerz. »Du weißt genau, wen ich meine. Leonid Arkadin.«

Einen Moment lang starrte ihn der Russe schweigend an. Dann begann er trotz seiner misslichen Lage zu lachen. »Das glaubst du?« Er lachte, dass ihm die Tränen kamen. »Dass ich für diesen Scheißkerl arbeite?«

Die Antwort des Russen kam zu spontan, zu unerwartet, um gelogen zu sein. Außerdem – warum sollte er lügen? Bourne überlegte einen Augenblick. »Wenn es nicht Arkadin ist«, sagte er schließlich, »wer dann?«

»Ich gehörte zur Kazanskaja.« Der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören; auch das wirkte absolut echt.

»Dann hat dich also Maslow geschickt.« Vor nicht allzu langer Zeit hatte Bourne den Chef der Kazanskaja unter nicht sehr erfreulichen Umständen kennengelernt.

»Genau genommen«, sagte der Russe, »arbeite ich für Wjatscheslaw Germanowitsch Oserow.«

»Oserow?« Bourne hatte den Namen noch nie gehört. »Wer ist das?«

»Der Operationschef. Wjatscheslaw Germanowitsch plant alle Aktionen der Kazanskaja, während sich Maslow darum kümmert, uns die Regierung vom Leib zu halten.«

»Okay, dann arbeitest du also für diesen Oserow. Was war so lustig daran, dass ich gesagt habe, Arkadin hätte dich geschickt?«

Die Augen des Russen sprühten Funken. »Du hast ja keine Ahnung, wovon du redest. Oserow und Arkadin hassen sich wie die Pest.«

»Warum?«

»Das ist eine ganz alte Feindschaft.« Er spuckte Blut. »Befragung beendet?«

»Warum sind sie Feinde?«

Der Russe grinste ihn mit blutigen Zähnen an. »Verdammt, steig endlich von meiner Brust runter.«

»Aber sicher«, sagte Bourne, stand auf, schnappte sich das Gewehr des Russen und knallte ihm den Kolben gegen die Schläfe.