»Heute trifft es vielleicht dich«
Deutsche in der Fremdenlegion
Alle Abbildungen im Text stammen aus dem Privatarchiv des Autors und sind ihm zum Abdruck freundlicherweise von den porträtierten Legionären überlassen worden.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
1. Auflage, März 2014 (entspricht der 1. Druck-Auflage von Februar 2014)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 440232-0
Umschlaggestaltung: Stephanie Raubach, Berlin, unter Verwendung zweier Fotos aus dem Privatarchiv des Autors. Das Bild vorne zeigt einen deutschen Fremdenlegionär, der in den 1950er und 1960er Jahren im 1. Fallschirmjägerregiment der Legion in Algerien diente. Das Bild hinten zeigt Fremdenlegionäre während des Camerone-Tags in Aubagne, 30. April 2013. © Martin Specht
Satz: Marina Siegemund, Berlin
ISBN 978-3-86284-277-3
Einführung
Begegnung mit einem Veteranen
Die Toten
Vom letzten gefallenen Deutschen
Elefantenorden
Im Indochinakrieg (1947–1949)
Kommando
Auf Frankreichs afrikanischem Vorposten (1987–1992)
Das Mutterhaus – Teil 1
Die Geschichte von Sidi Bel Abbès
Millenium Lounge
Ein Exlegionär in Bagdad (2013)
DBP
Die Schlacht um Dien Bien Phu (1954)
Der Fall Bourquain
Ein ungesühnter Mord (1960/2008)
Der Putsch
Im Kampf gegen die algerische Unabhängigkeit (1958–1962)
Der blaue Stein
In einer Spezialeinheit der Fremdenlegion (1991–2004)
Das Mutterhaus – Teil 2
Der Neubeginn in Aubagne
Töten
Der Umgang mit Gewalt
Absence Illégale
Zweimal desertiert (1954/1962)
Castelnaudary
Legion ohne Krieg
Verletzungen
Der Umgang mit Schmerz und Belastung
Das Chamäleon
Fremdenlegionär – Bundeswehrsoldat – privater Militärdienstleister (1986–2013)
Onkel Herbert, Fremdenlegionär
Mit 17 in die Legion (1959–1975)
Mali
Auf der Spur der Deutschen in der Fremdenlegion heute
Schluss der Parade
Literaturhinweise
Über den Autor
Mein Interesse an der französischen Fremdenlegion begann beim Blumengießen. Während der Sommerferien betreute ich die Wohnung einer befreundeten Familie. Als ich eines Morgens die Blumenkästen auf dem Balkon wässerte, tropfte etwas Wasser auf den darunterliegenden Balkon. »Vorsicht«, drang eine Stimme zu mir herauf. Als ich mich über die Brüstung beugte, um mich zu entschuldigen, sah ich einen älteren Herrn, der dabei war, eine großkalibrige Schusswaffe in Einzelteile zu zerlegen, die er auf dem Tisch vor sich ausbreitete. »Ich hoffe, Sie können das auch mit verbundenen Augen«, rief ich scherzhaft zu ihm hinunter. Der Mann, der mit seinem Bürstenhaarschnitt und Schnurrbart aussah wie ein alter Sportlehrer, musste lachen und sagte, das hätte man ihm auch beigebracht. »Waren Sie bei der Bundeswehr?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf und schnalzte dabei mit der Zunge: »Fünf Jahre Algerien. Légion étrangère.«
Einige Wochen später befand ich mich während eines Reportageauftrags in einem Heim für Kriegsveteranen in Südfrankreich. Als ich einen der Veteranen mit »Bonjour Monsieur« begrüßte und auf Französisch ansprach, antwortete er mir in typischem Ruhrgebietsdialekt: »Wat?«
Da ich innerhalb kurzer Zeit zwei ehemaligen deutschen Legionären begegnet war, begann ich mich für die Deutschen, die in der französischen Fremdenlegion gedient hatten, zu interessieren. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hatten Zehntausende junger Männer aus Deutschland an den Kriegen in Indochina und Algerien teilgenommen. Viele von ihnen kehrten anschließend nach Deutschland zurück und lebten ein unauffälliges Leben. Anders als die Soldaten des Zweiten Weltkriegs – der eine kollektive Erfahrung vieler Menschen war – waren die ehemaligen Legionäre Außenseiter, Abenteurer und Einzelgänger.
Dann begegnete ich in Bagdad einem jungen Mann, der ebenfalls einmal Legionär gewesen war und heute für eine private Militärfirma arbeitet. Männer wie er folgten auf die Generation der Legionäre, die in Indochina und Algerien gekämpft hatten. Die Geschichte der Deutschen in der Fremdenlegion endet also nicht mit dem Krieg in Algerien 1962. Es gibt sie immer noch; einen deutschen Legionär traf ich 2013 in Mali während der »Opération Serval«, mit der die französische Armee gegen die Rebellengruppen im Norden Malis vorging.
Während meiner Recherche wurde schnell klar, dass ich den Gesprächen mit den Fremdenlegionären – gegenüber den Materialien, die in den Archiven lagern – den Vorzug geben würde. Ich begegnete den unmittelbar Beteiligten und sprach mit Menschen mehrerer Generationen, die alle in der Fremdenlegion etwas gesucht hatten – möglicherweise nicht immer das, was sie dann fanden.
Die Namen mancher ehemaliger und noch aktiver Fremdenlegionäre, mit denen ich gesprochen habe, sind zu ihrem Schutz verfremdet worden, ebenso die Orte, an denen sie heute leben. Solche Verfremdungen sind bei der ersten Nennung des Namens mit einem * gekennzeichnet.
Hinter den letzten Häusern des Ortes wird die Asphaltstraße zu einem Feldweg. Ich bin in der Provence und fahre durch die Weinberge am Fuße des Mont Sainte-Victoire – Motiv zahlreicher Gemälde des Impressionisten Paul Cézanne. Ein Eichelhäher fliegt eine Weile neben dem Auto her. Am Wegesrand taucht ein steinernes Monument auf, in das mit großen Buchstaben die Worte »Legio Patria Nostra«, »Die Legion ist unsere Heimat«, eingemeißelt sind. Es sieht aus wie ein Grabstein. Einige hundert Meter weiter endet der Feldweg vor dem Tor eines alten Landsitzes. Auf einem Schild neben dem Eingang steht: »Institution des invalides de la Légion étrangère«. Hier leben die Invaliden und Veteranen der französischen Fremdenlegion, die im Alter nicht in die zivile Welt zurückgekehrt sind. Viele von ihnen haben keine Angehörigen mehr. Für sie trifft auch nach ihrer aktiven Dienstzeit zu: Legio Patria Nostra.
Als ich im Nieselregen durch das Tor gehe, höre ich die hellen Rufe eines Pfaus, der mit hängenden Schwanzfedern über das Dach eines halbkreisförmigen Gebäudes stolziert. Vor dem Gebäude stehen einige Elektrorollstühle im Regen. Der Ort liegt einsam und wirkt weltabgewandt. In beinahe mönchischer Isolation leben die ehemaligen Legionäre in der Stille. Der Ruf des Pfaus ist das einzig hörbare Geräusch.
In einem Café auf dem Gelände unterhalte ich mich mit einem der Bewohner des Invalidenheims. Seine Familie ist 1945 aus Schlesien vertrieben worden. Später kämpfte er als Fremdenlegionär im Algerienkrieg. »Deutscher war ich mal«, sagt der alte Mann. »Jetzt bin ich hier.« Er scheint nicht zu realisieren, dass ich von weither komme. Als ich mich von ihm verabschiede, sagt er: »Kommen Sie doch nächste Woche einmal wieder.«
In Puyloubier, dem Dorf in der Nähe des Invalidenheims, sind die Toten der Fremdenlegion begraben. Es ist ein kleiner Dorffriedhof – auf einigen Grabsteinen sind Bilder von Traktoren und landwirtschaftlichen Geräten eingraviert –, auf vielen Gräbern stehen frische Blumen. Auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich. Aber beim Herumgehen bemerke ich: Die Zahl der toten Fremdenlegionäre übersteigt die Anzahl der Dorfbewohner bei weitem.
Hier befindet sich auch das Grab des letzten Fremdenlegionärs, der im Algerienkrieg gefallen ist. Auf einer grauen Granitplatte steht der Name: Heinz Zimmermann. Darunter: »Mort pour la France«, gefallen für Frankreich. Geboren wurde Heinz Zimmermann im März 1937 im deutschen Merseburg, einer Stadt an der Saale. Im Juni 1957 beschloss der 20-Jährige, sich in der französischen Fremdenlegion zu verpflichten. Sein Weg führte ihn über Straßburg und Marseille nach Algerien. Nach einer viermonatigen Grundausbildung kämpfte er als Infanterist im Kolonialkrieg. Im August 1961 wurde Heinz Zimmermann während eines Gefechts mit Aufständischen in Sidi Bel Abbès getötet. Der Deutsche wird als letzter Legionär gezählt, der im Algerienkrieg fiel. Im März 1962 unterzeichnete die französische Regierung ein Waffenstillstandsabkommen mit der algerischen Unabhängigkeitsbewegung FLN (»Front de Libération Nationale«).
Die Geschichte der Fremdenlegion ist eng mit der Kolonialisierung Algeriens durch die Franzosen verbunden. Im Jahr 1831 schuf der französische König Louis-Philippe die Söldnerarmee, um – ohne die Nationalversammlung um ihre Zustimmung bitten zu müssen – eine Truppe zu seiner Verfügung zu haben, die er für die kolonialen und weltpolitischen Interessen Frankreichs einsetzen konnte. Im 19. Jahrhundert kämpften die Fremdenlegionäre nicht nur in Algerien, sondern auch in Spanien, Mexiko, Italien, auf Madagaskar und in Dahomey.
Von Anfang an waren unter denen, die sich für einen Dienst in der Legion verpflichteten, viele Deutsche. Die geografische Nähe zu Frankreich, das zeitweilige Fehlen einer deutschen Armee – zu Anfang des 19. Jahrhunderts und nach dem Zweiten Weltkrieg –, soziale Not und Abenteuerlust sind einige Gründe, aus denen die Fremdenlegion in den letzten mehr als 180 Jahren immer wieder Freiwillige aus Deutschland angezogen hat. Schätzungen zufolge hat es zwischen 1870 und 1962 etwa 100 000 Legionäre deutscher Abstammung gegeben. In den Jahren zwischen 1946 und 1954 betrug der Anteil der Deutschen in den Reihen der Fremdenlegion zeitweise mehr als 40 Prozent. Damit waren sie während der Konflikte in Indochina und Algerien die zahlenmäßig am stärksten in der Legion vertretene Nationalität. Nach der algerischen Unabhängigkeit 1962 wurde die Mannschaftsstärke der Fremdenlegion drastisch reduziert, und auch der Anteil der deutschstämmigen Legionäre nahm in der Folge immer weiter ab.
Der letzte Deutsche, der im Dienst der Fremdenlegion getötet wurde, war Ralf Günther aus dem thüringischen Dingelstädt. Er wurde 1995 in Sarajevo, als die Fremdenlegion an einer UN-Mission beteiligt war, erschossen. Sein Bruder Olaf sagt, Ralf sei unmittelbar nach der Wende 1989 mit seinem alten Saporosch – wie die sowjetischen Autos der Marke »Saporoshez« umgangssprachlich genannt wurden – in Richtung Frankreich aufgebrochen. Ralf Günther, der in einer intakten Familie aufwuchs, war im katholischen Glauben erzogen worden. In der DDR hatte er seine Firmung und die Kommunion erhalten. Er war ein guter Schüler und begeisterter Sportler. Wie sein Vater und sein Bruder war er Mitglied im Dingelstädter Turnverein. Als ich Olaf frage, warum Ralf Günther ausgerechnet in die Fremdenlegion eingetreten sei und nicht in die NVA oder, nach 1990, in die Bundeswehr, stellt sich heraus: Mit einer Körpergröße von etwa 165 cm war Ralf Günther zu klein für den Dienst in der Nationalen Volksarmee und wurde ausgemustert. Schon als Schüler litt er darunter, dass er nicht mit seinen Klassenkameraden ins Wehrlager durfte, sondern mit den Mädchen in der Schule bleiben musste. Es kann sein, sagt Olaf Günther, dass sein Bruder später etwas kompensieren wollte. Schon zu Zeiten der DDR hatte sich Ralf sehr für alles Militärische interessiert. »Es war nun mal seine Welt«, sagt sein Bruder. Nachdem er die Schule abgeschlossen hatte, machte Ralf Günther eine Lehre als Stricker beim Eichsfelder Obertrikotagenwerk. Im November 1989 veränderte sich die Welt, und für Ralf war plötzlich die Möglichkeit eines Lebens als Soldat in greifbare Nähe gerückt.
Eine kurze Zwischenbemerkung zur Nationalen Volksarmee: Angeblich soll es nach der Wende viele Soldaten der NVA in die Reihen der französischen Fremdenlegion verschlagen haben. Dies wird zumindest immer wieder einmal kolportiert. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel berichtete im August 1990, dass die Anwerbebüros der Fremdenlegion einen erhöhten Zulauf an deutschsprachigen Bewerbern mit NVA-Hintergrund verzeichnen würden. Wenn im Laufe des Jahres 1990 tatsächlich viele ehemalige Soldaten der NVA in die Fremdenlegion eintraten, dann hätten sie, bei mindestens fünf Jahren Dienstzeit, Mitte der 1990er Jahre immer noch in der Legion sein müssen. Bei meinen Recherchen und in den Gesprächen mit Fremdenlegionären, die während dieser Zeit in einem der Legionsregimenter dienten, konnte ich keinen einzigen Fall identifizieren, in dem ein ehemaliger NVA-Soldat den Weg in die Fremdenlegion gefunden hätte. Es gab zwar Bürger der DDR, die wie Ralf Günther Legionäre wurden, aber gerade in diesen Fällen war der Grund ihres Eintretens in die Fremdenlegion der, dass die NVA ihnen den Wunsch, Soldat zu werden, verwehrt hatte.
Möglicherweise gefiel es dem einen oder anderen Beobachter, eine Parallele zu ziehen zwischen dem angeblichen Zustrom in die Anwerbebüros der Fremdenlegion unmittelbar nach der Wende und der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als eine hohe Zahl von demobilisierten Wehrmachtssoldaten den Weg in die Legion antrat. Beides lässt sich nicht miteinander vergleichen. Die NVA war nicht militärisch besiegt worden, und viele ihrer Angehörigen hofften nach der Wiedervereinigung auf die Übernahme in die Bundeswehr. Wer vorhatte, sein Leben als Soldat weiterzuführen, fand damit in der Bundeswehr erst einmal die näherliegende Alternative. Wer den Dienst in der Bundeswehr aus ideologischen Gründen ablehnte, hätte sich wohl kaum stattdessen als Legionär in der Fremdenlegion, ebenfalls Teil der NATO, verpflichtet. Ebenso grundlegend hatte sich die Fremdenlegion zwischen 1945 und 1990 verändert. In den ersten Jahren waren Zehntausende von Freiwilligen gebraucht worden, um als Legionäre in Indochina und später in Algerien zu kämpfen. Dagegen hatte die Fremdenlegion 1990 nur noch eine Gesamtstärke von etwa 8000 Mann und Frankreich war nicht in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt, die hohe Verluste befürchten ließen.
Wie viele von den Freiwilligen, die Der Spiegel 1990 meldete, zudem wirklich Fremdenlegionäre wurden, bleibt offen. Bei einem bestehenden Überangebot an Bewerbern wurde nur ein Bruchteil von ihnen als Rekruten für die Grundausbildung akzeptiert. Und auch von diesen desertierten etliche während der ersten sechs Monate. Ein Offizier der Fremdenlegion sagte mir, als ich ihn auf das Thema der ehemaligen NVA-Soldaten in den Reihen der Legion ansprach, Offiziere und Unteroffiziere der Nationalen Volksarmee seien damals aus Sicherheitsgründen ohnehin nicht angenommen worden. Auch in der Fremdenlegion herrschte noch das Denken des Kalten Kriegs, und Angst vor Spionage war in den NATO-Staaten an der Tagesordnung.
Bei circa 1000 neuen Rekruten pro Jahr, darunter etwa drei bis fünf Prozent Deutsche, möchte ich natürlich nicht ausschließen, dass es einzelne Personen gibt, die in beiden Armeen gedient haben. Ich habe nur niemanden gefunden, der mir das glaubhaft versichern konnte. Einmal traf ich mich mit einem Mann, der behauptete, Soldat in der NVA und später Fremdenlegionär gewesen zu sein. Wir unterhielten uns lang und breit über die Vorzüge des Luftsturmregiements, einer Luftlandeeinheit der NVA, und den Alltag in der Fremdenlegion. Leider konnte der Mann weder seine Dienstzeit in der NVA noch in der Fremdenlegion dokumentieren. Es gab nicht den kleinsten Beweis, nicht einmal ein Foto, das ihn in Uniform zeigte. Zuerst dachte ich, er sei vielleicht bei den Grenztruppen oder der Stasi gewesen und wolle seine Identität verschleiern. Konnte der legionsinterne Sicherheitsdienst so etwas übersehen haben? Später tauchten immer neue Ungereimtheiten in den Gesprächen auf, und schließlich brach ich den Kontakt ab. Zumindest weiß ich heute, dass ein Luftsturmregiment nichts mit dem Wetter zu tun hat. Wie auch immer; sollten sich ehemalige Soldaten der NVA unter den Fremdenlegionären befunden haben – oder gar heute noch befinden –, so handelt es sich dabei um Ausnahmeerscheinungen und auf keinen Fall um eine große Tendenz.
Ende 1989 wurde Ralf Günther der Eintritt in die Fremdenlegion nicht einfach gemacht. Sein rot-weißer Saporosch blieb in der Nähe von Frankfurt am Main liegen, Motorschaden – »Wer früher einen Ochsen drosch, fährt heute einen Saporosch«. Günther ließ den Wagen auf einem Autobahnparkplatz stehen und fuhr mit dem Zug nach Straßburg. Dort meldete er sich als Freiwilliger im Anwerbebüro der Fremdenlegion. Von dort wurde er ins Hauptquartier nach Aubagne und später zur Grundausbildung ins südfranzösische Castelnaudary geschickt. Vor der Abreise aus Dingelstädt hatte er lediglich seinem Bruder davon erzählt, dass er in die Fremdenlegion eintreten wolle, und ihn gebeten, den Eltern nichts zu sagen. Es verging fast ein Jahr, bis sie etwas von ihrem Sohn hörten. Als sie erfuhren, dass er inzwischen Fremdenlegionär geworden war, wandten sie sich an die katholische Kirche im Eichsfeld mit der Bitte, ihren Sohn zurückzuholen. Natürlich war die Kirche in diesem Fall machtlos.
Ralf Günther nahm 1991 als Fremdenlegionär am Golfkrieg teil. Im selben Jahr bekam er zum ersten Mal einen längeren Urlaub. Olaf erinnert sich, dass es nachts um 4 Uhr an der Haustür der Familie läutete. Vor der Tür stand Ralf, einen Seesack über der Schulter, in Begleitung eines Kameraden, der aus Berlin stammte. Die Eltern freuten sich sehr, ihren Sohn wiederzusehen. Ralf verbrachte einige Tage bei seiner Familie. Er sprach nicht viel über die Fremdenlegion; nur dass er im Golfkrieg amerikanische Soldaten kennengelernt habe und dass, verglichen mit der Ausbildung in der Fremdenlegion, deren Training wirklich harmlos gewesen sei. Ralf Günther schien sein Leben als Legionär zu gefallen. »Es war sein Ding«, sagt der Bruder.
In den nächsten Jahren wurde Ralf Günther zweimal ins südamerikanische Französisch-Guyana abkommandiert. Dort nahm er an einer Ausbildung im Dschungelkampf teil. Er diente danach in Frankreich im 1. REC, dem 1. Régiment étranger de cavalerie. Das 1. Kavallerieregiment, dessen Pferde vor Jahrzehnten durch Radpanzer ersetzt wurden, war damals im südfranzösischen Orange stationiert. Ralf Günther war ein guter Soldat und wurde im Laufe der Zeit mehrmals befördert. Zuletzt war er Maréchal de logis, ein Dienstgrad der Kavalleristen, der dem eines Sergenten in den anderen Einheiten der Fremdenlegion entspricht. Nach fünf Jahren musste er eine Entscheidung treffen: Wollte er den Dienst in der Fremdenlegion verlängern oder ausscheiden? Die erste Verpflichtung eines Legionärs gilt für fünf Jahre, danach kann er für ein, zwei oder drei Jahre verlängern. Die Familie von Ralf Günther sagt, er habe sich damals auch bei der Bundeswehr erkundigt, ob sie ihn nach fünf Jahren Fremdenlegion übernehmen würde. Ihm sei gesagt worden, er könnte sich zwar als Soldat verpflichten, müsse aber wieder mit dem untersten Dienstgrad in der Bundeswehr beginnen. Daraufhin entschied er sich, bei der Fremdenlegion zu bleiben.
Im Frühjahr 1995 kam er nach Sarajevo. Die Stadt wurde während des Bürgerkriegs von bosnisch-serbischen Milizen und der jugoslawischen Volksarmee belagert. In Sarajevo wurden UN-Truppen stationiert, darunter Ralf Günther und andere französische Fremdenlegionäre, die Bevölkerung musste über eine Luftbrücke versorgt werden. Olaf Günther erinnert sich daran, dass die Familie dem Bruder ein Paket nach Sarajevo schickte. »Was man eben so schickt. Ich glaube, meine Mutter hatte eine Wurst und ein paar Lebensmittel reingetan.« Er selbst nahm für seinen Bruder eine Kassette auf – Olaf spielte damals in einer Band – und schickte ihm die Musik nach Sarajevo.
Im April 1995 war Olaf Günther mit Freunden in Dingelstädt unterwegs. Im Autoradio hörten sie die Nachricht, dass ein Fremdenlegionär in Sarajevo von einem Heckenschützen erschossen worden sei. Olaf Günther nahm die Neuigkeit wahr, dachte jedoch nicht daran, dass der Tote sein Bruder sein könnte. Als er abends nach Hause kam, fand er die gesamte Familie im Wohnzimmer vor. Ein Blick genügte ihm, um zu erfassen, was geschehen war. Ein französischer Diplomat aus Berlin hatte den Eltern die Nachricht vom Tod ihres Sohnes überbracht.
Der Leichnam wurde von Sarajevo nach Orange überführt. Ralf Günthers Vater flog in Begleitung eines Botschaftsmitarbeiters dorthin und nahm an einer Gedenkfeier der Fremdenlegion für seinen Sohn teil. Zwei Wochen später wurde Ralf Günther auf dem Friedhof in Dingelstädt begraben. Damals war es noch außergewöhnlich, dass deutsche Militärangehörige – das sollte sich erst mit Beginn des Afghanistankriegs ändern – bei Auslandseinsätzen getötet wurden, und viele Journalisten und Zuschauer nahmen an der Beerdigung teil.
Auf dem Grabstein aus rauem Granit steht Ralf Günthers Name, darunter Geburts- und Sterbedatum. Ralf wurde 24 Jahre alt. Über dem Namen ist das Symbol der Fremdenlegion angebracht, die siebenflammige Granate. Im 19. Jahrhundert sahen Handgranaten so aus, wie man sie aus Comics und Zeichentrickfilmen kennt: eine Kugel, aus der eine Zündschnur herausragt. Die explodierende Granate, aus der sieben Flammen herausschlagen, ist das Wahrzeichen der Fremdenlegion. Die Keramik, die heute auf dem Grabstein angebracht ist, wurde der Familie Günther von der Fremdenlegion geschenkt. »Das war halt seine Welt«, sagt sein Bruder Olaf.
Mutmaßliche Umbettung von Heinz Zimmermann, dem letzten offiziell in Algerien gefallenen Legionär, Puylonbier, ca. 1963.
Auch unter den ersten – kurz nach Gründung der Fremdenlegion 1831 – in Algerien getöteten Legionären waren mit hoher Wahrscheinlichkeit Deutsche. Ein Fall, in dem ein Deutscher als Einziger aus seiner Einheit mit dem Leben davonkam, ereignete sich 1832. In einem Buch über die Fremdenlegion, das 1888 in Frankreich erschien, einer der Autoren war General Paul Adolphe Grisot, wird von einem Gefecht berichtet, das am 23. Mai 1832 in Algerien stattfand. Eine Abteilung von 27 Fremdenlegionären wurde östlich der Hauptstadt Algier von Arabern angegriffen. Nachdem ein Offizier verschwunden und ein weiterer gefallen war, wurden sie von den Gegnern überrannt. Die Überlebenden des Gefechts gerieten in Gefangenschaft. Die Besiegten wurden vor die Wahl gestellt, entweder dem Christentum abzuschwören und sich zum Islam zu bekennen oder getötet zu werden. Der Einzige, der das Angebot annahm und überlebte, indem er zum Islam konvertierte, war ein sächsischer Legionär mit dem Nachnamen Wagner.
An einem Nachmittag im November 2012 schaut Anton Miller auf die Indochina-Medaille, die er in seiner Hand hält. Der 84-Jährige lächelt. Langsam fühlt er mit den Fingern über die Oberfläche des runden Abzeichens, das an einem Band aus Seide, mit vertikalen grünen und gelben Streifen, befestigt ist. Draußen beginnt es zu schneien. Von all den militärischen Auszeichnungen, die ich bei meinen Begegnungen mit Fremdenlegionären gesehen habe, ist die Indochina-Medaille eine der schönsten. Reliefartig sind im Zentrum der Medaille drei Elefanten samt Kopfschmuck und geschwungenen Stoßzähnen in Frontal- und Seitenansicht vor einer angedeuteten Pagode dargestellt. Die dicht beieinander stehenden Füße der Elefanten ruhen auf dem Schriftzug »Indochine«, um den herum sich Kobras mit aufgestelltem Nackenschild züngelnd in die Höhe recken. Am oberen Ende der Medaille, dort, wo das seidene Band befestigt ist, damit der Träger sie sich an seine Brust heften kann, bildet ein stilisierter fernöstlicher Drache den Übergang zwischen Medaille und Band. In einem Halbkreis ist am oberen Rand der Auszeichnung der Schriftzug »République Française« zu lesen. Die Medaille ist in Form und Farbgebung sehr elegant gestaltet, es findet sich nichts Militärisches darauf, weder gekreuzte Schwerter noch Kanonen oder andere Waffen sind zu sehen, lediglich die märchenhafte Darstellung fernöstlicher Attribute: Elefanten, Schlangen, Drache.
Anton Miller wendet die Indochina-Medaille in seiner Hand. Die Rückseite ist weniger fantasievoll gestaltet. Dort steht in einfachen Buchstaben: Corps Expéditionnaire Française en Extrême-Orient.
Vor 67 Jahren gehörte Anton Miller dem Französischen Expeditionskorps in Fernost als Fremdenlegionär an. Er hat in dieser Zeit weit wichtigere Auszeichnungen erhalten als die beschriebene Médaille commémorative de la Campagne d’Indochine, die mir einfach gut gefiel. Er zeigt mir die Médaille Militaire und ein Croix de Guerre, das ihm in Indochina für persönlichen Mut und Tapferkeit bei einem Einsatz verliehen wurde. »Die Indochina-Medaille haben wir auch den ›Elefantenorden‹ genannt. Wegen der Elefanten darauf. Auf den anderen Orden war ja meistens die französische Marianne zu sehen. Den Elefantenorden bekam jeder, der in Indochina für mindestens 90 Tage im Einsatz war. Das Croix de Guerre hingegen war für einen einfachen Legionär, besonders für einen Deutschen, nicht so leicht zu bekommen, die meisten Auszeichnungen haben erst einmal die Unteroffiziere gekriegt.«
Was bedeutet so eine Auszeichnung für einen Soldaten? Neben den rein praktischen Auswirkungen – Aussicht auf schnellere Beförderung, Prämien und einen höheren Sold – gibt die Gesellschaft dem Soldaten so vielleicht auch zu verstehen: Schau dir die Medaille an, du hast alles richtig gemacht, dich müssen keine Zweifel an deinem Handeln plagen. »Wir waren einmal auf Patrouille, und da hockten Leute in den Kokospalmen. Man sah nur einen dunklen Schatten, und auf einmal hörte man das Geräusch von Waffen, die durchgeladen wurden«, erzählt Anton Miller von einer Begebenheit in Indochina. »Da musst du schon schießen, sonst ist es zu spät. Da sagt dir keiner: Jetzt musst du schießen. Das musst du selbst entscheiden.«
Der junge Anton Miller erlebte das Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 als 15-Jähriger in einem kleinen Dorf in der Nähe von Lindau am Bodensee. Sein Vater wurde schon jahrelang als Soldat der Wehrmacht in Russland vermisst. Anton Miller erinnert sich an den Tag, als sein Vater in den Krieg zog: »Er ist 1939 direkt zu Anfang des Kriegs eingezogen worden. Wahrscheinlich, weil er im Ersten Weltkrieg von 1916 bis 1918 auch schon Soldat war. Leider hatte gerade als er in den Krieg ziehen musste die Hopfenernte bei uns zu Hause angefangen. Wir hatten einen Bauernhof und darauf auch Hopfen.«
Den Krieg verbrachte Anton Miller allein mit seiner Stiefmutter auf dem kleinen Bauernhof. Ohne den Vater ging es mit dem Verhältnis zwischen ihm und seiner Stiefmutter bergab. In der Welt tobte der Krieg, und zuhause brach für Anton Miller alles zusammen. »Als mein Vater im Krieg war, das war es dann. Solange er da war, ging es ja noch. Ich war vier Jahre alt, als meine leibliche Mutter gestorben ist. Dann hat er meine Stiefmutter kennengelernt und hat wohl gedacht, da hat der Junge ein Zuhause. Die Stiefmutter war aber sehr streng und mochte mich auch nicht.« Den »Drachen« nennt er sie.
Anton Miller besuchte die Dorfschule und war bis Kriegsende in der Hitlerjugend. »Das war damals so, man kannte ja nichts anderes. Sonntagmorgens haben wir Schießen geübt.« Daneben half er der strengen Stiefmutter bei der Bewirtschaftung des elterlichen Bauernhofes. Bei Kriegsende 1945 hoffte er vergeblich auf die Rückkehr des vermissten Vaters. Im April 1946 verließ er sein Zuhause und vagabundierte durch den Schwarzwald. In Villingen traf der umherirrende Jugendliche auf einen Leidensgenossen, der ihm von einem Rekrutierungsposten der französischen Fremdenlegion in der Stadt berichtete. Damals durfte die Fremdenlegion in den französischen Besatzungszonen Freiwillige für ihre Dienste anwerben. Diese Praxis änderte sich erst 1954, nachdem die Bundesrepublik durch die Pariser Verträge ihre volle Souveränität wiedererlangt hatte.
Am 18. April 1946 meldete sich Anton Miller, der bis dahin noch nie etwas von der Fremdenlegion gehört hatte, als Freiwilliger für den Einsatz als Legionär. »Zuerst wollte ich mir nur mal das Rekrutierungsbüro anschauen. Aber die französischen Offiziere waren so froh, dass sich jemand bei ihnen meldete, dass sie mir gleich etwas zu Essen gegeben haben. Rotkohl mit Schweinebraten. Tatsache.« Anschließend wurde Anton Miller zusammen mit anderen Freiwilligen in ein größeres Lager nach Kehl gefahren, in dem sie eingehend medizinisch untersucht wurden. Die Untersuchungen dauerten zwei Tage, die Freiwilligen wurden gut verpflegt und sie bekamen genügend Zigaretten. Auf Anweisung eines Offiziers musste Anton Miller das Geburtsdatum in seinem Aufnahmeformular ändern. Damals wurde man erst mit 21 Jahren volljährig. Anton Miller war aber erst 18 Jahre alt und hätte die Einwilligung seiner Eltern vorweisen müssen, um in die Fremdenlegion eintreten zu können. Kurz entschlossen korrigierte er sein Geburtsdatum von 1928 auf 1925.
Diejenigen, die die medizinischen Tests erfolgreich durchlaufen hatten, wurden mit dem Zug, in Begleitung von bereits ausgebildeten Fremdenlegionären, nach Marseille gebracht. Am alten Hafen von Marseille befindet sich auf der einen Seite der Hafeneinfahrt das Fort Saint Jean, auf der anderen Seite das Fort Saint Nicolas. Die Befestigungen wurden im Jahr 1660 unter Ludwig XIV. gebaut, angeblich, um den Hafen vor Angriffen zu schützen. Da aber die Mündungen der meisten Kanonen auf die Stadt Marseille selbst gerichtet waren, mussten die Einwohner der Stadt den Bau der Forts auch als Reaktion auf den vorausgegangenen Bürgeraufstand gegen den königlichen Gouverneur verstehen. Seit der Gründung der Legion 1831 waren immer wieder Legionäre aus den zu Sammellagern umfunktionierten Forts Saint Jean oder Saint Nicolas zu ihrer Überfahrt nach Algerien aufgebrochen oder von dort zurückgekehrt.
Als Anton Miller Fort Saint Nicolas betrat, dessen untere Geschosse zum Teil unter dem Wasserspiegel des Hafens lagen, erfüllte ihn der Anblick mit Schrecken. In den feuchten, stickigen Räumen der alten Festung begegneten ihm die zerlumpten Schreckgespenster des letzten Kriegs: ehemalige Soldaten der deutschen Wehrmacht, der Waffen-SS und des Afrika-Korps, die sich, noch aus den französischen Gefangenenlagern heraus, zum Dienst in der Fremdenlegion gemeldet hatten. Dazwischen sah er einige Ungarn, Polen und Russen, die im Zweiten Weltkrieg auf Seiten Hitlerdeutschlands gekämpft hatten und denen die Rückkehr in ihre Heimatländer versperrt blieb. Es gab auch Belgier und Niederländer mit fragwürdiger politischer Vergangenheit. Diejenigen, die aus den französischen Kriegsgefangenenlagern gekommen wären, so Miller, hätten sich in durchweg schlechter Verfassung befunden und wären froh gewesen, aus ihren verlausten deutschen Uniformen herauszukommen.
Die Kavernen des Bas Fort Saint Nicolas waren nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Algerien, wo die Legionäre ihre Grundausbildung absolvieren sollten. Die meisten von ihnen fuhren mit dem Schiff von Marseille nach Oran. Einmal in Algerien angelandet, ging es mit dem Zug weiter nach Sidi Bel Abbès, einem Ort im Landesinnern und damals das Hauptquartier der Fremdenlegion. Anstatt mit dem Schiff, wie die meisten der Freiwilligen, wurde Anton Miller aber mit dem Flugzeug nach Algerien transportiert: ein zweimotoriger, ehemals englischer Bomber, noch aus Weltkriegsbeständen. Zwölf Mann saßen sich im Rumpf des Flugzeuges auf zwei Holzbänken gegenüber. Anton Miller flog zum ersten Mal in seinem Leben: »Das war ein turbulenter Flug. Wir sind immer wieder abgesackt, aber wie. Angst hatte ich keine, ich war ja froh, dass ich von zuhause weg war. Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als wir gelandet sind. Die Sonne, das Licht und die Landschaft. Jetzt bist du in Afrika, habe ich gedacht. Das war eine Sensation. Im Krieg sind viele Kinder aus dem Ruhrgebiet wegen der Luftangriffe an den Bodensee gekommen. Wenn die in der Schule erzählt haben, wo sie herkamen, dann kam mir das schon so unheimlich weit weg vor. Und jetzt war ich in Afrika.«
Von Sidi Bel Abbès aus wurde Anton Miller im Juni 1946 in eine Ausbildungskompanie nach Marokko, damals noch eine französische Kolonie, versetzt. Diese Kompanie war Teil der 4. DBLE – Demibrigade de Légion étrangère, einer Halbbrigade – und in der Stadt Meknes stationiert. Der Kompaniechef trug den bedeutungsschweren Namen Capitaine Knüppel, und da er Deutscher war, ebenso wie die Mehrzahl der Rekruten, brüllte er seine Untergebenen vorzugsweise auf Deutsch und nicht auf Französisch an. Knüppel, ein ehemaliger Offizier der Wehrmacht, war eines der heimatlosen Gespenster, die es von einem Krieg in den nächsten trieb und denen Anton Miller immer wieder in Nordafrika und in Indochina begegnen sollte. Die Ausbildung bestand damals im Wesentlichen aus Marschieren und Schießen. »In der Ausbildung hatten wir nur alte französische Waffen. Es gab ein Gewehr, das war 1,80 Meter lang, und ein Maschinengewehr, das stammte noch aus dem Ersten Weltkrieg. In Indochina waren dann alle Waffen entweder englisch oder amerikanisch, nur der Granatwerfer war derselbe. Die Ausbildung mit den französischen Waffen war für die Katz.« Frankreich verfügte 1946 noch nicht über eine ausreichende Zahl an modernen Waffen, Fahrzeugen und anderen Rüstungsgütern. Großbritannien und die USA halfen den Franzosen, indem sie ihnen große Mengen ihrer Bestände aus dem Zweiten Weltkrieg überließen. Selbst die Uniformen, die die Fremdenlegionäre in dieser Zeit trugen, waren britisch, aus einem dicken braunen Stoff gefertigt, allerdings mit französischen Hoheitsabzeichen versehen. Anton Miller erinnert sich, dass die Hemden vom vielen Waschen einen merkwürdigen rosa bis rötlichen Farbton annahmen. »Auf Sauberkeit wurde geachtet, auf die Kleidung und ob man richtig rasiert war. Aber zum Beispiel auch darauf, ob die Ecken der Fenster in den Unterkünften sauber waren. Jede Woche war Waffenappell, meistens zum Ende der Woche, und wehe, deine Knarre war nicht richtig eingefettet. Wenn du aufgefallen bist, musstest du extra Wache schieben oder für ein paar Tage in den Bau. Das hieß dann nur mit einer Decke auf Beton schlafen.«
Jeden Tag rückten die Rekruten aus dem Lager in das umliegende Gelände aus. Zuerst wurde einige Stunden marschiert, danach kamen die Schießübungen. Einer der Unteroffiziere, ein Franzose, wurde von den Rekruten mit dem Spitznamen »Sergent Lala« belegt. Der Mann sprach kein Wort Deutsch, und immer wenn er mit einem Ausbildungszug aus dem Lager marschierte, forderte er die Männer mit dem lauten Kommando »Lala!« zum Singen auf. Die stimmten auch umgehend lauthals ein Lied an, wohlwissend, dass der Sergent den deutschen Text nicht verstand. »Wenn wir durch Meknes marschiert sind und Sergent Lala wollte, dass wir ein Lied singen, dann haben wir zum Beispiel gesungen: ›Als die goldne Abendsonne sandte ihren letzten Schein, zog ein Regiment von Hitler …‹, und so weiter. Wir haben Hitlerlieder gesungen, und dabei ging der Sergent immer im Takt vor uns her.«
Trotz der harten Ausbildung war Anton Miller mit seinem Los zufrieden. »Ich war ja froh, dass ich von zuhause weg war. Ich habe nie Heimweh gehabt, Hauptsache weg und in Afrika. So wie meine Jugend bis dahin gewesen war, habe ich mich danach sogar in der Fremdenlegion frei gefühlt. Was will man machen? Das ist eben leider so gewesen.« Andere Rekruten hatten größere Probleme, sich an den Alltag in der Fremdenlegion zu gewöhnen. Einige desertierten, was in Marokko wegen der Nähe zum spanischen Festland erfolgversprechender zu sein schien als in anderen Regionen Nordafrikas. »Die Araber haben aber von den Franzosen ein Kopfgeld für jeden wieder eingefangenen Deserteur bekommen. Da haben sie die natürlich meistens verraten. Ich kann mich noch an einen Fall erinnern, der hieß Möller, auch ein ehemaliger Wehrmachtssoldat, der sich aus der Gefangenschaft heraus zur Fremdenlegion verpflichtet hat. Das war ein ganz Schlauer, der hat es bis nach Casablanca geschafft, und dort hat er versucht, auf ein Schiff zu kommen und nach Hause zu fahren. Da hat ihn aber die Militärpolizei geschnappt und zurückgebracht. Das Ärgerliche war nur, wenn einer in Marokko desertiert ist, dann haben die anderen seine Sachen unter sich aufgeteilt. Man wusste ja: Der war weg. Der eine hat ein Hemd genommen, der andere eine Hose, und schnell war die ganze Packtasche leer. Wenn sie denjenigen aber erwischt und wieder zurückgebracht haben, dann brauchte er neue Sachen, und die wurden ihm dann vom Sold abgezogen. Deserteure wurden erst einmal für 30 Tage eingesperrt, dann ging es weiter.«
Nachmittags, nach dem Marschieren und Schießen, erhielten die Rekruten Französischunterricht, der in einem großen Saal im Untergeschoss der Kaserne stattfand. Anton Miller erinnert sich, dass es dort immer angenehm kühl war. »Im Sprachunterricht kam zuerst der Körper an die Reihe. La tête – der Kopf, le bras – der Arm, und so weiter. Dann kamen die Klamotten: la chemise (das Hemd), le pantalon (die Hose). Direkt danach kam das Armement, die Waffen: le fusil – das Gewehr. Und wehe, wenn du etwas nicht kapiert hast, dann hast du es hundertmal geschrieben. Es hieß immer: wiederholen, wiederholen.«
Während Anton Millers Ausbildung in Marokko erreichten im Oktober und November 1946 die ersten 1500 Männer des französischen Expeditionskorps an Bord amerikanischer Truppentransportschiffe Indochina. Später sollten dort bis zu 115 000 Soldaten stehen. Das Ziel war, die französische Kolonialherrschaft zu reinstallieren. Nach der Niederlage Frankreichs gegen Deutschland hatte das Vichy-Regime ein Abkommen mit den Japanern geschlossen, das den japanischen Truppen den Einmarsch in Indochina gestattete und im Gegenzug die japanische Kooperation mit den verbliebenen französischen Streitkräften und der Kolonialverwaltung garantierte. Frankreich hatte in der Mitte des 18. Jahrhunderts begonnen, Indochina zu erobern und zu kolonisieren. 1887 wurde die Kolonie Französisch-Indochina, zurückgehend auf einen Beschluss des französischen Parlamentes von 1882, offiziell gegründet. Die Kolonie umfasste die Landesteile Cochinchina, Annam und Tonking. Diese Gebiete lagen auf den Territorien der heutigen Staaten Laos, Kambodscha und Vietnam. Französisch-Indochina wurde von Beginn an einem ausbeuterischen und repressiven System unterstellt, um die Rohstoffe Indochinas – Reis, Kohle, Kautschuk, Seide und Mineralien – für Frankreich zu nutzen und den indochinesischen Markt für französische Produkte zu öffnen. Dem Wohlergehen, der Bildung und der Gesundheit der einheimischen Bevölkerung wurde dabei wenig Beachtung geschenkt. Da die französischen Kolonialherren die japanischen Besatzer während des Zweiten Weltkriegs annähernd kampflos in die Kolonie hatten einmarschieren lassen, verloren sie in den Augen vieler Vietnamesen an Ansehen und Respekt. Zwar kam es im März 1945 noch zu Kämpfen zwischen japanischen und französischen Truppen, aber die schlecht ausgerüsteten und von Nachschub aus der Heimat abgeschnittenen französischen Verbände waren hoffnungslos unterlegen, was ebenfalls dazu beitrug, dass die Vietnamesen der offensichtlichen militärischen Schwäche der Kolonialmacht gewahr wurden. Eine Woche nach der japanischen Kapitulation im August 1945 proklamierte ein Kongress der Vietminh, ein Bündnis verschiedener nationalistischer Unabhängigkeitsbewegungen, in Saigon die Unabhängigkeit von Frankreich und rief die Demokratische Republik Vietnam aus.
Noch während des Zweiten Weltkriegs hatten sich die Amerikaner unter Präsident Franklin D. Roosevelt für ein Ende des Kolonialismus in Asien ausgesprochen. Doch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beschlossen die USA unter dem auf Franklin D. Roosevelt folgenden Präsidenten Harry S. Truman angesichts der drohenden Konfrontation mit der Sowjetunion, dem Kampf gegen den Kommunismus den Vorrang einzuräumen und die Unabhängigkeitsbestrebungen in Fernost vorerst nicht mehr zu unterstützen. Gegen Ende des Jahres 1945 verkauften die USA den Franzosen Rüstungsgüter im Gesamtwert von 160 Milliarden US-Dollar für den Einsatz in Indochina.
Die koloniale Reconquista war 1946 in vollem Gange, und Indochina befand sich de facto im Kriegszustand. Es war Frankreich relativ schnell gelungen, die Kontrolle über Saigon und andere Städte zurückzugewinnen, aber die Vietminh zogen sich in die abgelegenen Landesteile zurück und lieferten sich in den Dörfern und entlang der Verkehrswege einen Guerillakrieg mit den Besatzern. Unter den Gruppierungen des Vietminh erwies sich die kommunistische Gruppe unter der Führung Ho-Chi-Minhs als die aktivste. Sie sollte, auch dank wachsender Unterstützung aus China und Russland, die Führungsrolle im Kampf um die Unabhängigkeit Vietnams einnehmen. Im März 1946 traf Ho-Chi-Minh ein Abkommen mit Frankreich, das die Demokratische Republik Vietnam als Teil der Französischen Union anerkannte. In diesem Abkommen wurde die Stationierung von 15 000 französischen Soldaten in Tonkin, nördlich des 16. Breitengrades, vereinbart. Die französischen Truppen sollten nach dem Abzug von 180 000 nationalchinesischen Soldaten die Ordnung in diesem Teil Indochinas aufrechterhalten. Ho-Chi-Minh bestand darauf, dass keine Einheiten der Fremdenlegion, die er für die Zerstörung seines Heimatdorfes in Annam während der 1930er Jahre verantwortlich machte, zu den im Norden stationierten Militäreinheiten gehören durften. Das Abkommen scheiterte einige Monate später, als französische Flugzeuge die Hafenstadt Hai-Phong bombardierten und etliche Zivilisten den Tod fanden.
Ende 1946 bemerkte Anton Miller in Nordafrika eine Veränderung: Die Ausbildung wurde beschleunigt, und in kurzer Folge wurden Einheiten der Fremdenlegion nach Indochina verschickt, um sich dem Expeditionskorps anzuschließen. Auch die ersten Rekruten aus dem Ausbildungsregiment in Meknes bekamen ihre Marschbefehle ausgehändigt. »Die Ersten, die nach Indochina geschickt wurden, waren diejenigen, die oft im Bau gesessen hatten oder in Schlägereien verwickelt gewesen waren. Es gab solche Typen, die immer Ärger gehabt haben. Die gingen als Erste.« Eines Tages fragte der Offizier beim morgendlichen Appell, wer von ihnen sich freiwillig für den Einsatz in Indochina melden würde. Anton Miller war froh, der Monotonie aus Marschieren, Schießübungen und dem Singen deutscher Lieder in der Ödnis Nordafrikas entfliehen zu können. Der Offizier sagte den angetretenen Soldaten, die Freiwilligen sollten sich im Büro, das im Verwaltungsgebäude der Kaserne lag, melden. Anton Miller war einer der Ersten, die die breite Treppe des zweistöckigen Gebäudes hinaufrannten. »Wir sind alle gerannt wie der Teufel, um nach Indochina zu kommen. Wir wollten ja weg von der eintönigen Ausbildung.«
Der Weg nach Indochina führte zunächst einmal wieder zurück nach Frankreich. Am 13. Februar 1947 verließ Anton Miller Afrika. Ein Schiff brachte die Legionäre nach Marseille, von dort aus ging es nach Toulon, einem großen Hafen mit einer Marinebasis am Mittelmeer. Dort gingen sie zusammen mit einigen hundert Zivilisten, Kolonialbeamten und Polizisten an Bord eines großen Passagierschiffes, das sie nach Indochina bringen sollte. Die Fremdenlegionäre blieben unter sich und spielten die meiste Zeit Karten. An Bord des Schiffes herrschte Langeweile, trotzdem gefiel den Legionären die Überfahrt, denn sie mussten nur ihre Quartiere unter Deck sauber halten, einen anderen Dienst gab es nicht. Zweimal am Tag, um 10 Uhr und um 16 Uhr, gab es Essen, die einzige Abwechslung. Anton Miller hatte keine Ahnung, was ihn in Indochina erwarten würde: »Wir wussten nur, dass es nach Indochina geht, sonst wussten wir gar nichts.«
Auf der Überfahrt lernte Miller einen deutschen Legionär kennen, dessen ausgemergeltes, zerfurchtes Gesicht sich ihm tief ins Gedächtnis grub. Irgendwann während der dreieinhalbwöchigen Überfahrt erzählte der Mann seine Geschichte. Wie so viele war er ein ehemaliger Soldat der Wehrmacht und 1944 in Frankreich in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten. In Süddeutschland hatte er eine Frau und zwei Kinder, und als er nach zwei Jahren aus der Gefangenschaft entlassen wurde, kehrte er so schnell wie möglich zu ihnen zurück. Er fand seine Frau, die mittlerweile mit einem anderen Mann zusammenlebte. Er geriet vor Wut und Enttäuschung außer sich, warf sie aus dem Fenster und floh. Davon überzeugt, dass die Frau den Sturz aus etlichen Metern Höhe nicht überlebt hatte, trat er schon am nächsten Tag in die Fremdenlegion ein. Im Gegensatz zu Anton Miller, der froh war, seiner engen Heimat entflohen zu sein, und der sich sogar auf seine Weise darauf freute, nach Indochina zu kommen, hatte dieser Mann keinen Lebenswillen mehr. Anton Miller verlor ihn während der Überfahrt aus den Augen und hat ihn nie wiedergesehen. Die Begegnung mit den vom Krieg gezeichneten ehemaligen Wehrmachtssoldaten ließ Miller wieder an seinen in Russland verschollenen Vater denken, und er hoffte im Stillen, dass er ihn wiedersehen würde, wenn er aus Indochina zurückkehrte.
Das Schiff nahm im Hafen von Singapur frisches Wasser und Obst an Bord. Der letzte Halt vor Saigon. Die Legionäre mussten an Bord bleiben. Doch einer versuchte zu desertieren: »Einer von uns, Sergent Wolf, ist in Singapur über Bord gesprungen. Der war auch ein Deutscher, war bei der Wehrmacht gewesen und wollte nicht mehr in den Krieg. Das hatte er uns vorher gesagt, dass er nicht mehr in den Krieg will. […] Als er über Bord gesprungen ist, hat die Schiffsbesatzung gleich Alarm gegeben, und die Hafenpolizei hat ihn aus dem Wasser gefischt. Die haben ihn sofort ausgeliefert, und er war wieder da, wo wir waren. Er wurde degradiert und hat 30 Tage Bau gekriegt. Ende 1947 ist er freiwillig zu den Fallschirmjägern gegangen. Die Fallschirmjäger der Fremdenlegion wurden ja 1947 aufgestellt. Später ist er schwer verwundet worden und von Indochina aus zurück nach Algerien geschickt worden.«
Anderthalb Tage später kam das Cap Saint Jacques in Sicht. Das gleichmäßige Dröhnen der großen Schiffsmotoren wurde zu einem gemäßigteren Brummen. Als das Schiff seine Geschwindigkeit verringerte, flaute der Fahrtwind ab, und Anton Miller spürte zum ersten Mal die schwüle, feuchte Hitze Vietnams. Das helle Sonnenlicht wurde von der Oberfläche des Meeres zurückgeworfen, und mit zusammengekniffenen Augen versuchte Miller zu erkennen, was davor ihm lag. In der Ferne war eine schmale Küstenlinie zu sehen, das Festland Indochinas, an der sich die Spitzen der Palmen langsam im Wind bewegten und in der feuchten Luft Schlieren zu hinterlassen schienen. Die Legionäre, denen die schon durchgeschwitzten Uniformen am Körper klebten, wurden auf kleinere Schiffe verladen und den Mekong hinauf nach Saigon gebracht. In Saigon verteilte man sie auf die verschiedenen Regimenter der Fremdenlegion, die sich in Indochina im Einsatz befanden. Anton Miller wurde der 13. DBLE, der 13. Demi-brigade, Légion étrangère, zugewiesen.
Die 13. Halbbrigade war während des Kriegs zwischen Frankreich und Deutschland im März 1940 gegründet worden, um gemeinsam mit britischen, polnischen und norwegischen Verbänden deutsche Truppen in Narvik anzugreifen. Von dem norwegischen Hafen aus wurde schwedisches Eisenerz per Schiff nach Deutschland transportiert. Wegen des ungünstigen Verlaufs des Kriegs in Frankreich beschlossen die Alliierten, die Deutschen in Norwegen zu attackieren und sie so an einer empfindlichen Stelle zu treffen. Bei der 13. DBLE handelte es sich zu Anfang gewissermaßen um eine Expeditionsstreitmacht, der Freiwillige aus allen Regimentern der Fremdenlegion angehörten. Noch während des Angriffs auf Narvik brach die Front in Frankreich zusammen. Die 13. DBLE kehrte an Bord britischer Kriegsschiffe von Norwegen nach England zurück. Nach der Kapitulation Frankreichs und der Ankündigung eines Waffenstillstandes im Juni 1940 waren Teile der französischen Regierung und der Generalität zu einer Kollaboration mit Deutschland bereit. Der Großteil der Truppen, die sich nach England geflüchtet hatten, wollte den Kampf gegen Deutschland an der Seite der Briten fortsetzen. Charles de Gaulle, damals Kommandeur der 4. Division Blindée, einer Panzerdivision der französischen Armee, hatte in London als Chef des Comité National Français die Fortsetzung des Kampfes gegen Deutschland und die Abspaltung von der mit den Achsenmächten kollaborierenden Vichy-Regierung unter Marschall Philippe Pétain verkündet. Den Legionären der 13. DBLE, die in England einer ungewissen Zukunft entgegensahen, wurde freigestellt, entweder unter de Gaulle für ein freies Frankreich zu kämpfen oder nach Nordafrika zurückzukehren und dort der Vichy-Regierung zu dienen. Ein Teil der Fremdenlegionäre zog es vor, nach Nordafrika zu gehen, die Übrigen kämpften mit der 13. DBLE in Dakar, Gabun, Äthiopien, Syrien und dem Libanon gegen die Achsenmächte. Beim Kampf gegen Rommels Afrika-Korps und dessen italienische Verbündete zeichnete sich die 13. DBLE während der Kämpfe um Bir Hakeim in der Libyschen Wüste aus. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Einheit nach Indochina verlegt und blieb dort bis 1954 im Einsatz.