Rappdrösselige Murkswölle, wer stört da seine Ruhe? Graf Koriander, der letzte Gnomold seiner Art, ist gar nicht erfreut, als Familie Kramer mit viel Krach und Gepäck in das alte Pförtnerhäuschen einzieht. Direkt über seiner Höhle! Dabei will der kleine Gnomold doch nur eins: ungestört nach dem Rezept für das Unsichtbarkeitssüppchen suchen. Ganz klar, die Störenfriede müssen weg! Allerdings hat der Graf nicht mit Jette und Justus gerechnet …
Für Lilly und Rosalie
und deren magischen Blick auf die Welt.
Stellt euch einmal vor …
Ein Wald. Darin steht auf einem sonnigen Hügel ein altes Schloss. Es ist ein eher kleines Schloss. Es sieht nicht so aus wie ein Märchenschloss aus dem Fernsehen, mit Türmchen und Balkönchen, Verzierungen und Fahnen. Es ist auch kein rosa glitzerndes Prinzessinnenschloss, sondern ein gemütliches, kleines, uraltes Waldschlösschen.
Etwas weiter unten, ein Stück den Hügel hinab, liegt auf einer Lichtung ein Haus. Es hat ein rotbraunes Ziegeldach, einen krummen Schornstein, mehrere Fenster, eine große Eingangstür und einen Hof mit Kieselsteinen, wie das Häuser eben so haben. Das Häuschen wird Pförtnerhaus genannt. Vor langer, langer Zeit, als es noch Könige und Kaiser gab, die das kleine Waldschlösschen zur Jagdzeit bewohnten, lebte in diesem kleinen Haus der Hausmeister. Er machte Reparaturen, schaute ab und an nach dem Rechten und öffnete den adligen Herrschaften die Türen und Tore. Und weil man früher zu Türen »Pforten« sagte, nannte man den Hausmeister nicht Hausmeister, sondern Pförtner.
Nun gab es hier schon lange keinen Pförtner mehr. Das Häuschen stand leer. Leer? Aber nur auf den ersten Blick. Lasst uns die Sache genauer ansehen.
Tief unter dem Keller des Pförtnerhauses versteckt lag ein winziger Raum. Es war mehr eine Höhle. Von der wusste jedoch niemand. Deswegen konnte man dort im Geheimen auch völlig ungestört leben. Und von dem, der dort hauste, handelt dieses Buch.
Er kochte gerade.
»Zwanzig blaue Gnomoldhaare streue ich hinein, ich rühre um, ich rühre um, schon wird der Zauber fertig sein«, murmelte Graf Koriander beim Mischen vor sich hin.
Dann starrte er zweifelnd in den großen Topf, der auf dem Herd brodelte.
»Zwanzig Härchen«, brummelte er, »zwanzig meiner kostbaren Härchen! Das Ausreißen tat wupprisselig weh! Es wird doch wohl nicht umsonst gewesen sein, oder?«
Graf Koriander bekam keine Antwort. Und darüber war er froh. Sehr froh sogar. Denn der kleine Gnomold liebte seine Einsamkeit und konnte genau drei Dinge nicht ausstehen (so lange er sie nicht selbst veranstaltete): Krach, Lärm und Getöse. Außerdem noch Spektakel, Gepolter, Geschrei, Rabatz, Streit, Radau, Tumult und Aufregung. Ja, ihr habt recht, das waren mehr als drei. Armer Graf Koriander, wie sollte er auch ahnen, dass es mit seiner schönen Ruhe bald vorbei sein würde …
Im Moment noch völlig ungestört und in friedlicher Stille rührte er weiter. Doch je länger der kleine Gnomold in den Topf starrte, desto mürrischer wurde er. Irgendetwas stimmte mit dem Zaubersüppchen nicht. Es tat sich überhaupt nichts. Es blitzte nicht, es zischte nicht, es krachte nicht und es explodierte nicht das geringste bisschen. Es passierte rein gar nichts. Blubber, blubber, blubb, machte es. Graf Koriander rührte immer wilder. Er wurde allmählich wirklich ärgerlich. Sollte er seine Haare etwa umsonst geopfert haben?
Plötzlich wurde das Umrühren immer mühsamer. Die blauen Gnomoldhaare schlangen sich wie Spaghetti um den Kochlöffel. Die Suppe schien glibberig zu werden. Schon bald bildeten sich wabbelige Klumpen und die Flüssigkeit wurde so fest, dass der Holzlöffel einfach darin stecken blieb.
Graf Koriander hüpfte wütend auf und ab und begann zu fluchen. »Zwitschverflummte Nullpemklimpe! Grindgewimmte Lummenrixe!«
Dann riss er ruckartig am Stiel des Kochlöffels. Doch der bewegte sich keinen Millimeter. Wie festgewachsen steckte er in der blauen Haarsuppenpampe. Der kleine Gnomold stieß gereizt die Luft aus der Nase und blickte grimmig in den Topf. Er rüttelte und wackelte so heftig am Kochlöffel, dass der Topf bedenklich kippelte. Schließlich drückte Graf Koriander mit der einen Hand gegen das Gefäß, während er mit der anderen am Stiel zog. Da geschah, was geschehen musste: Der starre Haarsuppenglupsch löste sich mit einem schmatzenden Pflopf aus dem Topf! Damit hatte Graf Koriander nicht gerechnet und fiel mit Schwung auf seinen gräflichen Popo.
»Autsch! Verwommpte Gnorke«, zeterte er empört und betrachtete verwundert das seltsame Gebilde, das er in der Hand hielt.
Eine Art glänzender, blauer Riesenlutscher! Er war so groß wie Graf Korianders Kopf. Mit Hut!
Graf Koriander grinste schief und beschnüffelte den Lolli. Vorsichtig streckte er seine Zunge heraus und schleckte ein wenig an der glatten Oberfläche.
»Lecker schmecker!«, rief er begeistert und lachte triumphierend, »dieser Klotz, schlurps und schlotz, schmeckt ja lecker, kein Gemecker!«
Sein vergnügtes Gekicher schallte durch den Raum. Graf Koriander war niemals lange schlecht gelaunt. Doch beinahe hätte er das Wichtigste vergessen: Hatte er endlich das Rezept für die Unsichtbarkeit gefunden? War er möglicherweise schon längst unsichtbar geworden, während er andächtig an dem Lolli geschleckt hatte?
Graf Koriander schaute an sich hinab.
Doch leider war alles beim Alten geblieben: Seine dünnen Beinchen steckten noch in den alten Lederstiefeln mit den nach oben gebogenen Schuhspitzen. Die braune, schmutzige Hose war weiterhin braun und schmutzig. Und über der weißen Rüschenbluse mit den gräflichen Puffärmeln, trug er noch immer seine lange dunkelrote Samtweste.
Graf Koriander holte tief Luft und begann zu schimpfen: »Rappdrösselige Murkswölle, verkrimmwimpelte!« Wie enttäuschend … Graf Koriander seufzte tief. Schon wieder nichts. Ratlos kratzte sich der Gnomold am Kopf. Es prickelte, dort, wo er sich vorhin mit freudigem Schwung die Haare ausgerupft hatte. Nachdenklich stand er auf, klopfte sich den Staub vom Hosenboden, legte den blauen Riesenlutscher zur Seite und trat an das alte Buch, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag.
»Grumpfuggeliges Rezept!«, brummelte Graf Koriander und kontrollierte sorgfältig die Zutatenliste. Aber er konnte keinen Fehler finden. Er hatte absolut alles richtig gemacht.
Es war aber auch jedes Mal dasselbe! Er probierte frohgemut ein Rezept nach dem anderen aus, ohne dass er jemals sicher sein konnte, was dabei herauskam. Hinter mancher Kochanleitung verbarg sich eine Zaubersalbe gegen Fußpilz und hinter manch anderer nur das Rezept für eine Buchstabennudelsuppe. Man wusste nie, was man zusammenbraute, weil der geheimnisvolle Zauber erst während des Kochens geschah. Über den Rezepten stand natürlich nicht: ›Feine Bratkartoffeln‹ oder ›Unsichtbarkeitszauber fix und fertig‹. Das wäre schließlich weder kompliziert noch sonderlich knifflig. Denn wenn es so einfach ginge, wäre Graf Koriander nicht schon seit dreihundertdreiunddreißigeinhalb Jahren auf der Suche nach dem Rezept für das sagenumwobene Unsichtbarkeitssüppchen.
Es war nämlich so: Wenn man ein Kobold ist, kommt man auf die Welt und zack, kann man sich unsichtbar machen. Kein Problem. Man muss noch nicht einmal darüber nachdenken.
Wenn man ein Gnom ist, kommt man auf die Welt und kann sich niemals unsichtbar machen – und es ist einem auch herzlich egal.
Wenn man aber ein Gnomold ist, also eine Mischung aus Gnom und Kobold, wie Graf Koriander hier, kommt man auf die Welt, zack, man kann sich nicht unsichtbar machen und fängt an, ununterbrochen darüber nachzudenken, wie es trotzdem funktionieren könnte.
Die ersten zweihundert Jahre hatte Graf Koriander damit zugebracht, die passenden Zutaten für seine Zauberrezepte zu sammeln. Weitere hundert Jahre brauchte er, um die Rezepte in dem alten Gnomold-Kochbuch zu übersetzen. Die waren dummerweise in einer sehr fremdartigen Sprache geschrieben. Vielleicht war es aber auch umgekehrt. Vielleicht hat er erst die Rezepte übersetzt und danach die Zutaten gesammelt … man weiß es nicht genau. Seit über dreißig Jahren war der kleine Gnomold nun damit beschäftigt, alle Rezepte nachzukochen, in der Hoffnung, irgendwann einmal durch Zufall auf das Unsichtbarkeitssüppchenrezept zu stoßen.
Nun liegt die Vermutung nahe, dass Graf Koriander ein unansehnliches Wesen sein müsse, wenn er nicht gesehen werden wollte. Aber nein! Die Wahrheit ist, Graf Koriander sah sogar sehr sympathisch aus. Zumindest, wenn man Gnomolde mochte. Er war klein und reichte einem ungefähr bis zum Knie. Und weil er eine Mischung aus Gnom und Kobold war, herrschte auch in seinem Gesicht eine Mischung. Ungefähr so, als würde man einem freundlichen Zwerg das Gesicht eines niedlichen Äffchens malen oder umgekehrt. Er hatte fröhliche blaue Augen und ebensolche Haare. Blau, nicht fröhlich. Sein Nachname lautete, passend zu den Haaren: Kobaltblau. Kobaltblau ist eine blaue Farbe. Eine sehr blaue Farbe. Man könnte sogar sagen, es ist das blaueste Blau, das es gibt. Zwischen seinem Vornamen und dem Nachnamen hatte der kleine Gnomold noch einige komplizierte Zwischennamen. Es gab nur sehr wenige Menschen, die seinen ganzen Namen kannten. Und fast niemand konnte ihn sich merken. Achtung, hier kommt er:
Graf Koriander Kamillo Kurkuma Kolumban Konradin Karlheinz Krakauer von Kito zu Kobaltblau, der Dritte. Uff!
Sein Großvater war Graf Korbinian Kamillo Kurkuma Kolumban Konradin Karlheinz Krakauer von Kito zu Kobaltblau, der Erste, und sein Vater war Graf Kajetan Kamillo Kurkuma Kolumban Konradin Karlheinz Krakauer von Kito zu Kobaltblau, der Zweite, gewesen. Jetzt war nur noch er übrig und damit der dritte und gleichzeitig der letzte Gnomold dieser Welt!
Und als einziger und letzter Gnomold der Welt wollte Graf Koriander unbedingt derjenige sein, dem es gelang, die Formel zum Unsichtbarwerden zu entdecken. Doch dafür brauchte er sehr viel Ruhe. Und Stille. Zum Nachdenken, Grübeln und Überlegen …
Graf Koriander nahm den luftballongroßen Lutscher und setzte sich in seinen Schaukelstuhl, um genau das zu tun. Nachzudenken, zu grübeln und zu überlegen. Es war wunderbar idyllisch, es war fabelhaft still und der kleine Gnomold hing seinen Gedanken nach …
Einige Augenblicke später wurde Graf Koriander aus seinen Gedanken gerissen, als plötzlich ein dunkles Wummern seine Höhle durchzog. Die Wände vibrierten. Die an der Decke zum Trocknen aufgehängten Kräutersträuße fingen an herunterzurieseln. Getrocknete Thymian- und Rosmarinblättchen fielen auf Graf Korianders abgeschleckten, feuchten Riesenlutscher herab und blieben daran kleben. Angewidert verzog er das Gesicht und spuckte den letzten Schleck wieder aus.
»Zum drömmeligen Dommeluttchen. Wer wagt es, meine heilige Gnomoldruhe zu stören?«, murmelte er wütend und sprang auf.
Dem kleinen Gnomold schwante nichts Gutes. Noch wusste er nicht, dass gerade ein Umzugswagen und ein Auto auf dem Hof des Pförtnerhauses zum Stehen gekommen waren.
Jetzt hieß es, keine Zeit zu verlieren. In der plötzlichen Eile glitt dem Gnomold der Lutscher aus der Hand und fiel vor dem Schaukelstuhl auf den Boden. Er zerschellte in unzählige Stücke. Hoppla, fingen die Splitter etwa an, sich aufzulösen? Tatsächlich, auf dem Boden bildete sich langsam eine schillernde, klebrige Lutscherpfütze.
Das musste Graf Koriander später dringend aufwischen. Nicht auszudenken, was geschehen würde, sollte er aus Versehen in die Pfütze treten und kleben bleiben! In etwas Klebriges zu treten ist immer unangenehm, aber für einen Gnomold wäre es eine Katastrophe …
Doch dafür hatte Graf Koriander nun keine Zeit. Er hatte Wichtigeres zu tun. Er musste die Ruhe bewahren. Seine Ruhe, wohlgemerkt.
Und er wusste genau, was er in einem solchen Fall zu tun hatte. Der kleine Gnomold schnappte sich die vollgestopfte Tasche für Notfälle und verließ hastig seine Höhle.
Wenn er sich beeilte, ließe sich das Unglück möglicherweise noch aufhalten …