Der Weihnachtsmann

oder

Das abenteuerliche Leben des Santa Claus

von

L. Frank Baum

Aus dem Amerikanischen von Achim Schnurrer

L. Frank Baum:
Der Weihnachtsmann oder
Das abenteuerliche Leben des Santa Claus

Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Achim Schnurrer
Eins A Medien GmbH
Altengrabengässchen 1 a, D-50668 Köln
Dieser Titel ist auch als Hörbuch bei Eins A Medien erhältlich und erschien 2010 als gedrucktes Buch beim Verlag Linus Wittich, Forchheim
2014 © für die deutsche Ausgabe Eins A Medien GmbH
Cover-Illustration: David Boller
ISBN 978-3-95795-032-1
www.eins-a-medien.de
www.achim-schnurrer.de

Inhalt

Erster Teil – Kindheit und Jugend

Erstes Kapitel: Bursie – Der Zauberwald

Zweites Kapitel: Das Kind des Waldes

Drittes Kapitel: Die Adoption

Viertes Kapitel: Claus

Fünftes Kapitel: Der Große Meister der Wälder

Sechstes Kapitel: Claus entdeckt die Menschen

Siebtes Kapitel: Claus verlässt den Zauberwald

Zweiter Teil – Werden und Wirken

Erstes Kapitel: Das Tal des Lachens

Zweites Kapitel: Wie Claus das erste Spielzeug machte

Drittes Kapitel: Wie die Reilis die Farben besorgten

Viertes Kapitel: Wie sich die kleine Mira ganz fürchterlich erschrak

Fünftes Kapitel: Wie Manuela Munter ins Tal des Lachens kam

Sechstes Kapitel: Die Bosheit der Abgwass

Siebtes Kapitel: Der große Kampf zwischen Gut und Böse

Achtes Kapitel: Die erste Reise mit den Rentieren

Neuntes Kapitel: „Santa Claus!“

Zehntes Kapitel: Weihnachtsabend

Elftes Kapitel: Wie die ersten Strümpfe neben die Kamine gehängt wurden

Zwölftes Kapitel: Der erste Weihnachtsbaum

Dritter Teil – Tod und Leben

Erstes Kapitel: Der Mantel der Unsterblichkeit

Zweites Kapitel: Als auch die Welt älter wurde

Drittes Kapitel: Santa Claus und seine Helfer

Nachwort

L. Frank Baum – ein Porträt von Achim Schnurrer

Erster Teil
Kindheit und Jugend

Erstes Kapitel
Bursie — Der Zauberwald

Hast du schon vom großen Wald, den man Zauberwald nennt, gehört? Ich erinnere mich, mein Kindermädchen hat mir noch die Lieder darüber vorgesungen, als ich klein war. Sie besang die riesigen Bäume, die so gedrängt und dicht standen, dass sich ihre Wurzeln unten im Erdreich untrennbar miteinander verschlungen hatten, ebenso wie die Laubkronen weit oben; die raue Rinde und die knorrigen Äste der gewaltigen Stämme; das schier undurchdringliche Blätterwerk, das sich über den ganzen Wald spannte. Überall dort, wo die Sonnenstrahlen einen Durchschlupf fanden, sprenkelten sie lauter kleine Lichtpunkte auf den Boden, während ansonsten ein unheimliches Dämmerlicht herrschte mit bewegten Schatten, die über Moosflecken und Boden huschten, der wie ein Teppich mit abgefallenen Blättern und Nadeln bedeckt war.

Der Zauberwald ist überwältigend groß und furchteinflößend für all jene, die sich in seinem Schatten zu verbergen suchen. Wenn man ihn von einer sonnenüberfluteten Wiese aus betritt, glaubt man zuerst, in ein labyrinthisches Halbdunkel geraten zu sein, doch je mehr man sich an dieses Licht gewöhnt, umso fröhlicher wird die Stimmung und wandelt sich zu einem Quell unendlicher Freude.

In Hunderten von Jahren wuchs und gedieh der Wald zu seiner jetzigen Größe und Pracht. Nur das Geraschel eifriger Eichhörnchen, das entfernte Grollen wilder Tiere und das lebhafte Gezwitscher der Vögel durchdrang sein tiefes Schweigen.

Doch im Zauberwald leben noch andere Bewohner. Die Natur bevölkerte den Wald von Anbeginn an auch mit Elfen, Feen, Zwergen, Nohks, Reilis und Nymphen. Bis zum Ende aller Zeiten wird er ihre Heimat sein; ein Rückzugsort und eine Spielwiese für diese kleinen Unsterblichen, die das Leben in seinen Tiefen genießen.

Bis heute blieb der Zauberwald von der Zivilisation unberührt. Und ich frage mich, ob es ihr jemals gelingen wird, diesen Wald zu erobern.

Zweites Kapitel
Das Kind des Waldes

Einst, vor so langer Zeit, dass sich selbst unsere Urgroßväter nicht mehr daran erinnern können, lebte im großen Wald von Bursie eine Baumnymphe namens Necile. Sie war eng verwandt mit der mächtigen Königin Zurline und wohnte im Schatten einer breitgefächerten Eiche. Einmal im Jahr, am Tag der Knospen, wenn neue Triebe aus den Zweigen sprossen, durfte Necile der Königin den Goldenen Kelch des Großen Ark an die Lippen führen, damit sie aus ihm zum Wohle des Waldes trinke. Das bezeugt, dass es sich bei ihr um eine Nymphe von einiger Bedeutung handelte. Doch darüber hinaus wird bis auf den heutigen Tag vor allem ihre Schönheit und ihr Anmut gepriesen.

Wann sie erschaffen wurde, ist unbekannt, auch Königin Zurline wusste es nicht und selbst der Große Ark hatte es vergessen. Es war lange her, in Zeiten, als die Welt noch neu war und Nymphen dringend gebraucht wurden, um auf die jungen Bäume acht zu geben und sie in ihrem Wachstum zu unterstützen. Damals, an einem Tag, an den sich niemand mehr erinnert, sprang Necile in ihr Dasein; strahlend, lieblich, schlank und rank wie die jungen Triebe, die zu beschützen sie erschaffen worden war.

Ihr Haar hatte die Farbe der stachligen Kastanienhüllen; ihre Augen glänzten blau im Sonnenlicht und purpurn im Schatten; ihre Wangen glühten in dem zarten Rosa, das bei Sonnenuntergang die Wolken berührt; ihre Lippen waren dunkelrot, voll und formten einen entzückenden Schmollmund. Ihr Kleid war eichenblattgrün wie das aller Waldnymphen. Sie kennen keine andere Farbe, die ihnen besser gefällt. Ihre zierlichen Füßchen steckten in niedlichen Sandalen, während ihr Kopf mit nichts anderem bedeckt war als ihren eigenen seidigen Locken.

Neciles Aufgaben waren einfach und klar umrissen. Sie kümmerte sich um die empfindlichen Jungpflanzen, die zwischen den Bäumen heranwuchsen, und versorgte sie mit frischer Erdnahrung. Sie vertrieb die Schattenwenzler, die ein teuflisches Vergnügen daran fanden, die jungen Pflanzen umzuknicken und anzuknabbern, so dass sie, von solch rüdem Umgang verletzt, rasch eingingen. In der trockenen Jahreszeit holte sie Wasser aus den Bächen und Teichen und befeuchtete damit die Wurzeln ihrer durstigen Pfleglinge.

Das war der Beginn. Später mieden die Schattenwenzler jene Gegenden, in denen sich Waldnymphen um die Schöß- linge kümmerten. Sobald diese ein Stück gewachsen waren und eine gewisse Größe erreicht hatten, waren sie kräftig und widerstandsfähig genug, um alleine zurecht zu kommen. Neciles Verpflichtungen schwanden dahin wie der abnehmende Mond und es kam die Zeit, da sich mehr Gleichförmigkeit und Langeweile in das Leben der Nymphe schlichen, als ihrem munteren Wesen lieb war.

Nun war es jedoch nicht so, dass die Waldbewohner unter einem Mangel an Zerstreuung und zu wenig Kurzweil litten. Zu jedem Vollmond tanzten sie im Kreis von Königin Zurline. Außerdem gab es das Nuss-Fest, das Jubiläum der Herbstfarben, die feierliche Zeremonie des Blätterfalls und das Knospen-Gelage. Aber keiner dieser Anlässe stand unmittelbar bevor und die Tage bis dahin dehnten sich zu einem zähen, endlosen Band.

Unbehagen war eigentlich nicht Bestandteil der Welt der Waldnymphen. Aber ganz plötzlich, nach langen Jahren treuer, aber eintöniger Pflichterfüllung, in denen ihre Aufgaben nach und nach immer weniger geworden waren, überfiel sie genau diese Stimmung. Als sich dieses Gefühl erst einmal in ihr festgesetzt hatte und sie sich sagte, dass ihr Leben zu gleichförmig geworden war, verlor sie jegliche Geduld und entschloss sich etwas zu tun, was sie wirklich begeistern könnte und bisher für Waldnymphen undenkbar war. Nur das unveränderliche Gesetz des Waldes hielt sie davor zurück, ihn augenblicklich zu verlassen und das Abenteuer in der Ferne zu suchen.

Während diese niederdrückenden Empfindungen auf dem Gemüt der hübschen, zarten Necile lasteten, geschah es, dass der Große Ark den Zauberwald aufsuchte und den Waldnymphen gestattete - falls sie es wünschten - sich zu seinen Füßen niederzulassen und den Worten der Weisheit zu lauschen, die immer dann aus seinem Munde strömten, wenn ihm jemand eine Frage stellte. Ark ist der Meister der Wälder; er sieht alles und weiß mehr als jedes Menschenkind.

In dieser Nacht hielt er die Hand der Königin. Er liebte die Nymphen so wie ein Vater seine Kinder liebt; und Necile saß zusammen mit vielen ihrer Schwestern zu seinen Füßen und lauschte andächtig seinen Worten.

"Meine Lieben, wir leben so glücklich in unseren abgeschiedenen Wäldern", erklärte Ark, während er sich mit den Fingern durch den dichten Bart fuhr, "dass wir nichts über das Leid und die Sorgen wissen, mit denen so viele dieser armen Sterblichen zu kämpfen haben, die in den Regionen außerhalb der Wälder leben. Sie sind nicht von unserer Art, das ist richtig, dennoch habe ich immer wieder mein Mitleid mit ihnen. Oft, wenn ich einem kranken, leidenden Sterblichen begegne, möchte ich am liebsten anhalten und die Sorgen des armen Wesens vertreiben. Nun ist aber das Leid eine Eigenart der Sterblichen. Es ist ihre Natur und die Gesetze der Natur verbieten es, dass wir uns in ihre Angelegenheiten einmischen."

"Dessen ungeachtet", erwiderte Zurline und wandte ihr goldenes Gesicht zum Meister der Wälder, "ist es ein offenes Geheimnis, dass Ark den unglücklichen Sterblichen immer wieder geholfen hat."

Ark lächelte.

"Manchmal", gab er zu, "wenn sie sehr jung sind, die Sterblichen - wir bezeichnen sie dann als Kinder - habe ich sie tatsächlich vor Elend bewahrt und gerettet. Bei erwachsenen Männern und Frauen dagegen kann ich nichts tun. Sie müssen die Bürde tragen, die ihnen das Leben auferlegt hat. Aber hilflose Kinder haben ein Anrecht darauf, glücklich zu sein, bis sie groß genug geworden sind, um selbständig den Anforderungen des Lebens gerecht zu werden. Deshalb helfe ich ihnen. Es ist noch nicht lange her, vielleicht ein Jahr, da fand ich vier arme, kleine Kinder in einer eiskalten Holzbaracke, die langsam aber sicher erfroren wären. Ihre Eltern waren ins Nachbardorf gegangen, um dort Essen zu besorgen und hatten im Ofen der Hütte ein Feuer entzündet, das ihre Kinder während ihrer Abwesenheit wärmen sollte. Doch Sturm und dichtes Schneetreiben ließen die Eltern vom Weg abkommen, so dass sie viel länger unterwegs waren, als sie es beabsichtigt hatten. In der Zwischenzeit erlosch das Feuer und der eisige, flinke Frost kroch in die Hütte und bemächtigte sich der Kinder."

"Arme Dinger!", murmelte die Königin. "Was hast du unternommen?"

"Ich bat Nelko, mir einen Klafter trockenes Holz aus meinen Wäldern herzubringen und darauf zu blasen bis es sich entzündete. Es wärmte den kleinen Raum, in dem sich die Kinder befanden. Sie hörten auf zu zittern und zu frieren und schliefen schließlich ein bis ihre Eltern wieder zurückkamen."

"Ich bin glücklich, dass du das getan hast", sagte die Königin und blickte den Meister strahlend an; und Necile, die aufmerksam zugehört hatte, wisperte wie ein Echo: "Ich bin auch glücklich!"

"Und heute Nacht", fuhr Ark fort, "als ich an den Waldrand von Bursie kam, hörte ich ein schwaches Wimmern, das ich als das Weinen eines kleinen Menschenkindes erkannte. Ich schaute mich um und fand ganz in der Nähe des Waldes ein hilfloses, kleines Baby, das fast nackt in einer Grasmulde lag und jammervolle Töne von sich gab. Nicht weit davon entfernt, versteckt hinter den Bäumen des Waldes, schlich Shiegra, die Löwin, herum. Mir war klar, dass sie in dem Kind ein willkommenes Abendessen sah."

"Und was hast du getan?", fragte Königin Zurline atemlos.

"Nicht viel. Ich war ja in Eile, um rechtzeitig bei euch zu sein. Aber ich befahl Shiegra, sich zu dem Baby zu legen, es mit ihrer Milch zu säugen und seinen Hunger zu stillen. Und ich sagte ihr, dass ich im ganzen Wald kundtun würde - allen wilden Tieren, Reptilien, Vögeln und Säugetieren - dass es verboten sei, diesem Kind ein Leid zuzufügen."

"Ich bin froh, dass du das getan hast", sagte die Königin und klang ganz zufrieden; doch diesmal wiederholte Necile ihre Worte nicht, denn auf einmal erfüllte die Nymphe ein befremdlicher Drang, der sie zwang, sich unbemerkt von den anderen fortzuschleichen.

Ihre schemenhafte Gestalt glitt durch den dunklen Wald, folgte, damit sie niemand sah, geheimen Pfaden und erreichte so schließlich den Rand ihrer Welt. Niemals zuvor hatte sie sich so weit von zu Hause entfernt. Denn die Regel, nach der Nymphen leben, bestimmt, dass ihr Platz in den Tiefen der Wälder sei.

Necile wusste, dass sie im Begriff war, dieses Gesetz zu brechen. Dennoch ließ dieser Gedanke sie nicht innehalten. Immer weiter trugen sie ihre kleinen Füße. Sie hatte beschlossen, mit eigenen Augen anzuschauen, wovon Ark erzählt hatte, denn noch nie hatte sie ein Menschenkind gesehen. Alle Unsterblichen waren in jenem Augenblick, in dem sie zur Welt kamen, bereits vollständig ausgewachsen; es gab keine Kinder unter ihnen. Als sie zwischen den Zweigen hindurchschaute, erblickte sie tatsächlich das kleine Baby im Gras. Es schlief friedlich, nachdem es von der Milch der Löwin getrunken hatte. Es war noch viel zu klein, um zu verstehen, welcher Gefahr es ausgesetzt war; solange es keinen Hunger verspürte, war es friedlich und still.

Vorsichtig schlich die Nymphe zu dem Kind und kniete sich zu ihm ins Gras. Ihr langer rosenroter Umhang bauschte sich auf wie eine Wolke im Altweibersommer. In ihrem hübschen Gesicht spiegelten sich Neugier und Überraschung, aber darüber hinaus vor allem ein weicher, zarter, weiblicher Zug voller Mitleid. Es konnte noch nicht lange her sein, dass das Baby zur Welt gekommen war, es war pausbackig und rosa. Und es war völlig hilflos. Während die Nymphe das Kind ansah, öffnete es seine Augen, lächelte sie an und streckte ihr zwei stramme Ärmchen entgegen. Im nächsten Augenblick hob Necile es hoch, presste es an ihre Brust und rannte mit dem Kind über die Pfade in den Wald hinein.

Drittes Kapitel
Die Adoption

Niemand auf der Lichtung hatte etwas von Neciles Abwesenheit bemerkt. Doch plötzlich erhob sich der Meister der Wälder ruckartig und runzelte die Stirn. "Ich spüre ein fremdes Wesen", erklärte er. Königin Zurline und ihre Nymphen wandten sich um und sahen, wie auf einmal Necile vor ihnen stand, das schlafende Baby vorsichtig im Arm hielt und die Versammelten mit einem herausfordernden Blick musterte.

Für einen Moment verharrten sie alle, als wären sie erstarrt, die Nymphen voller Überraschung und auflodernder Empörung. Doch die Stirn des Meisters der Wälder glättete sich schnell, obwohl alle wussten, dass die schöne Unsterbliche willentlich und vorsätzlich- das Gesetz gebrochen hatte. Zur großen Verwunderung der Anwesenden, streichelte der Große Ark sanft über Neciles Locken und küsste sie auf die Stirn.

"Zum ersten Mal", sagte er mit sanfter Stimme, "hat,

so lange ich zurückdenken kann, eine Nymphe mich und mein Gesetz missachtet; auch tief in meinem Herzen finde ich deshalb keine passenden Worte für dieses Verhalten. Was beabsichtigst du mit deinem Tun, Necile?"

"Lass mich das Kind behalten!", antwortete sie und begann auf einmal zu zittern. Demütig sank sie auf ihre Knie.

"Hier im Zauberwald, den noch niemals eines Menschen Fuß betreten hat?", fragte Ark.

"Hier im Wald ", erwiderte die Nymphe mit fester Stimme. "Dies ist meine Heimat und ich habe es satt, nichts Wichtiges mehr zu tun zu haben. Lass mich für das Baby sorgen! Sieh nur, wie schwach und hilflos es ist. Von ihm geht sicher keine Gefahr für Bursie oder den Meister der Wälder aus!"

"Aber das Gesetz, mein Kind, das Gesetz!", warf Ark mit sich verfinsternder Miene ein.

"Das Gesetz wurde vom Meister der Wälder gemacht", entgegnete Necile. "Wenn er mich bittet, mich um das Kind zu kümmern, das er selbst vorm Tode bewahrt hat, wer in aller Welt könnte ihm widersprechen?" Königin Zurline, die der Auseinandersetzung konzentriert zugehört hatte, klatschte in ihre Hände, entzückt von der Antwort der kleinen Nymphe.

"Da sitzt du wohl in der Falle, Ark!", rief sie lachend. "Jetzt lass ihr schon ihren Willen."

Der Meister der Wälder fuhr sich, wie es seine Art war, wenn er angestrengt über etwas nachdachte, durch seinen Bart. Dann sagte er: "Sie soll das Baby behalten, und ich will ihm meinen Schutz gewähren. Aber ich warne euch hiermit allesamt. Dies ist das erste Mal, dass ich mein von mir erlassenenes Gesetz in einer Weise gebeugt habe, wie es nicht vorgesehen ist, aber es wird auch das letzte Mal gewesen sein. Niemals wieder - bis zum Ende allen Lebens und aller Zeiten, soll ein Sterblicher von einem Unsterblichen adoptiert werden. Anderenfalls setzen wir unser Glück und unsere Existenz aufs Spiel und tauschen sie ein gegen ein Leben voll unliebsamer Umstände und Widrigkeiten. Gute Nacht, meine Nymphen!"

Mit diesen Worten verabschiedete sich Ark und verschwand aus ihrer Mitte, während Necile rasch zu ihrer Laube lief, um sich an ihrem neu-gewonnenen Schatz zu erfreuen.

Viertes Kapitel
Claus

Schon am nächsten Tag stellte Necile erstaunt fest, dass ihre Laube unter der Eiche zum beliebtesten Treffpunkt des ganzen Waldes geworden war. Die Nymphen drängten sich voller Neugier und Freude um das schlafende Kind. Sie waren voll des Lobes angesichts der Großmut des weisen Ark, der Necile erlaubt hatte, das Baby zu behalten und für es zu sorgen. Sogar die Königin kam vorbei, um das friedliche Kindergesicht zu betrachten und seine kleine, pummelige Faust in ihren Händen zu halten.

"Wie soll er heißen, Necile?", fragte sie lächelnd. "Du weißt, er braucht einen Namen."

"Ich will ihn Claus nennen", antwortete Necile, "denn das bedeutet: der Kleine.".

"Ich denke, er sollte Neclaus heißen", erwiderte Zurline, "Neciles Kleiner." (Später nannten ihn viele Menschen Nicklaus, andere Nicolas, weshalb Santa Claus in zahlreichen Ländern immer noch St. Nikolaus genannt wird. Aber sein richtiger Name ist natürlich Neclaus und Claus ist sein Rufname, den er von seiner Adoptivmutter Necile erhalten hatte.)

Die Nymphen klatschten begeistert in die Hände und so kam das Kind zu seinem Namen Neclaus, während Necile ihn am liebsten einfach nur Claus rief, eine Angewohnheit, der im Laufe der Zeit auch die meisten anderen ihrer Schwestern folgten.

Necile sammelte das zarteste Moos im ganzen Wald, damit Claus darauf liegen konnte. Auch an Nahrung mangelte es dem Kleinen nicht. Die Nymphen suchten überall Lm Wald nach Kelchblüten, die auf den Goa-Bäumen wachsen und aus denen süße Milch gewonnen werden kann, wenn sie sich öffnen. Sie sammeln diesen Nektar ohnehin für sich und teilten ihn gerne mit dem kleinen Fremden. Sogar Shiegra, die Löwin, kam ab und an zu Neciles Laube und schnurrte leise, wenn sie sich neben das Kind legte, um es an ihrer Brust nuckeln zu lassen. Solcherart gedieh der Kleine und wuchs Tag für Tag ein bisschen mehr, während Necile mit ihm spielte und ihn lehrte, zu sprechen und zu laufen.

Seine Gedanken und Worte waren freundlich und rein, da die Nymphen nichts Böses kannten und in ihren Herzen nur die Liebe wohnte. Er wurde zu einem beliebten Spielgefährten für nahezu alle Bewohner des Waldes, nicht zuletzt auch deshalb, weil Ark den Raubtieren und Reptilien verboten hatte, ihn zu belästigen. Und so konnte er sich überall ohne Angst bewegen, wohin ihn auch immer seine Füße trugen.

Schließlich erreichte die Nachricht, dass die Nymphen des Zauberwaldes ein Menschenkind adoptiert hatten und dass dieser Vorgang vom Großen Ark gebilligt worden war, auch andere Unsterbliche. Viele von ihnen kamen, um den kleinen Claus zu besuchen und nahmen ihn voller Neugier und Interesse in Augenschein. Als erstes kamen die Reilis, nahe Verwandte der Nymphen, wenngleich sich ihr Aussehen von ihnen unterschied. Während die Waldnymphen das Wachstum der Bäume beobachten und fördern, besteht die Aufgabe der Reilis darin, das nämliche für alle Blumen zu leisten. Sie bereisen die ganze Welt, um die besten Nährmittel zu suchen und heranzuschaffen, die von den Wurzeln der blühenden Pflanzen benötigt werden. Gleichzeitig besorgen sie Farbstoffe und Dünger, die von den Blumen aufgesaugt und durch die feinen Adern der Pflanzen bis in die Blütenblätter transportiert werden, wo sie dann ihre ganze Kraft entfalten. Die Reilis sind sehr beschäftigte kleine Leute, da Blumen ständig wachsen, aufblühen und wieder vergehen. Doch sie sind heiter, besitzen einen fröhlichen Charakter und sind deshalb im Kreis anderer Unsterblicher sehr beliebt.

Danach kamen die Nohks, die sich um das Wohlergehen der Tiere in aller Welt kümmern, egal ob es sich um friedliche Grasfresser oder wilde Räuber handelt. Damit obliegt den Nohks eine große Verantwortung und eine schwere Aufgabe, da sich viele Tiere überhaupt nicht gerne lenken und leiten lassen und gegen jede Bevormundung sofort rebellieren. Aber sie wissen, wie sie mit diesen Schwierigkeiten umgehen müssen, und wer die Nohks besser kennenlernt, wird erfahren, dass ihre Gesetze letztlich selbst von den größten und mächtigsten Tieren der Welt befolgt werden. Der ständige Umgang mit der rauen, animalischen Lebenswelt bewirkt, dass die Nohks ziemlich alt und abgearbeitet aussehen, während ihr Naturell, bedingt durch ihren ständigen Umgang mit ungezähmten Kreaturen, sie gleichzeitig recht grob und harsch erscheinen lässt. Dessen ungeachtet sind sie für die Menschen und die Welt insgesamt sehr nützlich, weil die Tiere des Waldes allein ihren Gesetzen folgen, mit Ausnahme derer natürlich, die vom Große Meister der Wälder selbst erlassen werden.

Dann sind da noch die Elfen und Feen, die Wächter über die Menschheit, die sehr an der Adoption des kleinen Claus interessiert waren. Die Regeln, denen sie sich verpflichtet fühlen, untersagen ihnen, einen zu engen Umgang mit den ihnen Anvertrauten zu pflegen. Es gibt zwar unzählige Berichte, in denen von Begegnungen zwischen Feen und Menschen erzählt wird und was sich zwischen ihnen ereignet hat, aber ihre eigentliche Aufgabe besteht darin, ihre Schützlinge möglichst unsichtbar und unbemerkt zu begleiten. Und immer dann, wenn sie einzelne Geschöpfe vor allen anderen deutlich bevorzugen, liegt das daran, dass diese Auserwählten vom Glück berührt wurden. Doch die Idee, ein Menschenkind zu adoptieren, ist bei ihnen noch zu keiner Zeit entstanden. Es widerspräche nicht nur ihren eigenen Gesetzen, sondern auch ihrer Natur. Umso größer war ihre Neugier, das kleine von Necile und den Nymphen adoptierte Wesen näher kennenzulernen. Claus beobachtete seinerseits das ständige Kommen und Gehen der Unsterblichen mit furchtlosem Blick und einem Lächeln auf den Lippen. Er ritt laut lachend auf den Schultern übermütiger Reilis, zog kichernd und vergnügt an den grauen Bärten knorriger Nohks und bettete müde nach langem, fröhlichen Spiel seinen Kopf gegen die Schulter der Elfenkönigin. Und die Reilis liebten sein Lachen, die Nohks seinen Mut und die Feen und Elfen seine Unschuld.

Der Junge freundete sich mit jedem der Besucher an und lernte rasch von ihnen. Keine Waldblume knickte unter seinen Füßen, so dass die Reilis so stolz auf ihn waren, als sei er einer der ihren. Er geriet nie in Streit mit einem Tier des Waldes, da er wusste, dass er sonst die Nohks verärgern würde. Und die Feen liebten ihn von ganzem Herzen. Da sie die Menschen am besten kannten, wussten sie genau, dass er der einzige seiner Art war, der einen friedlichen, unvoreingenommenen und uneingeschränkt freundschaftlichen Umgang mit ihnen pflegte.

Mit der Zeit wurde Claus seinerseits bewusst, dass er einzigartig unter all den Wesen des Waldes war und dass es hier niemanden gab, der ihm ähnelte. Für ihn bedeutete der Wald die Welt. Er hatte keine Vorstellung davon, dass es da noch Millionen anderer, sich abrackender und ums tägliche Überleben kämpfender menschlicher Kreaturen gab.

Und er war glücklich und zufrieden.

Fünftes Kapitel
Der Große Meister der Wälder

Die Jahre vergingen wie im Flug im Zauberwald, nahezu unbemerkt von den Nymphen, die der Fluss der Zeit ohnehin nicht viel kümmert. Selbst Jahrhunderte hinterlassen keinerlei Spuren bei den zierlichen Geschöpfen, immer und ewig bleiben sie dieselben, unsterblich und unveränderlich.

Claus dagegen war ein Sterblicher. Er wuchs von Tag zu Tag ein Stück mehr jenem Zeitpunkt entgegen, da er groß und erwachsen sein würde. Necile fand es schon bald sehr unbequem, ihn in ihrer Laube zu beherbergen, er wurde schnell zu groß für ihre Behausung. Und schon früh hatte sie erkennen müssen, dass er auch noch anderer Nahrung bedurfte außer Nektar und Milch. Doch da trugen ihn seine kräftigen Beine bereits tief in den Zauberwald hinein, wo er Nüsse und Beeren fand, sowie nahrhafte Wurzeln, die ihn besser sättigten als die Milch der Kelchblüten, die auf den Goa-Bäumen blühen. So kam es, dass er immer seltener in Neciles Heim anzutreffen war, bis er schließlich nur noch zum Schlafen dorthin zurückkehrte.

Die kleine Nymphe, die ihn abgöttisch liebte, fand sich ohne lange nachzudenken in jene neue Rolle hinein, die seiner stürmischen Entwicklung geschuldet war, und ermöglichte alles in ihrer Macht stehende, um ihm jede seiner Grillen, Launen und Wünsche zu erfüllen. Sie folgte ihm durch den Wald, wie es bald auch viele ihrer Schwestern taten, und erklärte ihm alle Geheimnisse der gewaltigen Bäume und die Natur und Gewohnheiten der zahllosen Lebewesen, die in ihrem Schatten ihr Auskommen fanden.

Schon bald verstand der kleine Claus die Sprache der wilden Tiere, wenn auch nicht immer ihre undurchschaubaren Bedürfnisse und Stimmungen. Lediglich die Eichhörnchen, die Mäuse und Kaninchen schienen von so freundlicher und fröhlicher Natur zu sein, dass er ihr munteres Treiben und ihre Gegenwart und sie die seine sehr zu schätzen lernten. Dennoch entlockte das Knurren des Panthers, der Tatzenhieb des Bären und die gefährlich blinkenden Reißzähne seines weit aufgerissenen Maules dem Knaben nur ein fröhliches Lachen. Diese Drohgebärden, das Knurren und Grollen galt schließlich nicht ihm, was sollte er sich fürchten?

Er lernte den Gesang der Bienen, konnte die Poesie der Waldblumen rezitieren wie ein Gedicht und verstand schon bald, was die Eulen mit jedem Blinzeln ihrer Augen zu sagen hatten. Er half den Reilis ihre Pflanzen zu pflegen und den Nohks Ordnung unter den Tieren zu halten. Jeder kleine Unsterbliche achtete ihn als privilegiertes Wesen, das die besondere Zuneigung von Königin Zurline und ihrer Nymphen genoss und unter dem persönlichen Schutz des Großen Ark stand.

Eines Tages kehrte der Meister der Wälder zurück in den Zauberwald von Bursie. Er besuchte regelmäßig all seine Wälder auf der ganzen Welt und es gab eine große Zahl von ihnen weit und breit.

Erst als er wieder auf jene Lichtung trat, auf der er Necile und den Nymphen erlaubt hatte, das Kind zu adoptieren, erinnerte sich Ark an den Knaben. Er sah ihn inmitten der lebhaften Schar der kleinen Unsterblichen und stellte fest, dass er sich zu einem breitschultrigen, stämmigen, jungen Burschen entwickelt hatte, der, wenn er sich erhob, dem Meister bereits bis zur Schulter reichte.